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T H E O D O R W.

A D O R N O

SPENGLER NACH DEM


U NTERGA NG
Zu Oswald Spenglers 70. Geburtstag

W enn die Geschichte der Philosophie


nicht so sehr in der Lösung ihrer Pro-
bleme besteht als darin, daß die Bewegung
gediegeneren und gehobeneren Ausdruck
verlieh. Er veredelte den von Spengler ohne
Ansehen der Person dekretierten Tod und
des Geistes jene Probleme wieder und wie- versprach, den Gedanken daran in ein aka-
der vergessen macht, um die sie sich kristalli- demisches Betriebsgeheimnis zu verwandeln.
siert, dann ist Oswald Spengler vergessen Spengler hatte das Nachsehen: seine Bro-
worden mit der Geschwindigkeit der Kata- schüre über „Mensch und Technik“ war
strophe, in die, seiner eigenen Lehre zufolge, gegenüber den gleichzeitigen smarten philo-
die Weltgeschichte überzugehen im Begriff sophischen Anthropologien nicht mehr kon-
ist. Nach einem populären Anfangserfolg kurrenzfähig. Kaum daß man noch von sei-
hat sich die öffentliche Meinung in Deutsch- nen Beziehungen zu den Nationalsozialisten,
land sehr rasch gegen den „Untergang des seinem Streit mit Hitler und endlich seinem
Abendlandes“ gekehrt. Die offiziellen Philo- Tod vor 14 Jahren Notiz nahm. In Deutsch-
sophen warfen ihm Flachheit vor, die offi- land war er als Schwarzseher und Reaktio-
ziellen Einzelwissenschaften Inkompetenz när, so wie eben die zeitgenössischen Herren
und Scharlatanerie, und im Betrieb der deut- solche Worte brauchten, verfemt, im Ausland
schen Inflations- und Stabilisierungsperiode galt er als einer der ideologischen Mitschul-
wollte niemand etwas mit der Untergangs- digen am Rückfall in die Barbarei.
these zu schaffen haben. Spengler hatte sich All dem gegenüber ist guter Grund, die
mittlerweile durch eine Reihe kleinerer Schrif- Frage nach der Wahrheit und Unwahrheit
ten anmaßenden Tones und wohlfeiler Anti- Spenglers noch einmal zu stellen. Es hieße
thetik so exponiert, daß die Ablehnung dem ihm zuviel vorgeben, wollte man in der Welt-
gesunden Lebenswillen leicht genug wurde. geschichte, die über ihn hinweg zur neuen
Als 1922 der zweite Band des Hauptwerks Ordnung ihres Tages schritt, das Weltgericht
erschien, fand er nicht entfernt mehr die Be- erblicken, das über den Wert seiner Gedan-
achtung des ersten, obwohl eigentlich erst ken zu entscheiden hat. Dazu ist aber um so
mit ihm die Untergangsthese konkret ent- weniger Anlaß, als der Gang der Welt-
wickelt wurde. Die Laien, die Spengler lasen geschichte selber seinen unmittelbaren Pro-
wie vordem Nietzsche und Schopenhauer, gnosen in einem Maße recht gab, das er-
hatten sich mittlerweile der Philosophie ent- staunen müßte, wenn man sich an die Pro-
fremdet; die zünftigen Philosophen hielten gnosen noch erinnerte. Der vergessene
sich an Heidegger, der ihrer Verdrossenheit Spengler rächt sich, indem er droht, recht zu
116 Der Monat

behalten. Sein Vergessensein inmitten der allem jene Gewalt verliehen. Endlich wäre
Bestätigung leiht der Drohung blinder Fa- mit gründlichem Mißtrauen gegen das Thema
talität, die von seiner Konzeption ausgeht, probandum zu fragen, welche Überlegungen
ein objektives Moment. Als einmal die sie- es etwa vermöchten, den Spenglerschen ins
ben deutschen Fachgelehrten sich zusammen- Auge zu schauen, ohne die Pose der Kraft
taten, um in der Zeitschrift Logos den Out- und ohne das schlechte Gewissen des offi-
sider zu erledigen, hat ihr philiströser Eifer ziellen Optimismus.
Spott provoziert. Heute gewinnt er einen

U
weniger harmlosen Aspekt. Er zeugt von
einer intellektuellen Ohnmacht, vergleichbar m die Gewalt Spenglers zu zeigen, seien
der politischen der Weimarer Republik im zunächst nicht die allgemeinen ge-
Angesicht Hitlers. Spengler hat kaum einen schichtsphilosophischen Grundgedanken vom
Gegner gefunden, der sich ihm gewachsen pflanzenhaften Wachsen und Absterben der
gezeigt hätte: das Vergessen wirkt als Aus- Kulturen diskutiert, sondern die Zuspitzung
flucht. dieser Geschichtsphilosophie auf die Speng-
Man braucht nur das Buch Manfred Schrö- ler zufolge bevorstehende Phase, die er nach
ters „Der Streit um Spengler“ zu lesen, das Analogie mit der römischen Kaiserzeit „Cäsa-
einen vollständigen Überblick der Kritiken rismus“ nennt. Die bezeichnendsten Vorher-
bis 1922 bietet, um innezuwerden, wie sehr sagen beziehen sich auf Fragen der Massen-
der deutsche Geist versagte einem Wider- beherrschung, auf Propaganda, Massen-
sacher gegenüber, an den die historische Ge- kunst, dann auf politische Herrschaftsformen,
walt der eigenen Vergangenheit gänzlich insbesondere auf gewisse Tendenzen der
übergegangen schien. Pedantische Kleinlich- Demokratie, aus sich heraus in Diktatur um-
keit im Konkreten, phrasenhaft konformi- zuschlagen. In Übereinstimmung mit Speng-
stischer Optimismus in der Idee, dazu oft lers Gesamtauffassung, welche die Wirtschaft
genug das unfreiwillige Zugeständnis der nicht als tragende gesellschaftliche Realität,
Schwäche in der Versicherung, so schlimm sei sondern vielmehr als „Ausdruck“ eines be-
es denn doch noch nicht um unsere Kultur stimmt gearteten „Seelentums“ visiert, treten
bestellt, oder in dem sophistischen Trick, demgegenüber eigentlich wirtschaftliche Pro-
durch Überspannung des Relativismus gnosen zurück. Die Frage nach der Vertru-
Spenglers relativistische Position selber auf- stung wird nicht gestellt, so scharfsichtig auch
zulösen — das ist alles, was die deutsche Spengler die kulturellen Konsequenzen der
Wissenschaft und Philosophie aufbrachte zunehmenden Zentralisierung der Macht
gegen einen Mann, der sie abkanzelte wie sieht. Doch trägt seine Einsicht weit genug,
der Feldwebel den Einjährig-Freiwilligen. um gewisse triftige ökonomische Konsequen-
Fast könnte man in der wichtigtuerischen zen, zumal in Hinsicht auf das Absterben der
Hilflosigkeit den geheimen Drang vermuten, Geldwirtschaft, zu erlauben.
dem Feldwebel doch endlich zu parieren. Je Gedankengänge des zweiten Bandes gel-
mehr aber die Welt nach seinem Rhythmus ten der Zivilisation im Cäsarismus. Zum
marschierte, um so dringlicher wäre es, dem Beginn einige Sätze zur „Physiognomik der
Sinn jener Sätze sich zu stellen, die ein Schick- Weltstädte“. Von ihren Häusern heißt es:
sal der Menschheit proklamiert haben, das
„Sie sind überhaupt nicht mehr Häuser, in
mit dem Mord an Millionen noch die düstere denen Vesta und Janus, die Penaten und Laren
Prophezeiung seiner selbst überboten hat. irgendeine Stätte besitzen, sondern bloße Be-
Die Gewalt Spenglers wird sichtbar durch hausungen, welche nicht das Blut, sondern der
Konfrontation einiger seiner Thesen mit der Zweck, nicht das Gefühl, sondern der wirtschaft-
jüngsten Situation. Weiter wäre den Kraft- liche Unternehmungsgeist geschaffen hat. So-
lange der Herd dem frommen Sinne der wirk-
quellen nachzuforschen, die einer Philoso- liche, bedeutsame Mittelpunkt einer Familie ist,
phie, deren theoretische und empirische Un- solange ist die letzte Beziehung zum Lande nicht
zulänglichkeiten so offen zutage liegen, trotz geschwunden. Erst wenn auch das verlorengeht
Spengler nach dem Untergang 117

und die Masse der Mieter und Schlafgäste in satz der reinen Logik der täglichen Arbeit durch
diesem Häusermeer ein irrendes Dasein von mit Bewußtsein genossene Mystik — das kehrt
Obdach zu Obdach führt, wie die Jäger und Hir- in allen Weltstädten aller Zivilisationen wieder.“3
ten der Vorzeit, ist der intellektuelle Nomade
völlig ausgebildet. Diese Stadt ist eine Welt, ist Spengler steigert den Gedanken zu der
die Welt. Sie hat nur als Ganzes die Bedeutung These, die Kunst selber werde zum Sport.4
einer menschlichen Wohnung. Die Häuser sind Er hat weder vom Jazz etwas gewußt, noch
nur die Atome, welche sie zusammensetzen.“1 vom Quiz. Aber wollte man die wichtigsten
Die Vorstellung vom späten Städtebewoh- Tendenzen der gegenwärtigen Massenkunst
ner als zweitem Nomaden verdient besonders auf die Formel bringen, keine prägnantere
hervorgehoben zu werden. Sie drückt nicht ließe sich angeben als die des Sports, des
bloß Angst und Entfremdung aus, sondern Nehmens rhythmischer Hindernisse, des
auch die dämmernde Geschichtslosigkeit Wettbewerbs, sei es unter den Ausführen-
eines Zustandes, in dem die Menschen sich den, sei es zwischen Produktion und Publi-
bloß noch als Objekte undurchsichtiger Pro- kum. Die Opfer des Zivilisationsbetriebs der
zesse erfahren und, zwischen jähem Schock Reklamekultur, nicht die Manipulierenden,
und jähem Vergessen, zur kontinuierlichen trifft Spenglers ganze Verachtung. „Es ent-
Zeiterfahrung nicht mehr fähig sind. Speng- steht der Typus des Fellachen.“ 5
ler sieht den Zusammenhang von Verelen- Dies Fellachentum wird von ihm näher be-
dung und neuem Menschentypus, wie er im stimmt als Enteignung des Bewußtseins der
Zeichen der totalitären Ausbrüche erst ganz Menschen durch die zentralisierten Mittel
sich enthüllt hat: der öffentlichen Kommunikation. Er sieht
„Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung diese noch im Zeichen der Geldmacht, ob-
aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt zwi- wohl er das Ende der Geldwirtschaft ahnt:
schen Giebeln und Mansarden, in Kellern und Geist im Sinne schrankenloser Autonomie
Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchten, kann es Spengler zufolge nur im Zusam-
hausen in jeder dieser prachtvollen Massen-
städte.“2 menhang mit der abstrakten Einheit des
Geldes geben. Wie immer es sich damit ver-

I
halte, seine Beschreibung trifft genau auf die
n den „Lagern“ jeden Typus, die das Haus Zustände unter dem totalitären Regime zu,
nicht mehr kennen, ist jene Regression das ideologisch Geld und Geist gleicher-
offenbar geworden. Spengler weiß wenig von maßen den Krieg erklärt. Es ließe sich sagen,
den Bedingungen der Produktion zu sagen, daß er an der Presse Züge gewahrte, die erst
die es dahin gebracht haben. Um so genauer das Radio völlig ausgebildet hat — so wie er
aber sieht er dafür den Bewußtseinszustand, gegen die Demokratie Vorwürfe erhebt, die
der die Massen außerhalb des eigentlichen ihr ganzes Gewicht erst gegenüber der Dik-
Produktionsprozesses, in den sie eingespannt tatur gewinnen.
sind, ergreift: jene Phänomene, die man als „Die Demokratie hat das Buch aus dem Gei-
solche der „Freizeit“ zu bezeichnen sich ge- stesleben der Volksmassen vollständig durch die
wöhnt hat. Zeitung verdrängt. Die Bücherwelt mit ihrem
Reichtum an Gesichtspunkten, die das Denken
„Die intellektuelle Spannung kennt nur noch zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für
eine, die spezifisch weltstädtische Form der Er- enge Kreise ein wirklicher Besitz. Das Volk liest
holung: die Entspannung, die ‚Zerstreuung‘. Das die eine, ‚seine‘ Zeitung, die in Millionen Exem-
echte Spiel, die Lebensfreude, die Lust, der plaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister
Rausch sind aus dem kosmischen Takte geboren vom frühen Morgen an in ihren Bann zieht,
und werden in ihrem Wesen gar nicht mehr be- durch ihre Anlage die Bücher in Vergessenheit
griffen. Aber die Ablösung intensivster prak-
1 Oswald Spengler, „Der Untergang des Abendlandes“, Mün-
tischer Denkarbeit durch ihren Gegensatz, die
chen 1922, II, S. 118. Sehr verwandte Gedankengänge waren
mit Bewußtsein betriebene Trottelei, die Ab- zu Beginn des Jahrhunderts ausgeführt in Werner Sombarts
lösung der geistigen Anspannung durch die kör- Broschüre „Warum gibt es in Amerika keinen Sozialismus?“
2 a. a. O., S. 120.
perliche des Sports, der körperlichen durch die 3 a. a. O., S. 122.
sinnliche des ‚Vergnügens‘ und die geistige der 4 Vgl. Band I, S. 49.

‚Aufregung‘ des Spiels und der Wette, der Er- 5 Band II, S. 125.
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bringt und, wenn eins oder das andere doch ein- es nicht. Einst durfte man nicht wagen, frei zu
mal in den Gesichtskreis tritt, seine Wirkung denken; jetzt darf man es, aber man kann es
durch eine vorweggenommene Kritik aus- nicht mehr. Man will nur noch denken, was man
schaltet.“6 wollen soll, und eben das empfindet man als
seine Freiheit.“10
Spengler sieht etwas vom Doppelcharakter
der Aufklärung im Zeitalter universaler

N
Herrschaft.
icht minder erstaunlich sind die spe-
„Mit der politischen Presse hängt das Bedürf-
nis nach allgemeiner Schulbildung zusammen, zifischen Prognosen. Zunächst die mili-
das der Antike durchaus fehlt. Es ist ein ganz tärische, die im übrigen nicht unbeeinflußt
unbewußter Drang darin, die Massen als Ob- sein mag von gewissen Erfahrungen der
jekte der Parteipolitik dem Machtmittel der Zei- deutschen Heeresleitung während des ersten
tung zuzuführen. Dem Idealisten der frühen
Weltkriegs, die unterdessen in die Praxis
Demokratie erschien das als Aufklärung ohne
Hintergedanken, und heute noch gibt es hier umgesetzt wurden. Spengler hält das „demo-
und da Schwachköpfe, die sich am Gedanken der kratische“ Prinzip der allgemeinen Wehr-
Pressefreiheit begeistern, aber gerade damit pflicht samt den aus ihr entwickelten tak-
haben die kommenden Cäsaren der Weltpresse tischen Mitteln für überwunden.
freie Bahn. Wer lesen gelernt hat, verfällt ihrer
Macht, und aus der erträumten Selbstbestim- „An Stelle der stehenden Heere werden von
mung wird die späte Demokratie zu einem radi- nun an allmählich Berufsheere freiwilliger und
kalen Bestimmtwerden der Völker durch die Ge- kriegsbegeisterter Soldaten treten, an Stelle der
walten, denen das gedruckte Wort gehorcht.“7 Millionen wieder die Hunderttausende, aber
eben damit wird dieses zweite Jahrhundert (nach
Was Spengler den bescheidenen Presse- den Napoleonischen Kriegen, d. V.) wirklich das
magnaten des ersten Weltkrieges zuschreibt, der kämpfenden Staaten sein. Das bloße Dasein
ist ausgereift in der Technik der manipulier- dieser Heere ist kein Ersatz des Krieges (wie es
Spengler zufolge im neunzehnten Jahrhundert
ten Pogrome und spontanen Volkskund- der Fall war, d. V.), sie sind für den Krieg da,
gebungen. „Ohne daß der Leser es merkt, und sie wollen ihn. In zwei Generationen wer-
wechselt die Zeitung und damit er selbst den den sie es sein, deren Wille stärker ist als der
Gebieter“8 — das ist im Dritten Reich buch- aller Ruhebedürftigen. In diesen Kriegen um
das Erbe der ganzen Welt werden Kontinente
stäblich in Erfüllung gegangen. Spengler
eingesetzt, Indien, China, Südafrika, Rußland,
nennt es den „Stil des zwanzigsten Jahr- der Islam aufgeboten, neue Techniken und Tak-
hunderts“. tiken gegeneinander ausgespielt werden. Die
„Ein Demokrat vom alten Schlage würde heute großen weltstädtischen Machtmittelpunkte wer-
nicht Freiheit für die Presse, sondern von der den über die kleineren Staaten, ihr Gebiet, ihre
Presse fordern, aber inzwischen haben die Füh- Wirtschaft und Menschen nach Gutdünken ver-
rer sich in ‚Angekommene‘ verwandelt, die ihre fügen; das alles ist nur noch Provinz, Objekt,
Stellung gegenüber der Masse sichern müssen.“9 Mittel zum Zweck; sein Schicksal ist ohne Be-
deutung für den großen Gang der Dinge. Wir
Spengler hat Goebbels prophezeit: haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse
„Kein Tierbändiger hat seine Meute besser in kaum noch zu beachten, die vor dem Kriege die
der Gewalt. Man läßt das Volk als Lesermasse Welt hätten erstarren lassen.“11
los, und es stürmt durch die Straßen, wirft sich Unterdessen gilt bereits einer, der an
auf das bezeichnete Ziel, droht und schlägt Fen-
ster ein. Ein Wink an den Pressestab, und es
Auschwitz erinnert, für langweilig. Keiner
wird still und geht nach Hause. Die Presse ist gibt mehr etwas fürs Vergangene. Was auf
heute eine Armee mit sorgfältig organisierten das von Spengler so genannte Zeitalter den
Waffengattungen, mit Journalisten als Offi- kämpfenden Staaten folgt, ist seiner Kon-
zieren, Lesern als Soldaten. Aber es ist hier wie struktion zufolge eine im dämonischen Sinne
in jeder Armee: der Soldat gehorcht blind, und
die Wechsel in Kriegsziel und Operationsplan
geschichtslose Zeit: die Tendenz der gegen-
vollziehen sich ohne seine Kenntnis. Der Leser 6 a. a. O., S. 578 f.
7 a. a. O., S.579 f.
weiß nichts von dem, was man mit ihm vorhat, 8 a. a. O.,S. 580.
und soll es auch nicht, und er soll auch nicht 9 a. a. O., S. 580, Anm.
wissen, welch eine Rolle er damit spielt. Eine 10 a. a. O., S. 580.

furchtbarere Satire auf die Gedankenfreiheit gibt 11 a. a. O., S. 538.


Spengler nach dem Untergang 119

wärtigen Wirtschaft, unter Eliminierung des Spenglers Prognose der Wesensverände-


Marktes und der Dynamik der Konkurrenz rung der Partei ist im Nationalsozialismus
einen statischen und im eigentlich ökonomi- radikal bestätigt worden: die Parteien wer-
schen Sinn „krisenlosen“ Zustand unmittel- den zu „Gefolgschaften“. Seine Physio-
barer Verfügung herbeizuführen, kommt mit gnomik der Partei, vermutlich von Robert
Spenglers Prognose deutlich genug überein. Michels inspiriert, ist von jener Eindringlich-
Mehr und sinnfälliger noch erfüllt sie sich keit, die der Faschismus so satanisch auszu-
in der Statik der „Kultur“, deren avancierten nutzen verstand, indem er das Unwahre an
Versuchen seit dem neunzehnten Jahrhun- einer Humanität, die sich zum Maß der
dert schon die Gesellschaft Verständnis und Welt erklärt, ohne verwirklicht zu sein,
eigentliche Rezeption verweigert, die unab- zur Rechtfertigung absoluter Unwahrheit
lässige und tödliche Wiederholung des ein- und Inhumanität erhebt. Er sieht die Zu-
mal Akzeptierten erzwingend, während die gehörigkeit des Parteiwesens zum bürger-
standardisierte Massenkunst vermöge ihrer lichen Liberalismus. „Das Auftreten einer
„gefrorenen“ Modelle Geschichte ausschließt. Adelspartei in einem Parlament ist innerlich
Man vermöchte wohl alle spezifisch moderne ebenso unecht wie das einer proletarischen.
Kunst als den Versuch betrachten, die Dyna- Nur das Bürgertum ist hier zu Hause.“ 13 Er
mik der Geschichte beschwörend am Leben insistiert bei den Mechanismen, die das Par-
zu erhalten oder das Grauen über die Erstar- teiwesen in Diktatur umschlagen lassen.

S
rung zum Schock zu steigern, zur Katastrophe,
in der das Geschichtslose jäh den Ausdruck olche Erwägungen sind der zyklischen
des lang Gewesenen annimmt. Was Speng- Geschichtsphilosophie seit der Stoa ver-
ler den kleineren Staaten prophezeit, beginnt traut. Macchiavelli entwickelte den Gedan-
sich an den Menschen selber, auch denen der ken, daß die Verderbtheit demokratischer
großen Staaten, und gerade der mächtigsten, Institutionen auf die Dauer wieder Diktatu-
zu erfüllen. Darum scheint Geschichte er- ren notwendig mache. Aber Spengler, der am
loschen. Was immer geschieht, geschieht Ende der Epoche in gewissem Sinne die Posi-
ihnen, nicht durch sie. Noch den größten stra- tion wiederherstellt, die Macchiavelli zu
tegischen Unternehmungen und Triumph- ihrem Beginn eingenommen hatte, zeigt sich
zügen haftet ein Zug des Illusionären, nicht dem frühbürgerlichen Staatsphilosophen
ganz Realen an. Seine Erfahrung hat das überlegen durch die Erfahrung der histori-
amerikanische Wort phony ein für alle Male schen Dialektik, deren Namen er an keiner
festgehalten. Die Ereignisse spielen sich zwi- Stelle ausspricht. Ihm entfaltet sich das Prin-
schen den Oligarchen und ihren Mordspezia- zip der Demokratie selber vermöge der Par-
listen ab: sie entspringen nicht aus der Dy- teiherrschaft zu seinem Gegenteil.
namik der Gesellschaft, sondern unterwerfen „Das Zeitalter der echten Parteiherrschaft um-
diese einer zur Vernichtung gesteigerten Ver- faßt kaum zwei Jahrhunderte und ist für uns
waltung. seit dem Weltkrieg bereits in vollem Niedergang
Als Objekte der politischen Gewalt be- begriffen. Daß die gesamte Masse der Wähler-
schaft aus einem gemeinsamen Antrieb heraus;
geben sich die Menschen ihrer Spontaneität:
Männer entsendet, die ihre Sache führen sollen,
„Seit dem Anbruch der Kaiserzeit gibt es keine wie es in allen Verfassungen ganz naiv gemeint
politischen Probleme mehr. Man findet sich ab ist, war nur im ersten Anlauf möglich und setzt
mit den Lagen und Gewalten, die vorhanden voraus, daß nicht einmal die Ansätze zur Organi-
sind. Ströme von Blut hatten zur Zeit der kämp- sation bestimmter Gruppen vorhanden sind. So
fenden Staaten das Pflaster aller Weltstädte ge- war es 1789 in Frankreich, 1848 in Deutschland.
rötet, um die großen Wahrheiten der Demo- Mit dem Dasein einer Versammlung ist aber
kratie in Wirklichkeit zu verwandeln und Rechte sofort die Bildung taktischer Einheiten verbun-
zu erkämpfen, ohne die das Leben nicht wert den, deren Zusammenhalt auf dem Willen be-
schien, gelebt zu werden. Jetzt sind diese Rechte
ruht, die einmal errungene herrschende Stellung
erobert, aber die Enkel sind selbst durch Strafen
nicht mehr zu bewegen, von ihnen Gebrauch zu 11 a. a. O., S. 542.
machen.“12 12 a. a. O., S. 564.
120 Der Monat

zu behaupten, und die sich nicht im geringsten der Unausweichlichkeit des Geschichtsver-
mehr als Sprachrohr ihrer Wähler betrachten, laufs zu legitimieren trachtet.
sondern umgekehrt diese mit allen Mitteln der
Agitation sich gefügig machen, um sie für ihre

D
Zwecke einzusetzen. Eine Richtung im Volk, die
sich organisiert hat, ist damit bereits das Werk- amit ist aber zugleich der archimedische
zeug der Organisation geworden, und sie schrei- Punkt des Spenglerschen Entwurfs er-
tet unaufhaltsam auf ihrem Wege weiter, bis
reicht. Seine geschichtsphilosophische Be-
auch die Organisation das Werkzeug der Führer
geworden ist. Der Wille zur Macht ist stärker als hauptung vom Absterben des Geistes und
alle Theorien. Am Anfang entsteht die Führung die denkfeindlichen Konsequenzen, die dar-
und der Apparat des Programms wegen; dann aus folgen, beziehen sich nicht bloß auf die
werden sie von den Inhabern um der Macht und Phase der „Zivilisation“, sondern sind
Beute willen verteidigt, wie es heute schon ganz
Grundbestände der Spenglerschen Ansicht
allgemein der Fall ist, wo in allen Ländern Tau-
sende von der Partei und den von ihr verge- vom Menschen schlechthin.
benen Ämtern und Geschäften leben, und end- „Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen
lich verschwindet das Programm aus der Erinne- gibt es nur in bezug auf das Leben. Historische
rung, und die Organisation arbeitet für sich Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise physio-
allein.“14 gnomischer Takt: das ist die Entscheidung des
Blutes, die auf Vergangenheit und Zukunft er-
Zugespitzt auf Deutschland, in Voraus-
weiterte Menschenkenntnis, der angeborene
sicht der Jahre der Minderheitsregierungen, Blick für Personen und Lagen, für das, was Er-
die Hitler in den Sattel halfen: eignis, was notwendig war, was dagewesen sein
„Die deutsche Verfassung von 1919, also schon muß, und nicht die bloße wissenschaftliche Kri-
an der Schwelle der absteigenden Demokratie tik und Kenntnis von Daten.“18
entstanden, enthält in aller Naivität eine Dikta- Entscheidend dabei ist der Begriff der
tur der Parteimaschinen, die sich selbst alle
Menschenkenntnis und seine Verkopplung
Rechte übertragen haben und niemand ernsthaft
verantwortlich sind. Die berüchtigte Verhältnis- mit der unterdessen zu sich selbst, dem ver-
wahl und die Reichsliste sichern ihnen die Selbst- kündeten Grauen gekommenen Ideologie
ergänzung. Statt der Rechte des ‚Volkes‘, wie sie des Blutes. Dahinter steht implizit die Mac-
die Verfassung von 1848 der Idee nach enthielt, chiavellische Annahme von der Unveränder-
gibt es nur solche der Parteien, was harmlos
klingt, aber den Cäsarismus der Organisation in lichkeit der Menschennatur, die man nur ein
sich schließt. In diesem Sinne ist sie allerdings für allemal, nämlich in ihrer Nichtswürdig-
die fortgeschrittenste Verfassung des Zeitalters; keit, zu kennen braucht, um ein für allemal,
sie läßt das Ende bereits erkennen; einige ganz in der Erwartung des immer Gleichen, über
kleine Änderungen, und sie verleiht einzelnen sie verfügen zu können. Menschenkenntnis
die unumschränkte Gewalt.“ 15
im prägnanten Sinn heißt Menschenverach-
Spengler fühlt vor, wie der Gang der Ge- tung: so sind sie nun einmal. Das leitende
schichte die Menschen Idee und Wirklichkeit Interesse der Betrachtung ist das der Beherr-
der eigenen Freiheit vergessen macht. schung. Auf sie sind sämtliche Kategorien
„Diese abstrakten Ideale besitzen eine Macht, zugeschnitten. Bei den Herrschern liegt alle
die sich kaum über zwei Jahrhunderte — die der Sympathie, und der Geschichtsphilosoph der
Parteipolitik — erstreckt. Sie werden zuletzt nicht
Desillusion kann schwärmen wie nur einer
etwa widerlegt, sondern langweilig. Rousseau ist
es längst, und Marx wird es in kurzem sein. Man der von ihm hartnäckig verhöhnten Pazi-
gibt endlich nicht diese oder jene Theorie auf, fisten, wenn er auf die vermeintlich unge-
sondern den Glauben an Theorien überhaupt heure Intelligenz und den stahlharten Wil-
und damit den schwärmerischen Optimismus des len moderner Wirtschaftsführer zu sprechen
18. Jahrhunderts, unzulängliche Tatsachen durch
Anwendung von Begriffen verbessern zu kön- kommt. Das gesamte Bild der Geschichte
nen.“16 — „Niemand sollte sich darüber täu- wird am Ideal der Herrschaft gemessen. Die
schen, daß das Zeitalter der Theorie auch für 14 a. a. O., S. 566.
uns zu Ende geht.“17 15 a. a. O., S. 573.
16 a. a. O., S. 568.
Die Prognose vom Absterben der Denk- 17 a. a. O., S. 569.

kraft kulminiert im Denkverbot, das sich mit 18 a. a. O., S. 556.


Spengler nach dem Untergang 121

Wahlverwandtschaft mit ihr verleiht Speng- Spengler gewesen sein mag, hier hat sie ihre
ler den tiefsten Blick, wann immer es sich um Wahrheit. Der Fata Morgana der histori-
Potentialitäten von Herrschaft handelt, und schen Großraumwirtschaft entzieht sich bloß
verblendet ihn mit Haß, sobald er Regungen das Einzelne, an dessen Starrsinn die befehls-
begegnet, die über die bisherige Geschichte haberische Subsumtion ihre Grenze erreicht.
als Geschichte von Herrschaftsverhältnissen Zeigt Spengler einer detaillistischen Einzel-
hinausgehen. Die Tendenz der idealistischen wissenschaft sich überlegen durch Perspek-
deutschen Systeme, die großen Allgemein- tive und Großzügigkeit der Kategorien, so
begriffe zu Fetischen zu erheben und ihnen ist er unterlegen zugleich durch eben diese
ungerührt das Opfer der einzelmenschlichen Großzügigkeit, die erreicht wird, indem er
Existenz in der Theorie zu bringen — jene die Dialektik von Begriff und Einzelheit nie-
Tendenz, der Schopenhauer, Kierkegaard mals ehrlich austrägt, sondern umgeht durch
und Marx an Hegel widersprachen —, ist bei einen Schematismus, der sich der „Tatsache“
Spengler zur unverhohlenen Freude an den generell und ideologisch zur Niederschmette-
tatsächlichen Menschenopfern gesteigert. Wo rung des Gedankens bedient, ohne ihr jemals
Hegels Geschichtsphilosophie in starrer mehr als den ersten zuordnenden Blick zu
Trauer von der Schlachtbank der Geschichte widmen. In Spenglers welthistorischer Per-
redet, sieht Spengler nichts als Tatsachen, die spektive steckt ein Element von Unechtheit
man zwar, nach Temperament und Anlage, und Aufgeblasenheit, nicht unähnlich dem
bedauern könne, um die sich aber besser der Geist der wilhelminischen Siegesallee: nur
nicht bekümmere, der sich in Komplizität mit wenn die Welt sich in eine Siegesallee ver-
der historischen Notwendigkeit befindet, wandelt, nimmt sie die Gestalt an, die er ihr
und dessen Physiognomik es mit den stär- wünscht. Der Aberglaube, daß die Größe
keren Bataillonen hält. In seiner bemerkens- einer Philosophie an ihren grandiosen
werten Kritik sagt James Shotwell: „Speng- Aspekten haftet, ist schlechtes idealistisches
lers Interesse richtet sich auf das große und Erbe; etwa wie wenn die Qualität eines Bil-
tragische Drama, das er schildert, und er ver- des von der Erhabenheit seines Sujets ab-
schwendet nicht viel müßige Sympathie auf hinge. Große Themen sagen nichts über die
die Opfer der wiederkehrenden Nacht.“19 Größe der Erkenntnis. Wenn das Wahre,
wie Hegel es will, das Ganze ist, so ist es

I
doch das Wahre nur, wenn die Kraft des
m grandios verfügenden Gestus der Ganzen völlig in die Erkenntnis des Beson-
Spenglerschen Begriffswahl, die mit Kul- deren eingeht.
turen umspringt wie mit bunten Steinen Nichts davon bei Spengler. Nirgendwo
und Schicksal, Kosmos, Blut, Geist in voll- offenbart ihm das Besondere, wessen die
endeter Unbefangenheit, wie das Naziwort tabellarische Übersicht seiner vergleichenden
hieß, „einsetzt“ — darin spricht selber das Kulturmorphologie ihn nicht vorher schon
Motiv der Herrschaft sich aus. Wer alles Er- versichert hätte. Seine Methode nennt sich
scheinende blank auf die Formel „alles schon stolz Physiognomik. In Wahrheit ist sein
dagewesen“ abzieht, übt eben dadurch ein physiognomisches Denken an den totalen
Gewaltregime der Kategorien aus, nur allzu Charakter der Kategorien gebunden. Alles
nahe verwandt dem politischen, dem Speng- Einzelne und noch das Entlegene wird zur
lers Enthusiasmus gilt. Er siedelt die Ge- Chiffre des Großen, der „Kultur“, weil die
schichte in den Sparten seines Großplans an, Welt so lückenlos gedacht ist, daß für nichts
wie Hitler die Minderheiten von einem Raum bleibt, was nicht seinem Wesen nach
Lande ins andere verschob. Am Ende geht spannungslos mit jenem Großen identisch
die Rechnung auf. Alles ist eingeordnet, und wäre.20 Es liegt darin ein Element von Wahr-
liquidiert sind die Widerstände, die allemal 19 James Shotwell, „Essays in Intellectual History“, New

York und London, 1929.


nur beim Unerfaßten liegen. So unzuläng- 20 Vgl. Karl Joel, „Die Philosophie in Spenglers ,Untergang

lich die einzelwissenschaftliche Kritik an des Abendlandes‘“, in Logos, Band IX, S. l40 f.
122 Der Monat

heit, insofern als die herrschaftlich organi- tuelle Disponent von der Konkursmasse der
sierte Gesellschaft je und je in der Tat zu Kultur billig eingekauft hat. Es steckt darin
Totalitäten zusammenschießt, die dem ein- der erbitterte, ressentimenterfüllte Drang
zelnen keine Freiheit lassen: Totalität ist ihre des mittelständlerischen deutschen Gelehr-
logische Form. Spenglers Physiognomik hat ten, den Schatz seines Wissens endlich in
das Verdienst, den Blick aufs „System“ im ein- Kapital zu verwandeln und in den meistver-
zelnen auch dort noch freizulegen, wo es mit sprechenden Zweigen der Wirtschaft — der
einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloß Schwerindustrie — zu investieren. Die Er-
die universale Abhängigkeit sich verbirgt. kenntnis von der Hilflosigkeit der liberalen
Aber dies Verdienst wird wettgemacht da- Intellektuellen unterm Schatten der herauf-
durch, daß die Insistenz auf der universalen ziehenden totalitären Macht läßt ihn zum
Abhängigkeit der einzelnen Momente vom Überläufer werden. Durch Selbstdenunzia-
Ganzen, als eine Abhängigkeit der Aus- tion macht der Geist sich tauglich, antiideo-
druckscharaktere von der Totalität der Kul- logische Ideologien zu liefern. Hinter der
tur, in ihrer abstrakten Weite die konkreten Spenglerschen Proklamation des Untergangs
und scharf differenzierten Abhängigkeiten der Kultur steht der Wunsch als Vater des
verschwinden macht, die über das Leben der Gedankens. Der Geist, der sich verneint und
Menschen entscheiden. Darum spielt Speng- auf die Seite der Gewalt stellt, hofft auf Par-
ler die Physiognomik gegen die Kausalität don. Lessings Diktum vom Klugen, der klug
aus. Wenn der Typus des passiv reagieren- genug war, nicht klug zu sein, erfüllt sich an
den Massenmenschen, den Spengler be- Spengler. Die Einleitung zum „Untergang
schreibt, kausalitätslos auf der gleichen Ebene des Abendlandes“ enthält einen Satz, der
erscheint wie die Konzentration der Macht, berühmt werden sollte:
die doch als Schlüsselkategorie des „Systems“ „Wenn unter dem Eindruck dieses Buches sich
und durchs System hindurch den Massen- Menschen der neuen Generation der Technik
menschen erst produziert und reproduziert, statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der
Politik statt der Erkenntniskritik zuwenden, so
dann wird es möglich, gesellschaftliche Ab-
tun sie, was ich wünsche, und man kann ihnen
hängigkeitsverhältnisse aufs Schicksal und nichts Besseres wünschen.“21
den Stundenschlag der Kulturphasen zu
Man mag sich nach dem Satz die Persön-
nivellieren und wohl gar dem ohnmächtigen
lichkeiten vorstellen, zu denen er respektvoll
Massenmenschen metaphysisch die Schmach
blinzelnd gesprochen ist. Spengler weiß sich
aufzubürden, die ihm historisch von den Cä-
mit ihnen einig in der Überzeugung, daß es
saren angetan wird. Der physiognomische
Zeit ist, den jungen Leuten die Mucken end-
Blick verliert sich, indem er die Phänomene
gültig auszutreiben. Es sind die gleichen Per-
den wenigen Schlagzeilen der Invarianten
sönlichkeiten, die sich später auf Realpolitik
zurechnet. Anstatt sich in die Ausdrucks-
beriefen. In der Wut auf Bilder, Gedichte
charaktere der Phänomene zu versenken,
und Philosophie meldet sich die tiefe Angst,
beeilt sich Spengler, die lieblos zusammen-
daß in jenem von Spengler mit schaudern-
gerafften mit greller Reklameschrift loszu-
dem Entzücken geschilderten „geschichts-
schlagen.
losen“ Zustand, wo es keine „politischen
Probleme“ und vielleicht selbst keine Öko-

D ie Einzelwissenschaften werden von


oben herab durchmustert zum Zweck
des Ausverkaufs. Wollte man Spengler selbst
nomie mehr gibt, die Kultur, wenn sie nicht
rechtzeitig untergeht, aufhören könnte, die
harmlose Fassade zu sein, die Spengler her-
unterschlagen möchte, und die Widersprüche
in der Formensprache der von ihm denunzier-
sichtbar macht, die im reglementierten Unter-
ten Zivilisation benennen, so müßte man den
bau keine Stätte mehr haben. Die offiziell in
„ Untergang des Abendlandes“ einem Waren-
den faschistischen Ländern gelieferte Kultur
haus vergleichen, wo die getrockneten Lese-
früchte feilgeboten werden, die der intellek- 21 Bd. I, S. 57.
Spengler nach dem Untergang 123

bewirkte Gelächter und Unglauben bei den welchen Sinnes auch immer, zu verlästern
von ihr Betroffenen, und viel Opposition und das, was nun einmal so und nicht anders
fand ihre Zuflucht bei Büchern, in Kirchen ist, was registriert und akzeptiert werden
und in den Theaterstücken der Klassiker, die muß, zu glorifizieren.
man tolerierte, weil sie so klassisch sind, und ,, ... Aber in der geschichtlichen Wirklichkeit
die als tolerierte aufhören, es zu sein. Speng- gibt es keine Ideale; es gibt nur Tatsachen. Es
lers Verdikt trifft unterschiedslos die offi- gibt keine Wahrheiten; es gibt nur Tatsachen.
Es gibt keine Gründe, keine Gerechtigkeit, kei-
zielle Kultur und ihr Gegenteil: Expressio-
nen Ausgleich, kein Endziel; es gibt nur Tat-
nismus und Kino stehen im gleichen Satz. sachen — wer das nicht begreift, der schreibe
Die Undifferenziertheit des Verdikts stimmt Bücher über Politik, aber er mache keine
genau zur Verfassung der Machthaber in den Politik.“22
Diktaturstaaten, die die eigenen Lügen ver- Die essentiell kritische Einsicht von der
achten, die Wahrheit hassen und erst ruhig Ohnmacht der Wahrheit in der bisherigen
schlafen können, wenn keiner mehr zu träu- Geschichte, von der Übermacht des bloß
men wagt. Seienden über alle Versuche, durch Bewußt-
sein aus dessen Kreis auszubrechen, wird un-

D
vermerkt für Spengler zur Rechtfertigung
em einzelwissenschaftlichen Wider- des bloß Seienden selber. Daß, was ist, was
stand steht Spengler gemeinhin, und Macht hat und was sich durchsetzt, doch un-
zumal in den angelsächsischen Ländern, vor recht haben könnte, ist ein Gedanke, der ihm
Augen als ein Metaphysiker, der mit der nicht beikommt, oder vielmehr einer, den er
Willkür seiner Begriffskonstruktion die sich und anderen krampfhaft verbietet. Wut
Realität vergewaltigt. Nächst den Idealisten, ergreift ihn, wann immer die Stimme der
die von Spengler den Fortschritt im Bewußt- Ohnmacht laut wird, und doch hat er dieser
sein der Freiheit verleugnet fühlen, fand er nichts zu entgegnen, als daß sie eben ein für
kaum gereiztere Gegner als die Positivisten. allemal ohnmächtig sei. Hegels Lehre von
Kein Zweifel, daß seine Philosophie der der Vernünftigkeit des Wirklichen entartet
Welt Gewalt antut. Aber es ist dieselbe Ge- zur Karikatur. Das Hegelsche Pathos des
walt, die ihr täglich in Wirklichkeit angetan sinnvollen Wirklichen und der Spott gegen
wird. Geschichte, so quicken Lebens voll, daß den Weltverbesserer wird festgehalten, wäh-
ihr der Fortschritt zu mechanistisch war, rend zugleich das nackte Herrschaftsdenken
scheint dafür um so williger nach dem Speng- der Wirklichkeit den Anspruch auf Sinn und
lerschen Begriffsschema zu erfrieren. Ob eine Vernunft raubt, in dem das Hegelsche Pa-
Philosophie metaphysisch oder positivistisch thos allein gründet. Vernunft und Unver-
ist, läßt sich ihr nicht auf den ersten Blick nunft der Geschichte sind für Spengler das
ansehen. Zuweilen sind die Metaphysiker gleiche, reine Herrschaft, und Tatsache ist,
bloß weiterblickende oder weniger veräng- worin diese sich manifestiert.
stigte Positivisten. Ist Spengler überhaupt Nietzsche, dessen herrischen Ton Spengler
der Metaphysiker, als den er und seine unablässig nachahmt, ohne auch nur einmal
Feinde ihn betrachteten? Bleibt man formal wie Nietzsche vom Einverständnis mit der
beim Übergewicht der Begriffsbildung über Welt sich loszusagen, sagt an einer Stelle,
den empirischen Inhalt, der Schwierigkeit Kant habe die Vorurteile des gemeinen Man-
oder Unmöglichkeit der Verifikation und nes gegen die Wissenschaft mit deren Mit-
den grob irrationalistischen Hilfsbegriffen teln verteidigt. Etwas Ähnliches gilt für
seiner Erkenntnistheorie stehen, so ist er es Spengler. Er hat den Tatsachenglauben und
gewiß. Geht man aber der Substanz dieser die Fügsamkeit des Positivismus gegen die
Begriffe nach, so führen sie allemal auf posi- kritischen Widerstände der Metaphysik mit
tivistische Desiderate; insbesondere auf den deren eigenen Waffen verfochten; er hat, ein
Kult der „Tatsache“. Spengler läßt keine Ge- zweiter Comte, aus dem Positivismus eine
legenheit vorübergehen, ohne die Wahrheit, 22 Bd. II, S. 456.
124 Der Monat

Metaphysik gemacht, aus der Unterordnung Man hatte es rechts um so viel leichter, die
unter das Seiende die Liebe zum Schicksal, Ideologien zu durchschauen, als man sich an
aus dem Mit-dem-Strom-Schwimmen den der Wahrheit desinteressierte, die in falscher
kosmischen Takt, aus der Sinnlosigkeit das Form in den Ideologien enthalten ist. Wem
Geheimnis, aus der Verleugnung der Wahr- Freiheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit
heit die Wahrheit. Daher seine Gewalt. nichts als ein Schwindel sind, den sich die
Schwachen zum Schutz vor den Starken aus-

S
gedacht haben — und darin folgen alle Theo-
pengler zählt zu jenen Theoretikern der retiker der deutschen Reaktion Nietzsche —,
extremen Reaktion, deren Kritik des der vermag es recht wohl, als Anwalt der
Liberalismus der progressiven sich in vielen Starken auf den Widerspruch zu deuten, der
Stücken überlegen zeigte. Es lohnte die Mühe zwischen jenen vorweg schon verkümmerten
zu untersuchen, warum. Entscheidend sind Ideen und der Realität gilt. Es ist eine be-
die Differenzen im Verhältnis zur Ideologie. queme Kritik an den Ideologien. Sie lebt von
Die liberale erschien der historisch-dialek- der Verschiebung der Einsicht in die schlechte
tischen Kritik weithin als falsche Verspre- Wirklichkeit auf die Schlechtigkeit der Ideen,
chung. Solche Kritiker haben nicht die Ideen die damit bewiesen sein soll, daß sie nicht
der Menschlichkeit, Freiheit, Gerechtigkeit verwirklicht sind. Was dieser bequemen Kri-
in Frage gestellt, sondern den Anspruch der tik gleichwohl ihre Erkenntniskraft verleiht,
bürgerlichen Gesellschaft, die Verwirk- ist ihr tiefes Einverständnis mit den Mächten,
lichung dieser Ideen darzustellen. Ihnen die sich durchsetzen. Spengler und seines-
waren die Ideologien Schein, aber doch der gleichen sind weniger die Propheten des Zu-
Schein der Wahrheit. Versöhnender Ab- ges, den der Weltgeist nimmt, als seine be-
glanz fiel damit wenn nicht aufs Bestehende, flissenen Agenten.
so zumindest auf dessen „objektive Tenden- In der Form der Prognose bereits steckt
zen“. Die Rede vom Anwachsen der Ant- das Verfügen über die Menschen als Außer-
agonismen und das Zugeständnis der aktuel- Kraft-Setzen ihrer selbst. Die Theorie, die
len Möglichkeit des Rückfalls in die Barbarei alles von den Menschen und ihrer Aktion er-
wurden kaum so ernst genommen, daß man wartet, die nicht mehr mit politischen
die Ideologien als Schlimmeres denn apolo- „Kräfteverhältnissen“ rechnet, sondern dem
getische Verhüllungen, nämlich als den ob- „Kräftespiel“ ein Ende bereiten will, prophe-
jektiven Widersinn, erkannt hätte, der dazu zeit nicht. Spengler sagt, es käme darauf an,
hilft, die Gesellschaft der liberalen Konkur- in der Geschichte in weitestem Maße mit
renz in die der unmittelbaren Unterdrückung Unbekannten zu rechnen. Die Unbekannten
zu verwandeln. Die Frage etwa, wie gerade der Menschheit sind aber gerade das, womit
jene das Bestehende verändern sollten, die sich nicht rechnen läßt. Die Geschichte ist
dessen ganze Last zu tragen haben, ist kaum keine Gleichung, kein analytisches Urteil.
gestellt worden. Begriffe wie die der Masse Die Auffassung, sie sei das, schließt vorweg
und der Kultur blieben positiv hingenom- die Möglichkeit des Neuen aus. Die Speng-
men, ohne daß man auch bloß ihrer Dialektik lersche Vorhersage der Geschichte mahnt an
innegeworden wäre oder gar des Produziert- die Mythen von Tantalus und Sisyphus und
Werdens der spezifischen Kategorie Masse an die Sprüche des Orakels, die von alters
im gegenwärtigen Stadium der Gesellschaft her Böses verkünden. Er ist mehr ein Wahr-
und der gleichzeitigen Verwandlung der Kul- sager als ein Prophet. In der gigantischen
tur in ein Kontrollsystem. Daß vollends sogar und destruktiven Wahrsagerei triumphiert
die „Ideen“ in ihrer abstrakten Gestalt nicht der Kleinbürger.
bloß die regulative Wahrheit darstellen, Die Morphologie der Weltgeschichte dient
sondern selber an dem Unrecht kranken, dem gleichen Zweck wie die Graphologie bei
unter dessen Bann sie gedacht sind, kam Klages. Im Wunsch des Kleinbürgers, aus
nicht zum Bewußtsein. der Handschrift, dem Vergangenen und den
Spengler nach dem Untergang 125

Karten sein Schicksal sich vorhersagen zu Materialismus flach zu schelten, dem er doch
lassen, steckt eben, was Spengler den Opfern in Wahrheit nur darum grollt, weil er ihm
hämisch ankreidet: der Verzicht auf bewußte nicht positivistisch genug ist und die Welt
Selbstbestimmung. Er identifiziert sich mit anders haben möchte, als sie ist.
der Macht, aber seine Theorie verrät durch Aber die Metaphysik des Seelentums hat
ihre wahrsagerische Gestalt zugleich die weiterreichende Konsequenzen als die tak-
Ohnmacht der Identifikation. Er ist seiner tische. Man möchte von einer latenten Iden-
Sache so sicher wie ein Henker, nachdem die titätsphilosophie reden. Weltgeschichte, so
Richter ihren Urteilsspruch gefällt haben. In ließe übertreibend sich sagen, wird zur Stil-
der geschichtsphilosophischen Weltformel geschichte: die historischen Schicksale der
verewigt sich nicht bloß die fremde, sondern Menschheit sind so sehr das Produkt ihrer
auch die eigene Ohnmacht. Innerlichkeit wie die Kunstwerke. Der Mann
der Tatsachen verkennt den Anteil der Le-

V
bensnot an der Geschichte. Die Auseinander-
ielleicht erlaubt solche Charakteristik setzung des Menschen mit der Natur, wie sie
von Spenglers Denkweise einige prin- die Tendenz der Naturbeherrschung hervor-
zipiellere Überlegungen zu seiner Kritik. bringt, die sich dann in der Beherrschung
Positivistischer ist seine Metaphysik im Sich- von Menschen durch andere Menschen fort-
Bescheiden bei dem, was nun einmal so und setzt, tritt im Untergang des Abendlandes
nicht anders ist; im Abschneiden der Mög- nicht ins Blickfeld. Spengler sieht nicht, wie
lichkeit, im Haß gegen ein Denken, dem es sehr die historische Fatalität, auf die alles
mit dem Möglichen gegen das Wirkliche Licht der Betrachtung fällt, aus dem Zwang
ernst sein könnte. Dieser Positivismus ist der Auseinandersetzung mit der Natur her-
nun an einer entscheidenden Stelle von vorgeht. Er ästhetisiert das Bild der Ge-
Spengler durchbrochen — so sehr, daß schichte. Die Wirtschaft wird ihm eine „For-
einige seiner theologischen Rezensenten ihn menwelt“ ganz wie die Kunst; eine Sphäre
schließlich geradezu als Bundesgenossen reinen Ausdrucks der so und nicht anders ge-
glaubten reklamieren zu dürfen. Das ist arteten Seele, die im wesentlichen unabhän-
Spenglers Auffassung von der bewegenden gig von der Forderung nach der Reproduk-
Kraft der Geschichte, vom „Seelentum“: von tion des Lebens sich konstituiert.
der rätselhaften, durchaus innerlichen, un- Kein Zufall, daß Spenglers Verständnis
erklärlich jeweils in die Geschichte eintreten- ökonomischer Vorgänge hilflos dilettantisch
den Beschaffenheit eines besonderen Typus bleibt. Er spricht von der Allmacht des Gel-
Mensch oder, wie Spengler es gelegentlich des im gleichen Tone, in dem ein kleinbür-
nennt, einer „Rasse“. gerlicher Agitator gegen die Weltverschwö-
Allem Tatsachenglauben, aller relativisti- rung der Börse loszieht. Er verkennt, daß
schen Skepsis zum Trotz wird ein metaphysi- für die Wirtschaft stets die Produktion maß-
sches Prinzip zur letzten Erklärung der histo- gebend ist und nicht das Tauschmittel. Er ist
rischen Dynamik herangezogen; ein Prinzip, so fasziniert von der Geldfassade, von der
das, wie Spengler oft versichert, dem Entele- „Symbolkraft“ des Geldes, daß er darüber
chiebegriff Leibnizens und damit Goethes das Symbol zur Sache selbst macht. Er sagt
am nächsten sich weiß, „geprägte Form, selbst den Arbeiterparteien in eklatantem
die lebend sich entwickelt“. Diese Me- Widerspruch zu allen Programmen nach, sie
taphysik der pflanzenhaft sich entfaltenden wollten die Geldwerte nicht überwinden,
sondern besitzen.23 Sklavenwirtschaft, Indu-
und absterbenden Kollektivseele hat Speng-
strieproletariat, Maschinenwirtschaft sind bei
ler in die Nachbarschaft der Lebensphiloso-
ihm als Kategorien nicht prinzipiell verschie-
phen, außer Nietzsches Simmels und des von
den von der Plastik, der musikalischen Poly-
ihm verketzerten Bergson, gerückt. Dem
phonie oder der Infinitesimalrechnung. Sie
Taktiker Spengler ist die Rede von Seele und
Leben ein willkommenes Hilfsmittel, einen 23 a. a. O., S. 631.
126 Der Monat

verflüchtigen sich zu Zeichen eines bloß In- schen nennen mag, konstituiert sich bloß in
wendigen. Während die Querverbindungen den menschlichen Versuchen, den Natur-
zwischen den heterogenen Kategorien von zwang zu brechen. Wird dieser ignoriert,
Realität und Bild oftmals die Einheit histori- wird die Welt zu einem bloßen Gebilde des
scher Epochen überraschend ins Licht setzen, reinen Menschenwesens gemacht, so geht
entfällt dafür alles, was nicht frei und auto- gerade in der Allmenschlichkeit der Ge-
nom dem menschlichen Ausdrucksvermögen schichte Freiheit verloren. Sie entfaltet sich
angehört. Nur in vagen Reden von kosmi- bloß am Widerstand des Seienden: wird sie
schen Zusammenhängen überlebt bei Speng- absolut gesetzt und das Seelentum zum herr-
ler, was sich nicht als Symbol auf die von ihm schenden Prinzip erhöht, so verfällt es selber
trotz allem Fatalismus mit Souveränität aus- dem bloßen Dasein.
gestattete Menschennatur reduzieren läßt. Die Hybris des Spenglerschen Geschichts-

S
bildes und die Erniedrigung des Menschen,
o scheint die schicksalsverfallene Welt die er betreibt, sind in Wahrheit die gleiche
der Spenglerschen Geschichtskonzeption Sache. Kultur heißt nicht, wie bei Spengler,
ein zweites Reich der Freiheit. Aber sie das Leben sich entfaltender Kollektivseelen,
scheint es bloß. Es ergibt sich eine höchst sondern der Kampf der Menschen um die
paradoxe Konstellation. Gerade dadurch Bedingungen ihrer Reproduktion, Damit
nämlich, daß ihm alles Auswendige zum Bild enthält die Kultur ein Element des Wider-
des Inwendigen wird, und daß es bei ihm zu spruchs gegen die blinde Notwendigkeit:
einem eigentlichen Prozeß zwischen Subjekt den Willen, sich selbst zu bestimmen aus Er-
und Objekt überhaupt nicht mehr kommt, kenntnis. Spengler reißt die Kultur los von
scheint die Welt organisch aus der Seelen- jenem Drang der Menschheit, zu überleben.
substanz zu erwachsen wie die Pflanze aus Sie wird ihm zu einem Spiel der Seele mit
sich selber. Das Phantasma der Kultur aus
dem Samen. Die Geschichte nimmt durch
bloßer Innerlichkeit aber setzt er gleich mit
ihre Reduktion auf das Wesen Seele einen
den realen historischen Kräften — ja mit den
bruchlos organischen, in sich geschlossenen,
naturwüchsigen Kräften, weil die anderen
damit aber erst recht deterministischen Cha-
ausgelassen sind, samt der Realität, an der
rakter an. Karl Joel erklärt es in seiner Kritik
sie erst sich erproben könnten.
im Spengler-Sonderheft des Logos für
Damit aber tritt gerade der Spenglersche
„die ganze Krankheit dieses bedeutsamen Idealismus in den Dienst der Machtphiloso-
Buches, daß es den Menschen vergessen hat mit
phie. Die Kultur wird der Herrschaft ganz
seinem Schaffen und seiner Freiheit. Bei aller
Verinnerlichung entmenschlicht es die Geschichte immanent; der Prozeß, der aus bloßer Inner-
zu einem Ablauf typischer Naturprozesse, bei lichkeit entspringt und in bloße Innerlichkeit
aller Durchsetzung verleiblicht es die Geschichte, notwendig sich zurücknimmt, zum Schicksal,
indem es ihre ‚Morphologie‘ oder ‚Physiogno- und Geschichte zersetzt sich zu jener Zeit-
mik‘ liefern will, also ihre äußeren Gestalten, losigkeit im ziellosen Auf und Nieder der
ihre Ausdrucksformen, die Sonderzüge ihrer
Erscheinungen vergleichen will“.
Kulturen, die Spengler den späten Zivilisa-
tionen nachsagt und die den Grund seines
Nicht bei aller Verinnerlichung jedoch eigenen Weltplans ausmacht. Das Element
wird die Geschichte entmenschlicht, sondern an Kultur, das der Naturbefangenheit wider-
gerade vermöge ihrer Verinnerlichung. Na- steht, wird eskamotiert. Reines Seelentum
tur, mit der die Menschen in der Geschichte und reine Herrschaft sind das gleiche, so wie
sich auseinanderzusetzen haben, wird von bei Spengler die Seele gewalttätig und uner-
Spenglers Philosophie souverän beiseite ge- bittlich ihre eigenen Träger beherrscht. Die
schoben. Dafür verwandelt sich Geschichte reale Geschichte verklärt sich ideologisch zur
selber in eine zweite Natur, blind, auswegs- Seelengeschichte, nur damit das Widerspre-
los und verhängnisvoll wie nur je das vege- chende, sich Auflehnende am Menschen, sein
tabilische Leben. Was man Freiheit des Men- Bewußtsein, der blinden Notwendigkeit um
Spengler nach dem Untergang 127

so vollkommener verfällt. Spengler hat die keit tritt bei ihm als verpönter Gegenbegriff
Affinität von absolutem Idealismus — die zu dem des Schicksals auf. An einer der bru-
Lehre vom Seelentum ist Schellingsches talsten Stellen, einer unfreiwilligen Parodie
Erbe — und dämonischer Mythologie ein auf Nietzsche, beklagt er,
letztes Mal unter Beweis gestellt. An man- „daß das Weltgefühl des Rassemäßigen, der poli-
chen exzentrischen Punkten läßt seine mythi- tische und deshalb nationale Tatsachensinn
sche Befangenheit sich mit Händen greifen. — right or wrong, my country! —, der Entschluß,
Subjekt und nicht Objekt der historischen Ent-
Die regelhafte Periodizität gewisser Ereig- wicklung zu sein — denn etwas Drittes gibt es
nisse, heißt es in einer Fußnote des zweiten nicht —, kurz der Wille zur Macht durch eine
Bandes, Neigung überwältigt wird, deren Führer sehr
oft Menschen ohne ursprüngliche Triebe, aber
„deutet wieder darauf hin, daß die kosmischen
desto mehr auf Logik versessen sind, in einer
Flutungen in Gestalt des menschlichen Lebens Welt der Wahrheiten, Ideale und Utopien zu
an der Oberfläche eines kleinen Gestirns nichts Hause, Büchermenschen, welche das Wirkliche
irgendwie für sich Bestehendes sind, sondern durch das Logische, die Gewalt der Tatsachen
mit dem unendlichen Bewegtsein des Alls in tie- durch eine abstrakte Gerechtigkeit, das Schicksal
fem Einklang stehen. In einem kleinen, merk- durch die Vernunft ersetzen zu können glauben.
würdigen Buch: R. Mewes, ,Die Kriegs- und Es fängt an mit den Menschen der ewigen Angst,
Geistesperioden im Völkerleben und Verkündi- die sich aus der Wirklichkeit in Klöster, Denker-
gung des nächsten Weltkrieges‘ (1896), ist die stuben und geistige Gemeinschaften zurück-
Verwandtschaft dieser Kriegsperioden mit Peri- ziehen und die Weltgeschichte für gleichgültig
oden der Witterung, der Sonnenflecken und ge- erklären, und endet in jeder Kultur bei den
wisser Planetenkonstellationen festgestellt und Aposteln des Weltfriedens. Jedes Volk bringt
daraufhin ein großer Krieg für 1910—1920 ange- solchen — geschichtlich betrachtet — Abfall her-
setzt worden. Aber diese und zahllose ähnliche vor. Schon die Köpfe bilden physiognomisch
Zusammenhänge, die in den Bereich unserer eine Gruppe für sich. Sie nehmen in der ‚Ge-
Sinne treten, bergen ein Geheimnis, das wir zu schichte des Geistes‘ einen hohen Rang ein
ehren haben.“24 — eine lange Reihe berühmter Namen ist dar-
unter —, vom Standpunkt der wirklichen Ge-
Spengler, bei all seinem Hohn für zivili- schichte aus betrachtet sind sie minderwertig“.25
satorische Mystik, kommt in solchen Formu-
Spengler standhalten hieße demnach, den
lierungen dem astrologischen Aberglauben
„Standpunkt der wirklichen Geschichte“, die
überaus nahe. So endet die Verherrlichung
keine Geschichte, sondern schlechte Natur
der Seele.
ist, geschichtlich aufzuheben und das ge-
schichtlich Mögliche zu verwirklichen, das

D
Spengler unmöglich nennt, weil es noch nicht
ie Wiederkehr des Immergleichen, in verwirklicht ist. In diese Zusammenhänge ist
der solche Schicksalslehre terminiert, James Shotwells Kritik unbestechlich einge-
ist aber nichts anderes als die immerwährende drungen:
Reproduktion der Schuld von Menschen
„Dem Herbst ist bisher stets der Winter ge-
gegen Menschen. Im Begriff des Schicksals, folgt, weil das Leben sich im Kreislauf wieder-
der den Menschen selber blinder Herrschaft holte und auf dem begrenzten Raum einer
unterstellt, reflektiert sich die Herrschaft, autarken Wirtschaft abspielte. Der Verkehr zwi-
die Menschen ausüben. Sooft Spengler von schen den einzelnen Gesellschaften trug eher
räuberischen als stimulativen Charakter, weil von
Schicksal redet, handelt es sich um die Unter- der Menschheit noch kein Mittel zur Erhaltung
werfung einer Gruppe von Menschen durch der Kultur gefunden worden war, das sie nicht
andere. Die Seelenmetaphysik tritt zum Po- in unverhältnismäßigem Maße von denen ab-
sitivismus hinzu, um das Prinzip der unab- hängig gemacht hätte, die keinen Anteil an ihren
lässig sich reproduzierenden Herrschaft materiellen Segnungen hatten. Von den ersten
wilden Raubzügen und der Sklaverei bis zu den
als ewig und unausweichlich zu hypostasie- industriellen Problemen unserer Tage sind alle
ren. Die Unausweichlichkeit des Schicksals Kulturen auf falschen wirtschaftlichen Grund-
ist in Wahrheit definiert durch Herrschaft lagen aufgebaut gewesen und von ebenso fal-
und Ungerechtigkeit selber, und das ver- 24 Spengler, II, S. 488.
tuscht Spenglers Weltordnung. Gerechtig- 25 I. a.a.O. 223.
128 Der Monat

schen moralischen und religiösen Spitzfindig- haben eine Chance, das Spenglersche Verdikt
keiten gestützt worden. Es hat ihnen an innerem zu überleben, welche die Idee der Kultur
Gleichgewicht gefehlt, weil sie von der Unge-
rechtigkeit der Ausbeutung ausgingen. Es gibt nicht weniger herausfordern als die Wirk-
keinen Grund zu der Annahme, daß die moderne lichkeit der Barbarei. Die pflanzenhafte Kul-
Kultur diesen umwälzenden Rhythmus zwangs- turseele Spenglers, das vitale „In-Form-
läufig wiederholen müsse.“26 Sein“, die unbewußte archaische Symbolwelt,
Diese Einsicht vermag es, die ganze Speng- an deren Ausdruckskraft er sich berauscht —
lersche Geschichtskonzeption aufzurollen. all diese Zeugnisse selbstherrlichen Lebens
Ist der Untergang der Antike gesetzt durch sind Sendboten des Verhängnisses, wo sie
autonome Notwendigkeit im Leben und wirklich in Erscheinung treten. Denn sie alle
Ausdruck ihres Seelentums, dann gewinnt zeugen von Zwang und Opfer, die Kultur
er in der Tat den Aspekt des Schicksals, und den Menschen auferlegt. Auf sie sich verlas-
leicht lassen die Züge der Fatalität auf die sen und den Untergang verleugnen, heißt
gegenwärtige Situation sich übertragen. Ist nur ihrer tödlichen Verstrickung um so tie-
aber, wie es im Sinn von Shotwells Sätzen fer verfallen. Es heißt zugleich wiederher-
liegt, der Untergang der Antike zu verste- stellen wollen, worüber bereits Geschichte
hen aus dem unproduktiven Latifundien- jenes Verdikt aussprach, das für Spengler
system und der damit zusammenhängenden das letzte bleibt, während Weltgeschichte,
Sklavenwirtschaft, so ist das Schicksal zu indem sie ihr Urteil vollstreckt, das mit Recht
meistern, wenn es gelingt, solche und ähn- Verurteilte gerade in seiner Unwiederbring-
liche Herrschaftsformen zu überwinden, und lichkeit ins Recht setzt.
die universale Struktur enthüllt sich als fal-

E
scher Analogieschluß auf eine schlechte Ein-
maligkeit. ines ist Spenglers spähendem Jäger-
Das involviert freilich mehr als den Glau- blick, der erbarmungslos die Städte
ben an stetigen Fortschritt und ans Über- der Menschheit durchstreift, als wären sie
leben der Kultur. Spengler hat die Natur- die Wildnis, die sie sind — eines ist diesem
wüchsigkeit der Kultur mit einem Nachdruck Jägerblick verborgen: die Kräfte, die im Ver-
ausgesprochen, der ein für allemal das Ver- fall frei werden. „Wie scheint doch alles Wer-
trauen in ihre versöhnende Kraft erschüt- dende so krank“ — der Satz des Dichters
tern sollte. Schlagender als fast jeder andere Georg Trakl transzendiert die Spenglersche
hat er demonstriert, wie die Naturwüchsig- Landschaft. In der Welt des gewalttätigen
keit der Kultur stets wieder zum Untergang und unterdrückten Lebens ist Dekadenz, die
treibt, und wie Kultur selber als Form und diesem Leben, seiner Kultur, seiner Roheit
Ordnung verschworen ist der blinden Herr- und Erhabenheit die Gefolgschaft aufsagt,
schaft, die in permanenter Krise sich und das Refugium des Besseren. Die ohnmäch-
ihren Opfern gleichermaßen das Schicksal tig, nach Spenglers Gebot, von Geschichte
bereitet. Was Kultur ist, trägt die Spur des beiseite geworfen und vernichtet werden,
Todes — das zu verleugnen, bliebe ohnmäch- verkörpern negativ in der Negativität dieser
tig vor Spengler, der von den Geheimnissen Kultur, was deren Diktat zu brechen und
der Kultur kaum weniger ausgeplaudert hat dem Grauen der Vorgeschichte sein Ende zu
als Hitler von denen der Propaganda. bereiten wie schwach auch immer verheißt.
Um dem Zauberkreis der Spenglerschen In ihrem Einspruch liegt die einzige Hoff-
Morphologie zu entrinnen, genügt es nicht, nung, es möchten Schicksal und Macht nicht
die Barbarei zu diffamieren und auf die Ge- das letzte Wort behalten. Gegen den Unter-
sundheit der Kultur sich zu verlassen — eine gang des Abendlandes steht nicht die über-
Vertrauensseligkeit, in deren Angesicht lebende Kultur, sondern die Utopie, die im
Spengler hohnlachen könnte. Vielmehr ist Bilde der untergehenden wortlos fragend be-
das Element der Barbarei an der Kultur sel- schlossen liegt.
ber zu durchdringen. Nur solche Gedanken 26 Shotwell, a. a. O., S. 66 f.

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