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Albertina Carri La Imagen Piel The Skin
Albertina Carri La Imagen Piel The Skin
—
CARRI 6.3.22
L A
Jens Andermann
IMAGEN-
PIEL
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secuencia de devenires, como aprendizaje de
mirar con el cuerpo y de tocar con los ojos –
esto es, en sentido literal de la expresión, de
tener cuidado.
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Die Haut der Bilder zwischen der Zeit der Körper im Film und der
Zeit des Körpers des Films. Genau in diese
Pause, diesen Halbtonschritt zwischen zwei
Zeitlichkeiten, schreibt sich Albertina Carris
Cine puro ein.
Die Frage nach der Körperlichkeit der
Die Erscheinung der Bilder ist das Wunder des Bilder ist, wie wir wissen, so alt wie die Idee
Kinos. Ähnlich wie in einer gotischen Kathed- der Repräsentation selbst. Nichts anderes ist
rale der Raum um das Buntglasfenster herum im Spiel bei der alchemistischen Suche nach
organisiert war, dank dessen die Passions- dem Stein der Weisen, der ikonoklastischen
szenen noch einmal inmitten der Gläubigen Kontroverse zwischen Römern und Bzyanti-
auflebten, führt uns das Kino in einen anderen nern um das eidolon und seine furchtbaren
Raum und eine andere Zeit unter der Bedin- Kräfte oder (in der wohl ersten Filmvorstellung
gung, dass wir vorübergehend unsere eigene der Weltgeschichte) im Tanz der Schattenge-
Sichtbarkeit und Bewegung aufgeben. Der bilde an der Schwelle von Platons Höhle. Doch
argentinische Schriftsteller Bioy Casares hat in Carris Händen verlässt diese uralte Frage
in Morels Erfindung diese Opferdimension des die Gefilde der Spekulation und erhält statt-
Kinos sehr gut erfasst: Die Bilder erhalten nur dessen eine neue und besondere Dringlichkeit
in dem Maße einen Körper, in dem wir ihnen im Spannungsfeld zwischen zwei Formen
den unseren überlassen. des Verschwindens, das Cine puro vor uns
Doch das Kino besitzt noch eine weitere entfaltet: zum einen des Staatsterrorismus der
körperliche Dimension, die auch über das lateinamerikanischen Diktaturen des Kalten
Projektionsritual hinaus Bestand hat. Auch Krieges (und implizit auch des paramilitäri-
wenn das bewegte Bild – wie uns die Archiva- schen Extraktivismus, der auf diese folgte),
re audiovisueller Medien versichern – einen zum anderen der Reduktion alles Lebendigen
doppelt ephemeren Charakter besitzt, weil und selbst der leblosen Materie – Bios und
neben der Flüchtigkeit seines Durchgangs Geos – zu abbaubaren Ressourcen. Nichts
durch den Kinosaal jede Vorstellung unwei- weniger als die Festschreibung dieser Idee als
gerlich auch zu seinem Verfall und sogar zu zweite Natur der neokolonialen Peripherien
seinem schließlichen Verschwinden beiträgt des Planeten hatte sich der Terror der Militärs
(gleich welcher materielle Medienträger es ja zur Aufgabe gemacht. Und dies ist genau
enthält), so geht das Kino als physisches Ob- der Schnittpunkt der Linien, die Cine puro uns
jekt doch auch dem Licht-Bild-Ereignis voraus herausfordert zu durchqueren: das Feld, im
und bleibt über dieses hinaus bestehen. Dem weiteren Sinne, der extraktivistischen Moderne
Bild, welches das Kino in die Welt entlässt, ist des Globalen Südens.
also eine materielle Dimension unterlegt, die Doch das Bild, das sich in seine eigene
aus den Dosen emulsionierter Spulen besteht, Materialität zurückzieht, bis es sich von seiner
auf welchen der Eindruck von Bildern geprägt visuellen Dimension selbst ablöst, ist zugleich
worden ist, die im Laufe der Zeit irgendwann ein Ort des Widerstands. Es ist ebendiese
wieder gelöscht sein werden. Was an dieser kritische, widerständige Dimension, die sich im
Materialität des Kinos (in seiner analogen, Zwischenraum von Bild und Körper, zwischen
foto-chemischen Version) hervorsticht, ist hier Sichtbarem und Greifbarem öffnet, zu der Car-
jedoch nicht deren skulpturaler Wert – die ris Kino ein ums andere Mal zurückgekehrt ist,
vom Kegel der Projektorlampe und der diesen von den Perücken in Los rubios (2003), denen
empfangenden Oberfläche gebildete Licht- der feindliche Blick eines Anderen buchstäb-
architektur, wie in Tacita Deans Installation lich eingefleischt war, zum Splitscreen in
in der Turbinenhalle der Tate Modern (Film, Cuatreros (2015), wo sich das Bild in so viele
2011) – sondern vielmehr die Kluft, die sich Spuren verzweigt, bis der schiere Überfluss an
zwischen der Dauer des Bildes und derjenigen Found-Footage-Fragmenten den Blick auf de-
der Dinge auftut, aus denen dieses besteht: ren Objektdimension lenkt (wie auch auf dieje-
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nige des Bildes, das diese enthält), und selbst den Lichtreflexen, das wir sehen, wenn wir die
zu den Nahaufnahmen von Körpern beim Sex Augen schließen und unser Sehvermögen auf
in Las hijas del fuego (2018), die sich – in den seine körperliche Grundlage als Muskelreflex
Worten einer Protagonistin – in „Territorien zurückgeworfen wird. Und es ist schließlich
und Landschaften“ verwandeln: das heisst, in der Klang, der uns umgibt, wenn wir am Ende
Materie, Umwelten, statt in Spektakel. Cine an die Luft treten, zugleich Erinnerung an die
puro deutet also nicht auf das Verschwinden Bilder, die wir beim Eintreten gesehen haben
der Bilder, sondern vielmehr auf den Punkt, und ein Hörraum, der andere, noch künftige
an dem diese mit dem materiellen Körper ver- Bilder vorstellbar macht. Die Haut der Bilder,
schmelzen, von dem sie getragen werden: ein wie Eduardo Jorge de Oliveira uns erinnert, ist
bisschen wie das faserige Papier der Briefe nicht allein die affektive Zone, in der das Kino
der Mutter in Punto impropio, das im Fokus auf unseren Körper selbst einwirkt, sondern
der Mikroskoplinse eine hautähnliche Qualität vor allem auch die Haut der Welt als sinnliche
annimmt, ganz so, als seien die Tintenflecke Möglichkeit und als offenes Feld für unsere
weniger als Wörter, Sätze und Interpunktionen Vorstellungskraft. Genau in diesem Sinne bie-
zu verstehen denn als Leberflecken, Tätowie- tet sich Cine puro uns als Sequenz von De-
rungen oder Wundmale, die statt zum Lesen venirs an, von Formen des Werdens und von
und Verstehen zum Anfassen und Streicheln Gelegenheiten, mit dem Körper sehen und mit
anhalten. den Augen berühren zu lernen – das heißt, im
„Reines Kino“, anders gesagt, ist das Feld wortwörtlichen Sinne, Acht zu haben.
des Kommens und Gehens zwischen Kör-
per und Bild, aber es ist auch der Raum und Laura Marks, The Skin of the Film. Intercultural
Cinema, Embodiment, and the Senses (Durham, NC:
die Zeit dieses „Dazwischen“. Wir beginnen Duke University Press, 2000)
nun zu begreifen, warum unser Weg durch Eduardo Jorge de Oliveira, A Invenção de uma
die Ausstellung zickzackförmig, ja selbst la- Pele. Nuno Ramos em Obras (São Paulo: Iluminuras,
byrinthisch angelegt ist: In diesen seitlichen 2018)
Ablenkungen (unseres Gesichtsfeldes zum
Beispiel) nimmt die Haut der Bilder Form an,
die haptische Zone, in der sich Bild und Kör-
per berühren. Die Haut des Films, in Laura
Marks’ einflussreicher Wortprägung, befindet
sich am Rand der Bilder, dort wo diese eher
unser Zuhören, unsere Berührung und selbst
unseren Geruchs- und Geschmackssinn for-
dern als unseren Blick. Die Haut der Bilder
erwächst – und bestehen wir darauf: weder im
Bild noch „in uns selbst“, sondern zwischen
beiden – wenn, wie in Campo, die Kamera
aufhört, aus mittlerer Distanz auf ein in die
Sicherheit der Wiese flüchtendes Gürteltier
zu fokussieren, und selbst zwischen Blätter
und Zweige eintaucht, sodass sich die Linse
in eine Art Schnauze verwandelt, die mögliche
Hindernisse im Weg abfühlt. Oder es sind die
Flecken und Spinnweben, die in Cine puro
über die Leinwand flirren, wenn die Bilder sich
von der Filmspule abgelöst haben, als wäre
diese selbst das Abbild einer entzündeten und
rissigen Netzhaut oder das Wechselspiel zwi-
schen den Adern in unseren Augenlidern und
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The Skin Image
Cine puro
Escultura fílmica realizada en base a 6000 m de material Polyester 35 mm descartado,
( 2 Chronos 35 mm, movimiento infinito / Filmskulptur aus 6000 m aussortiertem 35-mm-Polyesterfilm,
2 Chronos 35 mm, unendliche Bewegung / Film-sculpture made from 6000 m discarded
)
35 mm polyester film, continuous movement
Presente
( 7-minute loop, Super 8 mm )
Fotografía / DoP / Director of photography
Inés Duacastella
Proyectorista y cámara / Filmvorführerin und Kamera / Projectionist and camera
Lisa Lombardo
16 mm Laboratorio Arcoiris
Diseño de arte / Art Direction
Daniel Leber
Guion y Dirección / Drehbuch und Regie / Screenplay and director
Albertina Carri
Time Lapse
( 12-minute loop, HD Digital )
Producción / Produktion / Production
Diego Schipani
Edición / Schnitt / Editor
Lautaro Colace
Corrección de color / Farbkorrektur / Color correction
Inés Duacastella
Dirección / Regie / Director
Albertina Carri
Allegro
( Escultura sonora a partir de proyectores 16 y 8 mm, 20 minutos con pausa de 5 minutos
/ Klangskulptur aus 16- und 8-mm-Filmprojektoren, 20 Minuten mit fünfminutiger Pause )
/ Sound-sculpture created with 16 and 8 mm film projectors, 20 minutes with five-minute break
Punto impropio
( DER UNEIGENE PUNKT / IMPROPER POINT
Multi-channel installation 45-minute loop HD digital, Stereo 5.1 )
Diseño sonoro / Tongestaltung / Sound design
Mercedes Gaviria
Dirección de fotografía / DoP / Director of photography
Alejo Maglio
Corrección de color / Farbkorrektur / Color correction
Inés Duacastella
Producción general / Produktionsleitung / Production manager
Diego Schipani
Edición / Schnitt / Editor
Lautaro Colace
Voz en off / Off-Stimme / Voice-over
Analía Couceyro
Traducción / Übersetzung / Translation
Maureen Shaughnessy
Dirección y guion / Drehbuch und Regie / Screenplay and director
Albertina Carri
Paisaje
( LANDSCHAFT / LANDSCAPE
30 minutes, Stereo 5.1 )
Diseño sonoro / Tongestaltung / Sound design
Mercedes Gaviria
Guion y dirección / Drehbuch und Regie / Screenplay and director
Albertina Carri
Albertina Carri: Cine Puro El Programa para Artistas en Berlín del Servicio
Alemán de Intercambio Académico (DAAD) es apoyado
Muestra / Ausstellung / Exhibition por el Ministerio Federal de Relaciones Exteriores
y el Senado de Berlín.
Producido por / Produziert von / Produced by
Berliner Künstlerprogramm des DAAD / Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD wird gefördert
the DAAD Artists-in-Berlin Program vom Auswärtigen Amt und dem Land Berlin.
The DAAD Artists-in-Berlin Program is funded by the
Curadora / Kuration / Curator German Federal Foreign Office and the State of Berlin.
Silvia Fehrmann
Asistente de producción Artes Visuales /
Projektassistenz Bildende Künste /
Production assistant visual arts
Katrin Winkler
Asistente de producción Literatura y Cine /
Projektassistenz Literatur und Film /
Production assistant literature and film
Laura Muñoz-Alonso
Traducciones / Übersetzungen / Translations:
Jens Andermann, Timo Berger,
Silvia Fehrmann, Roger Koza, Erik Smith
Correctores / Lektorat / Copy Editor
Mandi Gomez, Martin Hager, Hannah Sarid de Mowbray,
Kirsten Thietz, Aimée Torre Brons
Diseño gráfico / Grafik / Graphic design
Klimaite Klimaite
DAADGALERIE
ORANIENSTRASSE 161
BERLIN
www.berliner-kuenstlerprogramm.de