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Vom Gesetz zum Gewissen

oder
die Verinnerlichung von Werten als
kulturelles Phänomen.
Der Gegensatz von Hobbes und Rousseau mit seinen literarischen Folgen

Inhaltsangabe

Einleitung

1. Der Wandel des Regentenmodells


1.1 Das Herrscherbild anhand zweier dramatischer Beispiele
a) Shakespeares King Richard II
b) Schillers Maria Stuart
1.2 Das Herrscherbild anhand zweier theoretischer Beispiele
a) Hobbes
b) Novalis

2. Das Über-Ich als Verinnerlichungskultur

3. Die Verinnerlichung des Ehrbegriffs


3.1 Duelle in der Literatur als Beispiel

Schluß

Literaturangaben
Anhang
Fußnoten
Einleitung
Die Verinnerlichung von Werten zeigt sich in den verschiedensten
Ausprägungen, sie ist ein umfassendes Phänomen, das auf dem langen
Weg in die Moderne alle gesellschaftlichen Schichten einschließt. In dieser
Arbeit soll anhand von zwei Beispielen, des Regentenmodells und des
Ehrbegriffs, aufgezeigt werden, wie diese Entwicklung hin zur
Verinnerlichung verläuft, wobei der Schwerpunkt auf dem Verhältnis von
Herrscher und Beherrschtem liegt. Das der auch als Psychologisierung
aufzufassende Wandel des Untertanen nicht nur auf das Verhältnis zum
Regenten, sondern auch auf diesen selbst zurückwirkt, ist in der Literatur
oft thematisiert worden – meist allerdings, ohne sich dessen ausdrücklich
bewußt zu sein.
Zu diesem Zweck befaßt sich das erste Kapitel mit dem Vergleich zweier
für ihre Entstehungszeit repräsentativen Dramentexte und stützt die aus
ihnen gezogenen Schlüsse des jeweiligen Herrscherbildes durch ihnen
nahestehende theoretische Texte. Im zweiten Kapitel wird Freuds
Verständnis des Kulturprozesses wiedergegeben. Der dritte Teil beschreibt
dann anhand des Wandels des Ehrbegriffs die gesamtgesellschaftliche
Entwicklung seit Beginn der Neuzeit, wiederum mit einigen literarischen
Beispielen. Der Schluß soll dann die verschiedenen Kernaussagen
zusammenführen und bemüht sich um eine Einordnung des Ganzen in
einen Zusammenhang.

1. Der Wandel des Regentenmodells


1.1. Das Herrscherbild anhand zweier dramatischer Beispiele

a) Shakespeare
Die Darstellung von Politik und Königtum in William Shakespeares
Richard II. ist ganz dem Herrschaftsmodell seiner Entstehungszeit
geschuldet. In dem in der ersten Einzelausgabe 1597 noch als „tragedy“
untertitelten, in den weiteren Publikationen dann als „History“
bezeichneten Stück1 wird das schon anhand der Spielorte deutlich:
Angaben wie „Der Hof“, „Windsor Castle“, „Ein Lager in Wales“ oder
„Westminster Hall“ zeigen, wie sehr sich die Existenz und damit
Herrschaftsberechtigung des ganzen Adels – und nur der spielt im Stück
eine maßgebliche Rolle – und insbesondere des Königs vom Grad ihres
Repräsentationsvermögens her legitimiert. Das wird auch in den Auftritten
der handelnden Personen deutlich; solange Richard König ist, tritt er nur
mit Gefolge, niemals alleine auf. Er benötigt seinen Hofstaat, um sich
sowohl seinen Untertanen wie sich selbst seiner Rolle als Herrscher zu
versichern. Ebenso umgibt sich sein Gegenspieler Bolingbroke nach seiner
vorzeitigen Rückkehr aus der Verbannung ständig mit seinen
Gefolgsleuten, wie um zuerst seinen Rechts-, später dann seinen
Machtanspruch zu stützen. Es gilt hier zu beachten, daß wir uns, sowohl
was die spätmittelalterliche Geschichte der Rosenkriege, als auch deren
frühneuzeitlichen dramatisierenden Chronisten betrifft, noch im Zeitalter
der personalen Herrschaft befinden, das heißt die personalunabhängigen
Institutionen modernerer nationalstaatlicher Verfassungen noch kaum zur
Ausprägung gelangt sind. Auch die Sonderstellung des englischen
Inselkönigreiches greift hier nur bedingt, da das Parlament zur Zeit
Shakespeares ausschließlich die Interessen des Adels, nicht die der
einfachen Bürger vertritt. Und so kann Zedlers Universallexikon von 1739
noch allgemeingültig definieren: „Hof wird genennet, wo sich der Fürst
aufhält.“ Dort wird einige Zeilen weiter behauptet, das Volk könne die
wahre Hoheit ihres Herrschers gar nicht erkennen, denn „wären alle
Unterthanen von der tieffen Einsicht, daß sie den Fürst wegen innerlichen
Vorzuges verehrten, so brauchte es keines äußerlichen Gepräges; so aber
bleibet der gröste Theil derer gehorchenden an dem äußerlichen hängen.“2
Der Grad des durch die Repräsentanz dieses „Ceremoniels“ ausgedrückten
Machtbeweises manifestiert sich in dem Begriff, den dieses Lexikon mit
„Ansehen“ benennt. Das „Ceremoniel“ repräsentiert die Ordnung.3 Das
Shakespeare’sche Drama trägt dieser Auffassung durch die Art der
Auftritte und Handlungsorte Rechnung, nämlich durch seinen
Repräsentationscharakter.
Das Volk tritt nur in Form von heranzitiertem Unterstützungspotential der
beiden Gegenspieler Richard und Bolingbroke in Erscheinung, um ihren
jeweiligen Machtanspruch zu untermauern, das heißt in erster Linie als
Armee. So kann Richard die Liebe Bolingbrokes für „das gemeine Volk“
problemlos als „List“ abtun und das Gefühl, welches die Untertanen dafür
wiederum Bolingbroke entgegenbringen, als bloße „Hoffnung“ verachten.4
Falls Richard sich überhaupt irgend etwas Irdischem gegenüber verpflichtet
sieht, so ist es das von ihm regierte Land, nicht seine Untertanen.5 Vielmehr
scheint er aber eher der Meinung zu sein, nicht nur die Untertanen, ja
das Land selbst, müsse seinen königlichen Befehlen gehorchen, was
beispielsweise in seinem Verlangen zu sehen ist, die Spinnen, Kröten,
Brennesseln und Nattern Englands sollten sich wider die verräterischen
Feinde erheben6. An dieser Stelle ist die literarische Überspitzung
Shakespeares sehr aus der Entstehungszeit des Stückes zu verstehen oder
zumindest von den damaligen Rezipienten verstanden worden; auch wenn
die Briten sich aufgrund ihrer Insellage stets für etwas Besonderes gehalten
haben (das soll nicht wertend gemeint sein, wer kann ehrlich sagen, er täte
es nicht), wegen der besonderen damaligen Umstände haben die Engländer
in ihrem Inselreich die natürliche Festung des wahren christlichen
Glaubens gegen die katholischen Mächte des europäischen Festlands
gesehen.
In den Argumentationen der beiden Kontrahenten sind machtpolitische
Erwägungen vorherrschend. Aus heutiger Sicht als moralisch
einzustufende Überlegungen (denn die damalige Moral unterschied sich
erheblich von derjenigen nach der Aufklärung, was in dieser Arbeit unter
anderem gezeigt werden soll) geraten, sobald sie geäußert werden, in den
Generalverdacht der parteilichen Inanspruchnahme oder rechtfertigen sich
durch eine Logik der den Zweck heiligenden Mittel. Der König beharrt auf
dem Standpunkt seiner unantastbaren Majestät7, sodaß er in dieser Position
noch nicht einmal davor zurückschreckt, die Güter seines verstorbenen
Onkels zur Finanzierung des Irland-Feldzugs zu konfiszieren. Für wie
unerreichbar und damit ungefährdet er in der ersten Hälfte des Stücks
seine Stellung als König im Vergleich zu den restlichen Untergebenen
hält, drückt sich durch die mehrfach verwendete Sonnenmetapher8 aus,
die nach Richards Verlust der Krone auf Bolingbroke übertragen wird.9
Und nur diese Selbstverständlichkeit der Herrschaft kann eine Ahnung
davon geben, warum Richard von sich aus auf den Thron verzichtet10,
obwohl er eigentlich nur eine Entscheidung, die Verbannung Bolingbrokes,
widerrufen müßte. Aber ist ein Befehl des Königs infragegestellt, ist der
ganze König infragegestellt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die
schlechte Regentschaft Richards mehrmals im Stück auf seine schlechten
Berater zurückgeführt wird.11
Die Wichtigkeit des Repräsentationsfaktors zeigt sich auch an der
spezifischen Bedeutung, die den Namen beigemessen wird. Zumindest
innerhalb des Adels kennzeichnet der Name eher die Funktion als die
Person des Trägers. Richard selbst ist der erste, der Bolingbroke „König“
nennt.12 Dieser wiederum erklärt seine vorzeitige Rückkehr aus der
Verbannung mit einem Namenswechsel.13 Doch die für die damalige
Souveränitätsvorstellung bei weitem interessanteste Stelle des Stückes ist
die rhetorisch gemeinte Frage Richards „Is not the king’s name twenty
thousand names?“14, auf die im nächsten Kapitelteil (1.2.a) Hobbes) näher
eingegangen werden soll.
Richard redet über seine Herrschaftsfunktion hinausgehend, also auch in
persönlichen Dingen, im pluralis majestatis, spricht also von „Wir“, wo
doch nur „Ich“ gemeint ist – wenn auch nicht in durchgehend konsequenter
Weise.15 Diese übliche Sprachregelung läßt das Herrschaftsmodell
erkennen, welches auch diesem Drama zugrunde liegt. Wenn der König für
sich in Anspruch nimmt, als Sprachrohr und Gehirn des gesamten Staates
zu fungieren, ohne mit anderen Institutionen vorher Rücksprache zu halten,
fühlt man sich sofort an den berühmten Satz der Ikone des Absolutismus,
Louis XIV. erinnert: „L’etat c’est moi.“. Wenn König Richard selbst vom
Herzog von Lancaster, seinem Onkel John von Gaunt, als „God’s substitute
/ His deputy anointed in His sight“16 bezeichnet wird, dann spiegelt es
das in der Tudor-Zeit propagierte Herrschaftsbild wider, welches dem
Monarchen seit der Reformation in England eine noch höhere Stellung
zuweist, da das weltliche Oberhaupt nun auch zugleich geistiges Oberhaupt
ist. Der Monarch erhält seinen Herrschaftsauftrag also direkt von Gott,
er ist sein Stellvertreter auf Erden – zumindest auf englischem Boden
– und damit theoretisch in keinster Weise auf die Legitimierung seiner
Souveränität durch das Volk angewiesen. Man muß sich dabei vor Augen
halten, daß Shakespeare hier einen Stoff dramatisch bearbeitet, der sich
geschichtlich etwa 250 Jahre vor der Entstehungszeit des Stückes ereignet
hat; gleiches trifft in etwa auf Schillers Maria Stuart zu. Es wird also
im weiteren zu zeigen sein, daß auch Schillers Darstellung des
Herrschaftsmodells mehr seiner eigenen Zeit als den historischen
Verhältnissen seines Stoffes geschuldet ist.

b) Schiller
In Friedrich Schillers Trauerspiel Maria Stuart (Uraufführung 1800 in
Weimar) sind die Handlungsorte weitaus intimer gesetzt. „Ein Zimmer“,
„Gegend in einem Park“, „Vorzimmer“ lassen durch ihre bloße
Bezeichnung keinen Rückschluß auf die hier in ihnen agierenden Personen
zu. Schon die ersten Szenen des Stücks mit der Durchsuchung und
Beschlagnahmung der letzten verbliebenen Privatsachen Marias scheinen
auf die Dekonstruktion ihrer Herrschaftsansprüche angelegt zu sein. Doch
während die Amme Hanna Kennedy durch die Konfiszierung des letzten
Rests von Marias Brautgeschmeide „Nichts Königliches mehr“17 an ihrer
Herrin sieht, antwortet diese darauf, daß sich der Anspruch auf ihre
Stellung nicht von Äußerlichkeiten18, sondern aus anderen Vorzügen
herleitet, wie etwa ihre Geburt oder die Sorge um ihre Untergebenen.19
War König Richard noch in erster Linie um sein Ansehen besorgt, so heißt
es hier aus dem Munde Paulets: „Englands Beherrscher brauchen nichts zu
scheuen, / Als ihr Gewissen und ihr Parlament.“20 Zwar gibt es auch in
Maria Stuart Vergleiche des Adels mit dem Status von Göttern, doch hat
sich die Zuordnung der Attribute verlagert; ist es zuvor die Macht gewesen,
welche die Hoheit ausgezeichnet hat, so ist es nun die Liebe.21
Die Orte der Handlung verhalten sich analog zur Dialogführung in den
einzelnen Auftritten, welche auffallend oft die Form eines Gesprächs unter
vier Augen annehmen. Es wird über weite Strecken unter Ausschluß der
Öffentlichkeit gehandelt, geheime Pläne geschmiedet, intime Beratungen,
Intrigen gesponnen, sogar eine Beichtszene kommt vor. Der Zuschauer
sieht sich in die Rolle des Voyeurs versetzt; welch ein Unterschied zu den
öffentlichkeitswirksamen Darstellungen in Richard II. Ein weiteres Indiz
für den Wandel ist auch die große Rolle der Amme und ihre Vertrautheit
im Umgang mit Maria Stuart, zu der sich in Richard II. kein Äquivalent
findet, die Berater erfüllen hier eine gänzlich andere Funktion, wie oben
schon erwähnt.
Ein anderer wichtiger Punkt ist die Verquickung von privaten und
politischen Interessen, die an mehreren Stellen des Stücks auftreten. So soll
zu Beginn Marias letzter Privatbesitz konfisziert werden, da sie durch ihn
noch immer in der Lage ist, politisch motiviert zu handeln, beispielsweise
durch Bestechung.22 Maria kann auch durch Besitz beeinflussen, der ihr
weitaus schwerer zu nehmen ist; so scheint bei Mortimers religiösen
Eiferreden nahezu unverhüllt die erotische Komponente durch – nicht ohne
Grund bezeichnet man eine schöne Frau als ‚anbetungswürdig’. Das Wort
Heiratspolitik, seit jeher eine übliche Praxis der Machtsicherung und -
ausdehnung, hat hier schon einen üblen Beigeschmack.
Auch in Maria Stuart erscheint das Volk nicht direkt auf der Bühne,
aber es spielt trotzdem eine gewisse Rolle. Doch geht es hier nicht um
vornehmlich militärische Unterstützung adeliger Machtansprüche durch
Angehörige der unteren Stände, sondern sozusagen um die Meinung der
einfachen Bürger auf der Straße über ihre Herrscher. Wenn Elisabeth sagt,
daß „Könige nur Sklaven ihres Standes“23 sind, drückt sich darin der
Konflikt zwischen persönlichen Wünschen und monarchischen Pflichten
aus. Diese Auffassung vom Herrscher als dem ersten Diener des Staates
ist eine Erscheinung der Neuzeit, und so ist es gegenüber Shakespeare eine
Veränderung des Herrscherbildes, wenn Schiller seine Königin Elisabeth
klagen läßt: „Auch meine jungfräuliche Freiheit soll ich, / Mein höchstes
Gut, hingeben für mein Volk, / Und der Gebieter wird mir
aufgedrungen.“24 Maria nimmt ebenfalls eine zu King Richard II.
veränderte Position ein. Zwar hält sie ihre Souveränität für unantastbar,25
doch behauptet sie nicht, keine Rechenschaft schuldig zu sein: „Ich will
mich nicht der Rechenschaft entziehn, / Die Richter sind es nur, die ich
verwerfe.“26 Die genaue Beantwortung der Frage, wem oder was
gegenüber Maria ihre Rechenschaftspflicht eingesteht, folgt in einem
späteren Kapitel (1.2.b) Novalis).
Ein Topos, der sich durch das gesamte Trauerspiel zieht, ist die
Unterscheidung von Schein und Sein, wobei Schiller bemüht ist, die
religiösen Konnotationen dieser Unterscheidung möglichst auszublenden.
Obwohl ein guter Teil des Konfliktpotentials daraus entsteht, daß Elisabeth
protestantisch und Maria katholisch ist, kann man sich des Eindrucks nicht
erwehren, die Religion werde hier instrumentalisiert.27 Sie ist in der
direkten Auseinandersetzung zwischen den beiden nur ein untergeordnetes
Thema, geeignet zur Unterstützung der jeweiligen Hauptstreitpunkte,
welche da wären: Rang der Geburt, Stolz, Liebe, Groß- und Hochmut. Es
kann nicht verwundern, daß hier die christlichen Sünden und Tugenden als
Anklage- und Auszeichnungspunkte genannt werden, doch ist es auffällig,
daß vom falschen Glauben als Vorwurf – protestantisch oder katholisch
– nicht die Rede ist. Das mag zum einen an der Instrumentalisierung
der Konfessionen liegen, derer sich beide Kontrahentinnen wohl bewußt
sind, zum anderen läßt es sich auch auf eine gewisse Apotheose beider
zurückführen.28 In Bezug auf Göttinnen wirkt der Vorwurf der Häresie
absurd; Göttinnen müssen nicht glauben, an sie muß geglaubt werden –
siehe Mortimer. Der von Schiller gesetzte Unterschied zwischen Schein
und Sein orientiert sich vielmehr an einer Bedeutung der Begriffe, welche
den Einfluß Rousseaus erkennen läßt. Der Forderung nach mehr
Natürlichkeit bietet die als übertrieben und künstlich empfundene
absolutistische Hofgesellschaft mit ihrem ausgeprägten
Repräsentationscharakter, alles was Maria als „Flitter“ bezeichnet,
dankbare Beispiele.29
Natürlich sind diese Unterschiede zwischen Richard II. und Maria Stuart
auch zu einem großen Teil aus den verschiedenen Ausgangspositionen
und –konstellationen der beiden Stücke zu erklären, doch ist es immer
auch ein wenig verräterisch, welchen historischen Stoff sich Autoren für
die literarische Bearbeitung aussuchen. So ist es überhaupt nicht Schillers
Absicht gewesen, in Maria Stuart die historische Realität darzustellen,
dafür ist er hier mehr noch als in Don Carlos oder Wallenstein an der
direkten theatralischen Umsetzung seiner Schreibarbeit interessiert. So
beschließt er, „nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus
der Geschichte zu nehmen und alles übrige frei zu erfinden, wodurch eine
mittlere Gattung entstünde, welche die Vorteile des historischen Dramas
mit dem erdichteten vereinigte“30, wie Schiller während der Ausarbeitung
des Stückes in einem Brief an Goethe geschrieben hat. In seinen Briefen an
den Dichterkollegen gibt er auch Auskunft über den „poetische(n) Kampf
mit dem historischen Stoff“31, also den relativ weitreichenden
Eigenerfindungen wie etwa Leicesters Verhältnis zu Maria, die Gestalt
Mortimers oder die Begegnung der beiden Königinnen, die er auch mit
Blick auf die Bühnenwirksamkeit verjüngt hat. Schillers Ziel ist gewesen,
„der Phantasie eine Freiheit über die Geschichte zu verschaffen“32, wie
es im gleichen Brief heißt. Das sich die Phantasie unter anderem aus den
Ereignissen der eigenen Lebensumstände speist, läßt sich an dem in Maria
Stuart dargestelltem Herrscherbild erkennen.

1.2. Das Herrscherbild anhand zweier theoretischer Beispiele

a) Hobbes
Auch wenn Richard II. rund fünfzig Jahre vor dem Leviathan von Thomas
Hobbes entstanden ist, finden sich deutliche Übereinstimmungen
hinsichtlich der Konzeption von Souveränitätsmodellen in den beiden
Texten. Die auf seiner Anthropologie aufbauende Staatsphilosophie
Hobbes’ geht von der Existenz eines Naturzustands aus, in welchem der
Mensch seinen Mitmenschen ein Wolf ist (homo homini lupus). In diesem
„Krieg aller gegen alle“ (bellum omnium contra omnes)33 gilt das Recht
des Stärkeren, wobei das Wort Recht nicht mit der Institution der Gesetze
verwechselt werden darf.34 Laut Hobbes befinden wir uns im Naturzustand
per definitionem in einem präjuridischem Stadium, denn die freiwillige
Setzung von Richtlinien für den Erhalt des oder zwecks Schaffung eines
sozialen Lebens gilt ihm als erste Kulturleistung und somit als Austritt des
Menschen aus dem Naturzustand.
Die angeborene Vernunft gebietet es den Menschen, durch die Schließung
eines Gesellschaftsvertrags dem Naturrecht des Stärkeren zu entkommen.
Ausschlaggebend hierfür ist der der Vernunft zugrundeliegende zentrale
Trieb der Selbsterhaltung, weil er in einer absolut uneingeschränkten Weise
gedacht ist. Sobald es um das eigene Wohl geht, wird auf den anderen
keine Rücksicht genommen. Eine juristische Ordnung soll also Sicherheit
für die Schwächeren gewährleisten, das heißt also für jeden, denn wer kann
sich immer sicher sein, aus jeder Situation als der Stärkste hervorzugehen.
Die Schaffung einer staatlichen Ordnung durch die Schließung des
Gesellschaftsvertrags entbindet die Menschen allerdings nicht, weiterhin
stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht zu sein, wenn auch innerhalb der
nun geltenden Gesetze.
Nur für einen haben diese Gesetze keine Geltung, nämlich für ihren
Schöpfer. Der Hobbes’sche Staatsvertrag basiert auf dem Verzicht eines
jeden Vertragspartners auf die Ausübung seines Naturrechts und seiner
Übertragung auf die Person des Herrschers. Der Souverän ist als Besitzer
der absoluten Regierungsgewalt also ausdrücklich nicht Mitglied der
Vertragsgemeinschaft, aber er regiert uneingeschränkt über sie. Bei dieser
personalen Form der Herrschaft ergeben sich dann natürlich Probleme,
wenn die Person des Herrschers infragegestellt wird, wie dies in Richard
II. durch die vorzeitige Rückkehr Bolingbrokes aus der Verbannung
geschieht. Sobald auch nur einzelnen Befehlen des Königs nicht mehr
uneingeschränkt Folge geleistet wird, gefährdet dies seine ganze Position,
weshalb Hobbes auf den unbedingten Gehorsam gegenüber dem Souverän
so viel Wert legt, hat er doch das Schreckgespenst des Bürgerkriegs vor
Augen. Er rechtfertigt damit auch die schlechte Regentschaft mit der
Begründung, selbst die mangelhafteste Ordnung sei besser als das Chaos
des naturrechtlichen Krieges aller gegen alle.
In Shakespeares Drama ist die Institution des Königtums allerdings nicht
gefährdet, der Konflikt entzündet sich an der Person ihres Trägers, wobei
es keine Rolle spielt, ob Richard von sich aus schlecht gehandelt hat oder
lediglich schlecht beraten worden ist. Die Metapher der untergehenden
Sonne für Richard und der aufgehenden für Bolingbroke bezeugt die
Nahtlosigkeit der Herrscherfolge, als würde die Nacht dazwischen gar
nicht existieren. Vergleicht man den Regierungsstil Richards mit dem
Bolingbrokes35 wird einem klar, daß es bei personaler Herrschaft zwar
eine Kontinuität der äußeren Form gibt, also die durch die Institution
des Königtums gesetzte Ordnung, der Inhalt, sozusagen die Art der
Regentschaft, Befehle, Gesetze, kann von Souverän zu Souverän stark
variieren.
Dem inhaltlichen Variationspotential wird also mit einer Betonung der
äußerlichen Form begegnet, woraus sich der Repräsentationscharakter des
Herrscherbildes ergibt, wie er in Shakespeares Drama zur Darstellung
gelangt – keine Dauer ohne Ordnung.36 Auch die schon im vorigen Kapitel
angesprochene Namensthematik findet hier ihre Verortung. Wenn Richard
seinen Namen als zwanzigtausend Namen bezeichnet, so steht das für
die Befehlsgewalt, die er über ein zwanzigtausend Mann starkes Heer
zu Besitzen glaubt. Diese Männer würden Richard nicht folgen, weil sie
ihn für den begabtesten Feldherren halten, sondern weil er den Träger
des königlichen Namens verkörpert. Am unmittelbarsten sieht man die
Analogie von Shakespeares und Hobbes’ Herrscherbild bei folgendem
Zitat: „But now the blood of twenty thousand men / Did triumph in my
face“37, wobei man sich direkt an den berühmten Kupferstich aus der
englischen Erstausgabe des Leviathan erinnert fühlt. Dort sieht man einen
mit Herrschaftsinsignien ausgestatteten riesigen Oberkörper eines
Menschen sich über eine Landschaft erheben; Rumpf und Arme dieses
Körpers bestehen aus vielen kleineren Menschen. Der König ist also der
Kopf, die Untertanen bilden die restlichen Glieder des Staatskörpers. Ein
Rationalist wie Hobbes hält den Kopf natürlich für den bei weitem
wichtigsten Teil des Körpers, der alle anderen kontrolliert und ohne den
er überhaupt nicht lebensfähig wäre. Diese Sichtweise führt zur
absolutistischen Übertreibung, der König sei der Staat.
Der König ist selbstverständlich nicht der gesamte Staat, aber er allein
repräsentiert ihn wie kein anderer. Und so räumt auch Hobbes dem Schein
eine wichtige Rolle ein, da die Außenwirkung hier über die wahren
Verhältnisse dominiert, denn der König kann sein Land unmöglich alleine
regieren, er benötigt dazu Helfer. Der König ist letztlich nur die extrem
ausgeprägte, alles andere überstrahlende Spitze der Hierarchiepyramide.
Wenn Hobbes sagt: „Mit Würde eines Menschen geht es meistens wie
mit allen übrigen Dingen, deren Wert von dem Urteil des Käufers, nicht
aber dem des Verkäufers abhängt.“38, so kommt in diesem Satz das
Legitimationsproblem zum Ausdruck. Die Untertanen gehorchen nicht
unbedingt, sondern nur, wenn sie in dem Herrscher diejenige Person sehen,
die durch ihren Schutz Sicherheit gewährleistet. Und so erfülltt „der bloße
Ruf von Macht“ die gleiche Funktion wie echte Macht, „weil er unter
denen Anhänger verschafft, welche des Schutzes bedürfen.“39 Und so ist es
zu verstehen, daß der Schein des Repräsentationscharakters in dieser Zeit
nicht der Kritik unterworfen war.

b) Novalis
Auch wenn die Französische Revolution von 1789 keine direkten
politischen Auswirkungen weder auf das Vereinigte Königreich von
Großbritannien noch auf das Heilige Römische Reich Deutscher Nation
bezüglich der Regierungsform gezeitigt hat, so haben sich die
Anforderungen an den Regenten und damit das Herrscherbild seit dem 17.
Jahrhundert doch deutlich verändert. Dieser ‚weiche’ Wechsel ist natürlich
nicht plötzlich durch das eine politische Ereignis ausgelöst worden,
vielmehr gibt es dafür mehrere und äußerst komplexe Ursachen, so wie es
verschiedene und doch zusammenhängende Ursachen für die Französische
Revolution gegeben hat.
Als erstes sei auf das Erstarken des Bürgertums verwiesen. Diese
gesellschaftliche Schicht hat im Laufe der Zeit in immer zunehmenderem
Maße das wirtschaftliche Leben Europas bestimmt, oder genauer: der
bürgerliche Stand wird seit jeher vornehmlich mit der Wirtschaft in
Verbindung gebracht, aber gerade in dem angegebenen Zeitraum hat die
Wichtigkeit von ökonomischen Aspekten für den Staat enorm
zugenommen. Dieses auch immer gebildeter werdende Bürgertum besorgt
nun einerseits durch die von ihnen gezahlten direkten und indirekten
Steuern einen ständig sich vergrößernden Anteil am Staatshaushalt, ohne
dafür auf der anderen Seite mit politischer Macht entschädigt zu werden.
Hinzu kommt die fehlende soziale Anerkennung seitens des Adels, der
bemüht ist, sich so elitär abzugrenzen, daß der gesellschaftliche Verkehr
mit Bürgerlichen – der sich tatsächlich kaum mehr vermeiden läßt – als die
regelbestätigende Ausnahme erscheinen soll. Mit zunehmendem Erstarken
entwickelt sich jedoch dann ein sozusagen bürgerliches Selbstbewußtsein,
welches sich durch neue Verhaltensweisen vom Adel abzugrenzen sucht,
statt sich ihm anzubiedern.40
Ein anderer Punkt wäre der allmähliche, bereits mit der Erblichwerdung
der Lehen einsetzende Wandel des Herrschaftsverhältnisses, ein Vorgang,
der als Institutionalisierung von Macht zu bezeichnen ist. Durch die immer
stärkere Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der Neuzeit wird indirekt
das Prinzip der personalen Herrschaft aufgeweicht, denn dem dadurch
entstehenden Mehr an Regierungsarbeit wird in Form von Delegierung
Rechnung getragen. Auch wenn der König weiterhin an der Spitze der
Hierarchiepyramide steht, so hat diese sich doch von der Basis her
verbreitert. Die so entstandenen Institutionen wie Gerichte und Verwaltung
entwickeln dabei eine mehr den Sachzwängen als den
Gestaltungsmöglichkeiten von Politik geschuldete Eigendynamik, welche
das willkürliche Eingreifen des Herrschers in zunehmendem Maße
erschwert. Dort, wo der Regent sich nicht zum Bruch mit als überaltert
empfundenen Traditionen entschließen kann, kommt schnell der Verdacht
auf, er sei nur an der Sicherung seiner eigenen Machtposition, nicht am
Wohlergehen seiner Untertanen – also aus neuerer Sicht am Wohle des
Staates – interessiert. Der umfassende Wandel in Wissenschaft, Kunst,
Wirtschaft läßt die auf Dauer angelegte alte Gesellschaftsordnung als
unzeitgemäß erscheinen. Die neugeschaffenen Institutionen sind natürlich
ebenfalls auf eine dauerhafte Aufrechterhaltung der Ordnung angelegt,
doch trotz ihres Repräsentationscharakters verlagert sich der Schwerpunkt
von der Form auf die inhaltliche Seite. Aus der starren Kontinuität des
Herrschaftsmodells wird allmählich eine Kontinuität der Gesetze und
Normen, die etwas flexibler auf sich ändernde Umstände reagieren kann,
da sie innerhalb der ihnen gesetzten Direktiven relativ unabhängig agieren
können.41
Diese längere Einleitung ist nötig, um die Vorstellung Novalis’ in Bezug
auf das Herrscherbild und somit den Wandel seit Hobbes verstehen zu
können. In seinem Text Glauben und Liebe oder Der König und die
Königin von 1798, erschienen also nur zwei Jahre vor Schillers Maria
Stuart, vertritt Novalis einen unübersehbar bürgerlichen Standpunkt, wenn
auch mit poetisch-romantischer Verklärung. Er gibt sich als Monarchist
zu erkennen, insofern verwirft er die Errungenschaften der Französischen
Revolution,42 allerdings kritisiert er das absolutistische Hofleben mit
Worten wie „geschmacklos“43 und „Sittenverderbnis“44. Statt des
uneingeschränkten Repräsentationscharakters der alten Herrschaftsform
tritt er für eine inhaltliche Rückbindung der Herrschaft an die Moral ein.45
Zwar gibt Novalis zu, „ohne Etiquette kann kein Hof bestehen. Es gibt
aber eine natürliche Etiquette, die schöne, und eine erkünstelte, modische,
die häßliche.“46 Der König hat eine Verpflichtung gegenüber seinem Volk,
mehr noch: er soll ihm als Vorbild dienen, ohne selber als Diener zu
erscheinen. Der König ist kein Staatsbürger, darin ist sich Novalis mit
Hobbes einig, darin besteht für ihn „eben das Unterscheidende der
Monarchie, daß sie auf den Glauben an einen höhergebornen Menschen,
auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen, beruht“.47 Andererseits
ist der Herrscher nicht von der Wirklichkeit abgehoben, er soll sich für
seine Untertanen interessieren, „als ein liebenswürdiger trefflicher
Mensch“48 nicht nur am militärischen und politischen, auch am
künstlerischen und wissenschaftlichen Leben in seinem Staat teilnehmen.
Wenn das Wirken der Königin als „Beispiel“ oder „Muster“49 bezeichnet
wird, so bringt dieser Vorbildcharakter doch ein neues Element in das
Verhältnis von Herrscher und Untergebenem, nämlich das der
Vergleichbarkeit. „Der Hof soll das klassische Privatleben im großen
sein.“50 Hier stehen plötzlich die bürgerlichen Ideale von Liebe und Glück
im Mittelpunkt, wird die „königliche Vermählung“ als „ewiger
Herzensbund“51 gefeiert. Man muß sich natürlich vor Augen halten, daß
Novalis’ Text ein Programm von Wünschen und Forderungen ist und
keineswegs die Realität abbildet; nirgends fällt das mehr auf als an dieser
Stelle, denn innerhalb des europäischen Hochadels war die Heirat
jahrhundertelang statt persönliche Erfüllung vornehmlich ein Mittel der
Politik. Nun auf einmal ist die königliche Familie die irdische Inkarnation
von Tugend und Moral, an dem sich das Volk ein Beispiel nehmen soll.52
Gerade durch sein moralisches Betragen sollen die Untertanen „persönliche
Liebe“ zum König empfinden, den „Anlaß einer lebenslänglichen
Begeisterung“.53 Und so benötigt er zur Erhaltung seiner Macht keine
zwanzigtausend Mann starke Armee wie Shakespeares Richard, denn durch
ihr Betragen „(beschützen) der König und die Königin (...) die Monarchie
mehr, als 200.000 Mann.“54
Novalis will die Adressaten und Adressenten der moralischen Kritik
vertauschen; an die Stelle des die Unsittlichkeit des höfischen Lebens
anprangernden Bürgertums soll nun der durch sein vorbildliches Verhalten
die Bürger zu mehr Sittlichkeit anhaltenden Hof treten. Und so nennt er den
König explizit ein „Erziehungsmittel“ zu dem – wenn auch – „fernen Ziel“,
daß „alle Menschen (...) thronfähig werden“55 sollen, was ein eklatanter
Gegensatz zum alten Herrscherbild des Souveräns als von Gott
eingesetztem Machthaber ist, dessen Willkür die Untertanen ausgesetzt
sind. Und wenn Novalis dem König und der Königin die Stellung von
Göttern zuweist, so orientiert er sich an antiken Göttervorstellungen mit
all ihren menschlichen Zügen statt an dem vergeistigten, allmächtigen
Gott des Christentums, dem wiederum die Herrscher ihrerseits verpflichtet
sind.56 Seine Absicht ist es gewesen, die Bürger auf die Höhe des Königs
zu heben, tatsächlich ist der König eher auf den Stand eines privilegierten
Bürgers herabgesunken.
Auch wenn Novalis in Glauben und Liebe seine Idealvorstellungen zu
Papier gebracht hat, so hat er dabei doch die Realität im Blick gehabt: den
preußischen König Friedrich Wilhelm III. und seine Gattin Luise. Novalis’
Text ist ein frühes Beispiel der Verehrung vor allem dieser schon zu ihren
Lebzeiten als außergewöhnlich anerkannten Frau, die nach ihrem frühen
Tod schnell zu einer Legende geworden ist. Für ihre Zeitgenossen und
die nachfolgenden Generationen scheint Königin Luise die von Novalis
geforderten Ideale verkörpert zu haben. Im künstlerischen Bereich ist sie
als „preußische Madonna“57 dargestellt worden oder in Gemälden, welche
„das bürgerlich-romantische Ideal inniger Familienbeziehung“58
ausdrücken. Sie hat ihrer Rolle eine „dem Hofzeremoniell entgegengesetzte
Natürlichkeit“ gegeben, die „als Ausdruck von Güte und
Menschlichkeit“59 und nicht als schlechtes Benehmen angesehen worden
sind. Luise, die „Königin der Herzen“60, die sich sehr für Literatur
interessiert und Schiller ihren Lieblingsdichter genannt hat, hat an
verschiedenen Stellen zum Ausdruck gebracht, daß sie das Gefühl höher als
den Verstand, das Herz mehr als den Geist geschätzt hat. Nach ihrem Tod,
den man allgemein „der unglücklichen Lage des Landes“61 zuschrieb, „galt
das Luisen-Gedenken als Symbol der Verbundenheit zwischen König und
Untertanen, gleichsam als Verfassungsersatz.“62
Wie Günter de Bruyn bemerkt, ist Voraussetzung für diese Verehrung
gewesen, daß bereits damals „bürgerliche Tugenden (...) öffentliche
Wertschätzung genossen“63 haben. Nur anhand des Vergleichs mit
früheren Regentenmodellen ist es zu erklären, daß Eilhard Erich Pauls
Luises ganzes Verhalten als „umstürzendes, erneuerndes Werk“64
bezeichnet hat, dessen Ergebnis als „eine liebenswürdige Revolution“65
erscheint, welche deshalb so hoch eingeschätzt wird, weil sie ganz ohne
das Blutvergießen des französischen Beispiels ausgekommen ist. Auf diese
Weise kann Friedrich von Hardenberg, wie Novalis mit bürgerlichem (sic!)
Namen hieß, auch als Monarchist die Republik als Staat der Bürger
proklamieren:

„Es wird eine Zeit kommen und das bald, wo man allgemein
überzeugt sein wird, daß kein König ohne Republik, und keine
Republik ohne König bestehn könne, daß beide so unteilbar sind,
wie Körper und Seele, und daß ein König ohne Republik und
eine Republik ohne König, nur Worte ohne Bedeutung sind. Daher
entstand mit einer echten Republik immer ein König zugleich, und
mit einem echten König eine Republik zugleich. Der echte König
wird Republik, die echte Republik König sein.“66

2. Das Über-Ich als Verinnerlichungskultur


In Sigmund Freuds Buch Das Unbehagen in der Kultur aus dem Jahr 1930
wird die Entwicklung des Über-Ichs als Verinnerlichung von Autorität
beschrieben. Der von Freud letztendlich für unversöhnlich erklärte
Antagonismus zwischen den Triebforderungen und den von der Zivilisation
auferlegten Einschränkungen bildet das Hauptthema des Textes.
Freud zitiert zur Untermauerung seiner Annahme eines dem Menschen
immanenten Aggressionstriebs ausdrücklich die anthropologische
Sichtweise Hobbes’, der wiederum auf ein berühmtes Zitat aus der Asinaria
(II, 4, 88) von Plautus zurückgreift.67 Die Kultur wird von Freud definiert
als „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen (...), in denen
sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei
Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der
Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“68 Mit dem
Fortschreiten der Kultur erlangt der Mensch zunehmende Freiheit von
seinen unmittelbaren natürlichen Lebensbedingungen durch technische
Neuerungen und gesteigerte Sicherung seines Lebens durch Gesetze,
welche die potentielle Bedrohung durch den anderen69 einschränken
sollen. Doch funktioniert das nicht so einfach wie bei Hobbes’
selbsterhaltungstriebgesteuertem Verstand: Der gewonnenen Freiheit durch
die Nutzung von Technik steht die Einschränkung etwa des
Aggressionstriebs und des Wunsches nach Selbstbestimmung durch die
gesellschaftliche Ordnung gegenüber; sie sind die zwei Seiten der Medaille
Kultur. Hinzu kommt ein „Moment der Enttäuschung“ für die Menschen,
wenn sie erkennen müssen, „daß diese neu gewonnene Verfügung über
Raum und Zeit, diese Unterwerfung der Naturkräfte, die Erfüllung
jahrtausendealter Sehnsucht, das Maß von Lustbefriedigung, das sie vom
Leben erwarten, nicht erhöht, sie nach ihren Empfindungen nicht
glücklicher gemacht hat.“70
Der Mensch verspürt also ein gewisses Unbehagen in der Kultur. Der
wichtige Schritt hierbei ist ganz im Sinne Hobbes die „Ersetzung der
Macht des Einzelnen durch die der Gemeinschaft“71, wobei es fast scheint,
„die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten
gelingen, wenn man sich um das Glück des Einzelnen nicht zu kümmern
brauchte.“72 Freud betont, daß bei der von der Macht der Gemeinschaft
sanktionierten Setzung des Rechts (noch) nicht über „den ethischen Wert
eines solchen Rechts“73 entschieden werden kann. Die Forderung nach
Gerechtigkeit ist im Verlauf der kulturellen Entwicklung der Setzung eines
Rechts nachgeordnet. Angestrebt wird nach Freud eine Art
Verteilungsgerechtigkeit, das heißt jeder innerhalb der Gemeinschaft sollte
in gleichem Maße zur Entsagung bestimmter Triebforderungen verpflichtet
werden, denn ein solch kollektives „Triebopfer“74 fördert über die
allgemeine Anerkennung der Gesetzgeber (Hobbes’ Staatsvertrag) hinaus
auch die Legitimierung der Gesetze selbst, wobei die Person des
Machthabers einen Teil ihrer Macht an die Institution Gesetz abtreten muß.
Der an Arbeiterbewegung und Klassenkampf gemahnende Ausdruck der
Verteilungsgerechtigkeit scheint seine Berechtigung zu besitzen, wenn man
sich das von Freud häufig benutzte Vokabular aus dem Bereich der
Wirtschaft vergegenwärtigt. Spricht er doch beispielsweise bei der
Befriedigung von Triebanlagen als der „ökonomische(n) Aufgabe unseres
Lebens“75, also der ökonomischen Kompensation der Triebopfer76 durch
die Sublimierung.
Bis dahin referiert Freud viel Altbekanntes, doch an dieser Stelle wird es
interessant, bei der Bedeutung der Kultur für den Einzelnen. Dieser rechnet
anhand eines Abwägens von Kosten und Nutzen die Vor- und Nachteile
aus, welche ihm die Kultur bringt – das er sich ihr unmöglich entziehen
kann, spielt dabei keine Rolle. Da Freud „triebhafte Leidenschaften“
stärker einschätzt als „vernünftige Interessen“77, muß er neben der
Aggressionslust andere, dieser Lust entgegengesetzte Triebe anerkennen,
wie etwa den Sexualtrieb. Nun ließe sich der Sexualtrieb auch durch die
Anwendung von Gewalt befriedigen; Freud konstruiert also das Modell der
zielgehemmten Liebesbeziehung, eine zwischenmenschliche Beziehung
ohne Fortpflanzungsabsicht, sozusagen der Gemeinschaftssinn. Zur
Erfüllung dieses Verlangens muß die Kultur die ihr entgegenstehende
Aggression hemmen. Und wie das funktioniert, erklärt Freud anhand der
Entwicklungsgeschichte des Einzelnen, er nimmt also eine Analogie in der
Entwicklung von Kultur und Individuum an.

„Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich aber


dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das
eigene Ich gewendet. Dort wird sie von einem Anteil des Ichs
übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt,
und nun als ‚Gewissen’ gegen das Ich dieselbe strenge
Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen,
fremden Individuen befriedigt hätte. Die Spannung zwischen dem
gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir
Schuldbewußtsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur
bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums,
indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in
seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt,
überwachen läßt“78
Die Einschränkung der Freiheit des Einzelnen bringt somit die Einführung
der Moral für das Kollektiv, denn was ist die Moral schließlich anderes
als die Summe einzelner Gewissen. Wie kommt es nun genau zu diesem
Schuldbewußtsein, wenn Freud ein „ursprüngliches, sozusagen natürliches
Unterscheidungsvermögen für Gut und Böse ablehnt“79? Das Motiv für die
freiwillige Annahme einer Moral zusätzlich zu den bestehenden Gesetzen,
welche in Einzelfall durchaus als oktroyiert empfunden werden können,
sieht Freud in der „Angst vor dem Liebesverlust“80 begründet. Und deshalb
ist das Gewissen auch wirksamer als das Gesetz, weil es „die Absicht der
Ausführung gleichachtet“81.
Wenn Schiller den Grafen von Leicester über das Inquisitionsgericht sagen
läßt, daß dort „Gedanken selber vor Gericht gestellt“82 werden, dann steht
dieses für den Wunsch der Herrschenden auf das Eindringen des
Politischen in das Private. An zwei Stellen wird in dem Stück auf die
Freiheit der Gedanken hingewiesen, und darauf, daß sie sich der staatlichen
Kontrolle entziehen.83 Zur Aufrechterhaltung einer reibungslos
funktionierenden gemeinschaftlichen Ordnung reicht die einfache
Befolgungsforderung von Gesetzen oft nicht aus,84 erst die Internalisierung
von Autorität schafft eine wirksame Abschreckung. Dazu ist es dann
überhaupt nicht notwendig, den Täter öffentlich eines Gedankendelikts
(Orwells „Deldenk“) zu überführen; die Bestrafung übernimmt er auf
subtilere Weise selbst. Da sich vor dem Über-Ich „nichts verbergen“ läßt,
„auch Gedanken nicht“85, „peinigt das Über-Ich das sündige Ich mit den
nämlichen Angstempfindungen“86. Auf dieser zweiten Stufe entwickelt das
Gewissen eine unbehagliche Eigendynamik, denn es „benimmt sich (...)
um so strenger und mißtrauischer, je tugendhafter der Mensch ist, so daß
am Ende gerade, die es in der Heiligkeit am weitesten gebracht, sich der
ärgsten Sündhaftigkeit beschuldigen.“87
Es gibt also „zwei Ursprünge des Schuldgefühls, den aus der Angst vor der
Autorität und den späteren aus der Angst vor dem Über-Ich.“88 Das erstere
dringt ganz im Sinne Hobbes’ somit auf den Verzicht von bestimmten
Triebbefriedigungen, weil man die Liebe der äußeren Autorität, des
Beschützers, nicht verlieren will. Hier sollte sich das Schuldgefühl
eigentlich erübrigen, da durch das Verzichten auf Triebbefriedigung das
Wohlwollen des Beschützers erkauft wird – die oben angesprochene
Kosten-Nutzen-Rechnung ist damit ausgeglichen. Anders verhält es sich im
zweiten Fall: Für Freud ist die Gewissensbildung ein „großer ökonomischer
Nachteil der Über-Ich-Einsetzung“89, weil der Triebverzicht hier „nun
keine voll befreiende Wirkung mehr (hat), die tugendhafte Enthaltung
wird nicht mehr durch die Sicherung der Liebe gelohnt, für ein drohendes
äußeres Unglück (...) hat man ein andauerndes inneres Unglück, die
Spannung des Schuldbewußtseins, eingetauscht.“90
Noch einmal zurück zur Analogie in der Entwicklung von Kultur und
Individuum.
„Fassen wir aber die Beziehung zwischen dem Kulturprozeß der
Menschheit und dem Entwicklungs- und Erziehungsprozeß des
einzelnen Menschen ins Auge, so werden wir uns ohne viel
Schwanken dafür entscheiden, daß die beiden sehr ähnlicher Natur
sind, wenn nicht überhaupt derselbe Vorgang an andersartigen
Objekten. (...) aber bei der Gleichartigkeit der Ziele – hier die
Einreihung eines Einzelnen in eine menschliche Masse, dort die
Herstellung einer Masseneinheit aus vielen Einzelnen – kann die
Ähnlichkeit der dazu verwendeten Mittel und der zustande
kommenden Phänomene nicht überraschen. (..) In der
individuellen Entwicklung fällt (...) der Hauptakzent meist auf die
egoistische oder Glücksstrebung, die andere, ‚kulturell’ zu
nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle der
Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel der
Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei
weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar
noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt“.91

Die beiden Bestrebungen nach „individuellem Glück“ und „menschlichem


Anschluß“ sind oft gegensätzlich, der „Kampf zwischen Individuum und
Gesellschaft“92 kann bei unzureichender Kompensierung durch
Triebsublimierung zur Ausbildung von Neurosen beim einzelnen
Menschen führen. Das Über-Ich funktioniert der Form nach bei jedem
gleich, doch kann sein Inhalt je nach Wissen und Erfahrung des Einzelnen
variieren. Hier führt Freud die Analogie in die andere Richtung zurück,
indem er behauptet, „daß auch die Gemeinschaft ein Über-Ich ausbildet,
unter dessen Einfluß sich die Kulturentwicklung vollzieht.“93 Die in
diesem kollektiven Über-Ich sich ausdrückende Moral „ruht auf dem
Eindruck, den große Führungspersönlichkeiten hinterlassen haben,
Menschen von überwältigender Geisteskraft oder solche, in denen eine
der menschlichen Strebungen die stärkste und reinste, darum oft auch
einseitigste, Ausbildung gefunden hat.“94 Wie beispielsweise Könige oder
Königinnen, die auch oder gerade in literarischer Bearbeitung auf die
Menschen wirken, wäre dabei anzumerken.
Ein anderer Punkt der Übereinstimmung ist, daß das Kultur-Über-Ich
genau wie das des Individuums „Idealforderungen aufstellt, deren
Nichtbefolgung durch ‚Gewissensangst’ gestraft wird.“95 Doch sind einem
die dazugehörigen seelischen Vorgänge seitens der Masse vertrauter, dem
Bewußtsein zugänglicher, als bei einem selbst. Beim Einzelmenschen
treten oft nur die Aggressionen des Über-Ichs im Falle der Spannung als
Vorwürfe zutage, während die Forderung selbst unbewußt bleibt. Erkennt
man sie aber, so wird offenbar, „daß sie mit den Vorschriften des Kultur-
Über-Ichs zusammenfallen. An dieser Stelle sind sozusagen beide
Vorgänge, der kulturelle Entwicklungsprozeß der Menge und der eigene
des Individuums regelmäßig miteinander verklebt.“96 In welch hohem
Maße muß dies für Richard, Bolingbroke, Maria und Elisabeth zutreffen,
sitzen sie doch quasi an den Schnittstellen dieser beiden Vorgänge. In
diesem Zusammenhang spricht Freud die Möglichkeit an, ganze Kulturen
als Neurotisch zu diagnostizieren.
So wie die Kontinuität der Herrschaftsform als Voraussetzung für ihren
äußerlichen Repräsentationscharakter gesehen werden kann, so bildet die
Kontinuität der Institutionen und Gesetze die Voraussetzung der
Ausbildung von Verinnerlichung.

3. Die Verinnerlichung des Ehrbegriffs


Als Beispiel der Neurose einer ganzen Kultur mag vielleicht der Wandel
des Begriffs der Ehre dienen. Ausgehend von den berühmten Worten
Falstaffs, die Shakespeare ihm in den Mund gelegt hat, soll in diesem
Kapitel die Verinnerlichung des Ehrbegriffs beschrieben werden:

„Can honour set to a leg? no: or an arm? no: or take away the grief
of a wound? no. Honour hath no skill in surgery, then? no. What is
honour? a word. What is that word honour? air. A trim reckoning!
– Who hath it? he that died o’ Wednesday. Doth he feel it? no.
Doth he hear it? no. ‘Tis insensible, then? yea, to the dead. But will
it not live with the living? no. Why? detraction will not suffer it.
Therefore I’ll none of it: honour is a mere scutcheon: - and so ends
my catechism.”97

Wenn Falstaff gegen die Ehre anredet, dann zeigt das nur, daß Shakespeare
hier gegen etwas Vorhandenes anschreiben muß. August Wilhelm Schlegel
übersetzt gut 200 Jahre später diese Beschreibung der Ehre als „ein Wort,
Luft, eine feine Rechnung und nichts als ein gemalter Schild beim
Leichenzuge“98, wobei die Problematik der eigenartigen Substanzlosigkeit
genauso aktuell geblieben ist, nur hat sich der Akzent in der Zwischenzeit
ein wenig verlagert.
King Richard II. beginnt mit Bolingbrokes und Mowbrays gegenseitiger
Bezichtigung des Hochverrats; beide versuchen, ihre jeweilige
Anschuldigung durch persönliche Beschimpfung des anderen und Verweis
auf die eigene Ehrhaftigkeit zu stützen. Hätte König Richard nicht ein
Duell zur (Gottes-)Urteilsfindung befohlen, die beiden Adeligen müßten
sich allein schon wegen der zugefügten Beleidigungen schlagen. Richards
Befehl ist nötig, weil beide die Lieferung eines echten Beweises ihrer
Behauptungen schuldig bleiben und der Verweis auf die Ehre nicht
entscheiden kann, da beide sie in gleichem Maße besitzen.99
Thomas Hobbes erkennt zwei Arten der Ehre an: die in Privatbeziehungen
geltende natürliche Ehre100 und die Ehre in Bezug auf
Staatsangelegenheiten101, wobei paradoxerweise die letztere, höher
angesehene Form der Ehre als Vorraussetzung für erstere angenommen
werden darf, was seinen Grund in der damaligen Konstruktion des
natürlichen, also von Geburt an gegebenen Adels durch die sich real
allmählich durchsetzende Erblichwerdung der Lehen hat. In beiden
angegebenen Zitaten taucht das Wort ‚öffentlich’ auf, „denn bloß in der
Meinung von unserer Macht besteht das Wesen der Ehre.“102 Dies stimmt
ganz mit der Hobbes’schen Betonung des Scheins und der Repräsentation
überein. Die theoretisch immer noch vom Souverän verliehene Ehre bedarf
also der nachgeordneten Bestätigung durch die Öffentlichkeit, allerdings
einer bestimmten Öffentlichkeit, denn nur ein Mann von Ehre kann einer
anderen Person seine Ehrhaftigkeit absprechen; nur der Adel untereinander
ist satisfaktionsfähig. Insofern ist die Ehre noch zu Beginn der Neuzeit für
den Adel etwas Selbstverständliches, da sie stillschweigend vorausgesetzt
wird und „erst im Verlust zieht die Ehre öffentliche Aufmerksamkeit auf
sich.“103 Die Ehre bildet also einen vorwiegend oder ausschließlich
sozialen Wert, unabhängig vom tatsächlichen Wert einer Person. Dabei hat
durch das Mittelalter eine Verschiebung stattgefunden, denn auch wenn
bereits Aristoteles im vierten Jahrhundert vor Christi die Ehre „von allen
äußeren Gütern das größte“104 nennt, so macht er doch klar, daß sie keine
willkürliche Festsetzung ist, „denn die Ehre ist der Tugend Preis, und den
Guten wird sie zuerkannt.“105 Wie schon an der Kritik des Zeremoniells
gesehen, hat sich die Ehre aus der Verbindlichkeit zu Tugend und Moral
gelöst, ist also immer mehr inhaltslose Konvention geworden. Und so
können einerseits Bolingbroke und Mowbray auf ihre Ehre pochen und
Falstaff sie andererseits verwerfen; die Ehre ist eben äußeres Ansehen und
hat nichts mit inneren Werten zu tun. Falstaff verwirft die Ehre ja, weil er
nicht wegen ihr in die Schlacht ziehen will, was deshalb so bemerkenswert
ist, da er der klare Sympathieträger des Stücks ist und nicht etwa wegen
Feigheit vor dem Feind fehlender Tugend, Mut und Tapferkeit, bezichtigt
wird. An dieser Stelle ist Shakespeare ein früher Kritiker des Ehrbegriffs
seiner Zeit und ihr damit ausnahmsweise voraus.
Mit dem Fortschreiten dieser Entwicklung häuft sich auch das
Konfliktpotential zwischen Wahrung der Ehre und moralisch richtigem
Handeln, mitunter stehen die beiden Punkte einander entgegengesetzt, etwa
wenn der Vater meint, seine entehrte Tochter zur Wiederherstellung seiner
eigenen und der Familienehre töten zu müssen.106 Dieses Konfliktpotential
ist für die europäische Literatur zwischen 1500 und 1900 ein nahezu
unerschöpfliches Reservoir für ihre Bearbeitung des Sujets der Ehre.107
Der Souverän selbst übrigens „hat nicht Ehre, er ist die Ehre“108, und als
ihr Quell kann er folglich auch nicht mit ihr in Konflikt geraten.
„Dieser Ehrenpunkt ist also eine Ethik der Öffentlichkeit.“109 Freud nennt
die Ethik „die wundeste Stelle jeder Kultur (...). Die Ethik ist also als
ein therapeutischer Versuch aufzufassen, als Bemühung, durch ein Gebot
des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht
zu erreichen“110 gewesen ist. Die Therapie ist nötig geworden, um der
durch die Strenge der Gebote verursachten Neurose entgegenzuwirken.
Sie hat allerdings ihre Wirkung verloren, denn der in Duellen und Rache
zur Auslöschung einer Schande ausgelebte Aggressionstrieb ist in unserem
modernen Zivilisationskreis verworfen worden. Mit der in Kapitel 1.2.b)
beschriebenen Ausdifferenzierung der Gesellschaft verwischen die
Grenzen zwischen privat und öffentlich zusehends, die Trennung wird
unscharf. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung kommt es zu einer
Entwicklung, die Harald Weinrich als „begrenzte Demokratisierung der
Ehre“111 bezeichnet. Sie besteht in einer Ausweitung des Personenkreises,
der sich den Ehrenpunkt aneignet, beginnend mit der Schicht der
Akademiker und Studenten, die nun berechtigt, sind als äußeres Zeichen
ihrer Satisfaktionsfähigkeit einen Degen zu tragen. Es folgen aus dem
Großbürgertum weiterhin der Amtsadel, „dessen Angehörige zunehmend
dem Schwertadel gleichgestellt werden“112 und mit dem Aufkommen des
Parlamentarismus greifen auch die Politiker nach den Insignien der Ehre.
Schließlich bemühen sich bestimmte Kaufleute um Einlaß in „das Reservat
der Ehrenkaste“113, indem sie sich als Großkaufleute bezeichnen und damit
vom kleinen Kaufmann und Krämer abgrenzen wollen. Interessant ist dabei
folgendes: Dieser Großkaufmann „präpariert dann aus dem komplexen
Wirtschaftsgefüge als Kriterium intakter Ehre den Begriff der
Zahlungsfähigkeit (Solvenz) heraus und fürchtet als seine äußerste Schande
die Erklärung der Insolvenz, den Bankerott.“114
In seinem Hauptwerk Vom Geist der Gesetze teilt Montesquieu die
Regierungsformen in drei Einheiten, wobei er jeder einen sie
auszeichnenden Begriff zuordnet: für die Despotie ist das die Furcht, für
die Monarchie die Ehre und für die Demokratie die Tugend. Die erste
Form mag hier nicht interessieren, aber ein Vergleich der Aussagen
Montesquieus über die beiden letzten ist für dieses Thema sicherlich
erhellend. Vereint mit der Kraft der jeweiligen Gesetze erachtet er Ehre und
Tugend in den ihnen zugeordneten Regierungsformen als „Triebfeder“ für
politisches Handeln für gleichwertig, beide können dann „zu den schönsten
Taten begeistern“115. Die sind allerdings verschieden motiviert, denn für
die demokratische Tugend „muß man den Willen haben, es zu sein und
den Staat um seiner selbst willen ohne Eigennutz lieben“116, während das
„Wesen der Ehre“ darin liegt, „nach Beförderung und Auszeichnungen
zu streben“117 Das Fundament des demokratischen Staates ist eben die
Gleichheit seiner Bürger, das der Monarchie die Hierarchie, und so ist
bei ersterer der Ehrgeiz gefährlich, für letztere aber nützlich. Montesquieu
bedient sich eines Vergleichs mit der Ordnung des Weltalls, „wo es eine
Kraft gibt, die alle Körper ständig vom Mittelpunkt fliehen läßt, und die
Schwerkraft, die sie dahin zurückzieht.“118 So trägt in der Monarchie
jeder zum Gemeinwohl bei, auch wenn er glaubt bei seinem Streben nach
Ehre nur seine Sonderinteressen zu verfolgen. In Abgrenzung zur Despotie
ist die Sichtweise Montesquieus auf die monarchische Herrschaft schon
entscheidend moderner als die obige Beschreibung, weil der Fürst nicht
ganz willkürlich regieren kann, auch er muß sich bestimmten
gesellschaftlichen Normen unterwerfen, die er nur bedingt zu beeinflussen
in der Lage ist; namentlich ist dies neben den Normen der Religion der
Ehrenkodex. Der Fürst kann also nichts befehlen, was im Gegensatz zu
dem vorherrschenden Kodex der Ehre steht, weil „die Ehre ihre eigenen
unbeugsamen Gesetze und Regeln hat und nur von ihrer eigenen Laune,
nicht aber der eines anderen abhängen kann“119 Deshalb „kann sie ihren
Platz nur in Staaten mit einer festen Verfassung und sicheren Gesetzen
finden.“120 In diesen monarchischen Staaten steht die Ehre, die ihrerseits
„wie ein Monarch über Fürst und Volk regiert“121, über den Anweisungen
der Religion, bei deren Befolgung sich „ein Höfling (...) lächerlich
vorkommen (würde)“122.

„Philosophisch gesehen ist freilich diese Ehre, die alle Glieder des
Staates lenkt, eine falsche Ehre; aber diese falsche Ehre erweist
sich für die Allgemeinheit als ebenso nützlich, wie es die wahre
Ehre für den einzelnen sein würde, wenn er sie erlangen
könnte.“123

Was Montesquieu nun mit der „wahren Ehre“ meint, läßt sich an dem
Artikel „Ehre“ in Zedlers Unversallexikon festmachen. Dort wird analog
zu der wertend gemeinten Unterscheidung von wahr und falsch der rein
begriffliche Unterschied zwischen innerer und äußerer Ehre erklärt. Die
innere Ehre bezeichnet hier den Verdienst eines Menschen, den er durch
sich selbst erwirkt hat, das heißt durch Tapferkeit, Gelehrsamkeit oder
eine andere ihm zukommende Tugend. Die äußere Ehre wird im Zedler
verstanden als „äusserlicher Vortheil“124, den man von anderen zuerkannt
bekommt, entweder durch die Obrigkeit oder die Öffentlichkeit. Die Ehre
insgesamt wird eine „Meynung“125 genannt, und der Verfasser des Artikels
gibt dem Leser am Schluß den Rat, „ein vernünftig Maaß“126 zwischen
dem Streben nach innerer und äußerer Ehre zu suchen.
Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert bildet sich besonders in
Frankreich die philosophische Richtung der Moralisten (z. B. Montaigne,
La Rochefoucauld, La Bruyère), deren Einfluß es unter anderem zu
verdanken ist, daß sich die Gewichtung dieses „Maaßes“ zugunsten der
inneren Ehre verschiebt. Diese neue Bewertung findet ihren Ausdruck
etwa in einem Vers aus Schillers Maria Stuart, wenn Burleigh Marias
Hüter deren Ermordung mit dem Argument schmackhaft macht, er würde
durch die im Verborgenen auszuführende Tat in der Gunst von Königin
Elisabeth steigen, und diesen Vorschlag mit dem Hinweis beschließt: „Und
Euer Ruf bleibt rein.“, Hüter Paulet dem aber entgegnet: „Nicht mein
Gewissen.“127 Das nun immer mehr auf der inneren Tugend statt auf
äußerer Anerkennung fußende Verständnis von Ehre geht einher mit der
aufklärerischen Forderung nach dem Ausgang aus der Unmündigkeit. Statt
„von der Gnade und Ungnade anderer abhängig“128 zu sein, was den
Menschen „zwingt, sich in Sitten, Gefühlen und Benehmen nach dem
Beispiel und den Vorurteilen anderer zu richten“129, soll er sein eigener
Herr werden. Dazu bedarf es keiner Auszeichnung durch die Obrigkeit,
jeder soll sein Leben nach seinen eigenen Maßstäben verwirklichen, die
wiederum zu einem guten Teil vom sozial vermitteltem Gewissen, dem
Über-Ich Freuds, bestimmt werden. Der Begriffs der Ehre entwickelt sich
somit vom öffentlichen Ansehen weg hin zum eigenen Gewissen.

3.1. Zum Beispiel das Beispiel: Duelle in der Literatur

Es soll an dieser Stelle nochmals daran erinnert werden, daß der Wandel
des Ehrbegriffs nur als Beispiel für den umfassenderen Prozeß der
Verinnerlichung von Werten beschrieben worden ist – wenn er auch einen
maßgeblichen Anteil daran hat. Duelle wiederum sind ein Beispiel, an
dem sich dieser Wandel gut ablesen läßt, die Literatur hat sich dieses
dankbaren Stoffes oft angenommen und ihn in den verschiedensten
Darstellungsweisen beschrieben. Es soll auch dazu dienen zu zeigen, daß
sich das neue Selbstbewußtsein des aufstrebenden Bürgertums nicht ganz
so selbstverständlich entwickelt hat, wie die etwas verkürzende Darstellung
in Kapitel 1.2.b) glauben macht, der Blick soll hier etwas differenzierter
werden.
Es gibt zwei Arten, die infragegestellte Ehre wiederherzustellen, entweder
in der geheimen Form durch Rache oder mit einem Duell, das zur
Bestätigung die Öffentlichkeit braucht. Im Laufe der Institutionalisierung
von Macht hat sich die Meinung herausgebildet, der Staat müsse im Besitz
des Gewaltmonopols sein, er konnte die Fehde also nicht länger dulden.
Das Duell als Gottesurteil ist interessanterweise vor allem auf Drängen der
Kirche abgeschafft worden, als Argument galt neben der Unmenschlichkeit
dieser Form der Entscheidungsfindung hauptsächlich die Möglichkeit zu
deren Instrumentalisierung, das heißt der physisch Stärkere hat sich
unliebsamen Schwächeren, die ihm dafür in geistiger Hinsicht überlegen
gewesen sind auf diese Weise unter irgendeinem Vorwand relativ gefahrlos
entledigen gekonnt, ohne das diese sich dagegen zu wehren in der Lage
gewesen sind. Die Duelle hören aber nicht auf zu existieren, sie verlagern
sich eben in den Privatbereich, als Mittel zur Beilegung von Ehrenhändeln.
Theoretisch stellt der Staat ihre Durchführung unter Berufung auf sein
Gewaltmonopol relativ schnell unter Strafe, in der Praxis jedoch werden
Duelle noch sehr lange Zeit geduldet; man sieht großzügig weg oder die
Strafen fallen sehr gering aus.
So müssen die Duelle im Geheimen ausgetragen werden – man kennt
die einsame Waldlichtung im Morgengrauen als ihren bevorzugten
Austragungsort –, bedürfen aber andererseits zwecks Bestätigung der
Anwesenheit von ausgewählten Zeugen. Für diese Art der Duelle ist,
anders als bei den früheren Gottesurteilen, der Ausgang nicht mehr
entscheidend für die Frage der Ehre. Allein daß man sich einem solchen
Zweikampf mit potentiell tödlichem Ende für mindestens einen der
Teilnehmer stellt, der so zur Schau gestellte Mut beweist die Ehrhaftigkeit
beziehungsweise stellt sie wieder her.
Das Problem der Instrumentalisierung bleibt trotzdem bestehen, durch eine
persönliche Beleidigung kann man so auch einen politischen Gegner
beseitigen. Dabei soll nochmals auf Schmitt hingewiesen werden: Zwar
nennt er den persönlichen Feind eben nicht Feind, sondern Gegner,
trotzdem kann man seinem Begriff des Politischen durchaus einige
lohnende Aspekte abgewinnen. Die Unterscheidung von hostes und
inimicus und die damit verbundene Tatsache der Beschränkung des
Politischen auf den Geltungsbereich des Staatlichen können doch nicht
darüber hinwegtäuschen, daß Duelle für andere Zwecke als die
Wiederherstellung der Ehre instrumentalisiert worden sind. Die
Beleidigung geht oftmals mit der Berechnung einher, freilich nicht nur auf
das Feld der Politik bezogen.130
Als ein solcher Fall darf das Duell Giacomo Casanovas mit dem polnischen
Grafen Branicki gelten. Aus Rache, da Casanova aus diplomatischen
Gründen eine Konkurrentin unterstützen muß, stiftet die Tänzerin Anna
Binetti ihren Liebhaber, eben den Grafen Branicki, dazu an, mit ihrem
alten Freund aus Stuttgarter Zeiten die Auseinandersetzung zu suchen.131
Das fällt dem Grafen um so leichter, als zu dieser Zeit – wir befinden
uns im Jahr 1766 – bereits ein regelrechter, wenn auch ungeschriebener
Katalog von Beleidigungen existiert, auf die nicht anders als mit einer
Duellforderung zu reagieren ist, will man nicht seinen Ruf verlieren.132
Branicki nahm die Forderung an, obwohl Casanova nicht seinem Stand
entsprach. Was an dem Vorfall vor allem noch bemerkenswert ist, ist
die Höflichkeit, mit der die beiden Kontrahenten die Modalitäten des
bevorstehenden Duells aushandeln. Überraschen kann es dagegen nicht,
bedenkt man den Begriff des Zeremoniells, „denn es geht ja gar nicht
um persönliche Gefühle – obwohl die durch eine vorsätzliche Beleidigung
gekränkt worden sind –, es geht einzig um die emotionslose Wahrung der
Form.“133
Ein anderes Beispiel ist Stanley Kubricks Verfilmung des 1844
erschienenen Romans Die Memoiren des Barry Lyndon von William
Makepeace Thackeray. Kubrick ist bekannt dafür, anders als Shakespeare
oder Schiller, die auch in der Bearbeitung historischer Stoffe gerne
Anspielungen auf ihre eigene Zeit einstreuen, daß er bei seinen Filmen
sehr viel Wert auf Authentizität legt. Die Duelle von Barry Lyndon gehen,
abgesehen von dem letzten gegen seinen eigenen Stiefsohn, nur äußerlich
um die Ehre, ihr eigentlicher Grund ist das Geld, denn die Hauptfigur
verdient ihren Lebensunterhalt als professioneller Spieler. Oft verweigern
die Verlierer die Zahlung mit der Begründung, Lyndon hätte unehrlich
gewonnen; nicht umsonst heißt es: „Spielschulden sind Ehrenschulden“.
Der Aufstieg des Redmond Barry zu Barry Lyndon nimmt seinen Anfang
mit seinem Eintritt in militärische Dienste, er kämpft unter anderem im
Siebenjährigen Krieg auf der Seite Preußens. Im preußischen Militär ist der
Begriff der Ehre, wie in jeder europäischen Armee dieser Zeit, noch durch
das gesamte 19. Jahrhundert hindurch besonders hochgehalten worden.
Auch wenn schon Rousseau, der sich bezeichnenderweise nur an einer
Stelle im Emil mit der männlichen Ehre auseinandersetzt – und allein
diese Tatsache, daß er in einem pädagogischen Werk der Ehre einen so
geringen Platz einräumt, läßt Rückschlüsse auf ihren Stellenwert für den
Autor zu –, in deutlichen Worten das Tun und Ehrgehabe dieses Standes
verwirft,134 dauert es doch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein, bis seine
Sichtweise wenigstens mehrheitsfähig ist. Die Verherrlichung des Militärs,
in deren Bann weite Teile der Gesellschaft noch bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs geraten sind, ist bekannt und braucht hier nicht näher erläutert
werden. Noch während des zweiten Kaiserreichs bildet das Militär einen
„Staat im Staate“135, der dank eigener Gerichtsbarkeit nahezu ungehindert
seinen Ehrenhändeln nachgehen kann, in die immer wieder auch andere
Bürger verwickelt werden oder diese Verwicklung auf der Suche nach
Anerkennung sogar gezielt suchen. „Mit der Einführung der allgemeinen
Wehrpflicht, der Verbürgerlichung des Offizier-‚Standes’ und dem Aufbau
eines Reserveoffizierkorps steigerte sich der Einfluß, den die Armee auf die
‚bürgerlichen Verhältnisse’ auszuüben vermochte.“136 Nach der politisch
letztendlich gescheiterten Revolution von 1848/49 nimmt der Widerstand
gegen den „Versuch, eine spezielle ständische Ehrenhaftigkeit der
allgemeinen bürgerlichen Ehrenhaftigkeit zu substituieren“137 merklich ab.
Im Vormärz ist noch vermehrt die Meinung vertreten worden, die Ehre des
Bürgers liege in seinem Rechtsbewußtsein, ehrenhaftes Verhalten fiele also
mit der einfachen Befolgung der Gesetze zusammen. Das als ‚Ehrensache’
geltende Duell als schlichtes Kriminaldelikt zu betrachten, setzte sich nicht
durch.
Für diese eigenartige Zwitterstellung seien noch zwei literarische Beispiele
angeführt, beide in den 1880er Jahren veröffentlicht. In Theodor Fontanes
Roman Cécile duellieren sich zwei ehemalige Militärs, der eine, St.
Arnaud, eher alte Schule, trauert der Dienstzeit hinterher, während der
andere, von Gordon-Leslie, sie nur als Karrierestation genutzt hat und
jetzt Erfüllung im bürgerlichen Beruf des Ingenieurs findet.138 Cécile, eher
unglücklich mit St. Arnaud verheiratet, findet in Herrn Gordon, wie dieser
sich der Einfachheit halber nennen läßt, einen guten Freund; es kommt
nicht zur Liebschaft, doch der Gatte sieht sich und seine Frau in der Ehre
verletzt und fordert den Nebenbuhler ohne das Wissen Céciles zum Duell
auf Pistolen. Dabei stirbt Gordon, St. Arnaud flieht vor der Strafverfolgung
an die Riviera und die unglückliche Gattin begeht, nachdem sie von dem
Vorfall erfahren hat, Selbstmord. Die Einstellungen der beiden Gegner,
die für die Epoche als exemplarisch gelten dürfen, sind in dem Roman
sehr treffend zum Ausdruck gebracht. Trotz seiner ganzen Modernität kann
Gordon sich dem Duell nicht entziehen, wobei offen bleibt, ob er nur um
seine eigene Ehre besorgt ist oder hofft, nach Arnauds möglichem Tod
dessen Stelle einzunehmen.
In Guy de Maupassants Roman Bel Ami hat der dem Roman den Titel
gebende Protagonist ein Duell aus eigentlich nichtigem Anlaß, der
vielmehr ein Mißverständnis ist. Es handelt sich dabei um einen etwas
ausgeschmückten Zeitungsartikel, dem eine fälschlich wiedergegebene
Meldung zugrundegelegen hat, aber auch den Journalisten wird hier eine
eigene „Berufsehre“139 zugesprochen, auf welche die Hauptfigur um so
mehr hält, als sie früher beim Militär gedient hat. Als der stets Bel Ami
genannte Duroy einem Reporterkollegen, der für den Gesellschaftsteil
zuständig ist, von dem Vorfall erzählt, überredet dieser ihn quasi zu der
Duellforderung. Duroy zeigt sich unentschlossen140 und in solchen Dingen
unerfahren, so arrangiert der Klatschreporter die Details und legt dabei
einen Elan an den Tag, der auf die Vorfreude auf einen Exklusivbericht
schließen läßt. Die Angst Duroys vor dem Duell wird eindringlich
beschrieben, doch nach dem Schußwechsel bleiben beide Kontrahenten
unverletzt und sind froh, dieses Ritual heil überstanden zu haben. Der als
Sekundant fungierende Reporterkollege gibt sich über den unspektakulären
Ablauf ungehalten.141 Für Duroy wie für seinen Gegner ist es nun das
Wichtigste, am Abend mit der etwas übertriebenen Erzählung ihres
Todesmuts in den Nachtcafés anzugeben. Von einer strafrechtlichen
Verfolgung ist im Roman nicht die Rede.
Es hat also noch eine ganze Weile gedauert, bis das Bürgertum seine
Eigenständigkeit durchzusetzen vermocht hat; bis dahin übt es sich in
Anpassung an die militaristisch geprägte Gesellschaftskultur. Schon
Rousseau hat diese Anbiederung als „Scheingrundsatz“142 des Bürgers
bezeichnet, doch zwischen den ersten Erwähnungen einer neuen Denkart
und deren endgültiger Durchsetzung vergeht meistens eine lange Zeit.

Schluß
Der Wandel des Regentenmodells als der gelungene Versuch den Herrscher
ins Gesellschaftsbild zu integrieren statt ihn darüber schweben zu lassen,
die Ausbildung des Über-Ichs, kurz: die Verinnerlichung von Werten wie
der Ehre bilden die Grundlage der demokratischen Ordnung
(West-)Europas, wahrscheinlich sind es Teile der Voraussetzung jeder
Demokratie. Wo die Voraussetzungen mit den Folgen, also Ursache und
Wirkung, verwechselt werden, ergeben sich Probleme, wie die derzeitigen
Bemühungen in der Welt deutlich zeigen; eine Gesellschaft, ein Land muß
für die Demokratie bereit sein.
Als Zweck dieser Verinnerlichung, kann man den Wunsch erkennen, eine
Kongruenz von Legalität und Legitimation (so der Titel eines anderen
Werkes von Carl Schmitt) zu erreichen, oder von Recht und Gerechtigkeit,
wie es bei Freud heißt.143 Nur so läßt sich das staatliche Gewaltmonopol
rechtfertigen und kann die demokratische Ordnung dauerhaft funktionieren
und damit letztendlich auch bestehen. Die zunehmend konstitutionell sowie
normativ eingebundene Regierungsgewalt, weiter oben als
Institutionalisierung von Macht bezeichnet, setzt der Willkürlichkeit immer
engere Grenzen. Die Moral läßt sich als ein Abwägen von Mittel und
Zweck verstehen, dies gilt nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch
in der Wirtschaft und allen anderen Bereichen. Ein anderer Effekt der
Demokratisierung und der Entwicklung von personaler Herrschaft zu
staatlicher Macht, ist die Tatsache, daß statt der Obrigkeit nun die Nation
Quelle der Ehre wird, was in Deutschland zuletzt die Nationalsozialisten
erfolgreich für ihre Zwecke zu nutzen gewußt haben.144
Mit der prinzipiellen Gleichheit aller Bürger wird das alte Verständnis
von Ehre, welches auf der Abgrenzung bestimmter Gesellschaftsschichten
fußt, obsolet. Weinrich weist aber auch darauf hin, daß durch die
Bedeutungsverschiebung des Begriffs der Ehre keine wirkliche Lücke
entstanden ist, er ist nur durch andere ersetzt worden. Es bleibt aber bei
der Veränderung, daß die Grundlage von Ansehen oder Prestige nicht
mehr vornehmlich durch staatliche Auszeichnungen, sondern durch eigene
Leistungen gelegt wird, oder zumindest durch deren mediale Darstellung.
Die demokratische Botschaft lautet: Jeder kann es schaffen, berühmt zu
werden – ob er es wirklich verdient, ist eine andere Frage. Ein kurzer
Vergleich zwischen Trägern des Bundesverdienstkreuzes und sogenannten
Stars macht das schnell deutlich, doch ist dies nicht der Ort, die
Mediokratie unserer Tage wegen der Generierung eines ‚neuen Scheins’ zu
kritisieren.
Literaturangaben

Aristoteles, Nikomachische Ethik, Hamburg 1985


Casanova, Giacomo, Geschichte meines Lebens, hrsg. v. Erich Loos,
17 Bd., Berlin 1966
Bruyn, Günter de, Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer
Legende, Berlin 2002
Hobbes, Thomas, Leviathan, Stuttgart 1980
Fontane, Theodor, Cécile, Berlin und Weimar 1969
Freud, Sigmund, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe, Bd.
IX, Frankfurt am Main 2000, S. 197-270
Frevert, Ute, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft,
München 1995
Maupassant, Guy de, Bel Ami, Köln 1996
Montesquieu, Charles de Secondat, Vom Geist der Gesetze, 3Bd.,
Tübingen 1951
Novalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin, in:
Fragmente und Studien. Die Christenheit oder Europa, Stuttgart 1996,
S. 42-58
Pauls, Eilhard Erich, Die Revolution der Königin Luise, in: Hrsg.
unbekannt, Die Revolution der Königin Luise. Geschichten aus
Mecklenburg, Rostock 1990, S. 7-11.
Rousseau, Jean-Jacques, Emil oder über die Erziehung, Paderborn 1962
Schiller, Friedrich, Maria Stuart, Stuttgart 2001
Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem
Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963
Schultz, Uwe (Hrsg.), Das Duell. Der tödliche Kampf um die Ehre,
Frankfurt am Main und Leipzig 1996
Shakespeare, William, King Richard II / König Richard II. (Englisch
und Deutsch), Stuttgart 1996
Weinrich, Harald, Mythologie der Ehre, in: Fuhrmann, Manfred
(Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München
1971, S. 341-356
Zedlers Universallexikon, Leipzig und Halle ab 1739
Anhang

Gewissensfrage145

„Auf Erdbeerfeldern zum Selberpflücken zahlt man, wenn man fertig ist,
für die Menge an Erdbeeren, die man mitnimmt. Was man während des
Pflückens gegessen hat, muss man nicht bezahlen. Es gibt auch keine
Vorschriften darüber, wie viel man direkt auf dem Feld verspeisen darf.
Kürzlich hatten wir nun eine Diskussion, ob es unmoralisch wäre, sich
dort den ‚Magen voll zu schlagen’ und dann nur eine kleine Menge zu
kaufen. Wie sehen sie das?“ GRUNDKURS ETHIK DES STIFTSLAND-
GYMNASIUMS, TIRSCHENREUTH

Die Antwort von Dr. Dr. Rainer Erlinger


BEEREN-AUSLESE

Offensichtlich kann Völlerei nicht nur körperliche, sondern auch


moralische Bauchschmerzen verursachen: Der Esser handelt weder rechts-
noch vertragswidrig und doch – so viel sei vorweggenommen – nicht
richtig. Das Verhältnis von Recht und Moral hat sich im Laufe der
Geschichte verändert und bleibt umstritten. Die in archaischen
Gesellschaften bestehende Einheit der beiden schwächte sich zunehmend
ab, im 18. Jahrhundert vollzogen die Philosophen Christian Thomasius und
Immanuel Kant dann eine Trennung zwischen Recht und Moral, die vor
allem der individuellen Freiheit diente: Letztlich sollte damit das von den
rechtlichen Zwängen freie moralische Handeln des Einzelnen ermöglicht
werden. Nach dieser Auffassung wäre es für die ethische Beurteilung
irrelevant, ob das Tun erlaubt oder verboten ist.
So weit würde ich nicht gehen, aber sicherlich kann für die Bewertung einer
Handlung nicht allein ausschlaggebend sein, ob Nutzungsbedingungen
eingehalten werden. Dabei bliebe neben den Folgen die Motivation
unberücksichtigt. Die aber halte ich hier für entscheidend: Will jemand
eine kleine Menge Erdbeeren pflücken und ißt dabei mehr, stellt das eine
moralisch unbedenkliche, für den Kunden günstige Konstellation dar. Geht
er dagegen aufs Feld, um sich voll zu essen, und bezahlt als Alibi ein
paar Beeren, nutzt er planvoll eine ‚Lücke’ aus, mit dem Ziel, den eigenen
Nutzen zu maximieren. Das ist verwerflich und hier kann auch nicht das
Argument überzeugen, daß der Erdbeerbauer die negativen Folgen seiner
Geschäftsbedingungen in Kauf nehmen muss. Denn dass Kunden ihre
Position gnadenlos ausreizen, muss ein Geschäftsmann vielleicht
wirtschaftlich, nicht aber moralisch einkalkulieren.
Fußnoten

1 Siehe das Nachwort der dieser Arbeit zugrundeliegenden Ausgabe, S. 203. Im folgenden werden
die Zitate aus dem Stück selbst nur durch Akt, Szene, Vers, nicht mit den Seitenzahlen angegeben.
2 Zedlers Universallexikon, Bd. 13, Stichwort „Hof“, Sp. 405f.
3 Wie wichtig die Äußerlichkeiten in dieser Zeit sind, läßt sich hervorragend an der bis zum
Ende des Absolutismus stetig wachsenden Literatur zum Thema der Zeremonialwissenschaften,
den sogenannten Anstands- oder Benimmbüchern, ablesen. Stellvertretend seien hier genannt:
J. C. Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico, Politicum, Oder Historisch= und Politischer
Schau=Platz Aller Ceremonien (...), 2 Bd., Leipzig 1719 und 1720 oder J. B. von Rohr, Einleitung
zur Ceremonielwissenschaft Der Privat-Personen. (...) Zweyte vermehrte Edition bey J. A.
Rüdiger, Berlin 1730. Eine tiefere Beschäftigung mit diesem Themenbereich würde hier den
Umfang dieser Arbeit übersteigen.
4 Das Zitat lautet in Gänze (Übersetzung): „Wir selbst und Bushy beobachteten sein
Liebeswerben um das gemeine Volk, wie er mit plumper und familiärer Höflichkeit in ihre Herzen
einzudringen schien; welche Hochachtung er auf Sklaven verschwendete, wie er mit der List des
Lächelns und dem geduldigen Erleiden seines Schicksals arme Handwerker umwarb, als gelte es,
ihre Zuneigung in die Verbannung mitzunehmen. Er zieht den Hut vor einem Austernmädchen;
einige Fuhrleute wünschten ihm Gottes Segen, und darauf verbeugte er sich mit geschmeidigem
Knie mit den Worten ‚Ich danke euch, meine Landsleute, meine lieben Freunde’ – Als sei unser
England in Anwartschaft sein und er die nächste Hoffnung unserer Untertanen.“ I, 4, 23-36.
5 Während das Volk von Richard als „gemein“ bezeichnet wird („common people“, siehe vorige
Fußnote), hat er für das Land nur lobende Worte übrig („dear“ oder „gentle earth“, III, 2, 6 und
12).
6 Siehe dazu denselben Monolog Richards im III. Akt, 2. Szene, Vers 14-18.
7 „Not all the water in the rough rude sea / Can wash the balm off from an anointed king;“ Richard
II., III, 2, 54f.
8 Zum Beispiel III, 3, 62f: „See, see, King Richard doth himself appear, / As doth the blushing
discontentet sun”.
9 Wenn Richard sein Verhältnis zum zukünftigen König Henry IV. beschreibt: „O that I were a
mockery king of snow, / Standing before the sun of Bolingbroke, / To melt myself away in water-
drops!“ IV, 1, 260ff.
10 Denn seinem Verständnis nach kann niemand sonst ihn rechtlich dazu zwingen. „Now, mark
me how I will undo myself. / I give this heavy weight from off my head, / And this unwieldy
sceptre from my hand, / The pride of kingly sway from out my heart; / With mine own tears I
wash away my balm, / With mine own hands I give away my crown, / With mine own tongue
deny my sacred state, With mine own breath release all duteous oaths; / All pomp and majesty I
do forswear”. IV, 1, 203-211.
11 Bezeichnenderweise übersetzt die Reclam-Ausgabe „England’s private wrongs“ mit „des
Königs eigene Verfehlungen“ (II, 1, 166).
12 „What says King Bolingbroke?“ III, 3, 173.
13 „As I was banish’d, I was banish’d Herford; / But as I come, I come for Lancaster.” II, 3,
112f.
14 Zu finden im III. Akt, 2. Szene, Vers 85.
15 Es läßt sich allerdings keine allgemeine Formel finden, warum er in welcher Situation die eine
oder die andere Redeweise benutzt.
16 I, 2, 37f. Diese Beschreibung steht nicht für die Person des Menschen Richard, sondern
für den jeweiligen politischen Funktionsträger der Herrschaftswürde. Am Ende des Stücks wird
Bolingbroke von der Herzogin von York als „a god on earth“ bezeichnet (V, 3, 134). Zur
Trennung von natürlichem Menschen und politischem Würdenträger in der Person des Herrschers,
siehe: E. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des
Mittelalters, München 1960.
17 Für das Schiller’sche Drama wird dieselbe Zitierweise mit Angabe von Akt, Szene und Vers
verwendet. Das Zitat findet sich im I. Aufzug, 2. Auftritt, Vers 153.
18 „Diese Flitter machen / Die Königin nicht aus. Man kann uns niedrig / Behandeln, nicht
erniedrigen.“ I, 2, 154-156.
19 „Von meinen Dienern getrennt – Wo sind sie? / Was ist ihr Schicksal? Ihrer Dienste kann ich
/ Entraten, doch beruhigt will ich sein, / Dass die Getreun nicht leiden und entbehren.“ I, 2,
204-207.
20 I, 2, 247f.
21 Z. B. I, 4, 299f: „Den Eure Liebe aus der Dunkelheit / Wie eine Götterhand hervorgezogen“.
22 Ritter Paulet, Marias Hüter: „Solange sie noch besitzt, kann sie noch schaden, / Denn alles wird
Gewehr in ihrer Hand.“ I, 1, 22f.
23 II, 2, 1155.
24 II, 2, 1165-1168.
25 Sehr gut zu sehen an dem Streitgespräch über die Gerichtshoheit zwischen Maria und ihrem
Hüter Paulet im I. Aufzug, 7. Auftritt, Vers 698-706: „Ich habe keineswegs mich unterworfen. /
Nie konnt ich das – ich konnte meinem Rang, / Der Würde meines Volks und meines Sohnes / Und
aller Fürsten nicht so viel vergeben. / Verordnet ist im englischen Gesetz, / Dass jeder Angeklagte
durch Geschworene / Von seinesgleichen soll gerichtet werden. / Wer in der Committee ist
meinesgleichen? / Nur Könige sind meine Peers.“ Da es immer nur eine(n) König(in) geben kann
und sich kein Staat in die inneren Belange eines anderen einmischen sollte, wäre niemand dazu
geeignet, eine Königin zu richten.
26 I, 7, 735f.
27 Erkennbar beispielsweise in Elisabeths Anklage von Marias Onkel: „Wen rief er gegen mich
nicht auf? / Der Priester Zungen und der Völker Schwert, / Des frommen Wahnsinns fürchterliche
Waffen“. III, 4, 2339ff. Man denke hier an Carl Schmitts basale Freund-Feind-Unterscheidung,
wobei außerpolitische Argumente (z. B. ästhetische oder ökonomische, hier eben religiöse) zur
Verabsolutierung des Konflikts gebraucht werden. Siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen,
bes. S. 26ff.
28 Wenn auch keine direkte Vergöttlichung in Form von Austauschbarkeit, so doch zumindest
eine Gleichsetzung. „Fluch und Verderben euch, die ihren Gott / Und ihre wahre Königin
verraten! / Die von der irdischen Maria sich / Treulos, wie von der himmlischen gewendet“. IV,
4, 2811-2814. Auch für Elisabeth lassen sich Beispiele finden, etwa wenn sie über die Liebe des
Volkes zu ihr spricht: „Abgöttisch sind die Zeichen seiner Freude, / So ehrt man einen Gott, nicht
einen Menschen.“ III, 4, 2230f.
29 Etwa wenn Paulet seinem Neffen Mortimer folgenden Rat gibt: „Am Hofe / Ward unseres
Hauses Ehre nicht gesammelt. / Steh fest, mein Neffe. Kaufe nicht zu teuer! / Verletze dein
Gewissen nicht!“ II, 7, 1669-1672.
30 Zitiert nach dem entstehungsgeschichtlichen Anhang von Dietrich Bode, in: F. Schiller, Maria
Stuart, Stuttgart 2001, S. 167.
31 Ebenda, S. 166.
32 Ebenda.
33 „Hieraus ergibt sich, daß ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein
solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle.“ T. Hobbes,
Leviathan, S. 115.
34 Ebenda, S. 118: „Das Naturrecht ist die Freiheit, nach welcher ein jeder zur Erhaltung seiner
selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint,
tun kann. Freiheit begreift ihrer ursprünglichen Bedeutung nach die Abwesenheit aller äußeren
Hindernisse in sich.“
35 Bolingbroke wird nach der offiziellen Machtübernahme zu Henry IV., dem Shakespeare
ebenfalls ein sogar zweiteiliges Theaterstück gewidmet hat.
36 Man mag es Ironie nennen, wenn die zu Lebzeiten Shakespeares regierende Königin
Elisabeth im historischen Rückblick als der Höhepunkt englischer Repräsentanzherrschaft-
Inszenierung gesehen wird. In Schillers Maria Stuart ist davon wenig zu bemerken, wenn der
innere Konflikt Elisabeths gerade an der Grenze von Öffentlichkeit und Privatheit
bühnenwirksam ausgetragen wird.
37 King Richard II., III, 2, 76f.
38 T. Hobbes, Leviathan, S. 81.
39 Ebenda, S. 80.
40 Als Ausdruck dieses neuen Selbstbewußtseins kann jenes Buch gelesen werden, das heutzutage
– und damit im historischen Sinn fälschlicherweise – als Synonym für übertriebene Etikette
benutzt wird: A. Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hrsg. v. G. Ueding,
Frankfurt am Main 1977. Vergleicht man dieses 1790 erstmals erschienene Werk mit den oben
genannten von Lünig und Rohr, so läßt sich hier eine Umkehr der frühneuzeitlichen Tendenz
ausmachen, „den Anstand aus der ursprünglichen Fundierung in der Moral zu lösen, ja ihn im
Sinne einer (bloß) technischen Meisterung des Lebens zu verselbständigen.“ (Zitiert aus: K.-H.
Göttert, Stichwort „Anstandsliteratur“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 1, Tübingen
1992, Sp. 659) Knigge kritisiert damit das höfische „Ceremoniel“ als ebenso moralisch neutrale
wie im Prinzip austauschbare Form des gesellschaftlichen Verkehrs, dem er zwar immer noch
ein der Angemessenheit (decorum) verpflichtetes Regelwerk gegenüberstellt, das aber auch klare
Bekenntnisse zur Rousseau’schen Idealforderung nach Einfachheit enthält.
41 Dieser Themenstrang läuft in der Diskussion ja bis heute fort: Unter dem Stichwort ‚Politik
der Sachzwänge’ wird die fehlende Gestaltungsmöglichkeit von Regierungen angeprangert, die
statt Entscheidungen nach den eigenen Idealen zu treffen, sich oft genug nach den Erkenntnissen
von Sachexperten richten müssen; andere begrüßen diese Entwicklung als Eindämmung der
Willkürherrschaft.
42 Novalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin, in: ders., Fragmente und
Studien. Die Christenheit oder Europa, S. 49, Abschnitt 23. Im folgenden werden die Zitate nur
anhand des Abschnitts aufgeführt, was bei der Kürze der Abschnitte das Auffinden der Zitate
erleichtert und zudem das Nachlesen in anderen Textausgaben vereinfacht.
43 Ebenda, Abs. 29.
44 Ebenda, Abs. 32.
45 „Ein blühendes Land ist doch wohl ein königlicheres Kunstwerk als ein Park.“ Ebenda, Abs.
7. Der Park gilt hier als Ausdruck eben dieses Repräsentationscharakters. In Stanley Kubricks
Film Barry Lyndon (1975) etwa bekommt man einen guten Eindruck dieser „Kulturlandschaften“,
die den Versuch der Menschen wiederspiegeln, „auch ihre eigene Natur durch komplexe
Verhaltensmuster zu kontrollieren.“ (Zitat aus: P. Duncan, Stanley Kubrick. Sämtliche Filme,
Köln 2003, S. 153) Siehe dazu auch die Fußnoten 3 und 40 zum Wandel der Anstandsliteratur.
46 Ebenda, Abs. 17.
47 Ebenda, Abs. 18.
48 Ebenda, Abs. 15.
49 Beide Ausdrücke in Abs. 27.
50 Ebenda, Abs. 29.
51 Ebenda, Abs. 40.
52 Novalis ist sich dieser Umwertung der Tatsachen durchaus bewußt, etwa wenn er in Abschnitt
32 schreibt: „Sonst mußte man sich vor den Höfen, wie vor einem ansteckenden Orte, mit Weib
und Kindern flüchten. An einen Hof wird man sich jetzt vor der allgemeinen Sittenverderbnis, wie
auf eine glückliche Insel zurückziehen können.“
53 Ebenda, Abs. 37.
54 Ebenda, Abs. 34.
55 Ebenda, Abs. 18.
56 Nachzulesen in Abs. 30: „und so sollte man mit dem König und der Königin das gewöhnliche
Leben veredeln, wie sonst die Alten es mit ihren Göttern taten. Dort entstand echte Religiosität
durch diese unaufhörliche Mischung der Götterwelt in das Leben.“
57 G. de Bruyn, Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, S.84.
58 Ebenda, S. 76. Wobei die klassische Rollenverteilung unangetastet bleibt. Der König will
Preußen, nach der Mätressenwirtschaft und Verschwendung von Staatsgelder durch seinen Vater,
wieder „moralischer machen“ (S.21), während Luise für Haushalt und Kinder zu sorgen hat. S.
30: „Die Ehe, die das Kronprinzenpaar führte, war mustergültig im bürgerlichen Sinne.“
59 Ebenda, S. 28.
60 So nennt August Wilhelm Schlegel sie in einem seiner Gedichte, zitiert nach: G. de Bruyn,
Preußens Luise, S. 44.
61 Ebenda, S. 60.
62 Ebensa, S. 66.
63 Ebenda, S. 7.
64 E. E. Pauls, Die Revolution der Königin Luise, S. 7.
65 Ebenda.
66 Novalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin, Abs. 22.
67 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 240: „Homo homini lupus; wer hat nach allen
Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten?“
68 Ebenda, S. 220.
69 Den Fremden, den Feind. Siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen.
70 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 218f.
71 Ebenda, S. 225.
72 Ebenda, S. 266. Und nochmals deutlich an anderer Stelle: „Die individuelle Freiheit ist kein
Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das
Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen.“ (S. 226).
73 Ebenda, S. 225.
74 Ebenda, S. 226.
75 Ebenda, S. 227.
76 Ebenda, S. 228.
77 Ebenda, S. 241.
78 Ebenda, S. 250.
79 Ebenda, S. 251. Das Zitat geht weiter wie folgt: „Das Böse ist oft gar nicht das dem Ich
Schädliche oder Gefährliche, im Gegenteil auch etwas, was ihm erwünscht ist, ihm Vergnügen
bereitet. Darin zeigt sich also fremder Einfluß; dieser bestimmt, was Gut und Böse heißen soll.“
Es geht hier demnach um eine Benennung, nicht um Wesentliches.
80 Ebenda.
81 Ebenda.
82 Maria Stuart, IV, 3, 2709.
83 „Wohl wahr. Man kann den Menschen nicht verwehren, / Zu denken, was sie wollen.“ I, 8,
1008f und „Ich kann der Menschen Innres nicht erforschen,“ IV, 2, 2677.
84 Zu beobachten an der ungebrochenen Faszination, die von der Vorstellung des ‚perfekten
Verbrechens’ ausgeht. „It ain’t a crime if you don’t get caught”, lautet die Refrainzeile eines
Liedes der Hip-hop-Band House of Pain. Solange man sich vor der Entdeckung durch eine äußere
Autorität sicher glaubt, ist man nicht nur bereit, das Böse zu tun, ja man erkennt es noch nicht
einmal als etwas Böses, ein Verbrechen an.
85 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 252.
86 Ebenda.
87 Ebenda.
88 Ebenda, S. 253.
89 Ebenda, S. 254.
90 Ebenda.
91 Ebenda, S. 265f.
92 Ebenda, S. 266.
93 Ebenda.
94 Ebenda, S. 266f. Das Zitat geht wie folgt weiter: „Die Analogie geht in vielen Fällen noch
weiter, indem diese Personen – häufig genug, wenn auch nicht immer – zu ihrer Lebzeit von den
anderen verspottet, mißhandelt oder selbst auf grausame Art beseitigt wurden“, was ziemlich gut
zu den in Kapitel 1.1. besprochenen Dramen paßt.
95 Ebenda, S. 267.
96 Ebenda.
97 W. Shakespeare, King Henry IV Part One, V, 1, 131-141, in: The Complete Works of William
Shakespeare, Hertfordshire 1996, S. 416-448.
98 Beispielsweise in der Ausgabe: W. Shakespeare, König Heinrich der Vierte, Stuttgart 1978, S.
82f.
99 W. Shakespeare, King Richard II., I, 1, 30-205
100 T. Hobbes, Leviathan, S. 82: „Wenn man öffentlich zu erkennen gibt, wie man von jemandes
Wert urteilt, heißt das jemanden ehren oder entehren. Wird der Wert hoch angesetzt, so heißt es
ehren, fällt er gering aus, entehren.“
101 Ebenda, S. 84: „Der Stellvertreter des Staates ist der Quell der bürgerlichen Ehre, weil sie von
dem Willen desjenigen abhängt, der die höchste Gewalt im Staate besitzt. Sie dauert daher nur
eine Zeitlang, wie z. B. obrigkeitliche und andere öffentliche Ämter, Titel und an manchen Orten
auch gewisse Kleidungsstücke und Wappen; und die dergleichen erhalten, sind Ehrenmänner,
weil sie dieses als Zeichen der öffentlichen Gunst besitzen. Öffentliche Gunst aber ist Macht.“
Der Begriff ‚bürgerlich’ darf hier nicht im Sinne von Kapitel 1.2.b) als Gegensatz zum Adel
verstanden werden, sondern bezieht sich formal auf die Zugehörigkeit zum Staat.
102 Ebenda, S. 85.
103 H. Weinrich, Mythologie der Ehre, S. 341.
104 Aristoteles, Nikomachische Ethik (IV, 7), S. 84.
105 Ebenda, S. 85.
106 Überhaupt scheint sich die Ehre der Frau vor ihrer Heirat auf die Wahrung ihrer
Jungfräulichkeit zu reduzieren, oder genauer: des Scheins der Jungfräulichkeit; nach der Heirat
ist es der Schein der Treue. Auch trägt sie hierbei die Verantwortung nicht alleine, diese teilt sie
sich untrennbar mit ihrem Vater beziehungsweise Ehemann. In diesem Kapitel ist also nur über
die Ehre des Mannes die Rede.
107 Dazu siehe: H. Weinrich, Mythologie der Ehre, der darauf hinweist, daß man an der
ausufernden literarischen Abarbeitung an diesem Thema ihr langsames Ende bereits ablesen kann,
weil es auf die schwindende Selbstverständlichkeit hindeutet. „Aus der öffentlichen Ehre ist die
veröffentlichte Ehre geworden.“, ebenda, S. 348.
108 Ebenda, S. 352.
109 Ebenda, S. 341.
110 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, S. 267.
111 H. Weinrich, Mythologie der Ehre, S. 345. Warum der Begriff schwierig ist, weil er als
teilweise irreführend gelten kann, obwohl er der Sache nach das richtige bezeichnet, erklärt sich
weiter unten im Text.
112 Ebenda.
113 Ebenda.
114 Ebenda. Da der dieser Arbeit gesetzte Rahmen in Bezug auf ihr Thema eine eingehende Behandlung der
Ökonomie nicht zuläßt, sei an dieser Stelle noch auf ein paar Punkte hingewiesen: Die Frage nach dem Verhältnis
von Moral und Gesetz gegenüber der Ökonomie ist eine sehr alte, sie läßt sich beispielsweise an den gegensätzlichen
anthropologischen Grundannahmen von Hobbes und Rousseau festmachen. Aus diesem Blickwinkel läßt sich die
unterschiedliche Beurteilung des Naturzustandes auf die jeweiligen Einschätzungen der ökonomischen
Gegebenheiten erklären. Hobbes erklärt den Kampf aller gegen alle maßgeblich aus den zur Verfügung stehenden
knappen natürlichen Ressourcen heraus; um das eigene Überleben zu sichern, ist es nötig, sich die Verfügungsmacht
über diese Ressourcen durch Gewalt gegen die Mitmenschen zu anzueignen. Auch nach der Schließung des
Staatsvertrages sind die Menschen durch ihre Vernunft darauf verpflichtet, innerhalb der ihnen nun gesetzten Grenzen
vor allem nach dem eigenen Vorteil zustreben. Die Trennung von Schein und Sein hört hier beim Reichtum auf, denn
er ist es, der einen angenehmen materiellen Lebensstandart verspricht. Rousseau hingegen hält diese im nachhinein
als sozialdarwinistisch zu bezeichnende Sichtweise für obsolet, weil er davon ausgeht, daß im Naturzustand genug
Ressourcen für alle Menschen vorhanden sind, sodaß der Kampf um sie als unnötig erscheint. Hieran erkennt man,
wie sehr die Hobbes’sche Theorie durch die Erfahrung der Mangelgesellschaft geprägt ist, während Rousseau mit
seiner programmatischen Forderung einer Rückkehr zur Natur die seit der Zeit Hobbes’ gemachten Fortschritte
in Richtung Wohlstandsgesellschaft völlig verkennt, auch wenn er dabei um so schärfer bemerkt, daß – wie auch
Freud später gezeigt hat – die Leistungen der Kultur allein den Menschen nicht glücklicher machen. Selbst der
Romantiker Novalis gesteht einige Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Schriften Rousseaus die Notwendigkeit
stetiger Veränderung ein (Glauben und Liebe, Abs. 21) und gibt zu, daß ein Staat manchmal wie eine Fabrik
verwaltet werden muß (ebenda, Abs. 36). Dies sei zwar nicht das Wesentliche, doch man muß wohl in der Nachfolge
eingestehen, daß die reale Entwicklung diese Richtung eingeschlagen hat.
Daß diese Frage nichts an ihrer Aktualität verloren hat, obwohl wir heutzutage schon von Überflußgesellschaft
sprechen, zeigt der im Anhang dieser Arbeit angeführte Zeitungsartikel, dem trotz aller Komik, mit der das Thema
hier behandelt wird, ein ernstzunehmender Kern innewohnt. Das Sprichwort „Erst kommt das Fressen, dann die
Moral.“ faßt das Problem prägnant zusammen; alles läuft bei dieser Sicht der Dinge auf die Behauptung hinaus,
Moral- und Profitdenken wären unvereinbar, die Moral wird so als zivilisatorischer Luxus betrachtet, den man sich
leisten kann, wenn zuerst die elementareren Bedürfnisse des Lebens wie Nahrung, Kleidung und Wohnung befriedigt
sind. Gegen diese Sichtweise spricht die Tatsache, daß wir auch heute noch weit davon entfernt sind, moralisch
perfekt zu sein und es darf ernshaft bezweifelt werden, daß dieser Zustand jemals erreicht werden wird. Freud
jedenfalls ist davon ausgegangen, daß die Menschen von dem „hohen Ideal“, zu dem er sich in einem Brief an Pfarrer
Pfister bekennt, „wenn schon von Ethik die Rede sein soll“ auch in Zukunft „meist sehr betrüblich abweichen“
werden (zitiert nach: W. Gadddis, Das mechanische Klavier, München 2003).
Somit würde der materielle Wohlstand die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung, für die absolute
Einhaltung einer aufgestellten Moral bilden. Das Problem ist also nicht, ob die Menschen sich an ethische Normen
halten können, sondern ob sie es wirklich uneingeschränkt wollen. Antworten – allerdings zu komplexe, als das hier
darauf eingegangen werden kann – auf die Frage, warum dann überhaupt eine Moral entsteht, bietet das Buch: O.
Höffe, Moral als Preis der Moderne.
115 C. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Buch III, Kapitel 6; in der hier benutzten Ausgabe
Bd. 1, S. 40.
116 Ebenda, S. 41.
117 Ebenda, III, 7, S. 41.
118 Ebenda.
119 Ebenda, III, 8, S.42.
120 Ebenda.
121 Ebenda, III, 10, S. 45.
122 Ebenda.
123 Ebenda, III, 7, S. 41.
124 Zedlers Universallexikon, Bd. 8, Sp. 416.
125 Ebenda.
126 Ebenda, Sp. 417.
127 F. Schiller, Maria Stuart, I, 8, 1062.
128 J.-J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 541.
129 Ebenda.
130 Siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, bes. S. 29f.
131 G. Casanova beschreibt das Duell sowie die Vorgänge, die dazu führten, ausführlich in seinen
Memoiren.
132 „Er nannte mich einen venezianischen Feigling.“ G. Casanova, Geschichte meines Lebens,
Bd. X, S. 190.
133 E. Kleßmann, „Er nannte mich einen venezianischen Feigling“ – Casanova und Graf
Branicki: ein Duell, das Europa erregte (1766), in: U. Schultz (Hrsg.), Das Duell. Der tödliche
Kampf um die Ehre, S. 74f.
134 „Das besteht darin, in militärische Dienste zu treten, d. h. sich wohlfeil zu vermieten,
um Leute zu töten, die uns niemals etwas Böses getan haben. Die Handwerk steht unter den
Menschen in hohem Ansehen, (...) es gehört zur Ehre dieses Standes, diejenigen zugrunde zu
richten (...). Du wirst weiterhin einsehen, daß es sich in diesem Handwerk nicht mehr um Mut und
persönlichen Wert handelt, wenn nicht vielleicht bei Frauen, sondern das im Gegenteil derjenige,
der am meisten kriechen, sich bücken und liebdienern kann, der Geehrteste ist. Sollte es dir aber
einfallen, dein Handwerk ernst zu nehmen, würdest du verachtet, gehaßt und vielleicht fortgejagt,
zum mindesten aber würdest du niedergehalten, übergangen und durch alle deine Kameraden
verdrängt, weil du deinen Dienst im Laufgraben gemacht hast, während sie ihn bei der Toilette
erfüllten.“ J.-J. Rousseau, Emil oder über die Erziehung, S. 541.
135 U. Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, S. 109.
136 Ebenda.
137 So der Großkaufmann und Bankier Gustav Mevissen, gleichzeitig Abgeordneter des Ersten
Vereinigten Landtags Preußens, 1847 anläßlich einer Debatte über einen Gesetzesentwurf zur
Bescholtenheit von Parlamentariern; zitiert nach: U. Frevert, Ehrenmänner, S. 110f.
138 „Andauernde Treue gegen das Alte macht die Treue gegen das Neue nahezu zur
Unmöglichkeit“. T. Fontane, Cécile, S. 84.
139 G. de Maupassant, Bel Ami, S. 122.
140 Ebenda, S. 150f: „Was bewies ein Duell? War ein Lump weniger ein Lump, nachdem er sich
geschossen hatte? Was hatte ein beschimpfter Ehrenmann davon, sein Leben gegen einen Gauner
aufs Spiel zu setzen?“
141 Ebenda, S. 160: „Mit den verfluchten Pistolen ist’s immer so: man knallt vorbei oder schießt
sich tot. Dreckdinger!“
142 „Mein Sohn ist bestimmt, in der Welt zu leben. Er wird nicht mit Weisen, sondern mit Toren
zu tun haben. Er muß daher ihre Torheiten kennen, weil sie durch diese geleitet sein wollen.
Die wirkliche Kenntnis der Dinge mag ihr Gutes haben, aber die der Menschen und ihrer Urteile
ist noch viel wichtiger, denn in der menschlichen Gesellschaft ist der Mensch das bedeutendste
Werkzeug des Menschen, und der weiseste ist der, der sich am besten dieses Instrumentes bedient.
Wozu nützt es also, den Kindern den Begriff von einer rein eingebildeten Weltordnung zu
vermitteln, völlig entgegengesetzt derjenigen, die sie wirklich vorfinden und nach der sie sich
richten müssen? Lehret sie also zunächst, weise zu sein, und dann lehrt sie beurteilen, worin die
anderen Toren sind.“ Ebenda, S. 199.
143 Auch wenn Freud die Möglichkeit einer völligen Deckungsgleichheit zumindest
infragestellt, was auf den latenten Unglücklichkeitsfaktor innerhalb der Kulturprozesses
verweist.
144 H. Weinrich, Mythologie der Ehre, S. 355f. Er nennt den vollzogenen Begriffswandel eine
„Transformation der Ehre aus der Selbstverständlichkeit in den Mythos“.
145 Aus: SZ-Magazin No. 27, 04.07.2003, S. 11

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