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WOLFGANG MÜLLER-LAUTER

DER ORGANISMUS ALS INNERER KAMPF

DER EINFLUSS VON WILHELM ROUX


AUF FRIEDRICH NIETZSCHE

Vorbemerkung

Im Rückblick auf seine Baseler „Philologen-Existenz" schreibt Nietz-


sche in Ecce homo, er habe sich am Ende „ganz mager, ganz abgehungert"
gefunden: „die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens und die
,Idealitäten* taugten den Teufel was! — Ein geradezu brennender Durst ergriff
mich: von da an habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie,
Medizin und Naturwissenschaften, — selbst zu eigentlichen historischen
Studien bin ich erst wieder zurückgekehrt, als die Aufgabe mich gebieterisch
dazu zwang."1 Selbst wenn man diese Aussage Nietzsches im Hinblick auf
den besonderen Charakter seiner »Autobiographie* relativiert, so bleibt ihr
„Wahrheitskern" doch unbestreitbar.2 Schon die große Zahl der von ihm er-
worbenen oder ausgeliehenen naturwissenschaftlichen Schriften bezeugt seine
Bemühungen um ein Verständnis von Sachverhalten, für das ihn sein Bil-
dungsgang nicht vorbereitet hatte.
Hierin liegt ein grundsätzliches Problem. Man kann mit K. Schlechta
fragen, ob Nietzsche sich je „ernstlich" mit der Naturwissenschaft beschäftigt
hat. Schlechtas Antwort darauf lautet, daß die Einblicke, die Nietzsche ge-

1
EH, KGW VI 3, 323. (Im folgenden werden unter Weglassung der Sigel KG W Band-, Apho-
rismen- und Seitenzahlen nach dieser Ausgabe angegeben.) — Vgl. a.a.O., 281: „. . . die
Unwissenheit in physiologicis — der verfluchte , Idealismus* — ist das eigentliche Verhäng-
niss in meinem Leben, das Überflüssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes
gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen
dieses Idealismus' erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und »Be-
scheidenheiten' abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe
wurde — warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschlies-
sendes?".
2
S. A. Mittasch, F. Nietzsches Naturbeflissenheit, 1950, 7. - Vgl. K. Schlechta, Nachwort zu
F. Nietzsche, Werke, III, 1444: „Ich halte es für erlaubt, einiges von diesem Geständnis der
dem ,Ecce homo* eigentümlichen Koketterie zu Lasten zu schreiben. Aber in bezug auf die
radikale Wendung der Richtung seines Hauptinteresses sagt Nietzsche zweifellos die volle
Wahrheit."

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wann, jedenfalls genügten, um die „,nihilistischen' Wesenszüge" wissenschaft-


lichen Denkens zu durchschauen, wie dies auch Dostoewskij und Kierkegaard
möglich war.3 Ein solcher Vergleich ist, seiner allgemeinen Berechtigung un-
geachtet, nicht nur insofern unangemessen, als er den sehr extensiven (wenn
auch disparaten) Studien Nietzsches nicht Rechnung trägt, für die wir auf
Seiten der beiden genannten Denker keine Entsprechung finden. In dem Ver-
gleich wird auch die Intensität verkannt, mit der sich Nietzsche in die zeit-
genössischen naturwissenschaftlichen Fragestellungen vertiefte. Daß sie kri-
tisch aufzunehmen seien, daß der Weg seines Philosophierens durch sie hin-
durch führen müsse, ist ihm ständig vor Augen gewesen.
Man macht es sich daher auch zu leicht, wenn man, wie B. Steverding,
meint, Nietzsches naturphilosophische Gedanken seien „nicht einer inten-
siven Beschäftigung mit den Naturwissenschaften" entsprungen, sondern
seien „im wesentlichen eine Frucht des allgemeinen , wissenschaftlichen Welt-
bildes', das in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Umgang
war".4
Zwar hat sich Nietzsches Denken im Medium dieses ,Allgemeinenc ent-
faltet und ist in mannigfachen Hinsichten nicht über die Kenntnisnahme von
Allgemeinheiten hinausgelangt. Andererseits aber hat er sich sehr gründlich in
spezielle Untersuchungen vertieft, hat deren Ergebnisse aufgegriffen und für
sein Philosophieren fruchtbar gemacht. Der Rekurs auf seine Lektüre und
Auswertung derartiger Schriften ist für das Verständnis nicht nur von Nietz-
sches ,naturphilosophischenc Aussagen unentbehrlich. Seine naturwissen-
schaftlichen Studien schlagen durch auf Fragen vor allem der ,Psychologie%
der ,Moral·, der ,Metaphysik', — wie er umgekehrt von diesen aus auf jene
zugeht.5 Man kann gegen Nietzsches Verfahren der ,Ubertragung' von Pro-
blem- und Sachzusammenhängen aus bestimmten Bereichen in ,ganz andere*
vieles einwenden. Die Einwände treffen jedoch nur Vordergründiges und
bleiben unzulänglich, wenn nicht der Nietzsches Methodik leitende Gedanke
der gleichartigen Strukturiertheit allen — selbst des verschiedenartigsten —
,Geschehens" in den Blick gebracht wird. Dessen grundlegende Strukturen
sind Nietzsche zufolge zumeist verdeckt: je nach der Besonderheit des
3
Schlechte, a.a.O., 1443f.
4
Nietzsches Verhältnis zu Naturwissenschaft und Naturphilosophie* (ungedr.) Diss. Münster
1951, 5.
5
Es ist A. Mittasch zuzustimmen, der ausführt, „daß Nietzsches Naturphilosophie weit-
gehend die Grundlage auch seiner Kulturphilosophie sowie seiner metaphysischen Endgedan-
ken bildet", (F. Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, XIII). Dabei darf die Abhängigkeit der
Naturphilosophie Nietzsches von seiner Lektüre naturwissenschaftlicher Schriften nicht
überbewertet werden. Mittasch weist auch selbst unter Berufung auf H. Heimsoeth und
C. A. Bernoulli darauf hin, daß Nietzsche den ihm eigenen Weg aus sich heraus gehe
(a.a.O., 31, 44). Dies gilt von der Auswahl bis zur Auswertung der von ihm herange-
zogenen Literatur.

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Der Organismus als innerer Kampf 191

jeweiligen Wirklichen auf unterschiedliche Art. Die wechselweise vollzogene


Applikation von Einsichten aus einem Wirklichkeitsbereich auf einen anderen
soll das, was im Grunde geschieht, durchsichtiger machen können.
Insofern Nietzsches Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Schriften
hauptsächlich auf die Herausarbeitung von Grundstrukturen zielt, tritt die
fachspezifische Bedeutung der Forschungen, von denen er Kenntnis erhält,
zurück. Sie ist ihm oft auch aus Gründen der Sachunkundigkeit unzugäng-
lich.6 Desungeachtet bewährt sich seine Fähigkeit, die Vorurteile zu erken-
nen, von denen jene Forschungen ihren Ausgang nehmen.7 Nietzsche bleibt
nicht bei deren Aufweis stehen; im reflektierenden Durchgang durch sie sucht
er hinter sie zu gelangen: zum fundamental Strukturierenden.
Diese Intention wird auch in den nachstehenden Ausführungen zutage
treten, in denen dem Einfluß nachgegangen wird, den die erste große Ver-
öffentlichung des Begründers der ,Entwicklungsmechanik4 auf Nietzsche
genommen hat.

I
In einer Aufzeichnung über den Darwinismus, die 1886/1887 entstanden
ist, wendet sich Nietzsche gegen die Überschätzung des Einflusses der „äuße-
ren Umstände" bei der Organbildung; sie sei von Darwin „ins Unsinnige"
getrieben worden. Nietzsche hält dem entgegen: „das Wesentliche am Le-
bensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaf-
fende Gewalt, welche die ,äußeren Umstände" ausnützt, ausbeutet".8 Daß
Gestaltung aus dem Inneren erfolgt, ist ein Grundmotiv von Nietzsches
Denken. Wir treffen es schon in seinen frühen Schriften an und können es bis
zur Herausarbeitung von Bewegungszentren als Willen zur Macht im Spät-
werk verfolgen.9 Für die verschiedensten Weisen und Abstufungen von Orga-
nisation gilt dieses Von-Innen-her: in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung
erscheint es als plastische Kraft des Menschen, die gegenüber dem Andrang der
6
Auf eine elementare Sachunkundigkeit Nietzsches in der Chemie verweist Mittasch in Nietz-
sches Naturbeflissenheit. Er zieht eine Aufzeichnung aus dem Nachlaß Frühjähr ^-Herbst
1881, 11 (149), V 2, 397, heran. Wenn Nietzsche dort - offensichtlich im Hinblick auf die
Zusammensetzung des Wassers — von 9 Teilen Sauerstoff zu 11 Teilen Wasserstoff spricht,
so könnte dabei „ein Abschreibfehler gegenüber Schopenhauers Angabe vorliegen, der von
,1 Atom Hydrpgen und 9 Atomen Oxygen* geredet hatte . . . (In Wahrheit 8 Gewichts-
teile Sauerstoff und l Gewichtsteil Wasserstoff, l Atom Sauerstoff auf 2 Atome Wasser-
stoff.)" (a.a.O., 25).
7
Mittasch schreibt, Nietzsche sei „mit einem seltsamen Vermögen ausgestattet, auch ohne
tiefgehende fachkundige Studien durch die Oberfläche auf den Grund der Dinge — oder auf
den »Hintergrund* der Dinge — zu schauen" (Nietzsche als Naturphilosoph y a.a.O., 30).
8
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII U 7.(25), 312. Vgl. a.a.O., 7 (9), 303.
9
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98), 66. Vgl. a.a.O., 14 (82), 54; 14 (186), 165.

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Vielfalt des historisch Überlieferten einen geschlossenen Horizont herstellt, die


Vergangenes und Fremdes einzuverleiben und umzubilden oder auch durch
Vergessen auszuscheiden vermag;10 auf ein schöpferisches Inneres führt
Nietzsche 1885 selbst den physikalischen Kraftbegriff zurück.11
In der Polemik gegen Darwins Überschätzung des Außen bringt Nietz-
sche die innere Dynamik des Organischen ins Spiel: „Das Individuum selbst
als Kampf der Theile (um Nahrung, Raum usw.): seine Entwicklung ge-
knüpft an ein Siegen, Vorherrschen einzelner Theile, an ein Verkümmern,
,Organwerden* anderer Theile". Die Entstehung eines Organs könne nicht
durch den „Nutzen" erklärt werden, den es den Individuen im Kampf ums
Dasein bietet: „die längste Zeit, während deren eine Eigenschaft sich bildet,
erhält sie das Individuum nicht und nützt ihm nicht, am wenigsten im
Kampfe mit äußeren Umständen und Feinden".12
Bei dieser Argumentation stützt sich Nietzsche vor allem auf eine Arbeit
des Anatomen Wilhelm Roux. Schon der Titel dieser Arbeit weist uns darauf *
hin: Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung
der mechanischen Zweckmässigkeitslehre. Roux' Buch erschien im Februar
1881. Es findet sich in Nietzsches Bibliothek; vermutlich hat er es bald nach
seinem Erscheinen erworben. Jedenfalls läßt sich eine erste Auswertung der
Untersuchungen Roux' schon in Aufzeichnungen vom Frühjahr—Herbst
1881 feststellen. Von dieser Zeit an verwendet Nietzsche spezifische Begriffe
Roux% zum Teil mit leichter Abwandlung, bei der Beschreibung organischer
Prozesse. So spricht er von „Selbstregulierung", von „überreichlichem Er-
satz" und von „Lebensreiz".13 «l
In der Zeit Frühjahr—Sommer 1883 hat Nietzsche das Buch von Roux j
erneut gelesen. Schon die im Vergleich zu 1881 größere Zahl von Exzerpten, j
Zusammenfassungen und Auswertungen, die wir in KGW VII l finden, läßt
auf eine Intensivierung seines Roux-Studiums schließen.14 1884 setzt sich j
Nietzsche dann in kritischen Bemerkungen mit Grundbestimmungen Roux'
auseinander.15 Die Kritik erwächst aus seiner Reduktion aller organischen
10
HL, III l, 247, 326.
11
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (31), 287.
12
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII, l, 7 (25), 312. S. dazu GM 2. Abh. 12, VI 2, 331 f.
13
Eindeutigen Niederschlag findet die Aufnahme von Gedanken oder Begriffen Roux' in fol-
genden Fragmenten von M III l, die in V 2 unter der Ziffer 11 abgedrückt sind: 28, 130, 131,
132, 134, 182, 241, 243, 256, 284.
14
Vor allem auf die folgenden Fragmente aus M III 4 b (VII l, Heft 7) ist zurückzugreifen:
86-95, 98, 174, 178, 190, 194, 196, 197, 211, 273.
15
GA XIII, Aph. 628, S. 259f. (Als Fundstelle dieses Fragments wird von den Herausgebern
dieses Bandes Blatt 20 des Heftes W II angegeben; dort findet es sich jedoch nicht. Die
Herausgeber der KGW haben seinen ,Ortc bisher nicht feststellen können. Sachgründe spre-
chen dafür, daß es sich um eine Niederschrift aus dem Jahre 1884 handelt; davon wird in
dieser Abhandlung ausgegangen.); VII 2, 26 (272), (275). Gebrauch von Begriffen Roux' liegt

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Der Organismus als innerer Kampf 193

Prozesse auf den Willen zur Macht. Desungeachtet ist zu sagen, daß
Nietzsches Verständnis des Organismus als einer Vielheit von miteinander
kämpfenden Willen zur Macht durch seine Roux-Lektüre vorbereitet worden
ist. Daß er auch später noch direkt auf Roux zurückgreift, zeigt die Darwin-
Kritik, die wir eingangs herangezogen haben.
Wenn in den folgenden Ausführungen ausschließlich vom Einfluß Roux'
auf Nietzsche die Rede sein wird, so könnte der Eindruck entstehen, dessen
Lektüre anderer einschlägiger naturwissenschaftlicher Schriften sei ohne
wesentliche Wirkung auf ihn gelieben. Für Nietzsches Rezeption und für
seine übrigens mehrdimensionale Kritik des Darwinismus wäre auf eine ganze
Reihe von Veröffentlichungen zurückzugreifen, die er sich zugänglich ge-
macht hat; hier eröffnet sich der Forschung noch ein weites Feld.16 Auch hat
Nietzsche, wie sich an seinen Niederschriften von 1881 nachweisen läßt, in
der Zeit seiner ersten Roux-Lektüre /. R. Mayers Schrift Die organische Be-
wegung in ihrem Zusammenhang mit dem Stoffwechsel (1845) — neben
anderen Arbeiten dieses Autors — gelesen und M. Posters Lehrbuch der Phy-
siologie (1881) für seine physiologischen Studien herangezogen.17 Aber schon
seine Aufzeichnungen aus jenem Jahre bezeugen, daß ihn Roux' Buch in be-

vor in VII 2, 25 (333), (426); 26 (138) („Dauerfähigkeit"). - Von ,Selbst-Regulierung' als or-
ganischem Prozeß spricht Nietzsche auch noch, nachdem er gegen Roux' vermeintliches
Verständnis dieses Begriffes polemisiert hat. S. Nachlaß August—September 1885, 40 (37),
VII 3, 378; JGB 36, KGW VI 2, 51.
16
Eine wesentliche Orientierung über den Darwinismus hat Nietzsche aus F. A. Langes Ge-
schichte des Materialismus, 11866, gewonnen (s. seinen Brief an C. v. Gersdorffvom 16. 2.
1868, KGB I 2, 257f.). Die erheblich erweiterte Fassung des Buches von Lauge (21873/75) hat
er zuerst in der 4. Auflage von 1882 eingesehen, wie/. Salaquarda nachgewiesen hat. Lange geht
1875 in detaillierten Ausführungen auf die Darwinismus-Diskussion ein; ihnen kann Nietz-
sche Anregungen für seine eigene Kritik entnommen haben. Allerdings sind in der von
H. Cohen herausgegebenen 4. Auflage des Buches von Lange die Anmerkungen nicht abge-
druckt worden, denen Nietzsche z. B. Literaturhinweise hätte entnehmen können. (S. dazu
Salaquarda, Nietzsche und Lange', in diesem Bande S. 240, Anm. 20. — Nietz-
sche hat aber auch unabhängig von Lange schon in der Basler Zeit lebhaften Anteil an der
Diskussion um die Entwicklungslehre genommen. So berichtet E. Förster-Nietzsche* daß er
1869 in der Auseinandersetzung zwischen E. Haeckel auf der einen und L. Rütimeyer, C. E.
von Baer und C. v. Naegeli auf der anderen Seite sich zugunsten der letzteren engagiert habe
(Das Leben Friedrich Nietzsches, 1904, II 2, 521 f.). — Nietzsche hat auch v. Naegelis späte-
res Buch Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (1884) angeschafft und
durchgearbeitet, in dem er wie bei Roux (wie schon in früheren Ausführungen v. Naegelis, wie
auch bei Lange, wie auch andernorts) Einwände gegen Darwins Hervorhebung des äußeren
Einflusses bei der Organbildung finden konnte (a.a.O., 326ff.). — Zur Bedeutung von
W. H. Rolphs Abundanztheorie für Nietzsches Darwin-Kritik in den achtziger Jahren s. im
folgenden Anm. 180.
17
Zur Wirkung, die Mayers Schriften auf Nietzsches Verständnis der Naturvorgänge ausgeübt
haben, s. im folgenden Anm. 109. — Der Anfang von Fragment 131 (V 2 (11), 387) ist aus
Fosters Buch (524) gezogen.

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sonderem Maße zu einem tieferdringenden Verständnis der physiologischen


Vorgänge angeregt hat.18 ·* r

II
Wir beginnen unsere Ausführungen zur Sache damit, daß wir in Kürze
beschreiben, auf welche Weise und mit welchen Ergebnissen Nietzsche in
Morgenröthe und im gleichzeitigen Nachlaß von 1880 bis 1881 das Innen des
menschlichen Individuums thematisiert, um die Bedeutung einschätzen zu
können, die schon die erste Beschäftigung mit Roux für ihn gewinnen
mußte.19 Nietzsches Darlegungen verraten vor allem den auch in späteren
Jahren noch wirksamen Einfluß von A. Spir und F. A. Lange. Er schreibt:
„Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so
sind, wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es
ebenso!"20 Unsere „Ergründung innerer Vorgänge und Triebe" wird durch
die mangelnde Differenzierungsfähigkeit der Sprache und die daraus folgende
Ungenauigkeit von Beobachten und Denken behindert: „Wir sind Alte nicht
Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen* für die wir allein Bewusst-
sein und Worte . . . haben".21 Immer wieder weist Nietzsche auf die Unbe-
kaiintheit der Innensphäre des ,Subjekts* hin. Zumindest bleibt nichts „un-
vollständiger . . . als das Bild der gesamten Triebe", die den Menschen kon-
stituieren.22 Was uns bei der Vorbereitung einer Handlung als Kampf der
Motive bewußt wird, ist ein über den wahren Vorgang täuschender Vorder-
grund. Was sich im Hintergrund, besser im Untergrund, vollzieht, ist „etwas

18
P. Gast und A. Horneffer haben in ihrem Nachbericht zu GA XIII (367f.) auf drei Bücher
hingewiesen, die Nietzsche 1883 „am meisten angeregt" hätten. Sie nennen neben Roux'
Arbeit: G. H. Schneider, Der tierische Wille (1880) und E. v. Hartmann, Phänomenologie
des sittlichen Bewußtseins (1879). Bezüglich Roux' entsteht der falsche Eindruck, als habe
sich Nietzsche mit dessen Buch erst im Spätsommer 1883 beschäftigt. — Schon Ch. Analer
hat darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche in biologischen Fragen „avec predilection"
Roux konsultiert habe. Dabei konnte er weder schon auf den vollständig veröffentlichten und
chronologisch zuverlässig geordneten Nietzsche-Nachlaß zurückgreifen, noch stand ihm die
erste Auflage des Buches von Roux zur Verfügung, die Nietzsche ausgewertet hat. Aber auch
aus der zweiten Auflage von 1895 konnte er, Roux' Umarbeitung ungeachtet, erkennen, daß
„Wilhelm Roux a fourni a Nietzsche un grand nombredes arguments qu'il produira contre le
darwinisme vulgaire. II l'a enracine dans le neo-lamarckisme dontRütimeyerlui avaitdonne la
premiere formule." (Nietzsche. Sa vie et sä pensee.Paris 1920ff. Zit. n. d. Ausg. v. 1958, II,
525 f.).
19
Für Nietzsches frühe Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen sei auf
K. Schlechta und A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines
Philosophierens 1962, verwiesen.
20
M 116, V I , 107.
21
M 115, V l, 105f.
22
M 119, V l, 109.

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Der Organismus als innerer Kampf 195

für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes". Wahrscheinlich ist da der


eigentliche Kampf im Gange: unbewußte Gewohnheiten, unberechenbar
Körperliches, kaum faßbare Gefühle für Andere, plötzlich auftretende Af-
fekte, dies und vieles mehr wirkt aufeinander. Jedenfalls bleibt uns dieser
Kampf verborgen, „und der Sieg als Sieg ebenfalls; denn wohl erfahre ich,
was ich schliesslich thuey — aber welches Motiv damit gesiegt hat, erfahre ich
nicht".23 Dementsprechend sind „unsere moralischen Urtheile und Werth-
schätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physio-
logischen Vorgang . . ., eine Art angewöhnter Sprache gewisse Nervenreize
zu bezeichnen".24 Doch nicht nur die „Moral" steht „im Dienste physio-
logischer Funktionen",25 „all unser sogenanntes Bewusstsein" ist „ein mehr
oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht
unwissbaren, aber gefühlten Text".26 Das physiologisch Zugrundeliegende
wird gefühlt, darin zeigt sich seine unbestreitbare Faktizität. Das Gefühlte
kann mehr oder weniger phantastisch ausgelegt werden, damit wird eine Ab-
stufung hinsichtlich der Angemessenheit der Auslegungen angedeutet. Die
naturwissenschaftliche , Kommentierung' der unbekannten physiologischen
Vorgänge ist für Nietzsche offensichtlich weniger phantastisch als die Be-
schränkung auf bloße Selbsterfahrung. Dies zeigt sich ansatzweise, wenn er
den gemutmaßten eigentlichen inneren Kampf einmal in mechanistischer Aus-
drucksweise beschreibt als „ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und
Niederdrücken von Gewichttheilen".27 Aber die Verborgenheit des Physio-
logischen kann auch die Wissenschaft nicht aufheben. Fassen wir einen leib-
lichen Vorgang, z. B. das Kauen, „wissenschaftlich genauer", so treffen wir
auf „eine Unzahl von leiblichen Bewegungen". Aber „ihren Prozeß ver-
mögen wir nur in Symbolen (des Tastsinns Hörens Sehens von Farben) und
in einzelnen Stücken und Momenten zu fassen". Das „Wesen" dieses Pro-
zesses bleibt uns ebenso fremd wie sein fortdauernder Verlauf. Dies schreibt
Nietzsche noch im Frühjahr 188l.28
Bei aller Aufgeschlossenheit für die naturwissenschaftliche Forschung
dominiert zunächst die erkenntnis- und sprachkritisch begründete Skepsis,29
als Nietzsche wenig später die Lektüre des Buches von Roux aufnimmt.
„Jetzt hat man den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kämpfe

23
M 129, V l, 117.
24
M 119, V I , 111.
25
Nachlaß Frühjahr 1880, V l, 2 (55), 372.
26
M 119, V I * 111,
27
M 129, V I , 117.
28
Nachlaß, V 2, 11 (12), 343.
29
Vgl. dazu R. Blunck, F. Nietzsche, Kindheit und Jugend, 1953, 158; Scblechta-Anders,
a.a.O., 55-59.

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der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen", heißt es in seiner ersten auf


Roux bezogenen Niederschrift. Daß auch der Anatom von Kampf, Sieg,
Herrschaft, Widerstreit und dergleichen sprechen konnte, mußte ihn beein-
drucken. Aber andererseits stellt Nietzsche sofort die Frage, ob es zulässig
sei, derartige-Begriffe unserer affektiven Selbsterfahrung auf das Unbekannte
zu übertragen. Handelt es sich dabei nicht nur um „intellektuelle Ausdeutun-
gen, dort wo der Intellekt gar nichts weiß, aber doch alles zu wissen
meint"?30 Andererseits übersetzt er schon in den anschließenden Aufzeich-
nungen die von Roux beschriebenen „Eigenschaften des niedersten belebten
Wesens in unsere , Vernunft"*, um zu zeigen, daß dabei moralische Triebe
entstehen.31 Unter dem Eindruck der Analysen Roux' vollzieht er eine
erneute Umkehrung: gerade die Vernunft kann durch die Ergebnisse der
anatomischen und physiologischen Forschung in ihre Grenzen gewiesen
werden. Insbesondere philosophische Vernunft ist „ohne Wissen . . . etwas
ganz Thörichtes". Der »Einbildung der Vernunft" gar, das Zentrum der kör-
perlichen Vorgänge zu sein, hält Nietzsche eine Formulierung entgegen, die
er wörtlich dem Buch von Roux entnimmt: „Die Centralisation ist gar keine
so- vollkommene" .32
Schon diese Hinweise zeigen, daß Nietzsche durch Roux in die Richtung
auf Anerkennung wissenschaftlicher Forschung gedrängt, wird. ^Solchem
jPositivismus* steht freilich der sprachkritische Vorbehalt gegenüber:
„Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vor-
gänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine
Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine
Bilderrede."33
Dieser Vorbehalt Nietzsches ist aber kein Einwand. Wir dürfen nicht
meinen, er erwarte von einer formalisierten, gar mathematisierten Wissen-
schaftssprache mehr Sachangemessenheit als von einer ,Bildersprachec. Ma-
thematik wie Logik beruhen vielmehr „auf Voraussetzungen, denen nichts in
der Wirklichkeit entspricht", insofern sie z. B, Identitäten fingieren.34 Daß die

30
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (128), 385. - Nietzsche führt als solche intellek-
tuelle Ausdeutungen „Liebe" und „Haß" an. Er bezieht sich dabei offensichtlich auf Roux'
Hinweis, daß die prinzipielle Lösung des Problems der Zweckmäßigkeit schon bei Empe-
dokles gefunden worden sei (Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, a.a.O., 1). Wenn
die KGW im Nietzsche-Fragment „,Ärger', ,Liebe% ,Haß'" schreibt, so vermute ich einen
Lesefehler; das Wort „Ärger" ergibt im Kontext keinen Sinn. Im Rückgriff auf den Roux-
Text legt sich die Lesart „Kräfte" nahe.
31
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (134), 388ff.
32
A.a.O., 11 (132), 388. Roux, Der Kampf der Theile . . . (im folgenden unter dem Sigel R
zitiert), 65. ..
33
A.a.O., 11 (128), 385.
34
MAI, 11, IV 2, 27.

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Der Organismus als innerer Kampf 197

Erkenntnis des Menschen, auch die naturwissenschaftliche, notwendig in


Bildersprachen eingebunden ist, gehört schon zu den frühen Überzeugungen
Nietzsches. Bleibt die Frage, welche Art von Bildhaftigkeit den Vorrang ver-
dient. Wir greifen auf eine Niederschrift aus dem Jahre 1872 zurück, in der es
heißt: „Auch bei dem Bilderdenken hat der Darwinismus recht: das kräftigere
Bild verzehrt das geringere".35 Also findet auch ein Kampf zwischen den
Bildersprachen statt. Dann muß einer wissenschaftlichen Bildersprache, die
vom Bild des Kampfes ausgeht, der Vorzug vor anderen eingeräumt werden.
Dann ist der Kampf ein so ,elementares Phänomen', daß die Rede von ihm
über unsere ,angelernten Affektgefühle* hinaus in ursprünglichere Dimen-
sionen zurückweist; ist ,Lernen* gemäß dem Ausgeführten doch selber ein
Kampf.
Diese Bemerkungen sollen nicht etwa die aufgetauchten sprachphiloso-
phischen Probleme lösen,36 mit denen Nietzsche, wie wir noch sehen
werden, auch in der Folgezeit gerungen hat. Sie sollen allein dem Verständnis
dafür dienen, daß der anfängliche Vorbehalt gegenüber Roux' Bildersprache
zurücktritt und der unbefangenen Aufnahme von dessen wissenschaftlichen
Erkenntnissen Platz macht. Dabei findet Nietzsche zunächst, daß Roux'
Beschreibung der physiologischen Zusammenhänge zu einem ,Bild* des
menschlichen Leibes führt, das wesentlich von unserer durch affektive Erfah-
rungen bestimmten Vorstellung unterschieden ist.
Im Herbst 1881, also nach der ersten Beschäftigung mit Roux, ver-
nehmen wir daher einen ganz anderen Ton in Nietzsches Aufzeichnungen als
noch im Frühjahr des gleichen Jahres: „Wie kalt und fremd sind uns bisher
die Welten, welche die Wissenschaft entdeckte! Wie verschieden ist z. B. der
Leib, wie wir ihn empfinden, sehen, fühlen, fürchten, bewundern und der
,Leibc, wie ihn der Anatom uns lehrt!" Was die Wissenschaft zeigt, ist zwar
eine „wildfremde" Welt. Doch dieses Fremde ist nun nicht mehr das Un-
erkennbare. Es ist vielmehr eine „eben entdeckte neue Welt, der größte
35
Ms. P I 20, 190, zit. n. Schlecht**-Anders, a.a.O., 39.
36
Ergänzend sei nur auf Nietzsches Bemühen von 1881 hingewiesen, den Menschen als Bild-
Gestalter zu begreifen. Seine Überlegungen fuhren ihn einmal sogar zu der Konsequenz:
„Das Ichgefühl umschaffen! Den persönlichen Hang schwächen! An die Wirklichkeit der
Dinge das Auge gewöhnen! Von Personen soviel wie möglich vorläufig absehen! Welche Wir-
kungen muß dies haben! . . . Uns von den Dingen besitzen lassen (nicht von Personen) und
von einem möglichst großen Umfang wahrer Dingel Was daraus wächst, ist abzuwarten: wir
sind Ackerland für die Dinge. Es sollen Bilder des Daseins aus uns wachsen: und wir sollen
so sein, wie diese Fruchtbarkeit uns nöthigt zu sein . . . Die Bilder des Daseins sind das
Wichtigste bisher gewesen — sie herrschen über die Menschheit." (Nachlaß Frühjahr—Herbst
1881, V 2, 11 (21), 348f.). Nur wenig später heißt es: „Sich die Vortheile eines Todten ver-
schaffen . . . Sich wegdenken aus der Menschheit, die Begehrungen aller Art verlernen: und
den ganzen Überschuß von Kraft auf das Zuschauen verwenden. Der unsichtbare Zuschauer
sein!!" (a.a.O., 11 (35), 352) Wie so oft zeigt sich auch hier Nietzsches unfestgelegtes Ab-
tasten von Möglichkeiten des Menschseins.

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198 Wolfgang Müller-Lauter

Widerspruch mit unserer Empfindung!" Die Erwartung, die Nietzsche nun in


die Wissenschaft setzt, tritt zutage, wenn er fortfährt» „Und doch soll all-
mählich ,die Wahrheit* sich in unseren Traum verketten und — wir sollen
einmal wahrer träumenl"37 Diese Niederschrift ist bemerkenswert. Wir
träumen: der Phänomenalismus behauptet nach wie vor das Feld. Wir können
wahrer träumen: die neuen Entdeckungen der Wissenschaft lösen bisherige
Verborgenheiten auf. Wir sollen einmal wahrer träumen: damit wird eine
Aufgabe für die Zukunft gestellt. Das herangezogene Fragment gibt ein gutes
Beispiel für Schlechtas Hinweis ab, daß es offen bleibt, wie Nietzsches allge-
meine Skepsis, die auch der wissenschaftlichen Wahrheit gilt* mit seiner
positivistischen Zuversicht in Übereinstimmung zu bringen ist.38
Die 1881 neu vollzogene Zuwendung Nietzsches zur Naturwissenschaft
bedarf der näheren Klärung ihres Zieles. Es geht ihm dabei nicht um Er-
kenntnis als solche, sondern um deren Bedeutung für die Existenz des
Menschen. Dies zeigt schon seine Bemerkung über den Wissenschaftler, die er
seiner Aufzeichnung über das , wahrere Träumen" anschließt: „Es ist eine
ganz neue Lage — auch sie hat ihre Erhabenheit, auch sie kann heroisch
aufgefaßt werden: obschon es noch niemand gethan hat." Die wissenschaft-
lichen Menschen arbeiten in „einem von ihrem Empfinden abgeschlossenen
Reiche": „für sie ist die Wissenschaft vornehmlich etwas Strenges, Kaltes,
Nüchternes — kein erschütternder Ausblick, kein Wagniß, kein Alleinstehen
gegen alle Dämonen und Götter. Die Wissenschaft geht sie nichts an — das
giebt ihnen die Fähigkeit dazu\ Hätten sie Furcht oder Witterung des
Ungeheuren — so ließen sie die Hand davon."39 Bekanntlich hat Nietzsche
selbst im Laufe seines Schaffens unterschiedlich zu diesem Ungeheuren
Stellung bezogen. Hier nimmt er die Herausforderung an. Die von ihm zuerst
1870 ausgesprochenen nihilistischen Konsequenzen der Wissenschaft40
werden vom Gedanken einer langfristigen Veränderung des Menschseins
durch Adaption insbesondere physiologischer Erkenntnisse abgelöst. Derzeit,
so heißt es 1881, haben „die alten physiologischen Irrthümer spontane
Kraft . . . Lange lange Zeit können wir die neuen Erkenntnisse nur als Reize
verwenden — um die spontanen Kräfte zu entladen."41 Dabei „kann man
dem Nächsten Kiemen Flüchtigen Bedeutung geben", indem man es z.B.
„als Wurzel der Gewohnheiten begreift".42
37
Nachlaß Herbst 1881, V 2, 14 (2), 521.
38
Schlechta-Anders, a.a.O., 57.
39
Nachlaß Herbst 1881, V 2, 14 (3), 521.
40
„Der Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung. Dabei geschieht es allerdings, dass die
nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung." (GA IX,
Aph. 30, S. 72. Vgl. dazu Schleckta-Anders^ a.a.O., insbes. 50ff.).
41
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (173), 405.
42
A.a.O., 11 (167), 404.

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Der Organismus als innerer Kampf 199

Wir finden hierin die Frucht von Nietzsches erster Roux-Lektüre. Es ist
für seine Erkenntniseinstellung bezeichnend, daß er Forschungsergebnisse des
Anatomen sofort auf Aspekte menschlicher Lebensgestaltung überträgt.
Schon in der zweiten Aufzeichnung, die Rouxsche Bestimmungen aufnimmt,
heißt es: „Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, ent-
wickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird ent-
wickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung, Raum und Zeit ebenfalls.
Die Selbstregulierung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der
Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch
nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Un-
wissenheiten der Praxis."43
Doch über solche anthropologischen Anwendungen hinaus gewinnt
Röux in den späteren Jahren wesentliche Bedeutung für Nietzsches philoso-
phisches Verständnis des Organischen. Wir gehen im folgenden von Roux
aus, um dies deutlich zu machen.

III
Daß in dem Neuen, das Nietzsche in dem Buch von Wilhelm Roux fand,
sich eine neue naturwissenschaftliche Disziplin ankündigte, konnte er nicht
wissen. Roux, Schüler von C. Gegenbaur, E. Haeckel und R. Virchow, ist
der Begründer der experimentellen und kausal-morphologischen Entwick-
lungsforschung, der er 1884 den Namen „Entwicklungsmechanikec gab.44
Ihre spätere weltweite Ausbreitung ist hier ebensowenig darzustellen wie ihre
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung für den gegenwärtigen Stand der aus
ihr hervorgewachsenen Entwicklungsphysiologie. Für uns ist bedeutsam, daß
Roux schon in seiner Schrift von 1881, die er teilweise im Jahr zuvor seiner
Habilitationsarbeit zugrunde gelegt hatte, grundlegende Bestimmungen und
Erklärungsgründe herausgearbeitet hat, die auch seine späteren Untersuchun-
gen leiteten. Vor Roux hatte sich die Anatonjie im wesentlichen auf die
Beschreibung und den Vergleich organischer Gestaltungen beschränkt. Wie
fragwürdig sich Roux' experimentelle und kausalanälytische Methodik für die
zeitgenössische deskriptive Anatomie ausnahm, zeigt eine von ihm mitgeteilte
Äußerung eines seiner Lehrer nach dem Erscheinen von ,Der Kampf der
Theile . . /: „Schreiben Sie nie wieder so ein philosophisches Buch, sonst
43
A.a.O., 11 (130), 386. — Zu Nietzsches Gedanken der Züchtung, wie er aus den darge-
stellten Zusammenhängen erwächst, sei auf 11 (276), 445f. (a.a.O.) verwiesen.
44
Roux versteht unter mechanistischem Geschehen „streng gesetzmäßiges Geschehen", wobei
er, durch seine Jenaer philosophischen Studien bei R. Buchen (1877/78) beeinflußt, von Kant
ausgegangen ist. Zu den Mißverständnissen, die sein Begriff der Entwicklungsmechanik bei
seinen Fachkollegen hervorgerufen hat, s. «seine Ausführungen in: Die Medizin der Gegen-
wart in Selbstdarstellungen, hrsg, v. L. R. Grote, l, 1923, 145f.

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200 Wolfgang Müller-Lauter

werden Sie nie Ordinarius der Anatomie." Schon „das Streben nach ursäch-
licher Erkenntnis der Gestaltungen der Lebewesen würde . . . mit diesem
Tadel belegt", bemerkt Roux dazu in seiner Autobiographie.45
Wir wenden uns nun dem Buch von Rpux zu. Bei der Darstellung seines
Anliegens und seiner Grundgedanken ziehen wir zugleich Nietzsches Rezep-
tion heran, und zwar sowohl die Aufzeichnungen von 1881 als auch die von
1883. Roux will die von Darwin und Wallace begründete Entwicklungslehre
ergänzen, da ihr Prinzip der natürlichen Zuchtwahl für die Erklärung der
„feineren inneren Zweckmäßigkeiten der thierischen Organismen" untauglich
sei.46 So lassen sich z. B. die vielfältige und komplizierte Differenzierungen
aufweisenden Eigenschaften der Blutgefäßwandung nicht dadurch erklären,
daß sie, als zunächst zufällig vorkommende Variationen, im Kampf ums
Dasein gezüchtet worden sein könnten.47 Will man nicht in „die Teleologie"
und damit, in einen metaphysischen Dualismus zurückfallen, den Darwin
„glücklich" beseitigt hatte,48 so muß man von der Annahme einer internen
Selbstregulierung und Selbstdifferenzierung durch Prozesse funktioneller
Anpassung ausgehen. Was damit gemeint ist, sei an dem schon eingeführten
Beispiel erläutert. Die Entwicklung der Blutgefäße wird durch das strömende
Blut in bestimmte Richtung gedrängt. Organ wirkt also auf Organ.49 Ge-
nauer betrachtet erweist sich ein solches Wirken als ein Miteinanderkämpfen
von Teilen des Organismus, das Roux auf den unterschiedlich differenzierten
Organisationsstufen beschreibt.
Zweifellos nimmt Roux den Begriff des Kampfes im Ausgang von
Darwin auf, auch wenn er ihn zur Erklärung innerer Züchtungsprozesse
benutzt.50 Er geht aber bis zu Heraklit und Empedokles zurück^ um darzu-
tun, wie frühzeitig schon erkannt worden sei, daß dauerhafte und zweck-
mäßig organisierte Einheiten gerade aus dem Streit einander entgegenwirken-
der Kräfte herauswachsen. Nietzsche bezieht diese historischen Hinweise in
seine erste Reflexion über Roux ein.51 Roux sieht in ihnen angezeigt, daß die
„philosophische, principielle Lösung" des Entwicklungsproblems schon im
anfänglichen griechischen Denken gefunden wurde, dann aber „gänzlich ver-

45
A.a.O., 152f.
46
R IV.
47
R 38.
48
R 34, vgl. 236.
49
Über die Verzweigungen der Blutgefäße. Eine morphologische Studie. Jenaische Zeitschrift f.
Naturwiss. Neue Folge, V, 1878.
50
Vor Roux haben schon W. His und F. Boll den Kampf ums Dasein zur Erklärung bestimm-
ter Gewebeprozesse herangezogen, freilich ohne den Kampf zum grundlegenden Deutungs-
prinzip zu erheben. S. dazu W. Roux, Über die Selbstregulation der Lebewesen, in: Arch. f.
Entwicklungsmechanik, XIII, 1902, 643; ders., Ges. Abh. I, 1895, 263, 315.
51
S. o. Anm. 24. Vgl. R 64f.

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Der Organismus als innerer Kampf 201

loren" ging und erst „auf dem mühsamen Wege empirischer, wissenschaft-
licher Detailforschung . . . vollkommen neu entdeckt werden" mußte.52
Wichtig ist, daß Roux den Kampf als einen mechanischen Vorgang auf-
faßt. Wir beschreiben diesen Vorgang in aller Kürze an seiner Darstellung des
Kampfes der kleinsten organischen Prozeßeinheiten, der Zellteile (Molekel),
in der Periode des Wachstums.53 Dasjenige Teilchen, das im Stoffwechsel
rascher assimilieren kann und demzufolge rascher regeneriert, wird sich
räumlich stärker entfalten als ein benachbartes Teilchen, das eine geringere
Affinität aufweist. Das erste Teilchen wird dem zweiten „damit den Platz
wegnehmen". Bei der Wiederholung dieses Prozesses wird das zweite weiter
zurückgedrängt und im Falle der längeren Dauer dieses Vorgangs „schließlich
schwinden". Wie bei diesem Kampf um den Raum werden auch beim Kampf
um die Nahrung — im Falle eines Nahrungsmangels — diejenigen Teilchen
siegen, deren Regenerationsgeschwindigkeit größer ist. Übersteigt schließlich
in einer Prozeßeinheit die Assimilation den Verbrauch, so daß „Über-
kompensation des Verbrauchten", d. h. Wachstum, eintritt, während die
anderen Zellteilchen nicht in solchem Maße assimilieren, so wird eine solche
Einheit „die Alleinherrschaft" in der Zelle gewinnen. Schließlich nennt Roux
als dritte Weise des Kampfes in der Zelle den direkten Kampf. In ihm siegen
neu auftretende Eigenschaften über alte, indem sie diese zerstören oder sich
assimilieren. Roux betont besonders die Heftigkeit des Kampfes um den
Raum. Sie muß dort, „wo alles zu einer räumlichen Einheit verbunden an
einander liegt und sich drängt", größer sein als beim Kampf der Individuen
untereinander.
Nietzsche hat 1883 Zusammenfassungen der von Roux beschriebenen
Vorgänge aufgezeichnet.54 Dabei ist ihm ein Aspekt besonders wichtig, von
dem Roux ausgeht. Nietzsche notiert: „Der Kampf um Nahrung und Raum
findet in der Zelle statt, sobald eine Ungleichheit in den Bestandteilen ist."55
Kurz vorher finden wir einen Hinweis auf Roux' grundsätzliche Ausführung,
daß die Ungleichheit der Theile die Grundlage des Kampfes ist;56 aus ihr, so
heißt es an der angegebenen Stelle bei Roux, „ergiebt sich der Kampf von
selber infolge des Wachsthums und . . , auch schon einfach infolge des Stoff-
wechsels."57 Schon 1881 hatte Nietzsche aus Roux' Buch gezogen: „Ver-
schiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern — die
52
53
R 2f.
R 73ff.
54
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (86), 280 (vgl. R 73ff., 87, 76-78); a.a.O., 7
(95), 282f (vgl. R 76, 73, 79, 80). S. 283, Z 5 muß statt „leichte" gelesen werden:
„leichter".
55
A.a.O., 7 (95), 282. Vgl. R 76.
56
A.a.O., 7 (93), 282. Vgl. R 69.
57
R 69.

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202 Wolfgang Müller-Lauter

Gleichheit ist ein großer Wahn."58 Die im Kampfe zutage tretende Verschie-
denheit der Teile weist auf ihre „relative Selbständigkeit" hin. Daß diese
Selbständigkeit „selbst in den höchsten Organismen" aufgezeigt werden
kann,59 hat in Nietzsches späterem Verständnis des Leibes als einer Vielheit
lebender Wesen seine Ausprägung gefunden. Roux bezieht sich bei seinem
von Nietzsche festgehaltenen Aufweis der genannten Selbständigkeit auf eine
Veröffentlichung seines Lehrers R. Virchow, in der die Transplantations-
fähigkeit von Zellen beschrieben worden war.60
Wie Roux den Kampf als konstituierendes Prinzip der Bildungsvorgänge
auf den Ebenen der Zellen, der Gewebe und der Organe herausarbeitet,
können wir hier im einzelnen nicht verfolgen. Nietzsche hält im Zuge seiner
Lektüre von 1883 auch genau fest, wo bei Roux der innere Kampf über den
reinen Auslesecharakter hinausweist. Dies geschieht beim Kampf der
Gewebe., Der Kampf wird hier „zu einem regulierenden Princip", dem
„Princip der funktioneilen Selbstgestaltung der zweckmäßigsten Größenver-
hältnisse".** Auch Röux' Gedanke der organischen Selbstregulation ohne
vorgegebene Zweckmäßigkeit geht in Nietzsches Auslegung der Leiblichkeit
ein.
Die gegebenen Hinweise zu Roux müssen ausreichen, um das Eigentüm-
liche seines Verständnisses organischer Prozesse deutlich zu machen.62 .Im
Unterschied zu anorganischen Vorgängen trägt der Lebensprozeß „die Ur*
sache seiner Erhaltung in sich seiher". Schon in der Assimilation, der
Aneignung und Umwandlung von ,Fremdemc, vollzieht sich eine gewisse
Selbstproduktion des Organischen, für die wir auf der Seite des Anorgani-
schen lediglich in der Flamme eine Entsprechung finden. Hingegen ist die
Überkompensation des Verbrauches (Nietzsche sagt dafür: der überreichliche
Ersatz) allein den organischen Wesen eigen. Sie bestimmt das Wachstum und
ermöglicht spezifische Lebensleistungen. Schließlich wird die Dauerfähigkeit
der Lebensprozesse durch deren Selbstregulation (Nietzsche sagt dafür:
Selbstregülierung) gewährleistet, die gewissermaßen das ökonomische Gleich-
gewicht in einem Organismus herstellt. Die funktionale Abgestimmtheit in
einem Ganzen, die der Begriff der Selbstregulation zum Ausdruck bringt, er-
wächst nach Roux ebenfalls aus dem züchtenden Kampf der Teile. Selbst-
regulation erfolgt mechanisch, nicht nach einem ideologischen Prinzip. Roux
hält den Gedanken der relativen Selbständigkeit der Teile durch: ihr „Nutzen
für das Ganze liegt durchaus nicht in der Absicht der Theile. Die Theile leben
58
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (132), 388. Vgl. R 71.
59
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (92), 282. Vgl. R 65.
60
R 65f.
61
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII, l, 7 (190), 310f. Vgl. R. 97, 98, 102.
62
Zum folg. s. R215ff.

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Der Organismus als innerer Kampf 203

blos für die eigene Erhaltung". Daß sich nur diejenigen Eigenschaften der
Teile erhalten haben, die der Dauerfähigkeit eines Ganzen dienten, wird von
Roux auf die ,äußere* Selektion im Sinne der Lehre Darwins zurückgeführt.63
Schon hieraus erhellt, daß Roux in seiner Untersuchung nicht „die Be-
deutung des von Darwin und Wallace aufgestellten Prinzipes des Kampfes der
Individuen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an
die äusseren Bedingungen" beschneiden will. Aus dem internen Kampf der
Teile erklärt er jene inneren Zweckmäßigkeiten, die sich nicht aus dem Kampf
der Individuen ableiten lassen. Der Kampf der Teile leistet eine Vor-Auslese
für den ,Kampf ums Dasein*: „Das Verhältniss beider Kampfesarten" ist
„derartig, dass aus dem vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen
lebenskräftigen und am stärksten reagierenden Substanzen oder richtiger
Processen der Kampf der Individuen um das Dasein überall diejenigen
speciellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen
geeignet sind."64
In Nietzsches Aufzeichnungen zu Roux von 1883 tritt die Bedeutung des
,zweiten Kampfes* zurück. Er notiert Stellen, in denen Roux die Unzuläng-
lichkeit der Darwinschen Ableitungen betont. Wir finden z. B. einen Hinweis
auf Roux' Erklärung der Möglichkeit des Überganges der Tiere aus dein
Wasser zum Land,65 der nur durch „die gleichzeitige Ausbildung von
Tausend, ja Million zweckmässigen Einzeleigenschaften hat stattfinden"
können. Diese Gleichzeitigkeit läßt sich nach Roux allein aus dem Prinzip der
funktionellen Selbstgestaltung erklären, nicht aber aus Darwins Selektions-
prinzip, das nur die sukzessive Ausbildung zweckmäßiger Eigenschaften
zuläßt. Nietzsche findet hier offenkundig einen Beleg für den von ihm ver-
tretenen Vorrang des Von-Innen-her gegenüber dem Außen. Ein anderes Mal
zitiert Nietzsche eine Stelle aus Roux, in der dieser auf die Einseitigkeit der
darwinistischen Erklärungsweise eingeht: „Bisher hat man alle guten Eigen-
schaften eines Organismus bloß aus der Auslese im Kampf ums Dasein unter
den Individuen abgeleitet!"66 Schließlich geht Nietzsche auf Roux' Beschrei-
bung von Prozessen ein, bei denen der Reiz lebensnotwendig wird. Er
schreibt dazu: „Es sind die höchsten Prozesse." Und er zitiert Roux: „Alles
dies geschieht ohne den Kampf der Individuen."67
63
R 219f.
64
R 327 f. — Sowohl Darwin als auch Haeekel nahmen Roux* Untersuchungen mit großer
Anerkennung auf (S. R. Mocek, Wilhelm Roux—Hans Driesch. Zur Geschichte der Entwick-
lungsphysiologie der Tiere. 1974, 72). Darwin bezeichnet sie schon 1881 als das ^bedeu-
tungsvollste Buch über Entwicklung, welches seit einiger Zeit erschienen ist" (Roux, Ges.
Abh. I, 141).
65
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (89), 281; vgl. R 39ff.
66
A.a.O., 7 (194), 312; vgl. R 110.
67
A.a.O., 7 (98), 283; R: 81-83. - Die Unabhängigkeit des Kampfes der Teile von Darwins Se-
lektionstheorie hat Roux 1902 unter dem Eindruck der Kritiken an den Prinzipien Darwins

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204 Wolfgang Müller-Lauter

Auf die Problematik der Reizeinwirkung müssen wir noch näher ein-
gehen, da sie für Nietzsches Verständnis organischer Prozesse besondere Be-
deutung gewinnt. Es ist ein wesentliches Anliegen von Roux, die Wirkung
der funktionellen Reize zur Geltung zu bringen. Diese Reize beeinflussen den
Kampf der Teile gewissermaßen von außen her. Sie wirken in mannigfacher
Weise auf die Teile: primär trophisch, d. h. die Ernährung steigernd, darüber
hinaus aber auch differenzierend und gestaltend. Roux unterscheidet im Leben
aller Teile zwei Perioden: in der ersten Phase entfalten, differenzieren und
vergrößern sich die Teile aus sich selbst; in der zweiten findet das Wachstum,
in bestimmten Fällen sogar der vollständige Ersatz des Verbrauchten, nur
unter Reizeinwirkung statt.68 So kann eine völlige Abhängigkeit der Lebens-
prozesse vom Reiz entstehen: Roux spricht dann vom „unentbehrlichen
Lebensreiz".69 Die Abhängigkeit hebt die Selbstgestaltüng der Teile aber
nicht auf. Nietzsche stellt bezeichnenderweise diesen Aspekt besonders
heraus und überträgt ihn auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt:
„Der aktiven quantitativen und qualitativen Nahrungs-Auswahl der Zellen,
welche die ganze Entwicklung bestimmen, entspricht, daß der Mensch sich
auch die Ereignisse und Reize auswählt, also aktiv verfährt unter all dem zu-
fällig auf ihn Eindringenden — gegen Vieles also abwehrt. Roux p. 149."70
Solche Übertragungen finden wir in Nietzsches Roux-Notizen von 1883
häufig.71 Immer wieder werden physiologische Sachverhalte von ihm ,mora-
lisch gewendet'.72 So notiert er zum „Einfluß der Reize auf die schnellere
Assimilation — in der Moral: Vermehrung der Macht da, wo eine Fülle
feinster Verletzungen vorkommen und dadurch das Bedürfniß der Aneignung
gesteigert wird."73 Auch hier legt Nietzsche den Akzent auf die Aktivität in
der Reizverarbeitung. Das geschieht noch massiver, wenn er schreibt: „meine
Aufgabe: die guten Triebe so zu stellen, daß sie Hunger bekommen und sich
bethätigen müssen."74 Er knüpft hier zweifellos an Roux' Aussage an: „Die

hervorgehoben. Selbst wenn erwiesen wäre, so führt er aus, daß der Kampf ums Dasein
und die geschlechtliche Zuchtwahl keinen Anteil an der Entstehung der Arten gehabt
hätten, „so muss ich betonen, dass dies noch nichts gegen meine Ableitungen von der
Wirkung des Kampfes der Theile im Organismus einschließen würde". Beziehen diese sich
doch „auf die Entstehung der allgemeinsten Gewebsqualitäten, der Selbsterhaltungsqualitä-
ten und der aus ihnen folgenden allgemeinsten Gestaltungsvermögen". (Über die Selbst-
regulation der Lebewesen, in: Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen, ,
1902, 633 ff.)
68
R 180, vgl. 200.
69
R 81; Nietzsche, a.a.O., 7 (98), 283.
70
A.a.O. 7 (196), 312.
71
A.a.O. 7 (94); 7 (90): vgl. R 63; 7 (92): vgl. R 107, 110; 7 (174): vgl. R 110.
72
A.a.O. 7 (86), (87), 280f.
73
A.a.O. 7(95), 282f.; vgl. R 80.
74
A.a.O. 7 (88), 281.

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Der Organismus als innerer Kampf 205

Dauerprozesse müssen Hunger haben".7* In seinen Überlegungen zur Moral-


problematik nimmt er einmal auch den 9zweiten Kampf im Sinne Roux' auf
und argumentiert »darwinistisch*: „Das Auslesen im Kampf der Individuen
wird diejenigen Eigenschaften zur dauernden Erhaltung auswählen, welche
sich für das ganze Individuum nützlich erweisen. Also: es müssen viele Arten
Moral entstehen — der Kampf ihrer Träger und der Sieg bringt die Art Moral
zu dauernder Erhaltung, welche dem Mächtigsten zum Leben nützlich und
unentbehrlich ist."76In späteren Niederschriften wird Nietzsche freilich her-
vorheben, daß die natürliche Selektion im Sinne Darwins gerade nicht die
,beste Moral* mit den ,höheren Individuen* verbindet, wie er es in der
zitierten Aufzeichnung für möglich hält. Aber wenn er auch 1883 den
yJKampf der verschiedenen Maralen" gegeneinander als „Mittel ihrer Aus-
bildung" bezeichnet,77 so finden wir doch auch in der gleichen Zeit die
radikalere — weil die Moralität unterlaufende — „praktische Consequenz",
die er anläßlich der zweiten Roux-Lektüre zieht: „Umänderung der Charak-
tere. Züchtung an Stelle des Moralisirens. Mit direkter Einwirkung auf den
Organism zu arbeiten statt mit der indirekten der ethischen Zucht. Eine
andere Leiblichkeit schafft sich dann schon eine andere Seele und Sitte. Also
Umdrehenl"7* Wir sahen: wie 1881 soll die Physiologie in den Dienst einer
grundlegenden Veränderung des Menschseins gestellt werden.

IV
Im Jahre 1884 beschäftigt sich Nietzsche mit Grundbestimmungen Roux'
unter einem anderen leitenden Aspekt. Es geht ihm um die methodische
Frage nach der Angemessenheit und Leistungsfähigkeit der mechanistischen
und der teleologischen Naturerklärung. Er sucht die Unzulänglichkeit beider
Erklärungsweisen aufzuzeigen, wobei er jedoch der mechanistischen Ab-
leitung wesentliche Vorzüge gegenüber der teleologischen zuspricht. Zu
seinen „Voraussetzungen" zählt er: „keine End-jUrsachen*. Selbst bei
menschlichen Handlungen erklärt die Absicht das Thun gar nicht."79 Zu-
stimmend konstatiert er den „Sieg der antiteleologischen mechanistischen
Denkweise als regulativer Hypothese 1) weil mit ihr allein Wissenschaft
möglich ist 2) weil sie am wenigsten voraussetzt und unter allen Umständen

75
„Dieses Wort ist hier natürlich nicht als bewusste Empfindung, sondern in der Bedeutung
einer stärkeren Affinität zur Nahrung bei stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen/'
(R 222)
76
Nietzsche, a.a.O., 7 (98), 283f.; vgL R 84.
77
A.a.O., 7 (170), 305.
78
A.a.O., 7 (97), 283.
79
Nachlaß Frühjahr 1884, VH 2, 25 (96), 29.

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206 Wolfgang Müller-Lauter

erst ausprobiert werden muß".30 Er äußert sogar einmal die „Vermuthung,


daß alle Eigenschaften des Organischen selber uns desbplb aus mechanischen
Gründen unableitbar sind, weil wir selber erst antimechanische Vorgänge
hineingesehen haben: wir haben das Unableitbare erst hineingelegt".81
Andererseits bemerkt er, daß auch „alle unsere mechanischen Gesetze . . .
aus uns" sind, „nicht aus den Dingen! Wir construiren nach ihnen die
,Dingee."82 Die mechanistische Erklärung dient der „,Berechenbarkeit' zu
praktischen Zwecken"83, aber damit verzichtet sie „zuletzt auf ein Be-
greifen".84 Die Reduktion der organischen Prozesse auf Druck und Stoß, die
ihrerseits nicht erklärt werden können, huldigt nach einer Aufzeichnung von
1885 „dem Principe der größtmöglichen Dummheit".85 Entsprechend heißt
es schon 1884: „Das Ideal ist, das complicirteste aller Maschinenwesen zu
construiren, entstanden durch die dümmste aller möglichen Methoden."36
Dumm ist die mechanistische Denkweise, insofern sie ,das Geistige* unbe-
rücksichtigt läßt, das jydas Wesen des Organischen auszumachen" scheint.87
Das ,Geistige" findet Nietzsche im „Auswählen des Wichtigeren, Nütz-
licheren, Dringlicheren"; es besteht als Schätzen schön im Willen der
niedrigsten Organismen.88 Zugleich wendet er sich jedoch gegen das Geistige
als ideologisches Prinzip: „Bisher sind beide Erklärungen des organischen
Lebens nicht gelungen, weder die aus,der Mechanik, noch die aus dem
Geiste"i letzteres wird von Nietzsche noch besonders betont. Gegen eine
Heranziehung beider Methoden zum Zwecke symbolischer Erklärung hat er
freilich nichts einzuwenden.89
Wir treffen Nietzsche in solchen vieldeutigen Stellungnahmen bei seinem
Bemühen an, einen dritten Weg zur Erklärung des Organischen einzuschla-
gen, der in gewisser Weise zwischen den geschilderten Wegen verlaufen soll.
Die dabei vollzogenen Abgrenzungen erwecken oft den Eindruck, als kriti-
siere er jede der beiden Methoden von der anderen her. Dies kann an seinen
Äußerungen zur Selbstregulierung im Frühjahr 1884 deutlich gemacht wer-
den. Einmal zeigt ihm die Selbstregulierung an — im Gegensatz zu der
80
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (386), 250.
81
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (336), 95 f.
82
A.a.O., 25 (427), 121.
83
A.a.O., 25 (96), 29.
84
A.a.O., 25 (314), 89.
85
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (34), 288.
86
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (316), 89.
8t
A.a.O., 25 (356), 102. - Vgl. Nietzsches Hinweis auf „die Darwinisten und Anti-
teleologen unter den physiologischen Arbeitern, mit ihrem Princip der ,kleinstmöglichen
Kraft* und der grösstmöglichen Dummheit" in JGB 14, VI 2, 22; ferner GD, Streifzüge
14, VI 3, 114: „Darwin hat den Geist vergessen (— das ist englisch!)".
88
A.a.O., 25 (433), 123.
89
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (68), 164.

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Der Organismus als innerer Kampf 207

Bedeutung, die Roux ihr gibt —, daß der „Maschinen-Charakter in allem


Organischen" gänzlich fehlt. „Im Verhältniß der Organe zu einander müssen
schon alle Tugenden geübt werden — Gehorsam, Fleiß, Zu-Hülfe-kommen,
Wachsamkeit".90 Man könnte hieraus schließen, er bestreite den mechanisti-
schen Standpunkt von einem teleologischen her. Aber um die gleiche Zeit, da
Nietzsche „die Methode der mechanistischen Weltbetrachtung . . . als einst-
weilen bei weitem die redlichste" preist91, heißt es auch, daß es in ihr noch
„von teleologischen Ausdeutungen" geradezu wimmele. Unter diesen wird
die Bestimmung der Selbstregulierung angeführt, die freilich vorerst noch
nicht „zu entbehren" sei. Hieraus zu entnehmen, Nietzsche lege es auf eine
mechanistische Lösung ihrer Problematik an, würde uns ebenfalls in die Irre
führen. Die mechanistische Denkweise verdient den Vorzug vor der teleologi-
schen; ihre eigene Redlichkeit fordert von ihr, daß sie sich von teleologischen
,Restbeständenc befreit. Daß Nietzsche in diesem Zusammenhang vor allem
Roux im Blick hat, zeigt sich darin, daß er nun „die Ausdeutung des
Hungers, als sei er auf ,Ersatz-, wohl gar auf ,überreichlichen Ersatz*
gerichtet", als „ein tiefes und gefährliches Mißverständnis" teleologischen
Ursprungs ansieht.92 Auch in einer Aufzeichnung von Sommer—Herbst des
gleichen Jahres wendet sich Nietzsche gegen die ,teleologische Färbung' von
Roux' Bestimmung , überreichlicher Ersatz* und kritisiert dessen Verständnis
von Selbstregulierung.93 In der sich anschließenden Ausführung ist dann zum
ersten Male vom Willen zur Macht „in den Funktionen des Organischen" die
Rede.94 Nietzsches schon von langer Hand vorbereitete eigene Deutung des
-J' Kampfes im Organismus erfährt von da an ihre ins einzelne gehende Aus-
! arbeitung.
j Doch bevor wir uns dieser Deutung zuwenden, soll in einem knappen
*» Exkurs auf die von Nietzsche als teleologisch charakterisierte Ausdrucksweise
Wilhelm Roux' eingegangen werden. Wir beziehen uns dabei auf die spätere
Diskussion um die Prinzipien der Entwicklungsmechanik, von der Nietzsche
keine Kenntnis mehr haben konnte. Dazu sind wir der Sache nach insofern
berechtigt, als Roux die wesentlichen der in seinem Buch von 1881 heraus-
gearbeiteten Bestimmungen und deren Bedeutungen bis zu seinen letzten
Veröffentlichungen beibehielt, wenn er auch im Zuge seiner weiteren For-

90
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (426), 120.
91
A.a.O., 25 (448), 128.
92
GA XIII 259f. (vgl. oben Anm. 15). — Nietzsche führt in der zitierten Aufzeichnung
unter den vorerst unentbehrlichen teleologischen Bestimmungen nach ,Selbstregulierung'
noch „Anpassung" und „Arbeitstheilung" auf.
93
Nachlaß 1884, VII 2, 26 (272), 219.
94
A.a.O., 26 (273), 219.

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208 Wölfgang Müller-Lauter

schungen zu beträchtlichen Ergänzungen und Differenzierungen gelangt ist.95


Auf den grundlegenden Wandel, den Roux in der Fr^e nach der Vererbbar-
keit erworbener Eigenschaften vollzogen hatte, als er 1895 eine Neubearbei-
tung des ,Kampfes der Theile' in Angriff nahm, kann hier nicht des näheren
eingegangen werden. Er führt dazu, daß der in unserer Darstellung ohnehin
besonders hervorgehobene autogenetische Gesichtspunkt gegenüber dem
phylogenetischen ganz eindeutig in den Vordergrund tritt.96
Wir schicken dem Exkurs voraus, daß Roux mit dem Wort Selbstregula-
tion nicht die Vorstellung von zwecktätiger Spontaneität verbunden hat. Mit der
Vorsilbe ,Selbst-* wollte er allein die kausalmechanische Bestimmtheit der
Vorgänge im Organismus betonen.97 Wohl hat er sich der Frage gestellt, ob
an dem „harmonischen dauerfördernden Zusammenwirken" der Vorgänge im
Lebewesen „amechanistisches Geschehen irgendeiner gedachten Art betei-
ligt" sei.98 Er hat sie mit besonderer Schärfe in seiner Auseinandersetzung
mit H. Driesch verneint.
Driesch war in der Fortführung der embryologischen Experimente Roux'
zu anderen Ergebnissen als dieser und schließlich zu entgegengesetzten
Schlußfolgerungen gelangt. Roux hatte 1887 nach Abtötung einer der beiden
Furchungszellen des Froscheies die Entwicklung der lebenden Zellen zu
einem Halbembryo beobachtet und diesen Vorgang als Selbstdifferenzierung
kausal interpretiert. Drieschs entsprechende Versuche an den Zellen von
Seeigeleiern (1891) führten zur Entwicklung eines ganzen (wenn auch kleine-
ren) Organismus. Auf der Grundlage dieser und anderer Experimente
gelangte Driesch schließlich zu der Überzeugung, daß derartigen Bildungs-
prozessen ein zwecktätiges Agens zugrunde gelegt werden müsse.99 Roux sah in
Drieschs teleölogischer Ableitungsweise bloße Metaphysik, <lie auf exakte

95
Eine Zusammenstellung der „Dinstinktionen und Termini", die Roux später eingeführt
hat, findet sich bei D. Barfurth, Wilhelm Roux zum 60. Geburtstag, in: Archiv f. Ent-
wicklungsmechanik der Organismen, XXX I, 1910, XXX.
96
Roux* Schrift von 1881 war von einem Darwinismus Haeckelscher Prägung bestimmt, in
den Gedanken Lamarcks eingeschlossen waren. Haeckels Überzeugung von der Vererbung
erworbener Eigenschaften fand bei Roux ihren Niederschlag in seiner Lehre von der Ver-
erbung individuell erworbener funktioneller Anpassungen. Zum Wandel von Roux* Stand-
punkt hinsichtlich dieser Problematik s. R. Mocek, a.a.O., 80ff.
97
Zur genaueren Bestimmung des ,Selbste bei Roux wäre auf seine Scheidung von Deter-
minations- und Realisationsfaktoren einzugehen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist.
98
W. Roux, Die Medizin der Gegenwart. . ., a.a.O., 187.
99
Zu Drieschs Ausgehen von Roux und seinem »Hinausgehen4 über ihn sei zur allgemeinen
und zusammenfassenden Information verwiesen auf sein Buch Philosophie des Organischen,
1921 (deutsche Ausgabe), 47ff. — Drieschs Ausgang von einem entelechetischen Agens ließ
für Roux' Gedanken eines Kampfes der Teile keinen Raum. S. dazu Drieschs Schrift Die
organischen Regulationen (1901) und C. Herbst, Formative Reize in der tierischen Onto-
genese (1901). Dazu Roux* Entgegnung in Ober die Selbstregulation der Lebewesen^ a.a.O.,
635, 639—643, wo er sich zugleich gegen O. Hertwig wendet, auf den Driesch sich beruft.

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Der Organismus als innerer Kampf 209

kausale Erklärung verzichtet.100 Freilich mußte er noch 1923 einräumen, daß


seine Lehre von der Selbstdifferenzierung „auch jetzt nach fast vierzig Jahren
noch mißverstanden" wird, indem man diese als „Wirkungsweise" und nicht
als „kausales Prinzip" auffaßt.101 Jedenfalls hat die Ambivalenz seiner
Begrifflichkeit, die schon Nietzsche empfunden hatte, Roux nicht von seiner
streng mechanistischen Erklärungsweise abgebracht: Die Lebewesen sind für
ihn „Selbsterhaltungs-, Selbstvermehrungs- und Selbstregulierungsmaschi-
nen" geblieben.102
Von den im Exkurs aufgeführten gegensätzlichen Positionen läßt sich
Nietzsches Verständnis der Selbstregulation deutlich abheben. Er findet in
diesem Begriff „die Fähigkeit der Herrschaft über ein Gemeinwesen voraus-
gesetzt", welche weder mechanisch noch teleologisch begründet werden
kann. „Die Fortentwicklung des Organischen ist nicht an die Ernährung
angeknüpft", heißt es nun in offensichtlicher Polemik gegen die Hervor-
hebung der Wirkung trophischer Reize durch Roux. Es ist vielmehr ,,das
Befehlen und Beherrschenkönnen", das die „Selbst-Regulierung" leitet.103
Der auch von Roux verwendete Begriff der Herrschaft wird seines mecha-
nistischen Charakters durch die ergänzende Bestimmung „Befehlen" ent-
kleidet.
Nietzsche hat das, was er unter Befehlen versteht, im Laufe der Jahre
1884 und 1885 immer subtilef herausgearbeitet. Wir müssen das Befehlen als
ein Wollen auffassen.104 Der Wille als Befehl wird charakterisiert als:
„gespannt, klar, ausschließlich Eins im Auge, innerste Überzeugung von der
Überlegenheit, Sicherheit, daß gehorcht wird". Nietzsche spricht vom

100
Zu der von Roux' Seite zeitweise sehr heftig geführten Polemik gegen Driesch s. u. a.:
Über die Selbstregulation der Lebewesen, a.a.O., sein Referat über Drieschs Buch Die
organischen Regulationen von 1901 (Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen,
XIII, 1902, 651 ff.); zu Roux' grundsätzlicher Auseinandersetzung mit den „Entelechetikern"
s. seine Ausführungen unter dem Titel Prinzipielles der Entwicklungsmechanik, in: Annalen
der Philosophie, III, 1923, 454—473. — Über den Fortgang der sich ausweitenden Kontro-
verse um die Ergebnisse der embryologischen Experimente informiert zusammenfassend, vom
Standpunkt Roux' aus, D. Barfurth, a.a.O., XIVf. — Roux' Interpretation der Entwick-
lung von kleinen Ganzembryonen aus der Totipotenz von Furchungszellen, sowie die
Deutung von Ganzbildungen als Postgeneration* die er zuerst 1892 vortrug, haben für die
Auseinandersetzung mit den ,Teleologen' (aber nicht nur mit ihnen) besondere Wichtig-
keit erlangt. — Nur hingewesen werden kann hier auf H. Spemanns ,Aufhebung* des
Gegensatzes zwischen Roux und Driesch. S. dazu R. Mocek, a.a.O., 104ff.
101
Die Medizin in der Gegenwart. . ., a.a.O., 163.
102 Prinzipielles der Entwicklungsmechanik, a.a.O., 471. *- In welchem Maße Roux' Gebrauch
der Vorsilbe ,Selbst-' seinen eigenen Intentionen entgegengewirkt hat, zeigt noch die Be-
rufung von A. Portmann auf Roux bfei seiner Ausarbeitung der organischen „Selbstdarstel-
lung" als sich äußernder Innerlichkeit (An den Grenzen des Wissens, 1974, 138—140).
103
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (272), 219.
104
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (389), l&f.

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210 Wolfgang Müller-Lauter

„,Uberlegenheitsgefühl des Befehlenden* in Hinsicht auf den Gehorchen-


den". Die Erfahrung der „Freiheit des Willens" stellt sich dar in der
Empfindung: „ick bin frei, und Jener muß gehorchen".10S Aus der Abhängig-
keit des Gehorchenden vom Befehlenden erklärt sich die physiologische
„Rangordnung der Organe und Triebe", der „Unterschied von niederen und
höheren Funktionen".106
Rangordnungen erwachsen aus Kämpfen, die sich bis in die einfachsten
organischen Prozesse hinab verfolgen lassen. Aber auch derartige Prozesse
will Nietzsche ursprünglicher begreifen als die Naturwissenschaftler seiner
Zeit. So notiert er 1884: „Wenn zwei organische Wesen zusammenstoßen,
wenn es nur Kampf gebe um das Leben oder die Ernährung: wie? Es muß
den Kampf um des Kampfes willen geben,"107 In den entsprechenden
Vorgängen will „das Lebendige seine Kraft auslassen'';108 in seinen Kraft-
auslassungen109 geht es um Macht und nichts anderes. Dieser von Nietzsche
in den folgenden Jahren immer wieder ausgeführte Grundgedanke sei an zwei
Aufzeichnungen vom Herbst 1887 und vom Frühjahr 1888 exemplifiziert. In
ihnen wird der ,einfachste Fall* erörtert, der „der primitiven Ernährung: das
Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, was

105
A.a.O., 25 (436), 123; vgl, JGB 19, VI 2, 26.
106
A.a.O., 25(411), 115.
107
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.
108
A.a.O., 26 (277), 220.
109
Nietzsches Verständnis von Kraftauslassung bedürfte hinsichtlich des Begriffes der »Aus-
lösung' einer ausführlichen Erörterung. Sie muß hier beiseite gelassen werden, da seine. $
Verwendung durch Nietzsche nicht auf den Einfluß Roux', sondern auf den J, R. Mayers j
zurückzuführen ist. Mittasch, vorzüglicher Kenner sowohl Nietzsches als auch Mayers, ist j
diesem Einfluß in seinem Buch Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O., sehr ausführlich nach- ·
gegangen. Seine für wesentliche Aspekte von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht auf-
schlußreichen Hinweise haben bisher nicht die Beachtung gefunden, die sie verdienen. — !
r
Nietzsche gebraucht Begriffe wie (Kraft-) Auslösung und Explosion seit 1881 immer wieder.
Was er damit meint, wird zureichend nur verständlich, wenn man auf seine Lektüre des
Mayerschen Aufsatzes Über Auslösung (1876) rekurriert, den er in dem Exemplar von
Mayers Mechanik der Wärme (21873) eingebunden fand. An P. Gast schreibt er am
16. 4. 1881 in einem Nachsatz: „,Uber Auslösung" ist für mich das Wesentlichste und
Nützlichste in Mayer's Buche." (Fr. Nietzsches Briefe an P. Gast, hrsg. v. P. Gast, 1908,
63). Mayer führt in seinem Aufsatz alle Bewegungserscheinungen — von der anorganischen
Wirklichkeit über die organischen Prozesse bis hin zur Psychologie — auf Auslösungen
zurück, die nicht mathematisch (nach zählbaren Einheiten) faßbar sind. Nietzsche nimmt
Mayers Ausführungen zum Thema , kleine Ursachen — große Wirkungen* auf, einschließlich
von Beispielen, die dieser gibt. So in FW V, Aph. 360, V 2, 289f. S. dazu Mittasch a.a.O.,
119, der a.a.O., 120—126 eine Vielzahl von weiteren Belegen für die Übernahme von
Mayers Auslösungsgedanken durch Nietzsche anführt. Auch Mayers Verständnis von ,Reize
und ,Regulierung* verdankt Nietzsche wesentliche Anregungen. Mittasch resümiert: „In
Nietzsches Kraftlehre (und Trieblehre) hat Roben Mayers Wirklehre, einschließlich Aus-
lösungslehre, auf längere Zeit die einzige starke Nachwirkung und ausgedehnte Weiter-
führung gefunden" (a.a.O., 127).

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Der Organismus als innerer Kampf 211

ihm widersteht — nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht." „Der
Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem,
was ihm widersteht, — dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma"110,
das in sich selbst „eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen"
darstellt.111
• Von dieser Tendenz ausgehend, beschreiben wir den Weg eines organi-
schen Willens zur Erweiterung seiner Macht. In seinen Kraftauslassungen
geht es ihm darum, „stärker zu werden". Dies kann er nur im Kampf mit
ihm Widerstehendem, das er suchen muß.112 Solchem Suchen liegt ein
Wahrnehmen des ihm Entgegengesetzen zugrunde, das sich im Verlauf all-
mählicher Entwicklungen ausgebildet hat, wobei „jede kleinste Zelle jetzt
Erbe der ganzen organischen Vergangenheit" ist.113 Im Frühjahr 1884 führt
Nietzsche aus, er setze „Gedächtniß und eine Art Geist bei allem Organischen
voraus";114 wir haben eingangs dieses Abschnitts schon darauf hingewiesen.115
Hat ein Wille zur Macht einen ihm entgegengesetzten , auf gesucht4, so strebt
er dessen Überwältigung an. „Aneignung und Einverleibung" vollzieht sich
— im Falle des Gelingens der Überwältigung — als „ein Formen, An- und
Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers
übergegangen ist und denselben vermehrt hat."116 Das Überwältigte kann,
wie auch immer ,umgebildet% vom Uberwältiger in Dienst genommen
werden. Damit ist Rangordnung gegeben, die in den komplexen organischen
Gestaltungen zu den Prozessen der Selbstregulation führt, die eine „Fort-
setzung des Kampfes" zwischen Befehlenden und Gehorchenden darstellt.117

110
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (151), 88; Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (174), 152.
111
Nachlaß Mai-Juli 1885, VII 3, 35 (59), 259.
112
Die Unlust als Hemmung oder Widerstand ist demgemäß „ein nothwendiges Ingrediens
aller Thätigkeit (alle Thätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll). Der
Wille zur Macht strebt also nach Widerständen, nach Unlust", heißt es schon 1884 (Nach-
laß, VII 2, 26 (275), 220). „Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und Unlust
nach einer Vergeudung von Macht" müssen freilich unterschieden werden. Letztere ist
Erschöpfungssymptom, ursprünglicher noch „Unfähigkeit zum Widerstand" (Nachlaß Früh-
jahr 1888, VIII 3, 14 (174), insbes. 153). Die erstrebte Unlust im Aufsuchen von Wider-
ständen zeigt an: „Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens"
(Nachlaß, VII 2, a.a.O.)· Daher ist „der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden,
sondern ein Pathos". Dieses ist „die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden,
ein Wirken ergiebt . . ." (Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (79), 51).
113
Nachlaß Sommer 1883, VII l, 12 (31), 424, vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2,
26 (156), 188.
114
Nachlaß, VII 2, 25 (403), 113.
115
S. oben S. 206 — Zur Wahrnehmung in der anorganischen Welt s. Nachlaß Mai-Juni
1885, VII 3, 35 (53), (58), (59), 258f. Vgl. dazu Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur
Macht, Nietzsche-Studien 3, 1974, 38ff.
116
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (151), 88. %
117
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.

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212 Wolfgang Müller-Lauter

Roux hatte den inneren Kampf als kausal-mechanisches Geschehen


aufgefaßt und damit sowohl die Wirkungsweise der Teile aufeinander als auch
die Notwendigkeit des Ablaufs der Vorgänge im Organismus erklärt.
Nietzsche zufolge kann die mechanistische Theorie zwar diese Vorgänge zum
Zwecke ihrer Berechenbarkeit beschreiben, ein Erklären im Sinne des Be-
greifens jedoch liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten. Aber führt Nietzsches
Reduktion der , mechanischen* Geschehensabläufe auf Kämpfe von Willen
denn weiter? Zunächst ist festzustellen, daß diese Reduktion den Abläufen
nicht den Charakter der Notwendigkeit nimmt. „Geschehen und Nothwendig-
Geschehen ist eine Tautologie", schreibt Nietzsche. Kann doch „eine be-
stimmte Kraft eben nichts anderes sein . . . als eben diese bestimmte Kraft",
sie läßt sich an „einem Quantum Kraft—Widerstand nicht anders" aus, „als
ihrer Stärke gemäß ist".118 Die Kraftauslassungen des Lebendigen sind als ein
Wollen immer auch ein Müssen:, „beide Worte wiegen mir gleich!", heißt es
in einer schon herangezogenen Aufzeichnung von 1884.119 Man darf aus
solchem Müssen nur nicht auf „die Gesetzmäßigkeit der Natur" schließen;120
„die angeblichen ,Näturgesetze* sind nichts als Formeln für ,Machtverhält-
nisse'".121 „Es giebt kein Gesetz: jede Macht zieht in jedem Augenblick ihre
letzte Consequenz.'c122
Nietzsche führt alles Geschehen auf „ein Übergreifen von Macht über
andere Macht" zurück.123 Wir haben dieses Übergreifen in seinem Ablauf
beschrieben, aber damit ist noch nicht erklärt, wie Wille auf Wille wirken kann.
Wenn es nach Nietzsche „gar keine andere Causalität als die von Wille zu Wille"
gibt,124 so schließt das ein, daß sie von anderer Art sein muß als die vom
mechanistischen Denken erfaßbare Wirkungsweise. In Jenseits von Gut und
Böse fordert Nietzsche zu einer Umkehrung auf. Er fragt, ob das , Gegebene*

118
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 10 (138), 201 f.
119
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (277), 220f.
120
Nachlaß August-September 1885, VII 3, 40 (55), 387.
121
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 33 (248), 224. Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, a.a.O., 36
(18), 283; Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 39 (13), 353.
122
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (79), 50.- Den Unterschied zwischen der mechanisti-
schen und seiner eigenen Deutung des Geschehens charakterisiert Nietzsche im Nachlaß
Herbst 1885-Frühjahr 1886 wie folgt: „Der völlig gleiche Verlauf aber die höhere Aus-
deutung des Verlaufs!! Die mechanistische Einerleiheit der Kraft, aber die Steigerung des
Machtgefühls!" (VIII l, l (119), 34.)
123
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (81), 52.
124
Nachlaß Mai-Juli 1885, VII 3, 35 (15), 236. - Genau genommen gilt, „daß der Begriff
Causalität vollkommen unbrauchbar ist — aus einer nothwendigen Reihenfolge von Zuständen
folgt nicht deren Causal-Verhältriiß (— das hieße deren wirkende Vermögen von l auf 2, auf 3,
auf 4, auf 5 springen zu machen) Die Causalitäts-Interpretation eine Täuschung . . . £5
giebt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen.
Aber daran liegt nichts . . . In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend"
(Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98), 67).

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Der Organismus als innerer Kampf 213

unserer menschlichen „Welt der Begierden und Leidenschaften" nicht aus-


reicht, um „auch die sogenannte mechanistische (oder ,materiellec) Welt zu
verstehen".125 Treffen wir in dieser vielleicht die ,gleichen Realitäten* an wie
in uns? Wir müssen uns, so schreibt Nietzsche 1885, „der Analogie des
Menschen zu Ende bedienen": das gilt für die Physik wie für die Biologie.126
Wenn Nietzsche noch 1881 gegenüber Roux den Vorbehalt erhob, dieser
verwende die ,Sprechartc unserer Affekte, um die kleinsten biologischen
Prozesse darzustellen, so erscheint es ihm nun durchaus angemessen, unsere
Affektsprache zur Erklärung allen Geschehens zu gebrauchen. Er rechtfertigt
sein Verfahren in Jenseits von Gut und Böse mit dem Grundsatz der
Methodensparsamkeit: man müsse versuchen, mit einer einzigen Art von
Kausalität auszukommen. Bewähre sich seine Erklärungsweise, so gewinne
man das Recht, „alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als ,Wille zur
Macht"'.*27
Um die Eigentümlichkeit des Wirkens von Wille auf Wille verstehen zu
können, sollen wir also vom Menschen ausgehen. Nietzsche beschreibt ihn
„als eine Vielheit von ^Willen zur Macht*: jeder mit einer Vielheit von
Ausdrucksmitteln und Formen".128 Die Vielen stehen miteinander im Kampf,
durch Befehlen und Gehorchen wird ihr , Wirkungszusammenhang' herge-
stellt. Doch auf welchem Wege bewirkt ein Befehl, daß gehorcht wird? Daß
im Befehl „ein Höherer Stärkerer gebietet und . . . sein Gefühl als Gesetz für
Andere" verkündet129, beantwortet diese Frage so wenig wie die Bemerkung,
daß der stärkere Wille den schwächeren dirigiert.130 Nietzsches Bemühen
um eine tragfähige Antwort zeigt eine Aufzeichnung vom Frühjahr 1884. Er
geht hier vom Befehl durch das Wort aus, der von einem Menschen an andere
ergeht. Es zeigt sich ihm dabei, daß der als Wille verstandene Befehl „nicht als
Wort, nicht als Laut" wirkt, „sondern als das, was sich verbirgt hinter dem
Laut". Durch den Befehl „wird etwas fortgeleitet". Führt man diese Fort-
leitung auf irgendwelche „Schwingungen" zurück, so bleibt „wieder der
eigentliche Vorgang" verborgen.131 Aber worin besteht der eigentliche Vor-
gang, zumal er sich ursprünglich ,laut-lose zwischen den Machtwillen inner-
halb des menschlichen Organismus abspielen soll? Nicht viel später finden
wir dann einen Hinweis Nietzsches darauf, daß der Wille nicht selber bewegt,
nicht Widerstände ohne deren Zutun überwindet,132 er wird als ein Reiz
125
JGB 36, VI 2, 50f. Vgl. Nachlaß August-September 1885, VII 3, 40 (37), 378f.
126
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (31), 287.
127
JGB 36, VI 2, 51; vgl. JGB 13, a.a.O., 21 f.
128
Nachlaß Herbst 1885-Frühjahr 1886, VIII l, l (58), 21.
129
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (452), 129.
130
Nachlaß Mai-Juni 1885, VII 3, 35 (15), 236.
131
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (389), 109.f.
132
S. Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 38 (8), 334ff.

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214 Wolfgang Müller-Lauter

aufgefaßt, „bei dessen Eintritt die Bewegung beginnt"133. Demzufolge sollte


man „nicht von Ursachen des Wollens, sondern von Reizen des Wollens"
reden.134
Der Reiz als Befehl ist also für Nietzsche nicht eine besondere Ursachen-
art neben anderen wie für Schopenhauer. Mit Hilfe dieses Begriffes beschreibt
er vielmehr die Wirkungsweise der Willen zur Macht schlechthin. Schon
deshalb verbietet sich die Einschränkung des Verständnisses von Reiz auf den
Gebrauch, den die Physiologie vornimmt. Die Reduktion der Reize auf
physikalische oder chemische Prozesse weist Nietzsche zurück. Er reduziert
vielmehr umgekehrt diese Prozesse auf Reize. Auch dabei bleibt er an der
,Sprechart unserer Affekte* orientiert.
Es sind vor allem drei Charakteristika des Reizbegriffes, die diesen für
Nietzsches Auffassung der Wirkungszusammenhänge als brauchbar erweisen:
1. Der Reiz erregt, welches Erregen selber schon eine Kraftauslösung
darstellt. 2. Als Erregendes ist der Reiz ein Anreiz. Er fordert die Reiz-
annahme heraus.135 3. Die Reizannahme ist Gegenbewegung. Ihr liegt eine
Selbsttätigkeit des Reizempfängers zugrunde, die unter Umständen eine
Auswahl von Reizen aus dem Reizangebot einschließt.
Auf Nietzsches Betonung der Aktivität bei der Reizverarbeitung haben
wir schon bei der Erörterung seiner Beschäftigung mit Roux im Jahre 1883
hingewiesen. Diese Aktivität muß nun in das Gegeneinander von Befehlenden
und Gehorchenden eingetragen werden, und zwar auf beiden Seiten.136 Das

133
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (24), 282.
134
Nachlaß Frühjahr 1884, a.a.O., 25 (436), 123. - Vgl. z. B. Nachlaß Früh jähr-Herbst
1881, 11 (135), V 2, 390: ,,Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der
Andere ihre Kräfte auslösen . . . ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden".
Nietzsche bezieht sich hierbei auf weltgeschichtliche Ereignisse (Religionsstiftung), wobei
er wieder die Relation ,kleine Ursachen — große Wirkungen* heranzieht (s. dazu Anm. 109).
135
Das Von-Innen-her erfährt mit der Aufnahme des Auslösungsgedankens seine Bestätigung
und Konkretisierung: „Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich
dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von
außen. Wohin die Kraft sich wendet? Sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize
leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize er-
ziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.0 (Nachlaß Frühjahr—Herbst 1881> V 2,
11 (139), 391)
136 Mittasch weist darauf hin, daß die Forschung unseres Jahrhunderts „immer mehr zu der
Vorstellung gedrängt worden" sei, „daß verknäueke physiologische Vorgänge, wie Befruch-
tung und Keimentwicklung, nur auf Grund der Annahme sinngemäß entwirrt und dem
Verständnis nähergebracht werden könen, daß man - von psychologischer Analogie des An-
weisunggebens, des Befehlens und Gehorchens auf Grund vorhandener Resonanz als An-
sprechbarkeil Gebrauch macht." (Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O., 187). Er zieht als
Exempel die Arbeiten von H. Spemann heran (a.a.O., 336), der ja die entwicklungs-
physiologische Forschung von Roux und Driesch weiterführt. Wir finden hierin einen Be-
leg (unter vielen) dafür, daß Nietzsches »naturphilosophische* Reflexionen nicht im Gegen-
satz zu späteren Forschungen stehen, sondern durchaus »wissenschaftsrelevant4 sind.

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Der Organismus als innerer Kampf 215

„Kommandiren an andere Subjekte" (als Subjekt müssen wir auch jeden


inneren Machtwillen im Organismus verstehen) führt dazu, daß diese „sich
daraufhin verändern". In diesem zweiseitigen Vorgang besteht „die einzige
Kraft, die es giebt".137 Der vom Befehlenden ausgehende Anreiz bewirkt,
daß die Gehorchenden von sich aus eine Veränderung ihrer selbst vollziehen.
Nietzsche treibt mit dieser Erklärung der Willenswirkung seinen Gedanken
der Spontaneität des ,Von-Innen-herc auf die Spitze. Das Unterworfene kann
die ihm zudiktierte Funktion nur ausüben, wenn es sie aus sich selbst heraus
übernimmt.
Wir dürfen Nietzsches Heranziehung des Reizgeschehens zur Erklärung
der Wirkungsweise der Willen zur Macht nicht in dem Sinne mißverstehen,
als reduziere er das Wollen auf ein bloßes Reizen. Es kommt ihm umgekehrt
darauf an, das Reizen des Wollens in seiner vollen Konkretion zu fassen.
Zum konkreten Wollen gehört neben dem Affekt des Kommandos immer
auch Fühlen und Denken. Das gilt auch für die Gegen-Reize, die von den
Gehorchenden ausgehen: auch in ihnen treffen wir die genannte Dreiheit an,
die in Wahrheit Einheit ist.138 „Hier ist die Voraussetzung gemacht",
schreibt er 1884, „daß alle organischen Gebilde Theil haben am Denken
Fühlen Wollen".139

Im letzten Abschnitt unserer Darstellung wenden wir uns der Entwick-


lung von Nietzsches Verständnis des Leibganzen als eines Herrschaftsgebildes
zu. Wir setzen bei seinen Aufzeichnungen von 1881 ein.
Nach seiner ersten Roux-Lektüre hatte Nietzsche zunächst ein sehr
einfaches Schema des organischen Funktionsganzen entworfen: „Wer am
meisten Kraft hat, andere zur Funktion zu erniedrigen, herrscht — die Unter-
worfenen aber haben wieder ihre Unterworfenen — ihre fortwährenden
Kämpfe: deren Unterhaltung bis zu einem gewissen Maaße ist Bedingung des
Lebens für das Ganze." Der Gedanke einer differenzierten, gar mit Denken
verknüpften Reizannahme der Unterworfenen ist hier noch ausgeschlossen;
Gehorsam wird allein als „Zwang" aufgefaßt. „Wenn alle sich mit , Vernunft*
an ihren Posten stellen wollten und nicht fortwährend so viel Kraft und
Feindseligkeit äußern wollten, als sie gebrauchen, um zu leben — so fehlte die

137
Nachlaß August-September 1885, VII 3, 40 (42), 382. - Wir müssen dabei in Rechnung
stellen, daß nicht nur die empfundenen Reize , wirken': Sie sind „ganz seltene und spär-
liche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine
andere Zelle, ein anderes Organ ausübt" (Nachlaß Winter 1883/84, VII l, 24 (16), 696).
138
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 38 (8), 334ff. Vgl. JGB 19, VI 2, 25ff.
139
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (19), 279f.

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216 Wolfgang Müller-Lauter

treibende Kraft im Ganzen".140 In einer späteren Aufzeichnung von 1881


wird die Vorstellung der Herrschaft mit dem „Machtgefijhl" verbunden. Die
Einlinigkeit der Gestaltungsprozesse, die von ,oben* nach ,unten* verläuft, er-
fährt noch eine Verstärkung: „Das Machtgefühl erst erobernd, dann beherr-
schend (organisirend) — es regulirt das Überwundene zu seiner Erhaltung
und dazu erhält es das Überwundene selber.'— Auch die Funktion ist aus
Machtgefühl entstanden, im Kampf mit noch schwächeren Kräften. Die
Funktion erhält sich in der Überwältigung und Herrschaft über noch
niedrigere Funktionen — darin wird sie von der höheren Macht unter-
stütztl"*4* In Zarathustra I (1883) heißt es vom menschlichen Leib, er sei
„eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und
ein Hirt". Dies mag sich noch mit Nietzsches vorangegangenen Ausfüh-
rungen vereinbaren lassen, obwohl die von dichterischem Pathos getragenen
Sprachprägungen des Zarathustra die fundamentalen philosophischen Sach-
fragen hier mehr verschleiern als erhellen. Wenn freilich, im gleichen Zusam-
menhang, der Leib als „eine grosse Vernunft" apostrophiert wird, so erfährt
damit, nehmen wir solche Redeweise nicht nur metaphorisch, Nietzsches
vorgängiges Verständnis der Leiblichkeit einen grundlegenden Wandel.142
Der Wandel tritt in den späteren nachgelassenen Fragmenten zutage. So
heißt es im Sommer—Herbst 1884, daß die Physiologie nur „die Andeutung
eines wunderbaren Verkehrs" innerhalb der menschlichen Vielheit gebe. Die
„Unter- und Einordnung der Theile zu einem Ganzen" setzt „Kampf und
Sieg" voraus. Noch findet Nietzsche wie Roux in der Selbstbejahung der
Einzelwesen zugleich die unwillkürliche (d. h. nicht eigens intendierte) Be-
jahung des Ganzen.143 Aber er dringt zur gleichen Zeit auch schon zu einer
differenzierteren Sicht des Abhängigkeitsverhältnisses der Gehorchenden von
den Befehlenden vor. Zur Ausführung selbst des bestimmtesten Befehls im
Organismus gehört „eine Unzahl von Individuen . . ., die alle in einem ganz
bestimmten Zustand" sein müssen: Sie müssen den Befehl „verstehen und
avich ihre spezielle Aufgabe dabei"144. Darüber hinaus gibt Nietzsche 1884
140
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (134), 389. - Nietzsche stellt in diesem Zu-
sammenhang, Roux folgend, den Kampf der „Funktionen ähnlichen Grades" als Bildungs-
prinzip heraus.
141
A.a.O., 11 (284), 448.
142
Za I, VI l, 35. — Bei Nietzsches Apostrophierung des Leibes als einer großen Vernunft muß
zugleich die ,Abwertung* des , Geistes* als der ,kleinen Vernunft* mitgehört werden. Zara-
thustra kennzeichnet den Geist als „ein kleines Werk- und Spielzeug" der großen Ver-
nunft.
143
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (8), 276f. Vgl. a.a.O., 27 (27), 282.
144
A.a.O., 27 (19), 279. — Nietzsche erläutert diese Ausführung: „d.h. es muß immer von
neuem bis ins Kleinste hinein befohlen (und gehorcht) werden und dann erst, wenn der
Befehl zergliedert ist in die Unzahl kleiner Unterbefehle kann die Bewegung vor sich
gehen, die von dem letzten und kleinsten Gehorchenden anhebt".

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Der Organismus als innerer Kampf 217

schon einen Hinweis darauf, daß ein geschwächter Gegentrieb „als Impuls
. . . den Reiz für die Thärigkeit des Haupttriebes" abgeben kann.145
In den Aufzeichnungen von 1885 stellt Nietzsche die relative Unabhän-
gigkeit der Gehorchenden in zunehmendem Maße heraus. Zunächst heißt es
nur, „damit vollkommen gehorcht werden" könne, habe „das einzelne
Organ viel Freiheit"146. Später wird ausgeführt, im Menschen müsse „in
feineren Fällen . . . die Rolle" zwischen Herrschenden und Dienenden „vor-
übergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen"147.
Daß das Gehorchen immer auch ein Widerstehen ist, je nach der Kraft, die
dafür bleibt,148 hatte Nietzsche schon früher herausgestellt. Nun wird es als
Widerstreben charakterisiert, das anzeigt, daß die „Eigenmacht durchaus
nicht aufgegeben" ist. Das Befehlen erscheint dabei als „ein Zugestehen, daß
die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist"149. Das Ganze des mensch-
lichen Leibes stellt sich jedoch später dar als „ungeheure Vereinigung von
lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne
wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd". In dieser „pracht-
vollen Zusammenbindung des vielfachsten Lebens", der „Anordnung und
Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten",150 finden wir dann eine
„Abhängigkeit" auch der „Regenten von den Regierten", die deren früher
behauptete bloße Indienstnahme überschreitet. Zur Rangordnung gehört nun
auch „Arbeitstheilung als Ermöglichung der Einzelnen und des Ganzen"151.
Der Dienst aller lebendigen Wesen gilt nun primär dem Ganzen des Leibes.
Damit erscheint der Leib in der Tat als eine große Vernunft.
Die Problematik, die hieraus für Nietzsches Denken erwächst, tritt in
der Frage nach der Regentschaft in diesem ,Herrschaftsgebildec hervor. Die
Zarathustra-Rede vom einen Hirten der Herde führt leicht in die Irre. An der
Spitze des ,Gesellschaftsbaus Leib* steht kein ,absoluter Monarch'152, viel-
mehr ist „das centrale Schwergewicht . . . etwas Wandelbares"153. Hatte

145
A.a.O., 27(59), 289.
146
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (55), 157. - Das Wort »Freiheit* meint selbstverständlich
nicht Willkür. Nur die mechanische Notwendigkeit wird mit dieser Bestimmung negiert.
Im Frühjahr 1884 notiert Nietzsche: „es wird manches befohlen, was nicht völlig geleistet
werden kann (weil die Kraft zu gering ist)" (Nachlaß VII 2, 25 (432), 122). Entscheidend
ist das Kräfteverhältnis im Reiz-Spiel. Schon 1881 heißt es in Nietzsches physiologischen
Aufzeichnungen: „Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der
Gegenreiz, der immer auch da ist" (Nachlaß, V 2, 11 (131), 387).
147
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (123), 181 f.
148
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.
149
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (22), 284f.
150
A.a.O., 37 (4), 303.
151
Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 40 (21), 370.
152
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (8), 277.
153
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (123), 182.

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218 Wolfgang Müller-Lauter

Nietzsche Roux' Ausführung von der Unvollkommenheit der ZentraÜsation


im Organismus 1881 aufgenommen, um gegen den Anspruch einer angeblich
zentral regulierten Vernunft zu polemisieren154, so betont er 1885 die Voll-
kommenheit, die durch den Wechsel der herrschenden Zentren entsteht. So
wenig wie aus der Vernunft ist das Zusammenspiel der lebenden Wesen des
Leibes aus dem sogenannten „Nerven- und Gehirnapparat" abzuleiten.
Hinter diesem mechanistischen Begriff verbirgt sich das „feine Verbindungs-
und Vermittlungs-System", welches die „Synthese" Mensch ermöglicht. Da
dieses Ermöglichende auch nicht ideologisch, z. B. als „,göttlich* constru-
irt", verstanden werden soll155, sieht sich Nietzsche im Spätsommer 1885
wieder zur Annahme grundbestimmend Befehlender bewogen, die das Leib-
ganze einschließlich des Wandels von zentralen Schwergewichtsverteilungen
und des Wechsels von Anordnung und Dienst regulieren. Er fragt, ob dem
„Zusammenspiel und Kampf" ,unserer* Vielheit nicht ,,eine Art Aristokratie
von ,Zellencc< zugrunde liegen könne. „Gewiß von pares, welche mit einander
an's Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen", fügt er hinzu, die
Vorstellung eines Hirten oder Regenten auch hierbei verwerfend,156 In Zur
Genealogie der Moral wird die formgebende Kraft und die „herrschaftliche
Rolle der höchsten Funktionäre" im Organismus gegenüber den Aktivitäten
„zweiten Ranges" hervorgehoben, welche z. B. in den inneren Anpassungs-
prozessen zur Entfaltung gelangen157.
Indem Nietzsche das Zusammenspiel der vielen lebenden Wesen im
Organismus auf die ursprüngliche Spontaneität solcher obersten Herren
zurückgeführt, entgeht er der Teleologie als Letztbegründung für die ,große
Vernunft des Leibes*. Gleichwohl kann man sagen, daß es in seinen Beschrei-
bungen der leiblichen Funktionen geradezu von teleologischen Ausdeutungen
wimmelt, — um seine Kritik an der ,Mechanik* gegen ihn selbst zu wenden.
Wenn er z. B. 1884 ausführt, daß „alle Erhaltungs-Tendenzen . . . eine Ver-
gegenwärtigung des Ganzen" einschließlich von dessen „Ziele[n], Gefahren
und Förderungen" voraussetzen, und wenn zu dieser Vergegenwärtigung
gehört, daß „das niedrigere, gehorchende Wesen . . . sich bis zu einem

154
In welchem Maße Nietzsche schon im Herbst 1880 für die im Jahre darauf erfolgte erste
Roux-Rezeption disponiert war, zeigt das Fragment 6 (70), V l, 541—543. Er beschreibt
dort „das ego . . . [als] eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese,
bald jene im Vordergrund steht als ego". „Wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl
des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist."
155
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
156
Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 40 (42), 382.
157
GM, 2.Abh., 12, VI 2, 331 f. — Nietzsche wendet sich in diesem Zusammenhang gegen
H. Spencer, der „das Leben selbst als eine immer zweckmässigere Anpassung an äussere
Umstände definirt". Er sieht darin das Wesen des Lebens verkannt, das im Willen zur
Macht beruht.

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Der Organismus als innerer Kampf 219

gewissen Grade auch die Aufgabe des höheren vorstellen können" muß158, so
können wir in solcher Prospektivität mehr finden als bloße 92weckgemäß~
heit% die ja nicht besagt, daß etwas „bezweckt" war159. Jedenfalls ist der
„tausendfältige Gehorsam", den die vielen lebendigen Intellekte innerhalb
des Leibganzen aufbringen, „kein blinder, noch weniger ein mechanischer,
sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Ge-
horsam", wie Nietzsche 1885 ausführt.160
Die Beschreibung dieser und anderer ,Zwecktätigkeitenc im Organis-
mus161 bedarf einer behutsamen Einschätzung. Nietzsche ist Anfang 1884 in
einer längeren Aufzeichnung einmal davon ausgegangen, „daß eine Zweck-
mäßigkeit im Kleinsten Geschehn herrscht", und hat die Möglichkeit
erwogen, daß sie einem „ungeheuer viel höheren und überschauenden Intel-
lekte zuzuschreiben wäre als der uns bewußte ist". Die Hypothese eines
solchen ursprünglich steuernden Zweckmäßigen „im Wirken der Natur"162
wird jedoch von ihm nicht wieder aufgenommen. 1885 hat er diese ,teleo-
logische Anfechtung* längst überwunden. Auch wenn er dann, wie wir
hörten, ein mechanisches Verständnis des Gehorchens zurückweist, so stimmt
. er mit der mechanistischen Erklärungsweise doch insofern überein, als auch
für ihn alle zweckmäßigen Bildungen dem Zwecklosen entstammen. Wie
Roux geht auch Nietzsche dabei von selektiven Prozessen aus, die sich in
Form von inneren Kämpfen vollziehen. Aber indem er die Teile des Orga-
nismus als Willen zur Macht auffaßt, können deren Bewegungen* „nicht von
außen her bedingt sein — nicht verursacht", wie er 1888 notiert. Er braucht
innere „Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich
greift . . ."163. Roux hat gegenüber Darwin zwar den inneren Kampf zur
Geltung gebracht, aber indem er ihn kausal-mechanisch analysiert, bleibt
auch er noch im ,Außenc. Die von innen her tätige Gestaltungskraft und ihre
158
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (520), 145.
159
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, a.a.O., 26 (134), 183.
160
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
161
Hingewiesen sei nur noch auf das Abschirmen unseres „gewöhnlich als einzig gedachten"
»Bewußtseins* von dem „unzählig Vielfachen in den Erlebnissen" der „vielen Bewußt-
seins", die ersterem „nur eine Auswahl" vorlegen, „dazu noch lauter vereinfachte, über-
sichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse". Dies geschieht, damit unser
scheinbar einziges Bewußtsein ,Willensakte* vorbereiten kann. „Und gerade dieselbe Opera-
tion, welche sich hier abspielt, muß sich auf allen tieferen Stufen, im Verhalten aller dieser
höheren und niederen Wesen zueinander, fortwährend abspielen: dieses selbe Auswählen
und Vorlegen von Erlebnissen, dieses Abstrahiren und Zusammendenken, dieses „Wollen"
und schließlich die „Zurückübersetzung des immer sehr unbestimmten Wollens in bestimmte
Thätigkeit". (Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 304)
162
Nachlaß Winter 1883/84, VII l, 24 (16), 695-698. - Unser Zweckesetzen könnte unter
solcher Voraussetzung vielleicht „nur eine Zeichensprache sein für etwas Wesentlich-
Anderes — nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes" (a.a.O., 697).
163
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98),* 66.

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220 Wolfgang Müller-Lauter

Wirkungsweise bleiben ihm verborgen. Wir müssen diese grundlegende


Differenz vor Auge haben, wenn Nietzsche in seiner schon eingangs heran-
gezogenen Aufzeichnung „Gegen den Darwinismus" von 1886/87 in vorder-
gründiger Übereinstimmung mit Roux schreibt, „daß die von Innen her gebil-
deten neuen Formen nicht auf einen Zweck hin geformt sind, aber daß im
Kampf der Theile eine neue Form nicht lange Ohne eine Beziehung zu einem
partiellen Nutzen stehen wird, und dann dem Gebrauche nach sich immer
vollständiger ausgestaltet".164 Die aus den Machtkämpfen entstehenden Ord-
nungen sehen zwar „einem Zweckmäßigkeits-Entwurfe ähnlich", aber es
handelt sich doch immer nur um „den Anschein einer Ordnung von Mittel
und Zweck".165 Dies gilt auch für „jenes feine Verbindungs- und Vermitt-
lungs-System", durch das „eine blitzartige schnelle Verständigung aller . . .
höheren und niederen Wesen" im Leibe geschaffen wird, „und zwar durch
lauter lebendige Vermittler". So wenig wir hierin „ein mechanistisches Pro-
blem" finden sollen166, so wenig kann es sich um ein teleologisches handeln.
Die ideologische Ausdrucksweise ist für Nietzsche ein vorläufig unentbehr-
liches Darstellungsmittel und nicht mehr167. Um das Eigentümliche seiner
Deutung der ,organischen Selbstregulierung* zur Geltung zu bringen, spricht
er 1885 davon, daß es ein moralisches Problem sei, das sich hier stelle.168
Moral muß dabei, wie es in Jenseits von Gut und Böse heißt, „als Lehre von
den Herrschafts Verhältnissen" verstanden werden, „unter denen das Phäno-
men ,Leben* entsteht". Der Leib gilt ihm demgemäß als „Gesellschaftsbau
vieler Seelen"169, d. h. lebender Intellekte.
Applizierte Nietzsche noch 1883 die mechanistische Physiologie auf die
Probleme der Moral, so dient diese nunmehr umgekehrt zur Erklärung der
physiologischen Vorgänge. Der Begriff ,Moralc ist freilich dabei so weit ge-
faßt, daß er die Sphäre menschlicher Begierden und Leidenschaften übei>
schreitet, die ja — gemäß der früher herangezogenen Ausführungen m jenseits
von Gut und Böse — das ,ModelT für alles Geschehen abgeben sollte.170 Die
jBilderrede' vom Leib als Gesellschaftsbau weist in den überindividuellen Be-

164
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII l, 7 (25), 312.
165
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (91), 50.
166
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
167
Wenn Nietzsche in JGB 13 „vor überflüssigen ideologischen Prinzipien" warnt (VI 2, 21 f.
vgl. Nachlaß VIII l, 2 (63), 87.), so meint er nicht, daß es unentbehrliche gebe, sondern
nur, daß manche ideologische , Ausdeutung* vorerst nicht, entbehrt werden könne (s. G A
XII, Aph. 628, S. 259f.). „Die anscheinende ^Zweckmäßigkeit'" ist „nur ein Ausdruck für
eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel", heißt es in einer Aufzeich-
nung vom Herbst 1887 (Nachlaß, VIII 2, 9 (91), 50).
168
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4). 303.
169
JGB 12, 19, VI 2, 21, 27.
170
S. oben S. 212f.

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Der Organismus als innerer Kampf 221

reich sozialer Organisation, — wie andere schon genannte Bestimmungen,


z. B. „Gemeinwesen", „Aristokratie". Nietzsche verwendet in solcher Rede
jedoch nicht ein anderes ,Modellc. Auch die sozialen Formationen sind für
ihn Organismen. Deshalb konnte er sich schon 1881 vornehmen, „die letzten
Organismen, deren Bildung wir sehen" — und unter diesen versteht er „Völ-
ker Staaten Gesellschaften" — „zur Belehrung über die ersten Organismen"
zu benutzen.171 Zwar konstatiert er im gleichen Jahre die Unvollkommenheit
jener letzten Organismen, wenn er sie mit den einfachsten vergleicht.172
Aber daß alles Seiende den Charakter der Organisation und damit von Herr-
schaftsordnung mit grundlegend gleichartiger Strukturiertheit aufweist, bleibt
für ihn bis zum Ende seines Schaffens außer Frage. Die Übertragung von
inneren Strukturen einer Organisationsform auf eine andere ist ein von ihm
immer wieder praktiziertes methodisches Verfahren, auf dessen Problematik
hier nicht näher eingegangen werden kann.173
Wir wollen uns zum Schluß noch eine Konsequenz aus Nietzsches Ver-
ständnis des Leibes als einer Vielheit von Willen zur Macht vor Augen
führen. Er bezeichnet „das Stärker-werden-wollen von jedem Kraftcentrum
aus" als „die einzige Realität". Aus dieser Grundtendenz heraus sind „Selbst-
bewahrung"174 und damit auch Selbstregulation und Dauerfähigkeit (um die
Bestimmungen Roux* zu nennen, an denen sich Nietzsche zeitweise orientiert
hat) nur sekundäre Phänomene. „Die Erhaltung ist nur eine Consequenz" der
ursprünglichen Kraftauslassungen, heißt es schon im Sommer—Herbst
1884.175 In den Aufzeichnungen vom Frühjahr des gleichen Jahres, kurz vor
der ersten Roux-Kritik und vor der ersten Ableitung der organischen
Prozesse aus dem Willen zur Macht, dominiert noch das Erhaltungs-
prinzip.176 1885 definiert Nietzsche „Leben" dann „als eine dauernde Form
von Prozeß der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrer-
seits ungleich wachsen"177. Im Frühjahr 1888 heißt es schließlich, „die Reichen
und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Macht-

171
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (316), 461.
172
Nachlaß Herbst 1881, a.a.O., 12 (163), 502.
173
Daß derartige ,Ubertragungen' nicht eine philosophische Willkürlichkeit Nietzsches dar-
stellen, sondern die naturwissenschaftliche Forschung auch in der Gegenwart leiten, bedarf
kaum der Erwähnung, Im Hinblick auf Roux sei aber erwähnt, daß Haeckel ihm als Titel-
ergänzung zum ,Kampf der Theile* vorschlug: „züchtendes Prinzip im Zellenstaat"
(Mocek, a.a.O., 48).
174
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (81), 53.
175
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (277), 221. - Zum Selbsterhaltungstrieb als
ideologischer Inkonsequenz Spinozas s. JGB 13, VI 2, 21 f. Im gleichen Text wird Selbst-
erhaltung als „eine der indirekten und häufigsten Folgen" des Lebens als Wille zur Macht
interpretiert.
176
S. Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (427), 120f.; (430), (432), 122f.
177
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (22), 284.

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222 Wolfgang Müller-Lauter

gefühls über weitere Bereiche als bisher: alle gesunden Funktionen haben dies
Bedürfniß, — und der ganze Organismus . . . ist ein solqher nach Wachsthurti
von Machtgefühl ringender Complex von Systemen".
Ich habe diese Stelle mit Absicht nach dem Aph. 703 der Kompilation
,Der Wille zur Macht* zitiert, um erst jetzt die Ergänzung des Textes hinzu-
zufügen, die in KGW VIII 3, S. 154* erstmalig veröffentlicht worden ist.
Nietzsche schränkt nämlich das genannte organische Machtwachstum ein auf
die Zeit „bis zum Alter der Pubertät". Den Herausgebern des ,Willen zur
Macht* muß dies als eine zumindest mißverständliche Einschränkung erschie-
nen sein, anders läßt sich die Auslassung kaum erklären. Wir knüpfen hier die
Sachfrage an: wie steht es um die Machtausweitung des Leibes nach der Pu-
bertät?
Nietzsches Antwort auf diese Frage besteht in Hinweisen auf das Phäno-
men der Zeugung. 1886/87 bezeichnet er „das Zeugen" als „die eigentliche
Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich"; er faßt die
Zeugung als „höchste Machtäußerung" aus „dem Centrum der ganzen Indivi-
duation" auf.178 Als diese ist sie freilich andererseits Ent-äußerung: das als
Herrschaftsgebilde jeweils gesonderte Leibganze gibt Macht ab zugunsten der
Entstehung eines neuen. Der Verzicht auf Macht aus Macht heraus steht aller-
dings in Widerspruch zu Nietzsches grundlegendem Verständnis der gegen-
einander kämpfenden Willen zur Macht. In dessen Konsequenz liegt viel-
mehr, wie er 1885/86 die Zeugung charakterisiert: als ,jZerfall eintretend bei
der Ohnmacht der herrschenden Zellen das Angeeignete zu organisiren" —
im Unterschied zur Ernährung als „Consequenz der unersättlichen Aneig-
nung" des Willens zur Macht179. Diese Darstellung der Zeugung ergänzt
Nietzsche in einer späteren Aufzeichnung: „Wo Ein Wille nicht ausreicht,
das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die
Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe
mit dem ursprünglichen Willen"180.
a

178
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII l, 7 (9), 303.
179
Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, VIII l, 2 (76), 94.
180
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, VIII l, 5 (64), 213, - Den für diesen Zusammenhang
herangezogenen Ausführungen Nietzsches liegt die Aufnahme von Gedanken W. H. Rolphs
zugrunde, dessen Buch Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer
rationalen Ethik (1882) er in der 2. Auflage (1884) erworben hat. Die nachstehenden Hin-
weise sollen dies in der hier gebotenen Kürze deutlich machen: 1. Rolph setzt „an die
Stelle von Darwins Hunger aus Nahrungsmangel einen ewigen Hünger aus Unersättlichkeit
in Folge von endloser Aufnahmefähigkeit" (a.a.O., 11882, 71). Nietzsche nimmt die Be-
stimmung der Unersättlichkeit auf (s.o.); sie konveniert seinem Verständnis des Willens
zur Macht, — wobei Erwähnung verdient, daß Rolph gelegentlich sowohl den Begriff des
, Willens' (a.a.O., 102) als auch den Begriff der ,Macht' (a.a.O., 133) heranzieht. - 2. Die
Unersättlichkeit der Lebewesen tendiert nach Rolph zur Einschließung von allem, was ihnen
,begegnet*, nicht nur des sie Nährenden. Bei den Amöben vollzieht sich dieses .Einschließen

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Der Organismus ab innerer Kampf 223

Derartige Ausführungen werden freilich überlagert durch einen mit


ihnen nicht ohne weiteres vereinbaren Grundgedanken Nietzsches, daß näm-
lich, wie es schon in Morgenröthe heißt, „vermittelst der Zeugung ein noch
siegreicheres Leben" vorbereitet werden könne181. „Oh meine Brüder", sagt
später Zarathustra, „ich weihe und weise euch zu einem neuen Adel: ihr sollt
mir Zeuger und Züchter werden und Säemänner der Zukunft"182. Nietzsches
Rede von der Bildung eines höheren Leibes, vom Steigen des Organischen auf
noch höhere Stufen und schließlich von der Überwindung des Menschen
gewinnt noch am ehesten Konsistenz in seinem episodischen Fragment aus
dem Winter 1883/84, in dem er eine verborgene Naturteleologie voraus-
setzt183. Diese spekulative Hypothese bleibt freilich in Nietzsches Philoso-
phie ohne Folgen. Der Gedanke, den er statt dessen von früh an bis in sein
Spätwerk hinein immer wieder aufnimmt, der Gedanke der bewußten Züch-
tung großer Einzelner, die die Menge zu ihrem „Werkzeug"184 machen
sollen, bedürfte zu seinem Verständnis wie zu seiner Kritik der Berücksichti-
gung von Denkvoraussetzungen Nietzsches, die den Rahmen der vorgetrage-
nen Überlegungen sprengen würde.

als Umfließen, z.B. von Sandpartikelchen. (A.a.O., 42, 60) — Nietzsche: „,Ernährung*
ist nur abgeleitet: das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen" (Nachlaß,
a.a.O.) — 3. Konjugation ist für Rolph „Ersatz für normale Ernährung" (a.a.O., 52,
vgl. lOOf.). Nietzsche: „Wo die Männchen aus Hunger die Weibchen aufsuchen und in
ihnen aufgehn, ist Zeugung die Folge eines Hungers." (Nachlaß Herbst 1885—Herbst 1886,
Vlil l, l (118) 34) Zweifellos im Anschluß an Rolph heißt es in JGB 36, VI 2, 51: das Pro-
blem der „Zeugung und Ernährung" sei „Ein Problem". — 4. Wenn die Grenze möglichen
Wachstums erreicht ist, tritt nach Rolph die Teilung des Protoplasmas ein; die Geteilten
beginnen ihre Arbeit von neuem (a.a.O., 58, 89ff.). Nietzsche: „Die Theilung eines Proto-
plasma in 2 tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu
bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht." (Nachlaß, a.a.O.) — 5. Nach Rolph ist alle
Fortpflanzung Teilung; geschlechtliche Fortpflanzung unterscheidet sich bei aller Differen-
ziertheit nicht grundsätzlich von der ungeschlechtlichen (a.a.O. 90; Geschlechtsorgane sind
für ihn „physiologisch Organe zur Abführung von Nahrung", a.a.O., 62). Er führt diesen
Gedanken bis zur völligen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Kopulations-
organen „als Legeröhren" durch (a.a.O., 129). Auch für Nietzsche bestehen keine grund-
legenden Unterschiede innerhalb der organischen Stufungen hinsichtlich von ,Zeugung' und
Fortpflanzung. — Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß Nietzsche den Grund-
gedanken von Rolphs Abundanztheorie in seine Darwinismus-Kritik aufgenommen hat, und
zwar in FW 5, 349, V 2, 267 („in der Natur herrscht nicht die Npthlage, sondern der
Uberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige"), sowie in GD, Streifzüge . . .,
14, VI 3, 114 („der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage,
vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung . . . Man sollte
nicht Malthus mit der Natur verwechseln"; zu letzterem vgl. Rolph, a.a.O., 71).
181
M 150, V l, 142.
182
ZaIII, 12, VI 1,250.
183
S. o. Anm. 162.
184
Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 1, 2 (76), 95.

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•f

Diskussion

Janz: Sie haben das Stichwort gegeben: Von-Innen-her. Nietzsche kam


nicht unvorbereitet an die Lektüre von Roux. Ich möchte nur auf eine
Komponente hinweisen, die unter Umständen in der Forschung weiterführen
kann. Nietzsche begegnete in Basel im Professorenkollegium Ludwig
Rütimeyer, der persönlich bei einem Kongreß in Dortmund gegen Darwin
aufgetreten ist und damals von sich reden gemacht hat. Er stammte aus einem
Emmentaler Pfarrhaus, war ein Jeremias-Gotthelf-Typ und zugleich leiden-
schaftlicher Naturwissenschaftler. Die Entwicklungstheorien hat er akzeptiert,
aber das Darwinsche Auswahlprinzip verworfen: an seine Stelle setzte er eine
Art schöpferische Idee, die von innen her wirkt. Ich glaube, wenn Sie
Rütimeyer heranziehen, könnten Sie eine weitere Quelle der Position
Nietzsches finden.

Ulmer: Das Referat hatte so viele Bezüge, daß man sich überlegen muß,
was man in der Diskussion herausgreifen soll. Ein Erstes: Unabhängig von
der inneren Entwicklung von Nietzsches Konzeption und von den Einflüssen,
die er verarbeitet hat, läßt sich fragen, welche Bedeutung dem Prinzip des
,Von-Innen-heraus* als einer philosophischen Idee von Nietzsche zukommt.
Wenn man so fragt, dann zeigt sich, daß Nietzsche hierin viele Vorgänger
hatte: der Gedanke, daß das Organische und überhaupt das Sein von innen
heraus wird, findet sich in der gesamten Überlieferung. Meiner Meinung nach
steht er vor allem bei Leibniz im Vordergrund und findet seine höchste
Ausprägung im Deutschen Idealismus. In systematischer Hinsicht gehörte
Nietzsche daher dieser Linie an.
Ein Zweites: Sie haben gezeigt, wie bei Nietzsche der Begriff des Willens
zur Macht in seiner Anwendung auf den inneren Organismus sich wandelt
und er gleichsam immer komplexer und differenzierter wird. Das ist sehr
beeindruckend, weil diese Differenzierung mit Erkenntnissen der moderen
Molekularbiologie übereinstimmen würde. Ich frage mich nur, wie man dann
gleichzeitig diesen Grundbegriff des Willens zur Macht — als Willen zu
immer mehr Macht — festhalten kann, der ja nicht nur das Innere, sondern
auch das Verhältnis nach außen betrifft. Da scheinen mir ein Bruch oder
wenigstens Schwierigkeiten in seiner Konzeption aufzutreten. Denn wenn
Nietzsche den Organismus so weit ausdeutet, daß jedes Teilchen in ihm
selbständig ist, sich aber andererseits völlig einfügt, gewissermaßen freiwillig

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Diskussion 225

gehorcht, was ja nicht dasselbe ist wie in Dienst genommen werden, unter-
worfen worden zu sein, — so finden wir doch hier Momente, die nicht in den
Grundzug der Steigerung der Macht passen.

Müller-Lauter: Daß Nietzsches Prinzip des Von-Innen-her bedeutende


historische Vorgänger hat, ist unbestreitbar. Herrn Ulmers Hinweise auf
Leibniz und den Deutschen Idealismus verdienen Beachtung, wobei
besonders den indirekten, durch mancherlei verdeckte Vermittlungen wirk-
sam werdenden Leibniz-Einflüssen nachzufragen wäre. Jedenfalls denkt
Nietzsche in der Tat schon vom Prinzip des Von-Innen-her, als er die Roux-
Lektüre aufnimmt. Nicht etwa gewinnt er es erst durch Roux. Aber es
ergeben sich für ihn neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Betrachtungsweise
durch die Kenntnisnahme von Roux3 Buch.
Zu dem Zweiten, was Herr Ulmer sagte: Das ist das zentrale Problem,
auf das meine Ausführungen am Schluß auch hinausliefen. Es ist in der Tat
so, daß Nietzsches Schilderungen vom feinen Zusammenspiel der Teile im
Organismus mit dem Interpretationsschema von Machtsteigerung in einer
Spannung stehen. Soweit ich sehe, lassen sich die auf Erhaltung eines
ausgebildeten Organismus abzielenden Tendenzen nicht aus dem Grundzug
von Machtsteigerung ableiten, der allen Teilchen eigen sein soll. Deshalb ist
es wohl auch kein Zufall, daß diejenigen Nietzsche-Interpreten, die das
Sich-selbst-Ubersteigern des Willens zur Macht hervorheben, Nietzsches
Philosophie des Organischen beiseite lassen oder — wie Heidegger — als
zeitgebundenen jBiologismus* abtun. Während dementgegen ein Medizin-
historiker wie Heinrich Schipperges, der die Leibharmonie und das Diäte-
tische bei Nietzsche herausarbeitet, nur wenig mit den Lehren vom Willen
zur Macht und vom Übermenschen anfangen kann. — Mein Hinweis auf die
gegensätzlichen Deutungen der Zeugung durch Nietzsche, bei denen man
freilich die naturwissenschaftlichen Einflüsse berücksichtigen müßte, sollte
die Problematik zuspitzen. Entweder ist Zeugung höchste Machtäußerung
aus dem Machtzentrum heraus oder Ohnmacht eines Individuums, Zerfall.
Nietzsche sagt beides. Vermitteln ließe sich das nur, wenn man sagte,
Machtsteigerung führt'notwendig zur Ohnmacht.

Gilman: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war das holistische Konzept
des Organischen nicht mehr nur eine bloße Metapher, sondern begann, in der
Wissenschaft praktische Anwendung zu finden. Es waren aber nicht nur die
Naturwissenschaften, die diesen Typus universaler Struktur suchten. Zu
erwähnen wäre das neu entstehende Gebiet der Soziologie und Beiträge
hierzu von Denkern wie Tönnies. Nietzsches Reaktion auf diese Art des
Denkens hatte jedoch ihre Wurzel* in seiner Lektüre populärwissenschaft-

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226 Wolfgang Müller-Lauter

lieber Werke über die „neue Biologie". Eine solche Struktur findet sich
natürlich bei Darwin und als Resultat bei Spencer, ^ber auch in der mehr
programmatischen Arbeit, die von Bateson über biologische Symmetrie
geleistet wurde.

Pestalozzi: Wenn Herr Ulmer auf die Tradition hinweist, so denke ich
als Mittelglied auch an den Genfer Naturphilosophen Charles Bonnet, bei
dem dieses „Von-Innen-heraus" auch in den Naturwissenschaften erscheint,
als Lehre vom Keim. Von Bonnet stammt auch der Begriff des „organischen
Ganzen". Als Eindeutschung von „le tout organique" kommt er zum
erstenmal in Lavaters Bonnet-Übersetzung vor und kann dann über Goethe
zu Nietzsche weitergereicht worden sein. Aber es ist nicht nur diese
Bestimmung, die dahin zurückweist, sondern auch Nietzsches merkwürdiges
Analogiedenken. Es ist mir aufgefallen, daß Nietzsche eigentlich das natur-
wissenschaftliche Denken von Roux in ein archaisches Denken ummünzt.
Was er zunächst offenbar unter dem Vorbehalt der Bildlichkeit aufgreift,
nimmt er dann mehr und mehr beim Wort. Es scheint sich mir hier nicht nur
um ein experimentierendes, sondern auch um ein dilettierendes Denken zu
handeln. Wenn der Leib mit der Gesellschaft verglichen wird und das eine aus
dem anderen erhellt wird, so scheint mir hier ein dichterisches Denken an
einem Platz vorzuliegen, an den es eigentlich um 1880 nicht mehr gehört.
1760 war das noch etwas anderes.

Biser: Die Diskussion geht auf die Problematik der Übertragbarkeit von
sozialen Modellen auf die Vorgänge im Organismus zu. In diesem Zusammen-
hang war mir eine sprachtheoretische Bemerkung sehr interessant, die Sie
ganz am Anfang gemacht haben, Herr Müller-Lauter, und zwar aus der
Morgenröte, wo Nietzsche selbst die Möglichkeit problematisiert, die Affekt-
sprache auf den physiologischen Bereich zu übertragen, und wo er zur
Konklusion kommt, daß keine direkte Übertragung möglich sei. Ich möchte
zu erwägen geben, ob man diese Problematisierung nicht als Vorzeichen vor
das Spätere setzen könnte; denn offensichtlich ist sie von Nietzsche nie
, widerrufen worden. Seine sprachkritische Bemerkung bleibt eigentlich stehen
für den ganzen Komplex, wie er entwickelt worden ist. Man könnte daher
sagen, daß die Übertragung des Willens zur Macht und des .Organismus-
Modells auf den konkreten realen Organismus zwar durchgehend in den
Nachlaß-Notizen erfolgt, aber vorbehaltlich dessen, was sprachtheoretisch in
der Zeit der Morgenröte ausgesprochen wurde, so daß man das affirmativ
Ausgeführte mit Einschränkungen zur Kenntnis nehmen könnte.

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Diskussion 227

Heller: Wenn der Wille zur Macht das Anorganische ist, auch das
Organische, das Soziale, wie das Individuelle, das Kranke, wie auch
Ausdruck des Gesunden, das Vornehme und das Unvornehme, schließlich ein
Ausdruck der Wille-zur-Macht-Hypothese selbst, da es ja nichts außerdem
gibt, — so frage ich mich, ob diese Hypothese nicht zu jenen gehört, die alles
begreifen und alles erklären wollen, im Grunde aber nichts erklären.

Ulmer: Zu Herrn Hellers Ausführungen, daß, wenn alles Wille zur


Macht ist, ja alles erklärt und damit nichts mehr erklärt sei, möchte ich sagen,
daß die Philosophie, wenn sie solche Grundthesen aufstellt — und das war ja
bisher immer die Aufgabe der Philosophie, und ich würde meinen, sie bleibt
es auch, aber das ist jetzt eine andere Frage — nicht etwas erklären will,
sondern etwas deuten will, was faktisch da ist.

Heller: Wird etwas gedeutet, wenn divergente Bereiche des Seins,


zwischen denen gewaltige Unterschiede bestehen, in dieser Weise analogisch
auf einen Nenner gebracht werden, der sich auch nicht als produktiv etwa in
der Erklärung anorganischer oder spezifischer Vorgänge erweist? Übt ein
solcher Begriff dann nicht eine Pseudofunktion aus ?

Ulmer: Wir müßten dann über die Frage sprechen, wann etwas produktiv
ist und in welchem Sinne, — auch darüber, ob produktive Erklärung in Ihrem
Sinne, Herr Heller, ein Kriterium für Philosophie ist. Aber das würde hier zu
weit führen.

Behler: Es handelt sich um sehr kompakte, apodiktische naturwissen-


schaftliche Thesen, die Sie entwickelt haben, Herr Müller-Lauter. Wie
verhalten sich diese nun zu der jedenfalls in einem Teil seiner Schriften
vorherrschenden skeptischen Haltung Nietzsches, zu seiner Wissenschafts-
kritik, zu seinem Postulat des PerspektivimuSj seinem Verbot, apodiktische
wissenschaftliche, naturwissenschaftliche Thesen aufzustellen, sich vielmehr
an Hypothesen zu halten, eher ein experimentierendes Denken als ein
apodiktisches Denken zu treiben? Mir fiel auf, das die meisten Zitate, auf die
Sie sich stützten, und der Großteil der Dokumentation, die Sie uns
vorführten, aus den Nachlaß-Schriften stammt. Ich frage mich, ob es nicht
ein Gebot der Textkritik und der Textinterpretation ist, sehr scharf zu unter-
scheiden zwischen dem, was veröffentlicht ist und dem, was privat aufgezeich-
net wurde. Bei dem privat Aufgezeichneten, so apodiktisch es auch klingen
mag, kann es sich ja durchaus um experimentierendes Denken handeln, das
Nietzsche — wenn er es endgültig formuliert und für die Veröffentlichung
vorbereitet hätte — dann wieder in Hypothesen gekleidet hätte.

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22 8 Wotfgang Müller-Lauter

Müller-Lauter: Nietzsches Perspektivismus und seine Lehre vom Kampf


der Willen zur Macht widersprechen sich nicht.' Man muß von der
Pluralität der Willen zur Macht ausgehen, jeder Wille zur Macht ist perspek-
tivensetzend, wir finden bei Nietzsche ein Gegeneinander von Perspektiven.
Zum Perspektivischen gehört ein Schätzen, eine Geistigkeit, die Nietzsche
1883 sogar den anorganischen Seienden zuspricht.
Dann möchte ich gegenüber Herrn Heller sagen, daß Nietzsches
umfassende Darstellung aller Vorgänge in der Welt unter dem Aspekt des
Machtwollens folgende Eigentümlichkeit gegenüber naturwissenschaflichen
Theoremen und Theorien anderer An hat: sie meint gerade nicht, irgendeinen
gesetzmäßigen Zusammenhang herausstellen zu können, sondern sucht
überall Gegenbewegungen innerhalb einer nicht faßbaren Vielheit von
Bewegungszentren aufzuzeigen und gleichwohl doch die Notwendigkeit aller
Geschehensabläufe beizubehalten. Notwendigkeit ist für Nietzsche eben
nicht Naturgesetzmäßigkeit, sie wird nur durch Machtverhältnisse konstituiert.
Sie haben natürlich recht, Herr Behler, wenn Sie darauf hinweisen, daß*
wenn man diesen Fragen — Nietzsches Beschäftigung mit zeitgenössischen
naturwissenschaftlichen Strömungen — nachgeht, man sehr weitgehend auf
den Nachlaß zurückgreifen muß. Andererseits ist es so, daß etwa im Aph. 36
von Jenseits von Gut und Böse das Wirken von Wille auf Wille schon, wenn
auch mit sehr viel Vorsicht —

Behler: Da heißt es: „Gesetzt, daß es gelänge —, so hätte man sich das
Recht verschafft", und so weiter.

Müller-Lauter: Mit der Zwischenbemerkung, daß alle Verzweigungen


der Triebe auf den Willen zur Macht zurückzuführen sind. Und in diesem
Zusammenhang schreibt Nietzsche ohne jeden Vorbehalt, daß dies sein Satz
sei. Das heißt, inmitten der hypothetischen Formulierungen fihdet sich doch
die ,Apodiktizität*. Heftrich hat m. E. zurecht bemerkt, daß die Parenthese —
,dies ist mein Satz* — die hypothetische Durchführung des Aphorismus
gewissermaßen aufhebt. Demgegenüber sieht Schlechta nur die Hypothesen.
Er kann daher den Aphorismus für sein Anliegen heranziehen, die Proble-
matik des Willens zur Macht abzuwerten, da sie im veröffentlichten Werk eine
relativ geringe und problematisch bleibende Rolle spiele.
Zum Nietzsche-Nachlaß überhaupt. Man wird nicht darum herum-
kommen, ihn immer wieder, freilich von Fall zu Fall unter besonderen
Voraussetzungen, heranzuziehen. Vieles von dem, was Nietzsche veröffentlicht
hat, bleibt unzureichend verständlich ohne den Hintergrund dessen, was im
Nachlaß breiter ausgeführt wird.

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Diskussion 229

Bebler: Ich bin durchaus nicht für eine Ausschließung des Nachlasses.
Ich bin nur für eine Berücksichtigung des Nachlasses cum grano salis. So habe
ich in der Friedrich Schlegel-Ausgabe einen scharfen Schnitt zwischen den
veröffentlichten Schriften und dem Nachlaß gemacht, um von vornherein auf
den unterschiedlichen Wen der Aussagen aufmerksam zu machen.

Ulmer: Bei Nietzsche handelt es sich nicht um Nachlaß im üblichen


Sinn. Was zwischen 1884 und 1888 entsteht und nicht in eine der Schriften
von Jenseits bis Ecce homo eingeht, läßt Nietzsche liegen, weil er an einem
Hauptwerk arbeitet, Pläne dazu macht und Material dazu sammelt. Er führt
einen konsequenten Gedankengang immer weiter. Der Nachlaß steht nicht
neben dem Werk, als Beiwerk, sondern ist Vorbereitung zu einem Werk.
Recht gebe ich Ihnen hinsichtlich der Formulierungen: Es sind noch keine
Aphorismen, wie er sie publiziert hat, die wir finden; sondern es sind
Entwürfe, Niederschriften von Gedanken —

Bebler: — die apodiktischer klingen, als sie gemeint sind.

Ulmer: Aber sie hängen innerlich zusammen, auch wenn man sie nicht
endgültig systematisch ordnen kann. Jedenfalls hat Nietzsches Nachlaß ein
anderes Gewicht als sonst ein Nachlaß.

Kaufmann: Erstens begrüße ich sehr die eingehende Beschäftigung mit


dem, was frühere Generationen als Nietzsches Physiologismus einfach
abgewertet haben und was sie nicht mehr interessiert hat. Dann stimme ich
mit dem, was Herr Behler gesagt hat, überein. Man muß doch sehr deutlich
unterscheiden zwischen dem, was Nachlaß und was veröffentlichtes Werk ist.
Die Form von Nietzsches späten Werken, vor allem der Götzendämmerung,
aber auch die Art, wie andere Spätschriften, Ecce homo z. B., gestaltet sind,
hätte es Nietzsche sehr leicht gemacht, Aufzeichnungen aus dem Nachlaß noch
besser zu formulieren und aufzunehmen. Die Frage stellt sich, und zwar um so
schärfer, je interessanter die Aufzeichnungen im Nächlaß sind, warum sie
nicht in die späten Werke Eingang gefunden haben. Ich habe den Eindruck—
es ist nur ein Eindruck, man kann es nicht beweisen —, daß er selbst mit den
Problemlösungen, die er hier versucht hatte, nicht ganz ins reine gekommen
war und das Material darum zurückgehalten hat. Das bedeutet nicht, daß ich
sage, man soll den Nachlaß nicht berücksichtigen. Man muß ihn immer .wieder
lesen, wenn man Nietzsche gut verstehen will, aber man muß das Experi-
mentelle dabei im Blick haben. Nietzsche macht verschiedene .Versuche mit
der Wissenschaft der Physiologie. Mir scheint es so, als ob er gerade diesen
Dingen gegenüber einen sehr offenfen Sinn hatte. Ich sehe eine gewisse

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230 Wolfgang Müller-Lauter

Parallele, mit der manche vielleicht hier nicht übereinstimmen, zu Freud, der
auch große Hoffnungen auf die Physiologie gesetzt, abfer auch ihre Grenzen
gesehen hat. Immerhin ist es ungewöhnlich für einen deutschen Philosophen,
daß er, anders als die idealistische Tradition und anders als beispielsweise
später Heidegger, sich nicht den Naturwissenschaften gegenüber feindlich
stellt, sondern daß er hofft, daß sie zur Klärung von ganz wesentlichen
Problemen beitragen werden."

Janz: Wir müssen auch daran denken, daß die Behandlung der Natur-
wissenschaften für Nietzsche eine unglückliche Liebe war. Er wollte ja nach
seinem Abschluß in Leipzig nach Paris gehen und mit Rohde zusammen
Naturwissenschaften studieren, da platzte die Basler Professur dazwischen.
Später wollte er das nachholen. Er hat auch in seinen Briefen immer wieder
seinen Mangel in der Kenntnis der Naturwissenschaften bedauert. Darin
stimme ich mit Ihnen, Herr Kaufmann, überein, daß hieraus immer wieder
eine gewisse Unsicherheit resultiert. Diese Unsicherheit seinern Werk gegen-
über kommt übrigens oft zum Ausdruck. So hat er mit einer furchtbaren Scheu
den ersten Teil des Zarathustra herausgegeben, und wenn nicht Peter Gast dar-
auf so jubelnd reagiert hätte, hätte er das Buch vielleicht überhaupt nicht heraus-
gebracht. Es ist durchaus möglich, daß er mit diesem Zweifel behaftet auch
den hier diskutierten Nachlaß zurückgehalten hat, mit dem Hinblick darauf,
daß seiner Philosophie die naturwissenschaftliche Basis fehlte.

Ulmer: Ich möchte auf einige Bemerkungen eingehen, die von Herrn
Kaufmann, aber auch von anderen kamen. Zunächst, Herr Kaufmann, wun-
dert es mich, daß Sie sagen, daß die deutsche Philosophie, insbesondere der
deutsche Idealismus, die Naturwissenschäften zu wenig als wesentlich ange-
sehen hat und daß Nietzsche hier eine Ausnahmestellung einnimmt. Es mag
eine Banalität sein, wenn ich auf Schelling verweise, wenn ich sage, daß die
Naturwissenschaften in vielen Phasen der deutschen Philosophie eine wesent-
liche Rolle gespielt haben, — Sie schütteln mit dem Kopf, Herr Kaufmann,
aber Sie müssen den Entwicklungsstand der Naturwissenschaft zur Zeit
Schellings bedenken. Schelling befand sich durchaus auf dem Stand der dama-
ligen Naturwissenschaft. Zur Frage der Leiblichkeit sollten Sie an die
„Hegeische Philosophie des Geistes" in der Großen Enzyklopädie denken, an
die erste Abteilung A. Die Anthropologie, wo ja schon in einer Weise, wie
das vorher nie geschehen ist, die Leiblichkeit in die Interpretation des
Geistigen mit hineingenommen wird. Da finden wir schon sehr weitgehende
Ausführungen, da würde ich Nietzsche nicht als so neuartig ansehen, auch
wenn er hier entscheidende Schritte weitergeht.

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Diskussion 231

Nun noch zur Frage des Nachlasses. Wir wissen doch alle, daß Nietzsche
daran gedacht und vor seinem Zusammenbruch auch damit begonnen hat,
seinen letzten Plan auszuführen: die Umwertung aller Werte in vier Teilen.
Der erste ist der Antichrist, der zwar später erscheint, aber von Nietzsche
schon druckfertig gemacht worden war. Es besteht kein Zweifel, daß er das,
was er bisher an Material gesammelt hatte, dort mit einbringen wollte, es teil-
weise auch in den Antichrist schon mit eingebracht hat. Deswegen ist es nicht
in die von ihm zuvor veröffentlichten Aphorismen-Bände eingegangen. Also
ich würde nicht sagen, daß das Material nur deswegen nicht publiziert wurde,
weil er damit noch nicht zufrieden war. Die anderen drei Teile von Nietzsches
geplantem Hauptwerk konnten eben einfach nicht mehr ausgeführt werden.

Kaufmann: Was interessant ist, ist meiner Ansicht nach Nietzsches —


man kann beinahe sagen — Demut gegenüber den Naturwissenschaften,
gegenüber der Physiologie im ganz besonderen. Bei Nietzsche ist im allge-
meinen eine derartige Bescheidenheit durchaus nicht charakteristisch. Er er-
wartet aus der Richtung der Naturwissenschaften Großes. Das scheint mir —
und damit wende ich mich gegen Herrn Ulmer — eine ganz andere Einstel-
lung den Naturwissenschaften gegenüber zu sein als die Hegels und die Schel-
lings, die das Gefühl haben, daß die Philosophie den Naturwissenschaften
weit überlegen ist, sie aus sich entfaltet, konstruiert und so weiter.
Über den Nachlaß zweierlei: Erstens: man vergleiche, was im Nachlaß
über das Christentum und die damit zusammenhängenden Fragen steht, mit
dem Antichrist. Dann muß man doch davon beeindruckt sein, was da ent-
standen ist: ein sehr geschliffenes Werk, das meiner Ansicht nach keineswegs
nur aus Nachlaßnotizen besteht. Es steht sehr viel darin, was im Nachlaß
nicht zu finden ist und vice versa. Und zweitens ist es doch immerhin ein
Tatbestand, an dem man nicht vorbeikommt, daß er zur gleichen Zeit andere
Gegenstände bearbeitet hat. Seine Gedanken über Wissenschaftstheorie und
Erkenntnistheorie waren nicht in einem Zustand, die es ihm erlaubten, sie
auch noch zu Ende zu führen oder auch nur in Arbeit zu nehmen. Daher bin
ich davon überzeugt, daß er iri diesen Fragen über Hypothesen und Experi-
mente nicht hinausgekommen ist.

Salaquarda: Zu der Diskussion über den Nachlaß und darüber, daß sich
Nietzsches Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften vorwiegend im
Nachlaß findet, möchte ich Folgendes bemerken: Im Vortrag ist eine Proble-
matik angedeutet worden, die man mitberücksichtigen muß: wenn Nietzsche
in veröffentlichten Werken, wie etwa Götzendämmerung, Jenseits, aber auch
Ecce homo, Bemerkungen zu bestimmten Themen macht, z. B. zum Darwi-
nismus oder zum Willen zur Macht, dann sind offenbar die Ergebnisse seiner

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232 Wolfgang Müller-Lauter

naturwissenschaftlichen Studien und Überlegungen mit eingeflossen. Die


Ausarbeitung solcher Studien und Überlegungen .dient .cjaher auch dem Ver-
ständnis des veröffentlichten Werks. Was hat man z.B. im Fall der schroffen
Zurückweisung des Darwinismus herumgerätselt — in vielen Punkten stimmt
Nietzsche doch mit Darwin überein, warum diese heftige Polemik? Natürlich
kommt dem Nachlaß, besonders dann, wenn es sich um Exzerpte oder Para-
phrasen handelt, nicht die Dignität eines veröffentlichten Werkes zu, aber im
veröffentlichten Werk würden ohne ihn sozusagen Bätseiblöcke stehen blei-
ben, und so war es auch tatsächlich, solange das Material nicht so erschlossen
war, wie es inzwischen allmählich durch die Kritische Gesamtausgabe er-
schlossen ist.
Etwas anderes: Sie sind, Herr Müller-Lauter, auf die Problematik einge-
gangen, d^ß Nietzsche Idealismus und Materialismus einander wechselseitig
kritisieren läßt. So setzt er einerseits die ideologische Methode gegen die
mechanistische, andererseits wieder die mechanistische gegen die ideolo-
gische. Dies ist eine Denkfigur, die bei Nietzsche schon sehr frühzeitig vor-
kommt. Ich habe verschiedentlich gefunden, daß er an Schopenhauers Kritik
des Materialismus anknüpft, aber andererseits hat er keineswegs Schopen-
hauers ,idealistische Grundposition', die diese Materialismus-Kritik trägt,
übernommen. Dies ist eine Art konkretes Beispiel für Nietzsches Perspekti-
vismus, daß er also durchaus eine Position gegen die andere setzt, ohne sich
mit dem Hintergrund, der seine jeweilige Kritik trägt, voll zu identifizieren.
Schließlich habe ich noch eine Frage zu einer Stelle, die Sie zweimal
zitiert haben,, an der Nietzsche schreibt, es könnte eine ungeheuer viel höhere
Intelligenz als die uns bewußte geben. Wenn ich Sie recht verstanden habe,
haben Sie diese Äußerung Nietzsches tendenziell als Hypothese einer Art
Weltvernunft oder eines Pantheismus gedeutet. Meine Frage: Ließe sich das
nicht viel mehr im Sinne von Nietzsche deuten, wenn man die ,höhere Intel-
ligenzc als die große Vernunft des Leibes versteht, die uns — d. h. der kleinen
Vernunft des Geistes — nicht bewußt ist? Daß sie uns nicht*bewußt ist,
könnte ja heißen: sie ist zwar nicht mit unserem bewußten Denken identisch,
aber sie transzendiert keineswegs unseren Leib, den Bereich unseres Leibes.

Müller-Lauter: Hinsichtlich Ihrer ersten beiden Ausführungen stimme


ich Ihnen voll zu. Auf Ihre Frage am Schluß will ich ganz kurz antworten. Sie
gehen damit auf einen auch mir sehr wichtigen Punkt ein, Herr Salaquarda.
Ich bezog mich auf ein längeres Fragment von 1883 oder 1884 aus Band VII l
der KG W. In diesem Fragment spricht Nietzsche von der zweckmäßigen
Tätigkeit eines höheren überschauenden Intellekts im Wirken der Natur, die
versuchsweise als eine steuernde jUbervemunft* aufgefaßt wird, welche uns
unbewußt bleibt. Sie ist nicht identisch mit der ,großen Vernunft' unseres

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Diskussion 233

Leibes. Die wird ,transzendiert', um Ihren Ausdruck aufzunehmen, insofern


das Naturwirken den Menschen überwinden soll. Freilich geht es in solcher
Naturteleologie um die Bildung höherer Weisen von Leiblichkeit. Insofern
verläßt Nietzsche den Bereich nicht, von dem Sie gesprochen haben.

Behler: Nur ein Satz, Herr Müller-Lauter und Herr Salaquarda, zur Klä-
rung meiner These über den Nachlaß. Ich möchte den Nachlaß keineswegs in
seiner Bedeutung abwerten, sondern lediglich, und damit renne ich offen-
sichtlich offene Türen ein, die Andersartigkeit der Nachlaßschriften unter-
streichen, die ihre besondere Bedeutung haben, und auch ganz neue Dimen-
sionen Nietzsches eröffnen können. Darin lag ja schließlich das Interessante
dieses Vertrages, daß die Dimension des naturwissenschaftlichen Denkens
Nietzsches auf gewiesen wurde, selbst wenn es sich dabei um eine Liebe han-
delte, die keine volle Erfüllung gefunden hat.

Salaquarda: Noch eine Bemerkung zum ,Hauptwerkc von dem Herr


Ulmer gesprochen hat. Herr Montinari hat sich im Zuge der Arbeiten zu der
Kritischen Gesamtausgabe um diese Problematik intensiv bemüht. Er ist zu
dem Ergebnis gekommen, daß Nietzsche letzten Endes, d. h. in den Wochen
vor seinem geistigen Zusammenbruch, den Plan des Hauptwerks aufgegeben
hat, Antichrist ist also zuletzt nicht mehr das erste Buch der Umwertung aller
Werte, sondern nach Nietzsches letztem Plan ein selbständiges Buch. Vgl.
dazu Montinaris Aufsatz Ein neuer Abschnitt in Nietzsches ,Ecce homo' aus
dem Band l der Nietzsche-Studien.

Müller-Lauter: Zu ein paar Punkten möchte ich noch Stellung nehmen.


Vielleicht beginne ich damit, daß ich Ihnen sage, weshalb ich ein solches
Interesse an der Roux-Lektüre Nietzsches genommen habe. Dazu muß ich
weit ausholen. Es ist ja so, daß in der deutschen Nietzsche-Rezeption die
Lehre vom Willen zur Macht eine entscheidende Rolle gespielt hat. Sie ist
zunächst geprägt worden dadurch, daß man Nietzsche als denjenigen verr
stand, der Schopenhauers Willensbegriff umwandelte. Demzufolge hat man
vom Willen zur Macht als einem metaphysischen Grundprinzip gesprochen.
Das hat sich dann bis zu Heideggers Nietzsche-Deutung hin fortgesetzt. Dies
erschien mir immer als sehr problematisch. Einmal, um etwas Äußerliches zu
nennen, weil Nietzsche viel häufiger von den Willen zur Macht, also im Plu-
ral, spricht als von dem Willen zur Macht. Zweitens, und das begründet den
genannten Sprachgebrauch, weil er in der Ausarbeitung des Willens zur
Macht immer den Gegensatz eines anderen Willens zur Macht, der über-
wunden werden muß, voraussetzt.

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234 Wolfgang Müller-Lauter

In früheren Arbeiten bin ich Nietzsches Gedanken des Gegeneinander


der Machtwillen nachgegangen, und zwar sowohl hinsichtlich seiner An-
wendbarkeit auf die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche als auch hinsichtlich
seiner Bedeutung für andere grundlegende .Bestimmungen im späten Werk
Nietzsches, vor allem für seine Lehren vom Übermenschen und von der
ewigen Wiederkunft. Es erwies sich dabei als möglich, die Konsistenz, die
innere Geschlossenheit des Denkens Nietzsches herauszuarbeiten. Vom Inter-
pretationscharakter der Willen zur Macht her ließ sich schließlich Nietzsches
Philosophie als Interpretation des Interpretierens begreifen, die ihr eigenes
Vorgehen sich durchsichtig macht. Jaspers' Gedanke, Nietzsches Denken als
Auslegen des Auslegens aufzufassen, konnte über seine wesentlichen Ansätze
hinaus weitergeführt werden. M.E. läßt sich ein ganzheitlicher Zusammen-
hang von Nietzsches Spätphilosophie nur gewinnen, wenn man den Nachlaß
in größerem Maße einbezieht, als dies bei anderen Autoren angebracht wäre.
Über das Für und Wider solchen Verfahrens haben wir ansatzweise disku-
tiert. Nach meiner Auffassung ist es nicht nur eine legitime, sondern auch
eine notwendige philosophische Aufgabe, der inneren Stringenz des Denkens
Nietzsches nachzufragen, selbst wenn man dabei fragmentarische Notizen aus
dem Nachlaß in einem sonst ungewöhnlichen Maße heranzieht und in Be-
ziehung zueinander setzt. Man wird also, gerade wenn man Nietzsche als
Philosophen ernst nehmen will, ,konstruierenc müssen, dies freilich mit Be-
hutsamkeit und in strenger Orientierung an dem, was er aufgezeichnet hat.
Was hat das alles mit Nietzsches Roux-Lektüre zu tun? Meine Bemü-
hungen um eine immanente Darstellung der Lehre vom Willen zur Macht
stießen auf Grenzen. Bestimmte Begriffe, die Nietzsche offensichtlich wesent-
lich waren, da er sie häufig verwendet, blieben dunkel. Ich nenne jetzt nur, als
Beispiel, die Begriffe Kraftauslösung und Explosion. Die Bedeutung solcher
wie anderer Bestimmungen ist nur zu klären, wenn man auf Nietzsches
naturwissenschaftliche Studien rekurriert. Indem ich diesen Studien nachging,
stieß ich auch auf Roiix. Der Kampf der Tbeile im Organismus hat, wie ich
meine, Nietzsches Überlegungen zum Kampf der Willen zur Macht wesent-
lich beeinflußt. Diesem Einfluß nachzugehen, schien mir für die Entwick-
lungsgeschichte seines Denkens wichtig zu sein.
Noch ein Wort zum Niederschlag, den Nietzsches Lektüre naturwissen-
schaftlicher Schriften in seinem veröffentlichten Werk gefunden hat. Es ist
durchaus nicht so, daß er die Ergebnisse seiner Studien gänzlich zurückge-
halten hat. Nietzsche verstand sich — trotz all seiner Klagen über die ihm feh-
lenden Sach- und Fachkenntnisse — durchaus nicht als unzuständiger Dilet-
tant auf diesem Gebiet. Deshalb hat er sich auch so entschieden über den
Darwinismus äußern können, um an das von Herrn Salaquarda genannte
Thema anzuknüpfen. Der wichtigste Aspekt von Nietzsches Darwinismus-

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Diskussion 235

Kritik nimmt seinen Ausgang von dem Gedanken, die Entwicklungen in der
Natur seien nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß her abzuleiten. Er hat
dies im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und in Götzen-Dämmerung aus-
geführt, in Ausführungen, die W. H. Rolphs Abundanztheorie entlehnt sind,
ohne daß er diese Quelle nennt; ich werde darauf in einer Anmerkung zur
Druckfassung des Vortrags eingehen. Voll verständlich wird Nietzsches
Argumentation jedenfalls nur, wenn man seine Rolph-Lektüre berücksichtigt.
Das gilt übrigens auch für seine Ausführungen zur Zeugung. Ich muß es hier
und jetzt bei diesem Beispiel bewenden lassen.

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