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Vorbemerkung
1
EH, KGW VI 3, 323. (Im folgenden werden unter Weglassung der Sigel KG W Band-, Apho-
rismen- und Seitenzahlen nach dieser Ausgabe angegeben.) — Vgl. a.a.O., 281: „. . . die
Unwissenheit in physiologicis — der verfluchte , Idealismus* — ist das eigentliche Verhäng-
niss in meinem Leben, das Überflüssige und Dumme darin, Etwas, aus dem nichts Gutes
gewachsen, für das es keine Ausgleichung, keine Gegenrechnung giebt. Aus den Folgen
dieses Idealismus' erkläre ich mir alle Fehlgriffe, alle grossen Instinkt-Abirrungen und »Be-
scheidenheiten' abseits der Aufgabe meines Lebens, zum Beispiel, dass ich Philologe
wurde — warum zum Mindesten nicht Arzt oder sonst irgend etwas Augen-Aufschlies-
sendes?".
2
S. A. Mittasch, F. Nietzsches Naturbeflissenheit, 1950, 7. - Vgl. K. Schlechta, Nachwort zu
F. Nietzsche, Werke, III, 1444: „Ich halte es für erlaubt, einiges von diesem Geständnis der
dem ,Ecce homo* eigentümlichen Koketterie zu Lasten zu schreiben. Aber in bezug auf die
radikale Wendung der Richtung seines Hauptinteresses sagt Nietzsche zweifellos die volle
Wahrheit."
I
In einer Aufzeichnung über den Darwinismus, die 1886/1887 entstanden
ist, wendet sich Nietzsche gegen die Überschätzung des Einflusses der „äuße-
ren Umstände" bei der Organbildung; sie sei von Darwin „ins Unsinnige"
getrieben worden. Nietzsche hält dem entgegen: „das Wesentliche am Le-
bensprozeß ist gerade die ungeheure gestaltende, von Innen her formschaf-
fende Gewalt, welche die ,äußeren Umstände" ausnützt, ausbeutet".8 Daß
Gestaltung aus dem Inneren erfolgt, ist ein Grundmotiv von Nietzsches
Denken. Wir treffen es schon in seinen frühen Schriften an und können es bis
zur Herausarbeitung von Bewegungszentren als Willen zur Macht im Spät-
werk verfolgen.9 Für die verschiedensten Weisen und Abstufungen von Orga-
nisation gilt dieses Von-Innen-her: in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung
erscheint es als plastische Kraft des Menschen, die gegenüber dem Andrang der
6
Auf eine elementare Sachunkundigkeit Nietzsches in der Chemie verweist Mittasch in Nietz-
sches Naturbeflissenheit. Er zieht eine Aufzeichnung aus dem Nachlaß Frühjähr ^-Herbst
1881, 11 (149), V 2, 397, heran. Wenn Nietzsche dort - offensichtlich im Hinblick auf die
Zusammensetzung des Wassers — von 9 Teilen Sauerstoff zu 11 Teilen Wasserstoff spricht,
so könnte dabei „ein Abschreibfehler gegenüber Schopenhauers Angabe vorliegen, der von
,1 Atom Hydrpgen und 9 Atomen Oxygen* geredet hatte . . . (In Wahrheit 8 Gewichts-
teile Sauerstoff und l Gewichtsteil Wasserstoff, l Atom Sauerstoff auf 2 Atome Wasser-
stoff.)" (a.a.O., 25).
7
Mittasch schreibt, Nietzsche sei „mit einem seltsamen Vermögen ausgestattet, auch ohne
tiefgehende fachkundige Studien durch die Oberfläche auf den Grund der Dinge — oder auf
den »Hintergrund* der Dinge — zu schauen" (Nietzsche als Naturphilosoph y a.a.O., 30).
8
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII U 7.(25), 312. Vgl. a.a.O., 7 (9), 303.
9
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98), 66. Vgl. a.a.O., 14 (82), 54; 14 (186), 165.
Prozesse auf den Willen zur Macht. Desungeachtet ist zu sagen, daß
Nietzsches Verständnis des Organismus als einer Vielheit von miteinander
kämpfenden Willen zur Macht durch seine Roux-Lektüre vorbereitet worden
ist. Daß er auch später noch direkt auf Roux zurückgreift, zeigt die Darwin-
Kritik, die wir eingangs herangezogen haben.
Wenn in den folgenden Ausführungen ausschließlich vom Einfluß Roux'
auf Nietzsche die Rede sein wird, so könnte der Eindruck entstehen, dessen
Lektüre anderer einschlägiger naturwissenschaftlicher Schriften sei ohne
wesentliche Wirkung auf ihn gelieben. Für Nietzsches Rezeption und für
seine übrigens mehrdimensionale Kritik des Darwinismus wäre auf eine ganze
Reihe von Veröffentlichungen zurückzugreifen, die er sich zugänglich ge-
macht hat; hier eröffnet sich der Forschung noch ein weites Feld.16 Auch hat
Nietzsche, wie sich an seinen Niederschriften von 1881 nachweisen läßt, in
der Zeit seiner ersten Roux-Lektüre /. R. Mayers Schrift Die organische Be-
wegung in ihrem Zusammenhang mit dem Stoffwechsel (1845) — neben
anderen Arbeiten dieses Autors — gelesen und M. Posters Lehrbuch der Phy-
siologie (1881) für seine physiologischen Studien herangezogen.17 Aber schon
seine Aufzeichnungen aus jenem Jahre bezeugen, daß ihn Roux' Buch in be-
vor in VII 2, 25 (333), (426); 26 (138) („Dauerfähigkeit"). - Von ,Selbst-Regulierung' als or-
ganischem Prozeß spricht Nietzsche auch noch, nachdem er gegen Roux' vermeintliches
Verständnis dieses Begriffes polemisiert hat. S. Nachlaß August—September 1885, 40 (37),
VII 3, 378; JGB 36, KGW VI 2, 51.
16
Eine wesentliche Orientierung über den Darwinismus hat Nietzsche aus F. A. Langes Ge-
schichte des Materialismus, 11866, gewonnen (s. seinen Brief an C. v. Gersdorffvom 16. 2.
1868, KGB I 2, 257f.). Die erheblich erweiterte Fassung des Buches von Lauge (21873/75) hat
er zuerst in der 4. Auflage von 1882 eingesehen, wie/. Salaquarda nachgewiesen hat. Lange geht
1875 in detaillierten Ausführungen auf die Darwinismus-Diskussion ein; ihnen kann Nietz-
sche Anregungen für seine eigene Kritik entnommen haben. Allerdings sind in der von
H. Cohen herausgegebenen 4. Auflage des Buches von Lange die Anmerkungen nicht abge-
druckt worden, denen Nietzsche z. B. Literaturhinweise hätte entnehmen können. (S. dazu
Salaquarda, Nietzsche und Lange', in diesem Bande S. 240, Anm. 20. — Nietz-
sche hat aber auch unabhängig von Lange schon in der Basler Zeit lebhaften Anteil an der
Diskussion um die Entwicklungslehre genommen. So berichtet E. Förster-Nietzsche* daß er
1869 in der Auseinandersetzung zwischen E. Haeckel auf der einen und L. Rütimeyer, C. E.
von Baer und C. v. Naegeli auf der anderen Seite sich zugunsten der letzteren engagiert habe
(Das Leben Friedrich Nietzsches, 1904, II 2, 521 f.). — Nietzsche hat auch v. Naegelis späte-
res Buch Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre (1884) angeschafft und
durchgearbeitet, in dem er wie bei Roux (wie schon in früheren Ausführungen v. Naegelis, wie
auch bei Lange, wie auch andernorts) Einwände gegen Darwins Hervorhebung des äußeren
Einflusses bei der Organbildung finden konnte (a.a.O., 326ff.). — Zur Bedeutung von
W. H. Rolphs Abundanztheorie für Nietzsches Darwin-Kritik in den achtziger Jahren s. im
folgenden Anm. 180.
17
Zur Wirkung, die Mayers Schriften auf Nietzsches Verständnis der Naturvorgänge ausgeübt
haben, s. im folgenden Anm. 109. — Der Anfang von Fragment 131 (V 2 (11), 387) ist aus
Fosters Buch (524) gezogen.
II
Wir beginnen unsere Ausführungen zur Sache damit, daß wir in Kürze
beschreiben, auf welche Weise und mit welchen Ergebnissen Nietzsche in
Morgenröthe und im gleichzeitigen Nachlaß von 1880 bis 1881 das Innen des
menschlichen Individuums thematisiert, um die Bedeutung einschätzen zu
können, die schon die erste Beschäftigung mit Roux für ihn gewinnen
mußte.19 Nietzsches Darlegungen verraten vor allem den auch in späteren
Jahren noch wirksamen Einfluß von A. Spir und F. A. Lange. Er schreibt:
„Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so
sind, wie sie uns erscheinen, — nun wohlan! mit der inneren Welt steht es
ebenso!"20 Unsere „Ergründung innerer Vorgänge und Triebe" wird durch
die mangelnde Differenzierungsfähigkeit der Sprache und die daraus folgende
Ungenauigkeit von Beobachten und Denken behindert: „Wir sind Alte nicht
Das, als was wir nach den Zuständen erscheinen* für die wir allein Bewusst-
sein und Worte . . . haben".21 Immer wieder weist Nietzsche auf die Unbe-
kaiintheit der Innensphäre des ,Subjekts* hin. Zumindest bleibt nichts „un-
vollständiger . . . als das Bild der gesamten Triebe", die den Menschen kon-
stituieren.22 Was uns bei der Vorbereitung einer Handlung als Kampf der
Motive bewußt wird, ist ein über den wahren Vorgang täuschender Vorder-
grund. Was sich im Hintergrund, besser im Untergrund, vollzieht, ist „etwas
18
P. Gast und A. Horneffer haben in ihrem Nachbericht zu GA XIII (367f.) auf drei Bücher
hingewiesen, die Nietzsche 1883 „am meisten angeregt" hätten. Sie nennen neben Roux'
Arbeit: G. H. Schneider, Der tierische Wille (1880) und E. v. Hartmann, Phänomenologie
des sittlichen Bewußtseins (1879). Bezüglich Roux' entsteht der falsche Eindruck, als habe
sich Nietzsche mit dessen Buch erst im Spätsommer 1883 beschäftigt. — Schon Ch. Analer
hat darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche in biologischen Fragen „avec predilection"
Roux konsultiert habe. Dabei konnte er weder schon auf den vollständig veröffentlichten und
chronologisch zuverlässig geordneten Nietzsche-Nachlaß zurückgreifen, noch stand ihm die
erste Auflage des Buches von Roux zur Verfügung, die Nietzsche ausgewertet hat. Aber auch
aus der zweiten Auflage von 1895 konnte er, Roux' Umarbeitung ungeachtet, erkennen, daß
„Wilhelm Roux a fourni a Nietzsche un grand nombredes arguments qu'il produira contre le
darwinisme vulgaire. II l'a enracine dans le neo-lamarckisme dontRütimeyerlui avaitdonne la
premiere formule." (Nietzsche. Sa vie et sä pensee.Paris 1920ff. Zit. n. d. Ausg. v. 1958, II,
525 f.).
19
Für Nietzsches frühe Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen sei auf
K. Schlechta und A. Anders, Friedrich Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines
Philosophierens 1962, verwiesen.
20
M 116, V I , 107.
21
M 115, V l, 105f.
22
M 119, V l, 109.
23
M 129, V l, 117.
24
M 119, V I , 111.
25
Nachlaß Frühjahr 1880, V l, 2 (55), 372.
26
M 119, V I * 111,
27
M 129, V I , 117.
28
Nachlaß, V 2, 11 (12), 343.
29
Vgl. dazu R. Blunck, F. Nietzsche, Kindheit und Jugend, 1953, 158; Scblechta-Anders,
a.a.O., 55-59.
30
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (128), 385. - Nietzsche führt als solche intellek-
tuelle Ausdeutungen „Liebe" und „Haß" an. Er bezieht sich dabei offensichtlich auf Roux'
Hinweis, daß die prinzipielle Lösung des Problems der Zweckmäßigkeit schon bei Empe-
dokles gefunden worden sei (Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, a.a.O., 1). Wenn
die KGW im Nietzsche-Fragment „,Ärger', ,Liebe% ,Haß'" schreibt, so vermute ich einen
Lesefehler; das Wort „Ärger" ergibt im Kontext keinen Sinn. Im Rückgriff auf den Roux-
Text legt sich die Lesart „Kräfte" nahe.
31
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (134), 388ff.
32
A.a.O., 11 (132), 388. Roux, Der Kampf der Theile . . . (im folgenden unter dem Sigel R
zitiert), 65. ..
33
A.a.O., 11 (128), 385.
34
MAI, 11, IV 2, 27.
Wir finden hierin die Frucht von Nietzsches erster Roux-Lektüre. Es ist
für seine Erkenntniseinstellung bezeichnend, daß er Forschungsergebnisse des
Anatomen sofort auf Aspekte menschlicher Lebensgestaltung überträgt.
Schon in der zweiten Aufzeichnung, die Rouxsche Bestimmungen aufnimmt,
heißt es: „Einzeln lebende Menschen, wenn sie nicht zu Grunde gehen, ent-
wickeln sich zu Gesellschaften, eine Menge von Arbeitsgebieten wird ent-
wickelt, und viel Kampf der Triebe um Nahrung, Raum und Zeit ebenfalls.
Die Selbstregulierung ist nicht mit Einem Male da. Ja, im Ganzen ist der
Mensch ein Wesen, welches nothwendig zu Grunde geht, weil es sie noch
nicht erreicht hat. Wir sterben alle zu jung aus tausend Fehlern und Un-
wissenheiten der Praxis."43
Doch über solche anthropologischen Anwendungen hinaus gewinnt
Röux in den späteren Jahren wesentliche Bedeutung für Nietzsches philoso-
phisches Verständnis des Organischen. Wir gehen im folgenden von Roux
aus, um dies deutlich zu machen.
III
Daß in dem Neuen, das Nietzsche in dem Buch von Wilhelm Roux fand,
sich eine neue naturwissenschaftliche Disziplin ankündigte, konnte er nicht
wissen. Roux, Schüler von C. Gegenbaur, E. Haeckel und R. Virchow, ist
der Begründer der experimentellen und kausal-morphologischen Entwick-
lungsforschung, der er 1884 den Namen „Entwicklungsmechanikec gab.44
Ihre spätere weltweite Ausbreitung ist hier ebensowenig darzustellen wie ihre
wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung für den gegenwärtigen Stand der aus
ihr hervorgewachsenen Entwicklungsphysiologie. Für uns ist bedeutsam, daß
Roux schon in seiner Schrift von 1881, die er teilweise im Jahr zuvor seiner
Habilitationsarbeit zugrunde gelegt hatte, grundlegende Bestimmungen und
Erklärungsgründe herausgearbeitet hat, die auch seine späteren Untersuchun-
gen leiteten. Vor Roux hatte sich die Anatonjie im wesentlichen auf die
Beschreibung und den Vergleich organischer Gestaltungen beschränkt. Wie
fragwürdig sich Roux' experimentelle und kausalanälytische Methodik für die
zeitgenössische deskriptive Anatomie ausnahm, zeigt eine von ihm mitgeteilte
Äußerung eines seiner Lehrer nach dem Erscheinen von ,Der Kampf der
Theile . . /: „Schreiben Sie nie wieder so ein philosophisches Buch, sonst
43
A.a.O., 11 (130), 386. — Zu Nietzsches Gedanken der Züchtung, wie er aus den darge-
stellten Zusammenhängen erwächst, sei auf 11 (276), 445f. (a.a.O.) verwiesen.
44
Roux versteht unter mechanistischem Geschehen „streng gesetzmäßiges Geschehen", wobei
er, durch seine Jenaer philosophischen Studien bei R. Buchen (1877/78) beeinflußt, von Kant
ausgegangen ist. Zu den Mißverständnissen, die sein Begriff der Entwicklungsmechanik bei
seinen Fachkollegen hervorgerufen hat, s. «seine Ausführungen in: Die Medizin der Gegen-
wart in Selbstdarstellungen, hrsg, v. L. R. Grote, l, 1923, 145f.
werden Sie nie Ordinarius der Anatomie." Schon „das Streben nach ursäch-
licher Erkenntnis der Gestaltungen der Lebewesen würde . . . mit diesem
Tadel belegt", bemerkt Roux dazu in seiner Autobiographie.45
Wir wenden uns nun dem Buch von Rpux zu. Bei der Darstellung seines
Anliegens und seiner Grundgedanken ziehen wir zugleich Nietzsches Rezep-
tion heran, und zwar sowohl die Aufzeichnungen von 1881 als auch die von
1883. Roux will die von Darwin und Wallace begründete Entwicklungslehre
ergänzen, da ihr Prinzip der natürlichen Zuchtwahl für die Erklärung der
„feineren inneren Zweckmäßigkeiten der thierischen Organismen" untauglich
sei.46 So lassen sich z. B. die vielfältige und komplizierte Differenzierungen
aufweisenden Eigenschaften der Blutgefäßwandung nicht dadurch erklären,
daß sie, als zunächst zufällig vorkommende Variationen, im Kampf ums
Dasein gezüchtet worden sein könnten.47 Will man nicht in „die Teleologie"
und damit, in einen metaphysischen Dualismus zurückfallen, den Darwin
„glücklich" beseitigt hatte,48 so muß man von der Annahme einer internen
Selbstregulierung und Selbstdifferenzierung durch Prozesse funktioneller
Anpassung ausgehen. Was damit gemeint ist, sei an dem schon eingeführten
Beispiel erläutert. Die Entwicklung der Blutgefäße wird durch das strömende
Blut in bestimmte Richtung gedrängt. Organ wirkt also auf Organ.49 Ge-
nauer betrachtet erweist sich ein solches Wirken als ein Miteinanderkämpfen
von Teilen des Organismus, das Roux auf den unterschiedlich differenzierten
Organisationsstufen beschreibt.
Zweifellos nimmt Roux den Begriff des Kampfes im Ausgang von
Darwin auf, auch wenn er ihn zur Erklärung innerer Züchtungsprozesse
benutzt.50 Er geht aber bis zu Heraklit und Empedokles zurück^ um darzu-
tun, wie frühzeitig schon erkannt worden sei, daß dauerhafte und zweck-
mäßig organisierte Einheiten gerade aus dem Streit einander entgegenwirken-
der Kräfte herauswachsen. Nietzsche bezieht diese historischen Hinweise in
seine erste Reflexion über Roux ein.51 Roux sieht in ihnen angezeigt, daß die
„philosophische, principielle Lösung" des Entwicklungsproblems schon im
anfänglichen griechischen Denken gefunden wurde, dann aber „gänzlich ver-
45
A.a.O., 152f.
46
R IV.
47
R 38.
48
R 34, vgl. 236.
49
Über die Verzweigungen der Blutgefäße. Eine morphologische Studie. Jenaische Zeitschrift f.
Naturwiss. Neue Folge, V, 1878.
50
Vor Roux haben schon W. His und F. Boll den Kampf ums Dasein zur Erklärung bestimm-
ter Gewebeprozesse herangezogen, freilich ohne den Kampf zum grundlegenden Deutungs-
prinzip zu erheben. S. dazu W. Roux, Über die Selbstregulation der Lebewesen, in: Arch. f.
Entwicklungsmechanik, XIII, 1902, 643; ders., Ges. Abh. I, 1895, 263, 315.
51
S. o. Anm. 24. Vgl. R 64f.
loren" ging und erst „auf dem mühsamen Wege empirischer, wissenschaft-
licher Detailforschung . . . vollkommen neu entdeckt werden" mußte.52
Wichtig ist, daß Roux den Kampf als einen mechanischen Vorgang auf-
faßt. Wir beschreiben diesen Vorgang in aller Kürze an seiner Darstellung des
Kampfes der kleinsten organischen Prozeßeinheiten, der Zellteile (Molekel),
in der Periode des Wachstums.53 Dasjenige Teilchen, das im Stoffwechsel
rascher assimilieren kann und demzufolge rascher regeneriert, wird sich
räumlich stärker entfalten als ein benachbartes Teilchen, das eine geringere
Affinität aufweist. Das erste Teilchen wird dem zweiten „damit den Platz
wegnehmen". Bei der Wiederholung dieses Prozesses wird das zweite weiter
zurückgedrängt und im Falle der längeren Dauer dieses Vorgangs „schließlich
schwinden". Wie bei diesem Kampf um den Raum werden auch beim Kampf
um die Nahrung — im Falle eines Nahrungsmangels — diejenigen Teilchen
siegen, deren Regenerationsgeschwindigkeit größer ist. Übersteigt schließlich
in einer Prozeßeinheit die Assimilation den Verbrauch, so daß „Über-
kompensation des Verbrauchten", d. h. Wachstum, eintritt, während die
anderen Zellteilchen nicht in solchem Maße assimilieren, so wird eine solche
Einheit „die Alleinherrschaft" in der Zelle gewinnen. Schließlich nennt Roux
als dritte Weise des Kampfes in der Zelle den direkten Kampf. In ihm siegen
neu auftretende Eigenschaften über alte, indem sie diese zerstören oder sich
assimilieren. Roux betont besonders die Heftigkeit des Kampfes um den
Raum. Sie muß dort, „wo alles zu einer räumlichen Einheit verbunden an
einander liegt und sich drängt", größer sein als beim Kampf der Individuen
untereinander.
Nietzsche hat 1883 Zusammenfassungen der von Roux beschriebenen
Vorgänge aufgezeichnet.54 Dabei ist ihm ein Aspekt besonders wichtig, von
dem Roux ausgeht. Nietzsche notiert: „Der Kampf um Nahrung und Raum
findet in der Zelle statt, sobald eine Ungleichheit in den Bestandteilen ist."55
Kurz vorher finden wir einen Hinweis auf Roux' grundsätzliche Ausführung,
daß die Ungleichheit der Theile die Grundlage des Kampfes ist;56 aus ihr, so
heißt es an der angegebenen Stelle bei Roux, „ergiebt sich der Kampf von
selber infolge des Wachsthums und . . , auch schon einfach infolge des Stoff-
wechsels."57 Schon 1881 hatte Nietzsche aus Roux' Buch gezogen: „Ver-
schiedenheit herrscht in den kleinsten Dingen, Samenthierchen Eiern — die
52
53
R 2f.
R 73ff.
54
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (86), 280 (vgl. R 73ff., 87, 76-78); a.a.O., 7
(95), 282f (vgl. R 76, 73, 79, 80). S. 283, Z 5 muß statt „leichte" gelesen werden:
„leichter".
55
A.a.O., 7 (95), 282. Vgl. R 76.
56
A.a.O., 7 (93), 282. Vgl. R 69.
57
R 69.
Gleichheit ist ein großer Wahn."58 Die im Kampfe zutage tretende Verschie-
denheit der Teile weist auf ihre „relative Selbständigkeit" hin. Daß diese
Selbständigkeit „selbst in den höchsten Organismen" aufgezeigt werden
kann,59 hat in Nietzsches späterem Verständnis des Leibes als einer Vielheit
lebender Wesen seine Ausprägung gefunden. Roux bezieht sich bei seinem
von Nietzsche festgehaltenen Aufweis der genannten Selbständigkeit auf eine
Veröffentlichung seines Lehrers R. Virchow, in der die Transplantations-
fähigkeit von Zellen beschrieben worden war.60
Wie Roux den Kampf als konstituierendes Prinzip der Bildungsvorgänge
auf den Ebenen der Zellen, der Gewebe und der Organe herausarbeitet,
können wir hier im einzelnen nicht verfolgen. Nietzsche hält im Zuge seiner
Lektüre von 1883 auch genau fest, wo bei Roux der innere Kampf über den
reinen Auslesecharakter hinausweist. Dies geschieht beim Kampf der
Gewebe., Der Kampf wird hier „zu einem regulierenden Princip", dem
„Princip der funktioneilen Selbstgestaltung der zweckmäßigsten Größenver-
hältnisse".** Auch Röux' Gedanke der organischen Selbstregulation ohne
vorgegebene Zweckmäßigkeit geht in Nietzsches Auslegung der Leiblichkeit
ein.
Die gegebenen Hinweise zu Roux müssen ausreichen, um das Eigentüm-
liche seines Verständnisses organischer Prozesse deutlich zu machen.62 .Im
Unterschied zu anorganischen Vorgängen trägt der Lebensprozeß „die Ur*
sache seiner Erhaltung in sich seiher". Schon in der Assimilation, der
Aneignung und Umwandlung von ,Fremdemc, vollzieht sich eine gewisse
Selbstproduktion des Organischen, für die wir auf der Seite des Anorgani-
schen lediglich in der Flamme eine Entsprechung finden. Hingegen ist die
Überkompensation des Verbrauches (Nietzsche sagt dafür: der überreichliche
Ersatz) allein den organischen Wesen eigen. Sie bestimmt das Wachstum und
ermöglicht spezifische Lebensleistungen. Schließlich wird die Dauerfähigkeit
der Lebensprozesse durch deren Selbstregulation (Nietzsche sagt dafür:
Selbstregülierung) gewährleistet, die gewissermaßen das ökonomische Gleich-
gewicht in einem Organismus herstellt. Die funktionale Abgestimmtheit in
einem Ganzen, die der Begriff der Selbstregulation zum Ausdruck bringt, er-
wächst nach Roux ebenfalls aus dem züchtenden Kampf der Teile. Selbst-
regulation erfolgt mechanisch, nicht nach einem ideologischen Prinzip. Roux
hält den Gedanken der relativen Selbständigkeit der Teile durch: ihr „Nutzen
für das Ganze liegt durchaus nicht in der Absicht der Theile. Die Theile leben
58
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (132), 388. Vgl. R 71.
59
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (92), 282. Vgl. R 65.
60
R 65f.
61
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII, l, 7 (190), 310f. Vgl. R. 97, 98, 102.
62
Zum folg. s. R215ff.
blos für die eigene Erhaltung". Daß sich nur diejenigen Eigenschaften der
Teile erhalten haben, die der Dauerfähigkeit eines Ganzen dienten, wird von
Roux auf die ,äußere* Selektion im Sinne der Lehre Darwins zurückgeführt.63
Schon hieraus erhellt, daß Roux in seiner Untersuchung nicht „die Be-
deutung des von Darwin und Wallace aufgestellten Prinzipes des Kampfes der
Individuen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an
die äusseren Bedingungen" beschneiden will. Aus dem internen Kampf der
Teile erklärt er jene inneren Zweckmäßigkeiten, die sich nicht aus dem Kampf
der Individuen ableiten lassen. Der Kampf der Teile leistet eine Vor-Auslese
für den ,Kampf ums Dasein*: „Das Verhältniss beider Kampfesarten" ist
„derartig, dass aus dem vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen
lebenskräftigen und am stärksten reagierenden Substanzen oder richtiger
Processen der Kampf der Individuen um das Dasein überall diejenigen
speciellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu bestehen
geeignet sind."64
In Nietzsches Aufzeichnungen zu Roux von 1883 tritt die Bedeutung des
,zweiten Kampfes* zurück. Er notiert Stellen, in denen Roux die Unzuläng-
lichkeit der Darwinschen Ableitungen betont. Wir finden z. B. einen Hinweis
auf Roux' Erklärung der Möglichkeit des Überganges der Tiere aus dein
Wasser zum Land,65 der nur durch „die gleichzeitige Ausbildung von
Tausend, ja Million zweckmässigen Einzeleigenschaften hat stattfinden"
können. Diese Gleichzeitigkeit läßt sich nach Roux allein aus dem Prinzip der
funktionellen Selbstgestaltung erklären, nicht aber aus Darwins Selektions-
prinzip, das nur die sukzessive Ausbildung zweckmäßiger Eigenschaften
zuläßt. Nietzsche findet hier offenkundig einen Beleg für den von ihm ver-
tretenen Vorrang des Von-Innen-her gegenüber dem Außen. Ein anderes Mal
zitiert Nietzsche eine Stelle aus Roux, in der dieser auf die Einseitigkeit der
darwinistischen Erklärungsweise eingeht: „Bisher hat man alle guten Eigen-
schaften eines Organismus bloß aus der Auslese im Kampf ums Dasein unter
den Individuen abgeleitet!"66 Schließlich geht Nietzsche auf Roux' Beschrei-
bung von Prozessen ein, bei denen der Reiz lebensnotwendig wird. Er
schreibt dazu: „Es sind die höchsten Prozesse." Und er zitiert Roux: „Alles
dies geschieht ohne den Kampf der Individuen."67
63
R 219f.
64
R 327 f. — Sowohl Darwin als auch Haeekel nahmen Roux* Untersuchungen mit großer
Anerkennung auf (S. R. Mocek, Wilhelm Roux—Hans Driesch. Zur Geschichte der Entwick-
lungsphysiologie der Tiere. 1974, 72). Darwin bezeichnet sie schon 1881 als das ^bedeu-
tungsvollste Buch über Entwicklung, welches seit einiger Zeit erschienen ist" (Roux, Ges.
Abh. I, 141).
65
Nachlaß Frühjahr-Sommer 1883, VII l, 7 (89), 281; vgl. R 39ff.
66
A.a.O., 7 (194), 312; vgl. R 110.
67
A.a.O., 7 (98), 283; R: 81-83. - Die Unabhängigkeit des Kampfes der Teile von Darwins Se-
lektionstheorie hat Roux 1902 unter dem Eindruck der Kritiken an den Prinzipien Darwins
Auf die Problematik der Reizeinwirkung müssen wir noch näher ein-
gehen, da sie für Nietzsches Verständnis organischer Prozesse besondere Be-
deutung gewinnt. Es ist ein wesentliches Anliegen von Roux, die Wirkung
der funktionellen Reize zur Geltung zu bringen. Diese Reize beeinflussen den
Kampf der Teile gewissermaßen von außen her. Sie wirken in mannigfacher
Weise auf die Teile: primär trophisch, d. h. die Ernährung steigernd, darüber
hinaus aber auch differenzierend und gestaltend. Roux unterscheidet im Leben
aller Teile zwei Perioden: in der ersten Phase entfalten, differenzieren und
vergrößern sich die Teile aus sich selbst; in der zweiten findet das Wachstum,
in bestimmten Fällen sogar der vollständige Ersatz des Verbrauchten, nur
unter Reizeinwirkung statt.68 So kann eine völlige Abhängigkeit der Lebens-
prozesse vom Reiz entstehen: Roux spricht dann vom „unentbehrlichen
Lebensreiz".69 Die Abhängigkeit hebt die Selbstgestaltüng der Teile aber
nicht auf. Nietzsche stellt bezeichnenderweise diesen Aspekt besonders
heraus und überträgt ihn auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt:
„Der aktiven quantitativen und qualitativen Nahrungs-Auswahl der Zellen,
welche die ganze Entwicklung bestimmen, entspricht, daß der Mensch sich
auch die Ereignisse und Reize auswählt, also aktiv verfährt unter all dem zu-
fällig auf ihn Eindringenden — gegen Vieles also abwehrt. Roux p. 149."70
Solche Übertragungen finden wir in Nietzsches Roux-Notizen von 1883
häufig.71 Immer wieder werden physiologische Sachverhalte von ihm ,mora-
lisch gewendet'.72 So notiert er zum „Einfluß der Reize auf die schnellere
Assimilation — in der Moral: Vermehrung der Macht da, wo eine Fülle
feinster Verletzungen vorkommen und dadurch das Bedürfniß der Aneignung
gesteigert wird."73 Auch hier legt Nietzsche den Akzent auf die Aktivität in
der Reizverarbeitung. Das geschieht noch massiver, wenn er schreibt: „meine
Aufgabe: die guten Triebe so zu stellen, daß sie Hunger bekommen und sich
bethätigen müssen."74 Er knüpft hier zweifellos an Roux' Aussage an: „Die
hervorgehoben. Selbst wenn erwiesen wäre, so führt er aus, daß der Kampf ums Dasein
und die geschlechtliche Zuchtwahl keinen Anteil an der Entstehung der Arten gehabt
hätten, „so muss ich betonen, dass dies noch nichts gegen meine Ableitungen von der
Wirkung des Kampfes der Theile im Organismus einschließen würde". Beziehen diese sich
doch „auf die Entstehung der allgemeinsten Gewebsqualitäten, der Selbsterhaltungsqualitä-
ten und der aus ihnen folgenden allgemeinsten Gestaltungsvermögen". (Über die Selbst-
regulation der Lebewesen, in: Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen, ,
1902, 633 ff.)
68
R 180, vgl. 200.
69
R 81; Nietzsche, a.a.O., 7 (98), 283.
70
A.a.O. 7 (196), 312.
71
A.a.O. 7 (94); 7 (90): vgl. R 63; 7 (92): vgl. R 107, 110; 7 (174): vgl. R 110.
72
A.a.O. 7 (86), (87), 280f.
73
A.a.O. 7(95), 282f.; vgl. R 80.
74
A.a.O. 7 (88), 281.
IV
Im Jahre 1884 beschäftigt sich Nietzsche mit Grundbestimmungen Roux'
unter einem anderen leitenden Aspekt. Es geht ihm um die methodische
Frage nach der Angemessenheit und Leistungsfähigkeit der mechanistischen
und der teleologischen Naturerklärung. Er sucht die Unzulänglichkeit beider
Erklärungsweisen aufzuzeigen, wobei er jedoch der mechanistischen Ab-
leitung wesentliche Vorzüge gegenüber der teleologischen zuspricht. Zu
seinen „Voraussetzungen" zählt er: „keine End-jUrsachen*. Selbst bei
menschlichen Handlungen erklärt die Absicht das Thun gar nicht."79 Zu-
stimmend konstatiert er den „Sieg der antiteleologischen mechanistischen
Denkweise als regulativer Hypothese 1) weil mit ihr allein Wissenschaft
möglich ist 2) weil sie am wenigsten voraussetzt und unter allen Umständen
75
„Dieses Wort ist hier natürlich nicht als bewusste Empfindung, sondern in der Bedeutung
einer stärkeren Affinität zur Nahrung bei stärkerem Nahrungsbedürfniss aufzufassen/'
(R 222)
76
Nietzsche, a.a.O., 7 (98), 283f.; vgL R 84.
77
A.a.O., 7 (170), 305.
78
A.a.O., 7 (97), 283.
79
Nachlaß Frühjahr 1884, VH 2, 25 (96), 29.
90
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (426), 120.
91
A.a.O., 25 (448), 128.
92
GA XIII 259f. (vgl. oben Anm. 15). — Nietzsche führt in der zitierten Aufzeichnung
unter den vorerst unentbehrlichen teleologischen Bestimmungen nach ,Selbstregulierung'
noch „Anpassung" und „Arbeitstheilung" auf.
93
Nachlaß 1884, VII 2, 26 (272), 219.
94
A.a.O., 26 (273), 219.
95
Eine Zusammenstellung der „Dinstinktionen und Termini", die Roux später eingeführt
hat, findet sich bei D. Barfurth, Wilhelm Roux zum 60. Geburtstag, in: Archiv f. Ent-
wicklungsmechanik der Organismen, XXX I, 1910, XXX.
96
Roux* Schrift von 1881 war von einem Darwinismus Haeckelscher Prägung bestimmt, in
den Gedanken Lamarcks eingeschlossen waren. Haeckels Überzeugung von der Vererbung
erworbener Eigenschaften fand bei Roux ihren Niederschlag in seiner Lehre von der Ver-
erbung individuell erworbener funktioneller Anpassungen. Zum Wandel von Roux* Stand-
punkt hinsichtlich dieser Problematik s. R. Mocek, a.a.O., 80ff.
97
Zur genaueren Bestimmung des ,Selbste bei Roux wäre auf seine Scheidung von Deter-
minations- und Realisationsfaktoren einzugehen, was in diesem Rahmen nicht möglich ist.
98
W. Roux, Die Medizin der Gegenwart. . ., a.a.O., 187.
99
Zu Drieschs Ausgehen von Roux und seinem »Hinausgehen4 über ihn sei zur allgemeinen
und zusammenfassenden Information verwiesen auf sein Buch Philosophie des Organischen,
1921 (deutsche Ausgabe), 47ff. — Drieschs Ausgang von einem entelechetischen Agens ließ
für Roux' Gedanken eines Kampfes der Teile keinen Raum. S. dazu Drieschs Schrift Die
organischen Regulationen (1901) und C. Herbst, Formative Reize in der tierischen Onto-
genese (1901). Dazu Roux* Entgegnung in Ober die Selbstregulation der Lebewesen^ a.a.O.,
635, 639—643, wo er sich zugleich gegen O. Hertwig wendet, auf den Driesch sich beruft.
100
Zu der von Roux' Seite zeitweise sehr heftig geführten Polemik gegen Driesch s. u. a.:
Über die Selbstregulation der Lebewesen, a.a.O., sein Referat über Drieschs Buch Die
organischen Regulationen von 1901 (Archiv f. Entwicklungsmechanik der Organismen,
XIII, 1902, 651 ff.); zu Roux' grundsätzlicher Auseinandersetzung mit den „Entelechetikern"
s. seine Ausführungen unter dem Titel Prinzipielles der Entwicklungsmechanik, in: Annalen
der Philosophie, III, 1923, 454—473. — Über den Fortgang der sich ausweitenden Kontro-
verse um die Ergebnisse der embryologischen Experimente informiert zusammenfassend, vom
Standpunkt Roux' aus, D. Barfurth, a.a.O., XIVf. — Roux' Interpretation der Entwick-
lung von kleinen Ganzembryonen aus der Totipotenz von Furchungszellen, sowie die
Deutung von Ganzbildungen als Postgeneration* die er zuerst 1892 vortrug, haben für die
Auseinandersetzung mit den ,Teleologen' (aber nicht nur mit ihnen) besondere Wichtig-
keit erlangt. — Nur hingewesen werden kann hier auf H. Spemanns ,Aufhebung* des
Gegensatzes zwischen Roux und Driesch. S. dazu R. Mocek, a.a.O., 104ff.
101
Die Medizin in der Gegenwart. . ., a.a.O., 163.
102 Prinzipielles der Entwicklungsmechanik, a.a.O., 471. *- In welchem Maße Roux' Gebrauch
der Vorsilbe ,Selbst-' seinen eigenen Intentionen entgegengewirkt hat, zeigt noch die Be-
rufung von A. Portmann auf Roux bfei seiner Ausarbeitung der organischen „Selbstdarstel-
lung" als sich äußernder Innerlichkeit (An den Grenzen des Wissens, 1974, 138—140).
103
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (272), 219.
104
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (389), l&f.
105
A.a.O., 25 (436), 123; vgl, JGB 19, VI 2, 26.
106
A.a.O., 25(411), 115.
107
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.
108
A.a.O., 26 (277), 220.
109
Nietzsches Verständnis von Kraftauslassung bedürfte hinsichtlich des Begriffes der »Aus-
lösung' einer ausführlichen Erörterung. Sie muß hier beiseite gelassen werden, da seine. $
Verwendung durch Nietzsche nicht auf den Einfluß Roux', sondern auf den J, R. Mayers j
zurückzuführen ist. Mittasch, vorzüglicher Kenner sowohl Nietzsches als auch Mayers, ist j
diesem Einfluß in seinem Buch Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O., sehr ausführlich nach- ·
gegangen. Seine für wesentliche Aspekte von Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht auf-
schlußreichen Hinweise haben bisher nicht die Beachtung gefunden, die sie verdienen. — !
r
Nietzsche gebraucht Begriffe wie (Kraft-) Auslösung und Explosion seit 1881 immer wieder.
Was er damit meint, wird zureichend nur verständlich, wenn man auf seine Lektüre des
Mayerschen Aufsatzes Über Auslösung (1876) rekurriert, den er in dem Exemplar von
Mayers Mechanik der Wärme (21873) eingebunden fand. An P. Gast schreibt er am
16. 4. 1881 in einem Nachsatz: „,Uber Auslösung" ist für mich das Wesentlichste und
Nützlichste in Mayer's Buche." (Fr. Nietzsches Briefe an P. Gast, hrsg. v. P. Gast, 1908,
63). Mayer führt in seinem Aufsatz alle Bewegungserscheinungen — von der anorganischen
Wirklichkeit über die organischen Prozesse bis hin zur Psychologie — auf Auslösungen
zurück, die nicht mathematisch (nach zählbaren Einheiten) faßbar sind. Nietzsche nimmt
Mayers Ausführungen zum Thema , kleine Ursachen — große Wirkungen* auf, einschließlich
von Beispielen, die dieser gibt. So in FW V, Aph. 360, V 2, 289f. S. dazu Mittasch a.a.O.,
119, der a.a.O., 120—126 eine Vielzahl von weiteren Belegen für die Übernahme von
Mayers Auslösungsgedanken durch Nietzsche anführt. Auch Mayers Verständnis von ,Reize
und ,Regulierung* verdankt Nietzsche wesentliche Anregungen. Mittasch resümiert: „In
Nietzsches Kraftlehre (und Trieblehre) hat Roben Mayers Wirklehre, einschließlich Aus-
lösungslehre, auf längere Zeit die einzige starke Nachwirkung und ausgedehnte Weiter-
führung gefunden" (a.a.O., 127).
ihm widersteht — nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht." „Der
Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem,
was ihm widersteht, — dies die ursprüngliche Tendenz des Protoplasma"110,
das in sich selbst „eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen"
darstellt.111
• Von dieser Tendenz ausgehend, beschreiben wir den Weg eines organi-
schen Willens zur Erweiterung seiner Macht. In seinen Kraftauslassungen
geht es ihm darum, „stärker zu werden". Dies kann er nur im Kampf mit
ihm Widerstehendem, das er suchen muß.112 Solchem Suchen liegt ein
Wahrnehmen des ihm Entgegengesetzen zugrunde, das sich im Verlauf all-
mählicher Entwicklungen ausgebildet hat, wobei „jede kleinste Zelle jetzt
Erbe der ganzen organischen Vergangenheit" ist.113 Im Frühjahr 1884 führt
Nietzsche aus, er setze „Gedächtniß und eine Art Geist bei allem Organischen
voraus";114 wir haben eingangs dieses Abschnitts schon darauf hingewiesen.115
Hat ein Wille zur Macht einen ihm entgegengesetzten , auf gesucht4, so strebt
er dessen Überwältigung an. „Aneignung und Einverleibung" vollzieht sich
— im Falle des Gelingens der Überwältigung — als „ein Formen, An- und
Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers
übergegangen ist und denselben vermehrt hat."116 Das Überwältigte kann,
wie auch immer ,umgebildet% vom Uberwältiger in Dienst genommen
werden. Damit ist Rangordnung gegeben, die in den komplexen organischen
Gestaltungen zu den Prozessen der Selbstregulation führt, die eine „Fort-
setzung des Kampfes" zwischen Befehlenden und Gehorchenden darstellt.117
110
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (151), 88; Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (174), 152.
111
Nachlaß Mai-Juli 1885, VII 3, 35 (59), 259.
112
Die Unlust als Hemmung oder Widerstand ist demgemäß „ein nothwendiges Ingrediens
aller Thätigkeit (alle Thätigkeit ist gegen etwas gerichtet, das überwunden werden soll). Der
Wille zur Macht strebt also nach Widerständen, nach Unlust", heißt es schon 1884 (Nach-
laß, VII 2, 26 (275), 220). „Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und Unlust
nach einer Vergeudung von Macht" müssen freilich unterschieden werden. Letztere ist
Erschöpfungssymptom, ursprünglicher noch „Unfähigkeit zum Widerstand" (Nachlaß Früh-
jahr 1888, VIII 3, 14 (174), insbes. 153). Die erstrebte Unlust im Aufsuchen von Wider-
ständen zeigt an: „Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens"
(Nachlaß, VII 2, a.a.O.)· Daher ist „der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden,
sondern ein Pathos". Dieses ist „die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden,
ein Wirken ergiebt . . ." (Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (79), 51).
113
Nachlaß Sommer 1883, VII l, 12 (31), 424, vgl. Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2,
26 (156), 188.
114
Nachlaß, VII 2, 25 (403), 113.
115
S. oben S. 206 — Zur Wahrnehmung in der anorganischen Welt s. Nachlaß Mai-Juni
1885, VII 3, 35 (53), (58), (59), 258f. Vgl. dazu Vf., Nietzsches Lehre vom Willen zur
Macht, Nietzsche-Studien 3, 1974, 38ff.
116
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (151), 88. %
117
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.
118
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 10 (138), 201 f.
119
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (277), 220f.
120
Nachlaß August-September 1885, VII 3, 40 (55), 387.
121
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 33 (248), 224. Vgl. Nachlaß Juni-Juli 1885, a.a.O., 36
(18), 283; Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 39 (13), 353.
122
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (79), 50.- Den Unterschied zwischen der mechanisti-
schen und seiner eigenen Deutung des Geschehens charakterisiert Nietzsche im Nachlaß
Herbst 1885-Frühjahr 1886 wie folgt: „Der völlig gleiche Verlauf aber die höhere Aus-
deutung des Verlaufs!! Die mechanistische Einerleiheit der Kraft, aber die Steigerung des
Machtgefühls!" (VIII l, l (119), 34.)
123
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (81), 52.
124
Nachlaß Mai-Juli 1885, VII 3, 35 (15), 236. - Genau genommen gilt, „daß der Begriff
Causalität vollkommen unbrauchbar ist — aus einer nothwendigen Reihenfolge von Zuständen
folgt nicht deren Causal-Verhältriiß (— das hieße deren wirkende Vermögen von l auf 2, auf 3,
auf 4, auf 5 springen zu machen) Die Causalitäts-Interpretation eine Täuschung . . . £5
giebt weder Ursachen, noch Wirkungen. Sprachlich wissen wir davon nicht loszukommen.
Aber daran liegt nichts . . . In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend"
(Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98), 67).
133
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (24), 282.
134
Nachlaß Frühjahr 1884, a.a.O., 25 (436), 123. - Vgl. z. B. Nachlaß Früh jähr-Herbst
1881, 11 (135), V 2, 390: ,,Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der
Andere ihre Kräfte auslösen . . . ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden".
Nietzsche bezieht sich hierbei auf weltgeschichtliche Ereignisse (Religionsstiftung), wobei
er wieder die Relation ,kleine Ursachen — große Wirkungen* heranzieht (s. dazu Anm. 109).
135
Das Von-Innen-her erfährt mit der Aufnahme des Auslösungsgedankens seine Bestätigung
und Konkretisierung: „Im kleinsten Organism bildet sich fortwährend Kraft und muß sich
dann auslösen: entweder von sich aus, wenn die Fülle da ist, oder es kommt ein Reiz von
außen. Wohin die Kraft sich wendet? Sicher nach dem Gewohnten: also wohin die Reize
leiten, dahin wird auch die spontane Auslösung sich bewegen. Die häufigeren Reize er-
ziehen auch die Richtung der spontanen Auslösung.0 (Nachlaß Frühjahr—Herbst 1881> V 2,
11 (139), 391)
136 Mittasch weist darauf hin, daß die Forschung unseres Jahrhunderts „immer mehr zu der
Vorstellung gedrängt worden" sei, „daß verknäueke physiologische Vorgänge, wie Befruch-
tung und Keimentwicklung, nur auf Grund der Annahme sinngemäß entwirrt und dem
Verständnis nähergebracht werden könen, daß man - von psychologischer Analogie des An-
weisunggebens, des Befehlens und Gehorchens auf Grund vorhandener Resonanz als An-
sprechbarkeil Gebrauch macht." (Nietzsche als Naturphilosoph, a.a.O., 187). Er zieht als
Exempel die Arbeiten von H. Spemann heran (a.a.O., 336), der ja die entwicklungs-
physiologische Forschung von Roux und Driesch weiterführt. Wir finden hierin einen Be-
leg (unter vielen) dafür, daß Nietzsches »naturphilosophische* Reflexionen nicht im Gegen-
satz zu späteren Forschungen stehen, sondern durchaus »wissenschaftsrelevant4 sind.
137
Nachlaß August-September 1885, VII 3, 40 (42), 382. - Wir müssen dabei in Rechnung
stellen, daß nicht nur die empfundenen Reize , wirken': Sie sind „ganz seltene und spär-
liche Erscheinungen gegenüber den zahllosen Reizen, die eine Zelle, ein Organ auf eine
andere Zelle, ein anderes Organ ausübt" (Nachlaß Winter 1883/84, VII l, 24 (16), 696).
138
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 38 (8), 334ff. Vgl. JGB 19, VI 2, 25ff.
139
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (19), 279f.
schon einen Hinweis darauf, daß ein geschwächter Gegentrieb „als Impuls
. . . den Reiz für die Thärigkeit des Haupttriebes" abgeben kann.145
In den Aufzeichnungen von 1885 stellt Nietzsche die relative Unabhän-
gigkeit der Gehorchenden in zunehmendem Maße heraus. Zunächst heißt es
nur, „damit vollkommen gehorcht werden" könne, habe „das einzelne
Organ viel Freiheit"146. Später wird ausgeführt, im Menschen müsse „in
feineren Fällen . . . die Rolle" zwischen Herrschenden und Dienenden „vor-
übergehend wechseln, und der, welcher sonst befiehlt, einmal gehorchen"147.
Daß das Gehorchen immer auch ein Widerstehen ist, je nach der Kraft, die
dafür bleibt,148 hatte Nietzsche schon früher herausgestellt. Nun wird es als
Widerstreben charakterisiert, das anzeigt, daß die „Eigenmacht durchaus
nicht aufgegeben" ist. Das Befehlen erscheint dabei als „ein Zugestehen, daß
die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist"149. Das Ganze des mensch-
lichen Leibes stellt sich jedoch später dar als „ungeheure Vereinigung von
lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne
wiederum befehlend und aus eigenem Willen handelnd". In dieser „pracht-
vollen Zusammenbindung des vielfachsten Lebens", der „Anordnung und
Einordnung der höheren und niederen Thätigkeiten",150 finden wir dann eine
„Abhängigkeit" auch der „Regenten von den Regierten", die deren früher
behauptete bloße Indienstnahme überschreitet. Zur Rangordnung gehört nun
auch „Arbeitstheilung als Ermöglichung der Einzelnen und des Ganzen"151.
Der Dienst aller lebendigen Wesen gilt nun primär dem Ganzen des Leibes.
Damit erscheint der Leib in der Tat als eine große Vernunft.
Die Problematik, die hieraus für Nietzsches Denken erwächst, tritt in
der Frage nach der Regentschaft in diesem ,Herrschaftsgebildec hervor. Die
Zarathustra-Rede vom einen Hirten der Herde führt leicht in die Irre. An der
Spitze des ,Gesellschaftsbaus Leib* steht kein ,absoluter Monarch'152, viel-
mehr ist „das centrale Schwergewicht . . . etwas Wandelbares"153. Hatte
145
A.a.O., 27(59), 289.
146
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (55), 157. - Das Wort »Freiheit* meint selbstverständlich
nicht Willkür. Nur die mechanische Notwendigkeit wird mit dieser Bestimmung negiert.
Im Frühjahr 1884 notiert Nietzsche: „es wird manches befohlen, was nicht völlig geleistet
werden kann (weil die Kraft zu gering ist)" (Nachlaß VII 2, 25 (432), 122). Entscheidend
ist das Kräfteverhältnis im Reiz-Spiel. Schon 1881 heißt es in Nietzsches physiologischen
Aufzeichnungen: „Damit ein Reiz wirklich auslösend wirkt, muß er stärker sein als der
Gegenreiz, der immer auch da ist" (Nachlaß, V 2, 11 (131), 387).
147
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (123), 181 f.
148
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (276), 220.
149
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (22), 284f.
150
A.a.O., 37 (4), 303.
151
Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 40 (21), 370.
152
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 27 (8), 277.
153
Nachlaß April-Juni 1885, VII 3, 34 (123), 182.
154
In welchem Maße Nietzsche schon im Herbst 1880 für die im Jahre darauf erfolgte erste
Roux-Rezeption disponiert war, zeigt das Fragment 6 (70), V l, 541—543. Er beschreibt
dort „das ego . . . [als] eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese,
bald jene im Vordergrund steht als ego". „Wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl
des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist."
155
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
156
Nachlaß August-September 1885, a.a.O., 40 (42), 382.
157
GM, 2.Abh., 12, VI 2, 331 f. — Nietzsche wendet sich in diesem Zusammenhang gegen
H. Spencer, der „das Leben selbst als eine immer zweckmässigere Anpassung an äussere
Umstände definirt". Er sieht darin das Wesen des Lebens verkannt, das im Willen zur
Macht beruht.
gewissen Grade auch die Aufgabe des höheren vorstellen können" muß158, so
können wir in solcher Prospektivität mehr finden als bloße 92weckgemäß~
heit% die ja nicht besagt, daß etwas „bezweckt" war159. Jedenfalls ist der
„tausendfältige Gehorsam", den die vielen lebendigen Intellekte innerhalb
des Leibganzen aufbringen, „kein blinder, noch weniger ein mechanischer,
sondern ein wählender, kluger, rücksichtsvoller, selbst widerstrebender Ge-
horsam", wie Nietzsche 1885 ausführt.160
Die Beschreibung dieser und anderer ,Zwecktätigkeitenc im Organis-
mus161 bedarf einer behutsamen Einschätzung. Nietzsche ist Anfang 1884 in
einer längeren Aufzeichnung einmal davon ausgegangen, „daß eine Zweck-
mäßigkeit im Kleinsten Geschehn herrscht", und hat die Möglichkeit
erwogen, daß sie einem „ungeheuer viel höheren und überschauenden Intel-
lekte zuzuschreiben wäre als der uns bewußte ist". Die Hypothese eines
solchen ursprünglich steuernden Zweckmäßigen „im Wirken der Natur"162
wird jedoch von ihm nicht wieder aufgenommen. 1885 hat er diese ,teleo-
logische Anfechtung* längst überwunden. Auch wenn er dann, wie wir
hörten, ein mechanisches Verständnis des Gehorchens zurückweist, so stimmt
. er mit der mechanistischen Erklärungsweise doch insofern überein, als auch
für ihn alle zweckmäßigen Bildungen dem Zwecklosen entstammen. Wie
Roux geht auch Nietzsche dabei von selektiven Prozessen aus, die sich in
Form von inneren Kämpfen vollziehen. Aber indem er die Teile des Orga-
nismus als Willen zur Macht auffaßt, können deren Bewegungen* „nicht von
außen her bedingt sein — nicht verursacht", wie er 1888 notiert. Er braucht
innere „Bewegungsansätze und -Centren, von wo aus der Wille um sich
greift . . ."163. Roux hat gegenüber Darwin zwar den inneren Kampf zur
Geltung gebracht, aber indem er ihn kausal-mechanisch analysiert, bleibt
auch er noch im ,Außenc. Die von innen her tätige Gestaltungskraft und ihre
158
Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (520), 145.
159
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, a.a.O., 26 (134), 183.
160
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
161
Hingewiesen sei nur noch auf das Abschirmen unseres „gewöhnlich als einzig gedachten"
»Bewußtseins* von dem „unzählig Vielfachen in den Erlebnissen" der „vielen Bewußt-
seins", die ersterem „nur eine Auswahl" vorlegen, „dazu noch lauter vereinfachte, über-
sichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Erlebnisse". Dies geschieht, damit unser
scheinbar einziges Bewußtsein ,Willensakte* vorbereiten kann. „Und gerade dieselbe Opera-
tion, welche sich hier abspielt, muß sich auf allen tieferen Stufen, im Verhalten aller dieser
höheren und niederen Wesen zueinander, fortwährend abspielen: dieses selbe Auswählen
und Vorlegen von Erlebnissen, dieses Abstrahiren und Zusammendenken, dieses „Wollen"
und schließlich die „Zurückübersetzung des immer sehr unbestimmten Wollens in bestimmte
Thätigkeit". (Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 304)
162
Nachlaß Winter 1883/84, VII l, 24 (16), 695-698. - Unser Zweckesetzen könnte unter
solcher Voraussetzung vielleicht „nur eine Zeichensprache sein für etwas Wesentlich-
Anderes — nämlich Nicht-Wollendes und Unbewußtes" (a.a.O., 697).
163
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (98),* 66.
164
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII l, 7 (25), 312.
165
Nachlaß Herbst 1887, VIII 2, 9 (91), 50.
166
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4), 303.
167
Wenn Nietzsche in JGB 13 „vor überflüssigen ideologischen Prinzipien" warnt (VI 2, 21 f.
vgl. Nachlaß VIII l, 2 (63), 87.), so meint er nicht, daß es unentbehrliche gebe, sondern
nur, daß manche ideologische , Ausdeutung* vorerst nicht, entbehrt werden könne (s. G A
XII, Aph. 628, S. 259f.). „Die anscheinende ^Zweckmäßigkeit'" ist „nur ein Ausdruck für
eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel", heißt es in einer Aufzeich-
nung vom Herbst 1887 (Nachlaß, VIII 2, 9 (91), 50).
168
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 37 (4). 303.
169
JGB 12, 19, VI 2, 21, 27.
170
S. oben S. 212f.
171
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, V 2, 11 (316), 461.
172
Nachlaß Herbst 1881, a.a.O., 12 (163), 502.
173
Daß derartige ,Ubertragungen' nicht eine philosophische Willkürlichkeit Nietzsches dar-
stellen, sondern die naturwissenschaftliche Forschung auch in der Gegenwart leiten, bedarf
kaum der Erwähnung, Im Hinblick auf Roux sei aber erwähnt, daß Haeckel ihm als Titel-
ergänzung zum ,Kampf der Theile* vorschlug: „züchtendes Prinzip im Zellenstaat"
(Mocek, a.a.O., 48).
174
Nachlaß Frühjahr 1888, VIII 3, 14 (81), 53.
175
Nachlaß Sommer-Herbst 1884, VII 2, 26 (277), 221. - Zum Selbsterhaltungstrieb als
ideologischer Inkonsequenz Spinozas s. JGB 13, VI 2, 21 f. Im gleichen Text wird Selbst-
erhaltung als „eine der indirekten und häufigsten Folgen" des Lebens als Wille zur Macht
interpretiert.
176
S. Nachlaß Frühjahr 1884, VII 2, 25 (427), 120f.; (430), (432), 122f.
177
Nachlaß Juni-Juli 1885, VII 3, 36 (22), 284.
gefühls über weitere Bereiche als bisher: alle gesunden Funktionen haben dies
Bedürfniß, — und der ganze Organismus . . . ist ein solqher nach Wachsthurti
von Machtgefühl ringender Complex von Systemen".
Ich habe diese Stelle mit Absicht nach dem Aph. 703 der Kompilation
,Der Wille zur Macht* zitiert, um erst jetzt die Ergänzung des Textes hinzu-
zufügen, die in KGW VIII 3, S. 154* erstmalig veröffentlicht worden ist.
Nietzsche schränkt nämlich das genannte organische Machtwachstum ein auf
die Zeit „bis zum Alter der Pubertät". Den Herausgebern des ,Willen zur
Macht* muß dies als eine zumindest mißverständliche Einschränkung erschie-
nen sein, anders läßt sich die Auslassung kaum erklären. Wir knüpfen hier die
Sachfrage an: wie steht es um die Machtausweitung des Leibes nach der Pu-
bertät?
Nietzsches Antwort auf diese Frage besteht in Hinweisen auf das Phäno-
men der Zeugung. 1886/87 bezeichnet er „das Zeugen" als „die eigentliche
Leistung des Individuums und sein höchstes Interesse folglich"; er faßt die
Zeugung als „höchste Machtäußerung" aus „dem Centrum der ganzen Indivi-
duation" auf.178 Als diese ist sie freilich andererseits Ent-äußerung: das als
Herrschaftsgebilde jeweils gesonderte Leibganze gibt Macht ab zugunsten der
Entstehung eines neuen. Der Verzicht auf Macht aus Macht heraus steht aller-
dings in Widerspruch zu Nietzsches grundlegendem Verständnis der gegen-
einander kämpfenden Willen zur Macht. In dessen Konsequenz liegt viel-
mehr, wie er 1885/86 die Zeugung charakterisiert: als ,jZerfall eintretend bei
der Ohnmacht der herrschenden Zellen das Angeeignete zu organisiren" —
im Unterschied zur Ernährung als „Consequenz der unersättlichen Aneig-
nung" des Willens zur Macht179. Diese Darstellung der Zeugung ergänzt
Nietzsche in einer späteren Aufzeichnung: „Wo Ein Wille nicht ausreicht,
das gesamte Angeeignete zu organisiren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die
Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe
mit dem ursprünglichen Willen"180.
a
178
Nachlaß Ende 1886-Frühjahr 1887, VIII l, 7 (9), 303.
179
Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, VIII l, 2 (76), 94.
180
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887, VIII l, 5 (64), 213, - Den für diesen Zusammenhang
herangezogenen Ausführungen Nietzsches liegt die Aufnahme von Gedanken W. H. Rolphs
zugrunde, dessen Buch Biologische Probleme zugleich als Versuch zur Entwicklung einer
rationalen Ethik (1882) er in der 2. Auflage (1884) erworben hat. Die nachstehenden Hin-
weise sollen dies in der hier gebotenen Kürze deutlich machen: 1. Rolph setzt „an die
Stelle von Darwins Hunger aus Nahrungsmangel einen ewigen Hünger aus Unersättlichkeit
in Folge von endloser Aufnahmefähigkeit" (a.a.O., 11882, 71). Nietzsche nimmt die Be-
stimmung der Unersättlichkeit auf (s.o.); sie konveniert seinem Verständnis des Willens
zur Macht, — wobei Erwähnung verdient, daß Rolph gelegentlich sowohl den Begriff des
, Willens' (a.a.O., 102) als auch den Begriff der ,Macht' (a.a.O., 133) heranzieht. - 2. Die
Unersättlichkeit der Lebewesen tendiert nach Rolph zur Einschließung von allem, was ihnen
,begegnet*, nicht nur des sie Nährenden. Bei den Amöben vollzieht sich dieses .Einschließen
als Umfließen, z.B. von Sandpartikelchen. (A.a.O., 42, 60) — Nietzsche: „,Ernährung*
ist nur abgeleitet: das Ursprüngliche ist: alles in sich einschließen wollen" (Nachlaß,
a.a.O.) — 3. Konjugation ist für Rolph „Ersatz für normale Ernährung" (a.a.O., 52,
vgl. lOOf.). Nietzsche: „Wo die Männchen aus Hunger die Weibchen aufsuchen und in
ihnen aufgehn, ist Zeugung die Folge eines Hungers." (Nachlaß Herbst 1885—Herbst 1886,
Vlil l, l (118) 34) Zweifellos im Anschluß an Rolph heißt es in JGB 36, VI 2, 51: das Pro-
blem der „Zeugung und Ernährung" sei „Ein Problem". — 4. Wenn die Grenze möglichen
Wachstums erreicht ist, tritt nach Rolph die Teilung des Protoplasmas ein; die Geteilten
beginnen ihre Arbeit von neuem (a.a.O., 58, 89ff.). Nietzsche: „Die Theilung eines Proto-
plasma in 2 tritt ein, wenn die Macht nicht mehr ausreicht, den angeeigneten Besitz zu
bewältigen: Zeugung ist Folge einer Ohnmacht." (Nachlaß, a.a.O.) — 5. Nach Rolph ist alle
Fortpflanzung Teilung; geschlechtliche Fortpflanzung unterscheidet sich bei aller Differen-
ziertheit nicht grundsätzlich von der ungeschlechtlichen (a.a.O. 90; Geschlechtsorgane sind
für ihn „physiologisch Organe zur Abführung von Nahrung", a.a.O., 62). Er führt diesen
Gedanken bis zur völligen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Kopulations-
organen „als Legeröhren" durch (a.a.O., 129). Auch für Nietzsche bestehen keine grund-
legenden Unterschiede innerhalb der organischen Stufungen hinsichtlich von ,Zeugung' und
Fortpflanzung. — Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß Nietzsche den Grund-
gedanken von Rolphs Abundanztheorie in seine Darwinismus-Kritik aufgenommen hat, und
zwar in FW 5, 349, V 2, 267 („in der Natur herrscht nicht die Npthlage, sondern der
Uberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige"), sowie in GD, Streifzüge . . .,
14, VI 3, 114 („der Gesammt-Aspekt des Lebens ist nicht die Nothlage, die Hungerlage,
vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung . . . Man sollte
nicht Malthus mit der Natur verwechseln"; zu letzterem vgl. Rolph, a.a.O., 71).
181
M 150, V l, 142.
182
ZaIII, 12, VI 1,250.
183
S. o. Anm. 162.
184
Nachlaß Herbst 1885-Herbst 1886, 1, 2 (76), 95.
Diskussion
Ulmer: Das Referat hatte so viele Bezüge, daß man sich überlegen muß,
was man in der Diskussion herausgreifen soll. Ein Erstes: Unabhängig von
der inneren Entwicklung von Nietzsches Konzeption und von den Einflüssen,
die er verarbeitet hat, läßt sich fragen, welche Bedeutung dem Prinzip des
,Von-Innen-heraus* als einer philosophischen Idee von Nietzsche zukommt.
Wenn man so fragt, dann zeigt sich, daß Nietzsche hierin viele Vorgänger
hatte: der Gedanke, daß das Organische und überhaupt das Sein von innen
heraus wird, findet sich in der gesamten Überlieferung. Meiner Meinung nach
steht er vor allem bei Leibniz im Vordergrund und findet seine höchste
Ausprägung im Deutschen Idealismus. In systematischer Hinsicht gehörte
Nietzsche daher dieser Linie an.
Ein Zweites: Sie haben gezeigt, wie bei Nietzsche der Begriff des Willens
zur Macht in seiner Anwendung auf den inneren Organismus sich wandelt
und er gleichsam immer komplexer und differenzierter wird. Das ist sehr
beeindruckend, weil diese Differenzierung mit Erkenntnissen der moderen
Molekularbiologie übereinstimmen würde. Ich frage mich nur, wie man dann
gleichzeitig diesen Grundbegriff des Willens zur Macht — als Willen zu
immer mehr Macht — festhalten kann, der ja nicht nur das Innere, sondern
auch das Verhältnis nach außen betrifft. Da scheinen mir ein Bruch oder
wenigstens Schwierigkeiten in seiner Konzeption aufzutreten. Denn wenn
Nietzsche den Organismus so weit ausdeutet, daß jedes Teilchen in ihm
selbständig ist, sich aber andererseits völlig einfügt, gewissermaßen freiwillig
gehorcht, was ja nicht dasselbe ist wie in Dienst genommen werden, unter-
worfen worden zu sein, — so finden wir doch hier Momente, die nicht in den
Grundzug der Steigerung der Macht passen.
Gilman: Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war das holistische Konzept
des Organischen nicht mehr nur eine bloße Metapher, sondern begann, in der
Wissenschaft praktische Anwendung zu finden. Es waren aber nicht nur die
Naturwissenschaften, die diesen Typus universaler Struktur suchten. Zu
erwähnen wäre das neu entstehende Gebiet der Soziologie und Beiträge
hierzu von Denkern wie Tönnies. Nietzsches Reaktion auf diese Art des
Denkens hatte jedoch ihre Wurzel* in seiner Lektüre populärwissenschaft-
lieber Werke über die „neue Biologie". Eine solche Struktur findet sich
natürlich bei Darwin und als Resultat bei Spencer, ^ber auch in der mehr
programmatischen Arbeit, die von Bateson über biologische Symmetrie
geleistet wurde.
Pestalozzi: Wenn Herr Ulmer auf die Tradition hinweist, so denke ich
als Mittelglied auch an den Genfer Naturphilosophen Charles Bonnet, bei
dem dieses „Von-Innen-heraus" auch in den Naturwissenschaften erscheint,
als Lehre vom Keim. Von Bonnet stammt auch der Begriff des „organischen
Ganzen". Als Eindeutschung von „le tout organique" kommt er zum
erstenmal in Lavaters Bonnet-Übersetzung vor und kann dann über Goethe
zu Nietzsche weitergereicht worden sein. Aber es ist nicht nur diese
Bestimmung, die dahin zurückweist, sondern auch Nietzsches merkwürdiges
Analogiedenken. Es ist mir aufgefallen, daß Nietzsche eigentlich das natur-
wissenschaftliche Denken von Roux in ein archaisches Denken ummünzt.
Was er zunächst offenbar unter dem Vorbehalt der Bildlichkeit aufgreift,
nimmt er dann mehr und mehr beim Wort. Es scheint sich mir hier nicht nur
um ein experimentierendes, sondern auch um ein dilettierendes Denken zu
handeln. Wenn der Leib mit der Gesellschaft verglichen wird und das eine aus
dem anderen erhellt wird, so scheint mir hier ein dichterisches Denken an
einem Platz vorzuliegen, an den es eigentlich um 1880 nicht mehr gehört.
1760 war das noch etwas anderes.
Biser: Die Diskussion geht auf die Problematik der Übertragbarkeit von
sozialen Modellen auf die Vorgänge im Organismus zu. In diesem Zusammen-
hang war mir eine sprachtheoretische Bemerkung sehr interessant, die Sie
ganz am Anfang gemacht haben, Herr Müller-Lauter, und zwar aus der
Morgenröte, wo Nietzsche selbst die Möglichkeit problematisiert, die Affekt-
sprache auf den physiologischen Bereich zu übertragen, und wo er zur
Konklusion kommt, daß keine direkte Übertragung möglich sei. Ich möchte
zu erwägen geben, ob man diese Problematisierung nicht als Vorzeichen vor
das Spätere setzen könnte; denn offensichtlich ist sie von Nietzsche nie
, widerrufen worden. Seine sprachkritische Bemerkung bleibt eigentlich stehen
für den ganzen Komplex, wie er entwickelt worden ist. Man könnte daher
sagen, daß die Übertragung des Willens zur Macht und des .Organismus-
Modells auf den konkreten realen Organismus zwar durchgehend in den
Nachlaß-Notizen erfolgt, aber vorbehaltlich dessen, was sprachtheoretisch in
der Zeit der Morgenröte ausgesprochen wurde, so daß man das affirmativ
Ausgeführte mit Einschränkungen zur Kenntnis nehmen könnte.
Heller: Wenn der Wille zur Macht das Anorganische ist, auch das
Organische, das Soziale, wie das Individuelle, das Kranke, wie auch
Ausdruck des Gesunden, das Vornehme und das Unvornehme, schließlich ein
Ausdruck der Wille-zur-Macht-Hypothese selbst, da es ja nichts außerdem
gibt, — so frage ich mich, ob diese Hypothese nicht zu jenen gehört, die alles
begreifen und alles erklären wollen, im Grunde aber nichts erklären.
Ulmer: Wir müßten dann über die Frage sprechen, wann etwas produktiv
ist und in welchem Sinne, — auch darüber, ob produktive Erklärung in Ihrem
Sinne, Herr Heller, ein Kriterium für Philosophie ist. Aber das würde hier zu
weit führen.
Behler: Da heißt es: „Gesetzt, daß es gelänge —, so hätte man sich das
Recht verschafft", und so weiter.
Bebler: Ich bin durchaus nicht für eine Ausschließung des Nachlasses.
Ich bin nur für eine Berücksichtigung des Nachlasses cum grano salis. So habe
ich in der Friedrich Schlegel-Ausgabe einen scharfen Schnitt zwischen den
veröffentlichten Schriften und dem Nachlaß gemacht, um von vornherein auf
den unterschiedlichen Wen der Aussagen aufmerksam zu machen.
Ulmer: Aber sie hängen innerlich zusammen, auch wenn man sie nicht
endgültig systematisch ordnen kann. Jedenfalls hat Nietzsches Nachlaß ein
anderes Gewicht als sonst ein Nachlaß.
Parallele, mit der manche vielleicht hier nicht übereinstimmen, zu Freud, der
auch große Hoffnungen auf die Physiologie gesetzt, abfer auch ihre Grenzen
gesehen hat. Immerhin ist es ungewöhnlich für einen deutschen Philosophen,
daß er, anders als die idealistische Tradition und anders als beispielsweise
später Heidegger, sich nicht den Naturwissenschaften gegenüber feindlich
stellt, sondern daß er hofft, daß sie zur Klärung von ganz wesentlichen
Problemen beitragen werden."
Janz: Wir müssen auch daran denken, daß die Behandlung der Natur-
wissenschaften für Nietzsche eine unglückliche Liebe war. Er wollte ja nach
seinem Abschluß in Leipzig nach Paris gehen und mit Rohde zusammen
Naturwissenschaften studieren, da platzte die Basler Professur dazwischen.
Später wollte er das nachholen. Er hat auch in seinen Briefen immer wieder
seinen Mangel in der Kenntnis der Naturwissenschaften bedauert. Darin
stimme ich mit Ihnen, Herr Kaufmann, überein, daß hieraus immer wieder
eine gewisse Unsicherheit resultiert. Diese Unsicherheit seinern Werk gegen-
über kommt übrigens oft zum Ausdruck. So hat er mit einer furchtbaren Scheu
den ersten Teil des Zarathustra herausgegeben, und wenn nicht Peter Gast dar-
auf so jubelnd reagiert hätte, hätte er das Buch vielleicht überhaupt nicht heraus-
gebracht. Es ist durchaus möglich, daß er mit diesem Zweifel behaftet auch
den hier diskutierten Nachlaß zurückgehalten hat, mit dem Hinblick darauf,
daß seiner Philosophie die naturwissenschaftliche Basis fehlte.
Ulmer: Ich möchte auf einige Bemerkungen eingehen, die von Herrn
Kaufmann, aber auch von anderen kamen. Zunächst, Herr Kaufmann, wun-
dert es mich, daß Sie sagen, daß die deutsche Philosophie, insbesondere der
deutsche Idealismus, die Naturwissenschäften zu wenig als wesentlich ange-
sehen hat und daß Nietzsche hier eine Ausnahmestellung einnimmt. Es mag
eine Banalität sein, wenn ich auf Schelling verweise, wenn ich sage, daß die
Naturwissenschaften in vielen Phasen der deutschen Philosophie eine wesent-
liche Rolle gespielt haben, — Sie schütteln mit dem Kopf, Herr Kaufmann,
aber Sie müssen den Entwicklungsstand der Naturwissenschaft zur Zeit
Schellings bedenken. Schelling befand sich durchaus auf dem Stand der dama-
ligen Naturwissenschaft. Zur Frage der Leiblichkeit sollten Sie an die
„Hegeische Philosophie des Geistes" in der Großen Enzyklopädie denken, an
die erste Abteilung A. Die Anthropologie, wo ja schon in einer Weise, wie
das vorher nie geschehen ist, die Leiblichkeit in die Interpretation des
Geistigen mit hineingenommen wird. Da finden wir schon sehr weitgehende
Ausführungen, da würde ich Nietzsche nicht als so neuartig ansehen, auch
wenn er hier entscheidende Schritte weitergeht.
Nun noch zur Frage des Nachlasses. Wir wissen doch alle, daß Nietzsche
daran gedacht und vor seinem Zusammenbruch auch damit begonnen hat,
seinen letzten Plan auszuführen: die Umwertung aller Werte in vier Teilen.
Der erste ist der Antichrist, der zwar später erscheint, aber von Nietzsche
schon druckfertig gemacht worden war. Es besteht kein Zweifel, daß er das,
was er bisher an Material gesammelt hatte, dort mit einbringen wollte, es teil-
weise auch in den Antichrist schon mit eingebracht hat. Deswegen ist es nicht
in die von ihm zuvor veröffentlichten Aphorismen-Bände eingegangen. Also
ich würde nicht sagen, daß das Material nur deswegen nicht publiziert wurde,
weil er damit noch nicht zufrieden war. Die anderen drei Teile von Nietzsches
geplantem Hauptwerk konnten eben einfach nicht mehr ausgeführt werden.
Salaquarda: Zu der Diskussion über den Nachlaß und darüber, daß sich
Nietzsches Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften vorwiegend im
Nachlaß findet, möchte ich Folgendes bemerken: Im Vortrag ist eine Proble-
matik angedeutet worden, die man mitberücksichtigen muß: wenn Nietzsche
in veröffentlichten Werken, wie etwa Götzendämmerung, Jenseits, aber auch
Ecce homo, Bemerkungen zu bestimmten Themen macht, z. B. zum Darwi-
nismus oder zum Willen zur Macht, dann sind offenbar die Ergebnisse seiner
Behler: Nur ein Satz, Herr Müller-Lauter und Herr Salaquarda, zur Klä-
rung meiner These über den Nachlaß. Ich möchte den Nachlaß keineswegs in
seiner Bedeutung abwerten, sondern lediglich, und damit renne ich offen-
sichtlich offene Türen ein, die Andersartigkeit der Nachlaßschriften unter-
streichen, die ihre besondere Bedeutung haben, und auch ganz neue Dimen-
sionen Nietzsches eröffnen können. Darin lag ja schließlich das Interessante
dieses Vertrages, daß die Dimension des naturwissenschaftlichen Denkens
Nietzsches auf gewiesen wurde, selbst wenn es sich dabei um eine Liebe han-
delte, die keine volle Erfüllung gefunden hat.
Kritik nimmt seinen Ausgang von dem Gedanken, die Entwicklungen in der
Natur seien nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß her abzuleiten. Er hat
dies im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und in Götzen-Dämmerung aus-
geführt, in Ausführungen, die W. H. Rolphs Abundanztheorie entlehnt sind,
ohne daß er diese Quelle nennt; ich werde darauf in einer Anmerkung zur
Druckfassung des Vortrags eingehen. Voll verständlich wird Nietzsches
Argumentation jedenfalls nur, wenn man seine Rolph-Lektüre berücksichtigt.
Das gilt übrigens auch für seine Ausführungen zur Zeugung. Ich muß es hier
und jetzt bei diesem Beispiel bewenden lassen.