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Seine B e d e u t u n g f ü r Hegels P h i l o s o p h i e 1 )
Von
Jean Wahl (Lyon)
Was ursprünglich im Innersten der Seele des Verfassers der L o g i k
lebte, war eine christliche Schau des Kreuzes und eine „Boehmesche"
Schau vom Zorn Gottes. Diese zwei Mysterien sind das, was im Inner-
sten der Seele dieses Rationalisten lebt; in der Seele dieses Optimisten
dieser doppelte Schmerz. Der Zorn Gottes erscheint als das Prinzip der
Dialektik und jener Bewegung des Zurückgehens in sich, in welcher sich
die Dialektik vollendet (Rosenkranz S. 547).
Das unglückliche Bewußtsein — mehr als irgendein anderer hat uns
Einer sein Wesen entschleiert, insoweit es von uns gefühlt wird, und
dieser Eine ist Pascal. Vielleicht aber kann man in der Spekulation noch
weiter gehen als e£, wenn man mit Boehme vom Schmerz des Sohns bis
zum Schmerze des Vaters aufsteigt2).
Die Theologie Meister Eckharts, die gedankenreichen Träume Boeh-
mes verschmelzen in Hegels Weltanschauung mit der lutherischen Er-
fahrung des Heils. Weit entfernt von dem Glauben, die Hegeische Philo-
sophie sei eine rein rationalistische, möchten wir eher sagen, sie sei ein
Ringen um die Rationalisierung eines Grundes, den die Vernunft nicht
erreicht. Trotz allem, was Hegel mitunter sagt, gibt es für die Vernunft
*) Im Einverständnis mit dem Verfasser und dem Verlag geben wir hier das zu-
sammenfassende Kapitel in,dem Buche „Le m a l h e u r de l a c o n s c i e n c e d a n s
la P h i l o s o p h i e de H e g e l" (Editions Rieder, Paris 1929) in deutscher Über-
tragung.
Die H e g e l - Z i t a t e beziehen sich auf die erste Gesamtausgabe von Hegels
Werken, Berlin 1832, besonders Bd. I und II; ferner auf Rosenkranz, Hegels Leben,
Berlin 1844; und auf die Theologischen Jugend Schriften, hrsg. von Herman Nohl.
2
) Hier ist anzumerken, daß Hegel schon in der Phänomenologie in den Anschau-
ungen Boehmes bloß „Vorstellung" sieht, die „des Begriffs entbehrt" (S. 582).
Gleichzeitig also gelangt man zu den Ideen der absoluten Freiheit und
des absoluten Leidens, zur Idee des „spekulativen Karfreitags" oberhalb
der Sphäre von Geschichte und Gefühl. Denn was sich als Geschichte dar-
stellte, darf uns nicht vergessen lassen, daß in Wirklichkeit das Reich der
Geschichte schon überschritten ist. Man muß die beiden Ideen der Dauer
und der Ewigkeit zugleich im Geiste haben, um zu sehen, wie sie sich in
der Anschauung einer Dauer und einer Veränderung im Ewigen ver-
einigen3).
Feiert man den spekulativen Karfreitag in seiner ganzen Zerrissen-
heit, in seiner ganzen Verlassenheit, in der Härte dieses Gottestodes,
dann wird man ihn nicht mehr in einer Opferung der sinnlichen Welt
erblicken, wie Kants und Fichtes Schüler es meinten, sondern dann wird
man aus dieser Härte die tiefste Süßigkeit quellen sehen, die höchste
Totalität, die höchste Idee in ihrem ganzen Ernst und ihrer heitersten
Freiheit; denn das Glück ist ein Sturmvogel; es wird geboren aus dem
Unglück, es lebt im Unglück; es ist der Gegenalkyon; es ist der Sturm
selber, der seiner selbst im rasenden Zentrum, aber auch in allen Win-
dungen seines Wirbels bewußt wird.
Nicht anders die Flamme, wenn sie ihre Substanz dauernd wandelt
und sie in ihrer bleibenden Form bewahrt. Die Bewegung ist Ruhe, das
unendliche Wort ist Schweigen. Nicht anders die absolute Bewegung und
die absolute Negation, die eins sind mit der sich selbst genügenden
und in sich ruhenden Substanz. Nicht anders jene Mänaden, deren
Tumult die Bewußtwerdung des Tumults der Natur aus ihr selbst heraus'
bedeutet, und die sich den olympischen Göttern einreihen, ohne etwas
von ihrer Bewegung zu verlieren; da sie aus dieser Bewegung einen
ruhigen Reigen bilden, ja etwas wie einen stillen Gesang.
Nicht nur ist der Schmerz der Seele Zeugnis des Geistes, nicht nur
ist er durch den Glauben die Bejahung der göttlichen Erscheinung,
deren wir bedürfen (Philosophie der Religion II, S. 239), nicht nur hat
das unglückliche Bewußtsein seine Stelle im glücklichen Bewußtsein, gleich-
wie jeder überholte Moment sich im letzten Moment wiederfindet — wir
dürfen vielleicht noch sagen, daß es das bloß verdunkelte Bild des glück-
lichen Bewußtseins ist.» Denn es ist Übergang von einer Entgegengesetzt-
heit zur anderen und dadurch irgendwie deren Einigung. Es ist wie der
rückgeworfene Strahl der Flamme des glücklichen Bewußtseins, ist das
3
) Der Gedanke Herders, der auch der Goethes war, und nach dem das Ziel immer
und niemals erreicht ist, kommt mit einer Intuition der Mystik, vorzüglich Meister
Eckharts überein, die von der unendlichen Bewegung und der ewigen Ruhe der Gottheit
spricht.
Antithesis und nicht wie eine Synthesis, oder doch nicht als Synthesis von zulänglicher
Kraft. Er bat nicht zu einer Religion des Volkes gelangen können, sondern nur zu
einer auf Individuen oder kleine Gruppen beschränkten Religion. Er hat nicht die Fülle
der Kraft besessen (S. 284), obwohl viele seiner Worte von erstaunlicher Unerschrocken-
heit sind (vgl. S. 290). Über die Bedeutung der Tapferkeit, den „Kranz aller Tugenden"
siehe Rosenkranz, S. 131, Naturrecht, S. 387 und Nohl, S. 367 und 277.
von der Demut und vom Triumph ist hier wieder aufgenommen. Gegen-
über den Reflexionsphilosophien hatte die Romantik die Idee der Person ins
Licht gerückt; aber diese Idee selbst lief Gefahr, sich zu verflüchtigen,
wenn man die Reflexion· nicht neu in sie hineinstellte. Die Person, der
Staat, werden zum konkret Allgemeinen nur, wenn die Reflexion rings
um das lebendige Feuer kreist, dessen bewegtes Maß sie ist.
Es gilt, aus der Substanz ein Selbstbewußtsein zu machen und aus
dem Selbstbewußtsein eine Substanz. Die Doppelbewegung vereint sich
im konkret Allgemeinen. Die Substanz ist Selbstbewußtsein, weil sie
Übergang zum Entgegengesetzten, weil sie Bewegung ist; das Bewußtsein
ist Allgemeinheit, ist Substanz, weil es sich eben in diesem Entgegen-
gesetzten ruhig aufhält. Aber diese Substanz ist Selbstbewußtsein; sie
ist Geist.
Wenn man sagen kann, es sei das Ziel des Hegelianismus, aus dem
Subjekt eine Substanz zu machen — im Gegensatz zur ersten Konzeption
Fichtes —> so ist es nicht weniger sein Ziel, aus der Substanz ein Subjekt
zu machen — im Gegensatz zu Schelling. Gleichzeitig aber besteht dies
Ziel darin, über all die falsch geschaffenen Gegenüberstellungen des un-
glücklichen Bewußtseins zu triumphieren: über die Gegenüberstellung des
Endlichen und Unendlichen, des Scheins und des Seins, des Diesseits und
des Jenseits. Das Unendliche stellt sich dem Endlichen nicht gegenüber.
Es enthält es in sich, erlöst und sublimiert. Jenes harte Wort „Gott ist
tot" ist zugleich das holdeste Wort. Die gleiche wechselseitige Trans-
formation der Themata läßt sich ohne Unterlaß vernehmen. Vom Blick-
punkt des Geistes, der sich bereits als göttlich fühlt, ist jene Sicht Gottes,
die sich von ihm getrennt zu haben schien, mit ihm versöhnt; das Sinn-
liche wird etwas Allgemeines; sein Tod ist Auferstehung im Geiste.
Dies „Anderssein", diese sinnliche Gegenwart wird zurückgenommen,
wird verneint, wird ein Allgemeines und eint sich dem Wesen selbst
(Phänomenologie S. 584). Von der Individualität ausgehend, mündet
man bei der Allgemeinheit des Geistes, „der in ihrer Gemeinschaft lebt,
täglich in ihr stirbt und täglich in ihr aufersteht8)". Dies ist nicht mehr
der Tod im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern der Tod der Einzel-
heit, die in dem Allgemeinen aufersteht (ebd.) oder — von der anderen Seite
gesehen — der Tod der Abstraktion, der Abtrennung vom göttlichen
Wesen (S. 590), die Verneinung der Verneinung und der Tod des
Todes9).
8
) Vgl. Schelling, Vorlesungen über die Methode, Erste Gesaratausg. V, S. 287, 294.
e
) Vgl. Werke, Bd. VI, S. 321: „Das Allgemeine in seiner wahren und umfassen-
den Bedeutung ist übrigens ein Gedanke, von welchem gesagt werden muß, daß es Jahr-
»,ani Ende söhnt der Geist mit allem uns aus". „Wir trennen uns nur, um
inniger einig zu sein, göttlicher, friedlicher mit allem, mit uns. Wir ster-
ben, um zu leben" (ebd. Bd. IV/I45). Und er vergleicht die Dissonanzen
der Welt mit dein Zwiste der Liebenden; „Versöhnung ist mitten im
Streit, und alles Getrennte findet sich wieder"' (Hyperion Bd. IV1i45)11).
Abstraktion und Unglück sind Synonyma; das konkret Allgemeine
wird die Freude des Geistes sein, die Idee wird uns nicht mehr erscheinen,
als wäre sie über ein fremdes Wesen geworfen, sondern als ganz nah von
uns, als unser Werk (Nohl S. 71), und zugleich als die Kraft, die uns
schafft und die unsere Substanz ist. Die Erkenntnis, die zunächst als
Fälschung und Trennung erschien, ist Offenbarung und Einigung.
In dem als Dreiheit gefaßten Gott erblicken wir den 'erst noch un-
bestimmten und allgemeinen Begriff; dann wird er einzeln gegenüber
anderen Individuen, endlich vollbringt er im Geiste die Einigung des Ein-
zelnen und des Allgemeinen und gelangt zur wahrhaften Individualität.
So findet Hegel jene Idee der Dreieinigkeit, des Dreiecks der Dreiecke
wieder, wie er sie unter Baaders Einfluß gefaßt hatte, nun aber auf andere
AVeise vertieft.
Mehrmals sahen wir, wie Hegel sein Ziel fast schon berührte, nahe
schon jener erfüllten Unendlichkeit, von der Schiller gesprochen hatte;
jedoch Liebe und Leben, wie er sie zunächst faßte, konnten ihm nicht
völlig Genüge tun. Das Leben schleppt das Viele mit sich, zum Tod und
zur Liebe gehört ein Gegenstand, und die Liebe kann unglücklich sein.
Aber muß man darum wirklich im Unbewußten versinken ? Einen Augen-
blick lang — wir sahen es — hat Hegel es geglaubt. Aber wenn es wahr
ist, daß Objekt und Subjekt sich dank dem bejahten Schicksal versöhnen
können, wenn es wahr ist, daß die .wahrhafte Liebe —- fern davon, den
Begriff zu verneinen — vielmehr der höchste Begriff ist; wenn das Spiel
des Hegeischen Denkens — durch die Thesen und Antithesen Platos und
Kants in Bewegung gesetzt -«-. schließlich in ihnen das Wesen der Ver-
nunft selbst entdeckt hat, dann sehen wir, daß die drei Worte Schicksal,
Liebe und versöhnte Antinomie uns offenbaren, was die Vernunft ist. Die
Vereinigung der Tugenden, deren eine alle anderen herbeiruft, der lebende
Organismus, die Beziehung des Baums zum Ast, des Auges zum Licht, und
Gottes zu Gott, die Versöhnung mit dem Schicksal, die Verschmelzung
u
) Vgl. Ich-Roman, Ausgabe Joachimi, S. 177.
Eins der grundlegenden Probleme Hölderlins ist in der Tat das Problem der Tren-
nung (Thalia-Fragment, ebenda S. 158, 171; Empedokles S. 41 u. 89) und der Versöh-
nung (Hyperion Bd. IV/I54; Thalia-Fragment S. 175;.Empedokles S. 130).
der Reflektion mit ihrem Gegenstand; die Verbindung der Verbindung und
der Nichtverbindung — alles dies nichts als Symbole auf dem Weg jener
Einswerdung des Vielen mit dem Einen, auf dem keine Allgemeinheit
mehr bestehen bleibt, all dies nichts als Symbole des Konkret-Allgemeinen.
Der synthetische Charakter des Lebens und der synthetische Charakter der
Liebe sind von nun an fest gegründet, da sie als identisch mit dem synthe-
tischen Charakter der Vernunft erscheinen. Nun werden wir endlich
jenem steten Abgleiten entgehen, das uns bald in das unglückliche Bewußt-
sein, bald in das Unbewußte stürzen ließ. Unser Sinnen über Antigone
und Ödipus auf Kolonos, über die Dialektik der Reinen Vernunft und des
Parmenides und über das Evangelium wird uns einsehen lassen, in welcher
Richtung wir die Natur der wahren Idee, des Begriffs zu suchen haben.
Es ist nicht nur richtig zu sagen: für Hegel sei der Begriff das, was
für die orientalischen Religionen das Sein, für Griechenland und Juda die
schöne oder erhabene Wesenheit, ja was der Gegenstand des Christentums
war, sondern ebenso richtig ist es, zu behaupten: für Hegel, der hierin der
Nachfolger der Gesamttradition der deutschen Mystiker ist, bedeute der
Begriff auch das, was er Vater, Sohn und heiligen Geist nennen würde; be-
deute er das Wesen, erst als Insichsein und dann als Außersichsein; be-
deute er endlich die Erkenntnis des Selbst im Anderen und das Fürsich-
sein; er bedeute die Liebe, die Identität des Vater und des von ihm Ge-
zeugten und daß diese Einheit G e i s t ist: der Geist, „indem er die drei
Elemente seiner Natur durchläuft; diese Bewegung durch sich selbst hin-
durch macht seine Wirklichkeit aus" (Phänomenologie S. 591, vgl. S. 576;
vgl. auch Philosophie der Geschichte S. 408, 413; Geschichte der Philo-
sophie III, 22, 107, 115, 150). So geschieht es, daß er oberhalb des Ab-
strakten, ja selbst oberhalb der Dialektik zum Positiven gelangt, zum „Spe-
kulativen", dessen Identität mit dem negativen dialektischen Element
unsere Erforschung des unglücklichen Bewußtseins und die Reflexion
über Gottes Tod uns begreifen ließen.
Solange das Bewußtsein einzig und allein ein Jenseits seiner hervor-
bringt, das es umsonst zu erreichen trachtet, kann der Geist keine Ruhe
finden (Phänomenologie S. 575); er ist zu klein für sich selber, weil er
größer ist als er selbst t
\Vie Hegel es in seinem E r s t e n S y s t e m aussprach (Rosenkranz
S. in): „Das höchste Wesen hat die Welt erschaffen, die für dasselbe von
ätherheller Durchsichtigkeit und Klarheit ist; aber diese ist für sich selbst
finster." Das Dunkel; selbst muß sich durchleuchten, ohne etwas von jenem
ursprünglichen Grunde zu verlieren, den es besitzt. Das unglückliche Be-
wußtsein ist „aufgeboten". Es erscheint, einer Insel gleich, die im Sonnen-
Archiv für Geschichte der Philosophie (Band XL, Heft 3) 26