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SERIES IN THE PHILOSOPHY

OF KARL R. POPPER AND CRITICAL


RATIONALISM

SCHRIFTENREIHE ZUR PHILOSOPHIE


KARL R. POPPERS UND DES KRITISCHEN
RATIONALISMUS

Herausgegeben von Kurt Salamun

BAND XVII
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KRITISCHE RATIONALITÄT
UND VERSTEHEN
BEITRÄGE ZU EINER
NATURALISTISCHEN HERMENEUTIK

Jan M. Böhm

Amsterdam - New York, NY 2006


Düsseldorf, Univ., Diss.

D 61

The paper on which this book is printed meets the requirements of


‘ISO 9706: 1994, Information and documentation - Paper for documents -
Requirements for permanence’.

ISBN: 90-420-1816-X
Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2006
Printed in The Netherlands
Meinen Eltern gewidmet
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VORWORT

Die hier vorgelegte Arbeit enthält drei inhaltlich zusammenhängende erkennt-


nistheoretische Untersuchungen über Probleme des Verstehens und Interpretie-
rens von Rede und Text. Auf der Grundlage des im ersten Teil unternommenen
Versuchs, den epistemologischen Status menschlicher Zeugnisse zu bestimmen,
dienen die Teile zwei und drei dieser Arbeit dazu, den Stellenwert von Rationa-
litäts- und Wahrheitsunterstellungen beim Verstehen und Interpretieren zu klä-
ren. Dies erfolgt in kritischer Auseinandersetzung sowohl mit der sogenannten
Situationslogik Karl Poppers als auch mit einschlägigen Positionen der analyti-
schen Philosophie. Das Ziel meiner Untersuchungen besteht jeweils darin, die
von unterschiedlichen Autoren vorgebrachten Behauptungen einer erfahrungs-
unabhängigen Geltung der Prinzipien des Verstehens und Interpretierens einer
eingehenden Prüfung zu unterziehen – sei es im Zusammenhang mit der im
Rahmen der Sozialen Erkenntnistheorie geführten Diskussion über den Status
von menschlichen Zeugnissen, sei es in Form einer Kritik des von Karl Popper
im Kontext seiner Situationslogik vertretenen Rationalitätsprinzips oder auch in
der eingehenden Analyse der Argumente, die von analytischen Philosophen zu-
gunsten einer erfahrungsunabhängigen Geltung des principle of charity vorge-
bracht wurden. Diese kritische Ausrichtung meiner Arbeit im Sinne der Zu-
rückweisung der genannten Behauptungen hat jedoch auch eine konstruktive
Dimension: Sie zeigt die Möglichkeit einer naturalistischen Hermeneutik, d.h.
einer Verstehenslehre, die konsequent auf die Beanspruchung apriorischen Wis-
sens verzichtet.
Danken möchte ich zuerst Axel Bühler, der diese Dissertation an der Univer-
sität Düsseldorf besonders in der Schlußphase mit außergewöhnlichem Enga-
gement betreute und mich dadurch maßgeblich zu ihrer Fertigstellung motivier-
te. Ein ebenso herzlicher Dank gebührt Hans Albert, dessen Schriften mich vor
vielen Jahren überhaupt erst zum kritischen Rationalismus führten, und der nun
auch im persönlichen Kontakt mit freundschaftlicher Unterstützung meine Dis-
sertation begleitet hat. Obwohl sich im Verlauf der Arbeit bei mir zunehmende
Zweifel einstellten, ob erkenntnistheoretische Probleme jemals zufriedenstellend
gelöst werden können, fühle ich mich durch Hans Alberts Einschätzung, meine
Arbeit habe das ihr gestellte Problem gelöst, außerordentlich geehrt.
Oliver Scholz bin ich dafür verbunden, mich auf die Bedeutung der Diskus-
sion über das Zeugnis anderer und ihre inhaltliche Verbindung mit der Debatte
über den Status der Prinzipien des Verstehens aufmerksam gemacht zu haben.
Seine Studien über diesen Themenkomplex bildeten eine wichtige Inspirations-
quelle für meine Arbeit, wenngleich ich in zentralen Aspekten entgegengesetzte
Auffassungen vertrete. Es freut mich, daß meine Kritik ihn – im Rahmen eines
Kolloquiums – dazu angeregt hat, innerhalb seiner Theorie der hermeneutischen
Präsumtionen neuerdings verschiedene Bedeutungen von apriorischer Gültigkeit
VIII Vorwort
zu unterscheiden. Ob diese Unterscheidung bestimmte Teile meiner Kritik an
jeglichen Ansprüchen auf erfahrungsunabhängig geltende Prinzipien des Ver-
stehens entschärft, muß sich in einer schriftlichen Kontroverse entscheiden, zu
der ich gern bereit bin, sofern sie gewünscht ist.
Weiterhin möchte ich Dieter Birnbacher und Volker Gadenne für ausführli-
che und wertvolle Rückmeldungen auf meine Arbeit danken; ebenso den Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern an meinen Lehrveranstaltungen zur Hermeneutik
an der Universität Duisburg-Essen für manche anregenden Diskussionen. Nicht
nur für fachphilosophische Diskussionen allein, sondern besonders für die vielen
guten Gespräche jenseits theoretischer Philosophie und für die praktische Unter-
stützung in den Wochen vor der Abgabe der Dissertation danke ich meiner Frau,
Claudia Hoock. Meinen Eltern, die mein Studium und die Promotion jahrelang
gefördert und das Zustandekommen der Arbeit mit Interesse verfolgt haben, ist
das entstandene Werk gewidmet. Im Hinblick auf die Veröffentlichung meiner
Dissertation ist insbesondere Kurt Salamun zu danken, der entschieden hat, sie
in seine Schriftenreihe zur Philosophie Karl Poppers aufzunehmen.

Münster i.W., im August 2005 Jan M. Böhm


INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT V II

EINLEITUNG 1

1. TEIL: DAS ZEUGNIS ANDERER –


EINE QUELLE GERECHTFERTIGTER WAHRER MEINUNG? 5

1.1 Die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie 5

1.2 Philosophiehistorischer Ausgangspunkt 8


1.2.1 David Hume über das Zeugnis anderer 8
1.2.2 Thomas Reid über das Zeugnis anderer 11

1.3 Ein später Sieg der Common-Sense-Philosophie? 13


1.3.1 C.A.J. Coadys Kritik an David Hume 13
1.3.2 Was sind „Zeugnisse“ überhaupt? 17

1.4 Über die Möglichkeit eines lokalen Reduktionismus 21

1.5 Müssen wir Zeugnisse für wahr halten? 27

1.6 Karl Popper über die Quellen des Wissens 36


1.6.1 Darstellung 37
1.6.2 Fallibilismus ist nicht genug – das Problem der Rechtfertigung 41
1.6.3 Soziale Erkenntnistheorie und kritischer Rationalismus –
die soziale Verfassung der Wissenschaft 47

1.7 Zwischenergebnisse 50

2. TEIL: KARL POPPERS THEORIE OBJEKTIVEN VERSTEHENS


(SITUATIONSLOGIK) 55

2.1 Problemstellung 55

2.2 Karl Poppers Erkenntnisanspruch, sein Begriff von Hermeneutik


und das Verstehen in den Natur- und Geisteswissenschaften 55

2.3 Die Entwicklung der Situationslogik im Überblick 60


X Inhaltsverzeichnis

2.4 Die erste Konzeption der Situationslogik 61


2.4.1 Die Autonomie der Soziologie und die Situationsanalyse 61
2.4.2 Situationslogik als Metapher für instrumentelle
Notwendigkeiten 63
2.4.3 Die Nullmethode der Konstruktion von
Modellen rationalen Handelns 64
2.4.4 Beurteilung 68

2.5 Die zweite Konzeption der Situationslogik 69


2.5.1 Der Begriff der Situation 69
2.5.2 Das Rationalitätsprinzip 72

2.6 Die ‚Drei-Welten‘-Ontologie und das objektive Verstehen –


die dritte Konzeption der Situationslogik 76

2.7 Die Anwendung der Situationslogik und


Poppers Interpretationspraxis 78
2.7.1 Das Fallbeispiel: Galileis Theorie der Gezeiten 78
2.7.2 Situationslogik und Nachvollzugs-Hermeneutik im Vergleich 80
2.7.3 Karl Poppers Interpretationspraxis 82

2.8 Poppers Situationslogik im Vergleich mit der


objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns 87

2.9 Grenzen und Möglichkeiten der Anwendung von


Rationalitätsunterstellungen 89

3. TEIL: ÜBER DIE ‚NOTWENDIGKEIT’ VON RATIONALITÄTS- UND


WAHRHEITSPRÄSUMTIONEN BEIM VERSTEHEN 93

3.1 Einleitung 93

3.2 Zur Geschichte der „wohlwollenden Interpretation“ 94


3.2.1 Antike und Mittelalter 94
3.2.2 Wohlwollende Interpretation im 17. und 18. Jahrhundert 96
3.2.3 Allgemeine Hermeneutik im 19. und 20. Jahrhundert 100

3.3 Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als notwendige


Bedingungen des Verstehens und Interpretierens 109
3.3.1 Verstehens- und Interpretationsprinzipien als Präsumtionen 109
3.3.2 Präsumtionen als „instrumentell notwendige“ Bedingungen 112
Inhaltsverzeichnis XI

3.3.3 Präsumtionen als „evolutionär“ bzw. „naturgesetzlich“


notwendige Bedingungen 117
3.3.4 Präsumtionen als „konstitutive Bedingungen“ 119
3.3.4.1 Präsumtionen als „praxiskonstitutive“ Bedingungen 119
3.3.4.2 Präsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingungen 122
3.3.4.2.1 Begründungen aus der methodologischen Notwendigkeit 123
3.3.4.2.2 Begründungen aus dem Holismus der Interpretation 128
3.3.4.2.3 Begründungen unter Berufung auf einen Wahrheits-
hintergrund 130
3.3.4.2.4 Begründungen unter Berufung auf einen Rationalitäts-
hintergrund: die Begriffe der Meinung, der Handlung
und der Person 141
3.3.5 Besitzen hermeneutische Präsumtionen apriorische
Geltung? 144

3.4 Die Grenzen von Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 146


3.4.1 Falschheits- und Irrationalitätsannahmen beim Umgang mit
Zeugnissen sowie die Möglichkeit der Urteilsenthaltung 146
3.4.1.1 Falschheits- und Irrationalitätsannahmen bei der Beurteilung 147
3.4.1.2 Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen beim Verstehen 149
3.4.1.3 Über Urteilsenthaltung und das Verstehen von Äußerungen
ohne Präsumtionen 155
3.4.2 Grenzen wohlwollender Interpretation und das
Prinzip der Erklärbarkeit 157
3.4.2.1 Bühler über Grenzen der Charity-Prinzipien 157
3.4.2.2 Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit 158
3.4.3 Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik 162

ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßBEMERKUNG 167

LITERATURVERZEICHNIS 173

PERSONENREGISTER 185

SACHREGISTER 187
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EINLEITUNG

In der vorliegenden Arbeit soll auf der Grundlage kritisch-rationaler Erkenntnis-


und Wissenschaftstheorie zu einigen Problemen der geisteswissenschaftlichen
Hermeneutik Stellung bezogen werden. Hierbei stehen zum einen erkenntnis-
theoretische Fragen zur Diskussion: Welchen epistemologischen Status besitzen
die Prinzipien des Verstehens und Interpretierens? Können sie apriorische Gel-
tung beanspruchen? Sind menschliche Rede und Text („Zeugnisse anderer“)
überhaupt eine Quelle des Wissens im Sinne gerechtfertigter wahrer Meinung? –
Zum anderen werden die mit den erkenntnistheoretischen Fragen zusammen-
hängenden methodologischen Probleme besprochen: Gibt es so etwas wie eine
genuin geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens und Interpretierens,
die sich von anderen realwissenschaftlichen Methoden unterscheidet? Ist die
Hermeneutik mehr als eine regelgeleitete Kunstlehre des Verstehens? Da die
Beantwortung dieser methodologischen Fragen unter anderem davon abhängt,
ob man den Prinzipien des Verstehens und Interpretierens apriorische Geltung
einräumt und das Zeugnis anderer in einem bestimmten Sinn als eine gerechtfer-
tigte Erkenntnisquelle auffaßt, nimmt die kritische Diskussion der erkenntnis-
theoretischen Fragen einen breiten Raum ein.
Der erste Teil der Arbeit befaßt sich mit der Debatte über das Zeugnis ande-
rer innerhalb der sogenannten Sozialen Erkenntnistheorie (social epistemology),
einer relativ aktuellen Strömung der Gegenwartsphilosophie, die für sich in An-
spruch nimmt, das Zeugnis anderer als Quelle gerechtfertigter Erkenntnis (wie-
der)entdeckt zu haben und eine radikale Alternative zur bisherigen Erkenntnis-
theorie zu bieten – sowohl in Frontstellung zur empiristischen als auch zur ratio-
nalistischen Tradition. Dem herkömmlichen Empirismus sowie dem Rationa-
lismus wird hierbei eine sogenannte „individualistische“ Sichtweise der Er-
kenntnissituation unterstellt, die es zu überwinden gelte (vgl. Scholz 2003: 358).
Neben zahlreichen Arbeiten zur Sozialen Erkenntnistheorie, die dem Bereich
der Wissenssoziologie (vgl. Fuller 1988) oder auch der Wissenschafts-Soziolo-
gie (vgl. Kitcher 1990) zuzuordnen sind, sind vor allem diejenigen Ansätze in
der Sozialen Erkenntnistheorie von philosophischem Interesse, in denen es um
Fragen der Geltung unseres Wissens geht.1
Als Kristallisationspunkt und Zentrum der Sozialen Erkenntnistheorie kann
man hierbei die Diskussion über das ‚Zeugnis anderer’ (testimony) bezeichnen.
Mit „Testimony“ sind diejenigen Kenntnisse gemeint, die wir von anderen Men-
schen übernehmen.2 Empirismus und Rationalismus, so die Vertreter der Sozia-

1
Zur Unterteilung der Sozialen Erkenntnistheorie in den „classical approach“, der Gel-
tungsfragen berücksichtigt, und den relativistischen „anti-classical approach“ vgl. Gold-
man 2001: S. 1.
2
Eine engere Begriffsbestimmung definiert Zeugnisse als assertorische Sprechhandlun-
gen (vgl. Coady 1992: 25). Daneben existieren auch erheblich weitere Definitionen, die
2 Einleitung
len Erkenntnistheorie, hätten die Testimonialerkenntnis entweder schlicht igno-
riert oder aber als zweitrangig bzw. als aus einer anderen Erkenntnisquelle ‚ab-
geleitet’ aufgefaßt.3 Damit sei jedoch etwas übersehen worden, was dem gesun-
den Menschenverstand längst bekannt ist: Fast alles, was wir wissen, haben wir
von anderen übernommen. Durch die Anerkennung des Zeugnisses anderer als
eigenständiger Erkenntnisquelle werde ein grundlegender Wandel in der Epi-
stemologie erreicht: von der individualistischen (empiristischen oder auch ratio-
nalistischen) Tradition hin zu einer sozialen Theorie der Erkenntnis.
Ist das Zeugnis anderer tatsächlich eine solche Erkenntnisquelle? Und ist es
für das richtige Verstehen notwendig, die Wahrheit der zu verstehenden Zeug-
nisse zu unterstellen? Es soll versucht werden, die Frage nach dem Zeugnis an-
derer als Quelle des Wissens sowie die Frage nach der Notwendigkeit der
Wahrheitsunterstellung beim Verstehen aus kritisch-rationaler Sicht zu beant-
worten, wobei ich insbesondere auf den bereits bei Karl Popper vorliegenden
differenzierten Lösungsversuch eingehen möchte.
Während Popper im Hinblick auf den epistemologischen Status des Zeug-
nisses anderer als Erkenntnisgegenstand der Hermeneutik einen wichtigen Bei-
trag geleistet hat, sind seine Ausführungen über die Prinzipien des Verstehens
und Interpretierens problematisch. Im Gegensatz zu der von ihm vertretenen
Wissenschaftstheorie, die durch die Annahme der Fehlbarkeit jeglicher Er-
kenntnis (Fallibilismus) sowie durch die Betonung des deduktiv-nomologischen
Modells kausaler Erklärung und einer deduktiven Methode der Hypothesenprü-
fung gekennzeichnet ist4, geht er in seiner Verstehenskonzeption von einem
apriorischen Rationalitätsprinzip aus, das das Verstehen und Interpretieren an-
leite. Dieses Prinzip könne nicht widerlegt werden und sei somit unfehlbar, zu-
gleich aber auch notwendig für das richtige Verstehen. Damit kommt der Her-
meneutik, die in Poppers eigener Verstehenskonzeption als „Situationslogik“
bezeichnet wird, ein fundamental anderer Status zu als anderen realwissen-
schaftlichen Methoden der Erkenntnisgewinnung. Im zweiten Teil der Arbeit

unter den Begriff des Zeugnisses auch etwa Bilder subsumieren (vgl. Scholz 2003: 356 f.)
und damit über den Bereich sprachlich vermittelten Wissens hinausgehen.
3
Es wäre allerdings reichlich irreführend, Philosophen wie John Locke (der gern als Pa-
radebeispiel für einen Testimonial-Skeptiker herangezogen wird) zu unterstellen, sie hät-
ten übersehen, wie viele unserer Meinungen auf das Zeugnis anderer zurückgehen.
Bestritten wird von Locke und anderen vielmehr nur, daß solcherart zustande gekommene
Meinungen dadurch bereits den Rang von „Wissen“ im Sinne gerechtfertiger wahrer Mei-
nung besitzen. Durch das Kaschieren dieses Unterschieds zwischen Genese und Recht-
fertigung kann man einen allzu leichten, doch nur verbalen Sieg in der Streitfrage er-
reichen, ob Testimony Quelle des „Wissens“ ist oder nicht.
4
Neben dem Fallibilismus – der eine Verallgemeinerung des ursprünglich in der Logik
der Forschung vertretenen Falsifikationismus darstellt –, dem deduktiv-nomologischen
Modell kausaler Erklärung und der deduktiven Hypothesenprüfung kann man auch den
(kritischen) Realismus als Bestandteil des kritischen Rationalismus auffassen (vgl. Albert
1980: 183).
Einleitung 3
wird die Entstehung dieser „Situationslogik“ in Poppers Gesamtwerk chrono-
logisch nachverfolgt sowie das postulierte apriorische Rationalitätsprinzip auf
der Grundlage kritisch-rationaler Erkenntnistheorie kritisiert.
Im dritten Teil untersuche ich die in den ersten beiden Teilen bereits exem-
plarisch diskutierten Fragen nach dem Status der Prinzipien des Verstehens sy-
stematisch und ziehe aus den Ergebnissen dieser Untersuchung methodologi-
sche Konsequenzen. Die beiden zentralen Prinzipien des Verstehens sind die
Wahrheits- und die Rationalitätspräsumtion: Es wird unterstellt, daß der Urheber
einer Rede oder eines Textes in bestimmter Hinsicht rational ist und daß das,
was er sagt, wahr ist. Die Rationalitätspräsumtion spielt schon bei der Bespre-
chung der Situationslogik Poppers eine entscheidende Rolle, während die
Wahrheitspräsumtion bereits im Zusammenhang mit der Debatte über das
Zeugnis anderer diskutiert wird. Die Anwendung von Wahrheits- und Rationali-
tätspräsumtionen beim Verstehen und bei der Auslegung von Texten hat eine
lange Tradition; sie wurde unter anderem im 17. und 18. Jahrhundert als inter-
pretatorische Billigkeit bezeichnet und in der analytischen Philosophie des 20.
Jahrhunderts als „principle of charity“ wiederentdeckt.
Bei der zentralen Frage, ob und inwiefern Rationalitäts- und Wahrheitsunter-
stellungen für das Verstehen und Interpretieren notwendig sind, kann ich der
von Oliver R. Scholz unternommenen systematischen Rekonstruktion dieser
Debatte folgen, in der die verschiedenen Aspekte der Problemstellung bereits
deutlich herausgearbeitet worden sind. Ausgehend von Scholzens Theorie der
hermeneutischen Präsumtionen sowie seiner Ausdifferenzierung der Problem-
stellung komme ich dennoch zu einer abweichenden Beurteilung der Notwen-
digkeit von Rationalitäts- und Wahrheitsunterstellungen. Abschließend sollen
aus der erkenntnistheoretischen Untersuchung einige methodologische Konse-
quenzen im Hinblick auf eine „naturalistische Hermeneutik“ gezogen werden, in
der darauf verzichtet wird, den Prinzipien des Verstehens und Interpretierens
apriorische Geltung zuzuweisen.5

5
Natürlich werden hierbei auch die Interpretationsergebnisse nicht als sicheres Wissen
aufgefaßt, wohl aber als möglicherweise wahre Hypothesen.
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1. TEIL: DAS ZEUGNIS ANDERER –
EINE QUELLE GERECHTFERTIGTER WAHRER MEINUNG?

1.1 Die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie

Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie erheben den Anspruch, mit ihr eine
Alternative sowohl zur empiristischen als auch zur rationalistischen Tradition
vorgebracht zu haben, die den vermeintlichen „Individualismus“ der bisherigen
Erkenntnistheorie überwindet. Bevor die Soziale Erkenntnistheorie aber ernst-
haft als Alternative zum Rationalismus und Empirismus offeriert werden kann,
muß gezeigt werden, daß sie mehr leistet als bloß die Betonung des ‚Sozialen’
im Erkenntnisprozeß – denn die Bedeutung zwischenmenschlicher Kooperation
bei der Wissensgewinnung dürfte heutzutage von keinem Vertreter der empiri-
stischen oder rationalistischen Tradition geleugnet werden.6 Umstritten war und
ist vielmehr die Frage der ‚Eigenständigkeit’ (bzw. ‚Nicht-Reduzierbarkeit’) des
Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle. – Was aber ist damit genau gemeint?
Mit der Eigenständigkeit von Testimony als Erkenntnisquelle ist in der Lite-
ratur dreierlei gemeint: (1.) daß vieles von dem, was das jeweilige Erkenntnis-
subjekt weiß, de facto auf das Zeugnis anderer zurückgeht; (2.) daß das Er-
kenntnissubjekt das ihm durch das Zeugnis anderer vermittelte Wissen auf keine
andere Weise erwerben kann und (3.) daß die Tatsache der Abstammung dieses
Wissens aus dem Zeugnis anderer bereits als epistemische Rechtfertigung dieses
Wissens gelten kann (und damit sein Geltungsgrund nicht in einer anderen Er-
kenntnisquelle, etwa der Erfahrung, zu suchen ist).
Diese drei Bedeutungen von „Eigenständigkeit“ bzw. „Nicht-Reduzierbar-
keit“ werden in der Diskussion miteinander konfundiert. Es ist aber nicht uner-
heblich, daß es sich bei den ersten beiden Fragen um Tatsachenfragen handelt,
bei der letzten jedoch um ein davon unabhängiges Rechtfertigungsproblem.
Man muß also zwischen zwei voneinander unabhängigen Arten von Problemen
im Hinblick auf die ‚Eigenständigkeit’ des Zeugnisses anderer unterscheiden:
zwischen dem Tatsachenproblem der Abstammung des Wissens, relativ zu ei-
nem bestimmten Erkenntnissubjekt, und dem Problem der Rechtfertigung dieses
Wissens. Dies sind m.E. die beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnis-
theorie.
In der Regel werden diese beiden Grundprobleme nicht unabhängig vonein-
ander diskutiert, vielmehr unterstellt man stillschweigend, ein Nachweis der
‚Eigenständigkeit’ im Sinne von (1) und (2) impliziere auch eine positive Ant-
wort im Hinblick auf die epistemische Rechtfertigung. Daß dies nicht zwingend

6
Innerhalb des kritischen Rationalismus wurde die Bedeutung sozialer Traditionen und
Institutionen beim Erkenntnisprozeß ohnehin stets betont. Max Albert ist kürzlich noch
darüber hinaus gegangen, indem er methodologische Regeln nicht mehr als Handlungsan-
leitung für einzelne Wissenschaftler auffaßt, sondern institutionalistisch deutet als „Ver-
fassung der Wissenschaft“ (vgl. M. Albert 2002).
6 Erster Teil
ist und lediglich von dem verwendeten Wissensbegriff abhängt, soll im Verlauf
des vorliegenden Kapitels näher erläutert und begründet werden.
Die Diskussion über den Status der Testimonialerkenntnis hat weitreichende
Bedeutung für die Hermeneutik als der Lehre vom Verstehen und Interpretieren
menschlicher Zeugnisse. Testimony bildet den Erkenntnisgegenstand der Her-
meneutik, insofern liegt die Annahme nahe, daß mit der Neuakzentuierung des
Zeugnisses anderer als gleichberechtigter Erkenntnisquelle auch eine Aufwer-
tung der Hermeneutik einhergeht. Denn ohne das richtige Verstehen sei uns die-
se Quelle des Wissens verschlossen:

„Wahrnehmung, Introspektion, Gedächtnis und Vernunft (Schließen) werden am häu-


figsten als Quellen für Meinungen und Wissen genannt. Vieles von dem, was wir
glauben und wissen, haben wir jedoch dem entnommen, was andere gesagt, geschrie-
ben oder mithilfe anderer Symbole [...] ausgedrückt haben. Weite Bereiche unserer
Meinungssysteme gehen auf mündliche, schriftliche oder anders kodifizierte Zeug-
nisse dieser Art zurück. Um zu den entsprechenden Meinungen zu gelangen, mußten
wir die entsprechenden Äußerungen, Texte etc. verstehen. [...] So spielen Formen des
Verstehens eine wesentliche Rolle für die Erschließung einer der am reichlichsten
sprudelnden Erkenntnisquellen“ (Scholz 1999: 7).

Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie glauben nachgewiesen zu haben,


daß die meisten Zeugnisse zuverlässig (im Sinne von wahr) sein müssen (vgl.
Quinton 1982: 71, Coady 1992: 153 ff.). Auf das Zeugnis anderer als Erkennt-
nisquelle könne man sich daher in der Regel verlassen. Es stellt sich die Frage,
ob derartig starke Wahrheitspräsumtionen gegenüber Zeugnissen eine ‚Herme-
neutik des Vertrauens’ begründen, d.h. eine Lehre vom Verstehen, die von der
Wahrheit des Interpretationsgegenstandes ausgeht. Zur Rechtfertigung des Für-
wahrhaltens von Zeugnissen werden transzendentale Argumente bemüht: Die
Zuverlässigkeit (im Sinne von Wahrheit) der meisten Zeugnisse sei Bedingung
der Möglichkeit sprachlicher Verständigung überhaupt. – Falls sich diese Ar-
gumentation als haltbar erweisen sollte, käme auch der Hermeneutik die bereits
von Gadamer beschworene ‚transzendentale’ Bedeutung zu.7 Die aktuelle Dis-
kussion über den erkenntnistheoretischen Status von Testimony ist daher in ho-
hem Maße relevant für das Selbstverständnis der Hermeneutik als wissenschaft-
licher Disziplin.
Dieses Selbstverständnis der Hermeneutik als Mittel zur ‚Erschließung einer
der am reichlichsten sprudelnden Erkenntnisquellen’ wird jedoch in der Praxis

7
Die Hermeneutik Gadamerscher Provenienz, bei der es sich um eine „existenzialphilo-
sophisch transformierte Variante“ der Transzendentalphilosophie handelt (Scholz 1999:
137), weist in dieser Hinsicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den durch die analytische
Philosophie inspirierten Argumenten für die Wahrheit von Zeugnissen auf. Sowohl Ga-
damers „Vorgriff der Vollkommenheit“ als auch die auf D. Davidson zurückgehenden
principles of charity können als a priori-Rechtfertigungen des Zeugnisses anderer ver-
standen werden.
Das Zeugnis anderer 7
mit einigen Beschränkungen konfrontiert: Nur in bestimmten Bereichen, etwa
beim Verstehen und Interpretieren historischer Quellen (vgl. Bernheim 1908),
existieren hinreichend ausgearbeitete und leistungsfähige Interpretationsmetho-
dologien.8 Wären wir beim alltäglichen Verstehen von Zeugnissen auf eine
Hermeneutik als Interpretationsmethodologie angewiesen, wären dem Verstehen
weitaus engere Grenzen gesetzt, als wir sie in der Praxis des Verstehens vorfin-
den. Deshalb erscheint es keineswegs selbstverständlich, daß die Hermeneutik
als philosophische oder realwissenschaftliche Disziplin überhaupt nötig ist, da-
mit die „Erkenntnisquelle“ des Zeugnisses anderer nicht versiegt.

In einem ersten Schritt (1.2) soll der philosophiehistorische Ausgangspunkt


der Debatte untersucht werden: die unterschiedlichen Positionen Thomas Reids
und David Humes zum epistemologischen Status des Zeugnisses anderer. An-
schließend werden zentrale Argumente der gegenwärtigen Diskussion darge-
stellt und kritisch analysiert, zunächst die seit 1973 wiederholt vorgebrachte Ar-
gumentation Coadys gegen die Position Humes (1.3), bei der die sogenannte
Reduktionismusthese Humes im Mittelpunkt steht. Im Abschnitt (1.4) soll diese
Frage einer ‚Reduzierbarkeit’ von Testimony auf alternative Erkenntnisquellen
systematisch und anhand der kontroversen aktuellen Diskussion nachvollzogen
werden. Neben der Auseinandersetzung mit der von sozialen Erkenntnistheore-
tikern behaupteten Nicht-Reduzierbarkeit von Zeugnissen (‚negative claim’)
sind vor allem die positiven Argumente von Bedeutung, die für die epistemolo-
gische Eigenständigkeit von Testimony angeführt werden. Diese Diskussion
über ein vermeintlich präsumtives Recht, Zeugnisse für wahr zu halten (‚pre-
sumptive right thesis’), findet in dem Abschnitt (1.5) statt. Zum Abschluß (1.6)
soll – aus Sicht kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie – eine Neuinterpretation
der Streitfrage, ob das Zeugnis anderer eine eigenständige Quelle unseres Wis-
sens darstellt, vorgenommen werden. Bei Karl Poppers Antwort auf diese Frage
handelt es sich um eine „skeptische Lösung“ im Humeschen Sinne dieses Aus-
drucks, da das Problem durch eine Neuinterpretation bestimmter Aspekte der
Problemsituation gelöst wird. Popper ersetzt insbesondere den traditionellen
Begriff des Wissens als gerechtfertigter wahrer Meinung durch seine Konzepti-
on des „Vermutungswissens“. Ob die mit Poppers Ersetzung der Idee der epi-
stemischen Rechtfertigung durch die Idee kritischer Prüfung verbundene Lösung
akzeptabel ist, und ob sie – entgegen den Absichten Poppers – zu einer pyrrho-
nischen Skepsis führt, dies ist allerdings zur Zeit auch innerhalb der kritisch-
rationalen Wissenschaftstheorie eine offene Frage, die kontrovers diskutiert
wird. Von dieser kontroversen Beurteilung der Konzeption des „Vermutungs-
wissens“ abgesehen, kann darauf verwiesen werden, daß Popper selbst und auch
andere Vertreter des kritischen Rationalismus die soziale Dimension der Er-
kenntnis hinreichend berücksichtigt haben, so daß die kritisch-rationale Er-

8
Die Geschichtswissenschaft ist hierbei auch deshalb von Interesse, weil in ihr das Zeug-
nis anderer die wichtigste Erkenntnisquelle bildet.
8 Erster Teil
kenntnis- und Wissenschaftstheorie von den einschlägigen „anti-reduktionisti-
schen“ Argumenten sozialer Erkenntnistheoretiker nicht betroffen ist. Der Ab-
schnitt (1.7) faßt die Zwischenergebnisse des ersten Teils dieser Arbeit zusam-
men und skizziert eine naturalistische Lösung der Testimony-Problematik, die
im dritten Teil der Arbeit weitergeführt werden soll.

1.2 Philosophiehistorischer Ausgangspunkt

Als philosophiehistorischer Vorläufer der Sozialen Erkenntnistheorie gilt v.a.


Thomas Reid, Hauptvertreter der sogenannten Common-sense-Schule der schot-
tischen Philosophie, Zeitgenosse und Antipode David Humes. Entsprechend
nimmt die gegenwärtige Diskussion über das ‚Zeugnis anderer’ ihren Aus-
gangspunkt bei einer Rezeption Reids (vgl. Coady 1992: 54-62, 117-129) sowie
einer Kritik der Ausführungen Humes zum Thema ‚Testimony’. Ein eingehen-
der Vergleich der diesbezüglichen Positionen Reids und Humes zeigt jedoch,
daß beide Autoren dem ‚Zeugnis anderer’ einen herausragenden Stellenwert in
der Erkenntnispraxis einräumen. Umstritten ist allein der erkenntnistheoretische
Status von ‚Testimony’.

1.2.1 David Hume über das Zeugnis anderer

Zu den philosophiehistorisch einflußreichsten Texten, die nach wie vor die De-
batte über den epistemologischen Status von Zeugnissen anderer prägen, gehört
der 10. Abschnitt aus David Humes „An Enquiry concerning Human Under-
standing”.
Humes Ziel in diesem Abschnitt besteht darin, eine „dauernde Schranke ge-
gen jede Art von abergläubischer Verblendung“ (Hume 1748/1993: 129) aufzu-
richten, vornehmlich gegen jene Berichte über Wunder, die zur Unterstützung
der christlichen Religion ins Feld geführt werden. Seine Ausführungen über die
Glaubwürdigkeit menschlicher Zeugnisse stehen in diesem Kontext; Humes
Beitrag zur ‚Testimony-Debatte’ ist also eher ein Nebenprodukt der religions-
philosophischen Auseinandersetzung mit Wundern. Inwiefern Humes Argumen-
te gegen den Wunder-(Aber)glauben triftig sind, muß uns in unserem Zusam-
menhang nicht interessieren.9
Das Kapitel beginnt mit einem zustimmenden Hinweis auf die Argumentati-
on Dr. Tillotsons, „jenes gelehrten Geistlichen“, der – ausgehend vom Primat
der Sinneserfahrung gegenüber dem Zeugnis anderer – die Lehre von der leibli-
chen Gegenwart des Leibes Christi beim Abendmahl bestritt. Da die Autorität

9
Eine ausführliche Darstellung und kritische Diskussion findet sich im ersten Kapitel von
J. L. Mackies „Wunder des Theismus“ (vgl. Mackie 1982: 27-51).
Das Zeugnis anderer 9
der heiligen Schrift stets nur auf Zeugen beruhe, z.B. Augenzeugen der Wunder
des Erlösers, könne einer biblischen Lehre kein Glauben geschenkt werden, so-
bald sie der Sinneserfahrung widerspreche (128 f.).
Erfahrung, so pflichtet Hume bei, sei „unser einziger Führer bei Denkakten
über Tatsachen“ (ebd.), wenngleich nicht unfehlbar. Der Glaube an behauptete
Sachverhalte richte sich danach, wie häufig Sachverhalte der betreffenden Art
bislang durch Beobachtung bestätigt werden konnten. Allein „untrügliche Erfah-
rung“, d.h. häufige und ausnahmslose Bestätigung, dürfe als beweiskräftig gel-
ten. Bei uneindeutigen Ergebnissen werde – je nach Häufigkeit der Fälle – eine
mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeit für das Auftreten des betreffenden
Sachverhalts angenommen.
Angewendet auf das menschliche Zeugnis gelte Folgendes:

„Wenden wir diese Prinzipien auf einen besonderen Fall an, so machen wir wohl die
Beobachtung, daß es keine so allgemeine, so nützliche und selbst zu unserem Leben
so notwendige Art der Vernunfttätigkeit gibt, wie die, welche von dem menschli-
chen Zeugnis und den Berichten von Augenzeugen und Zuschauern ausgeht” (Hume
1748/1993: 130).

Hume konstatiert also zunächst, daß die mit dem Zeugnis anderer verbunde-
ne Erkenntnispraxis allgemein verbreitet, nützlich, lebensnotwendig und – man
kann ergänzen – dadurch pragmatisch gerechtfertigt ist. Dies liefert bereits einen
Realgrund (‚Beweggrund’ bzw. Motiv), menschlichen Zeugnissen zu vertrauen:
Wir können nicht anders!
Der Erkenntnisgrund indes stammt „aus keinem anderen Prinzip [...], als aus
unserer Beobachtung der Wahrhaftigkeit menschlichen Zeugnisses und der ge-
wöhnlichen Übereinstimmung der Tatsachen mit den Berichten der Zeugen“
(Hume 1748/1993: 130 f.). Die Zuverlässigkeit von Testimony soll auf Grund-
lage vergangener Erfahrung beurteilt werden, und zwar durch einen Vergleich
der Zeugenberichte mit den Tatsachen. Wer hier beobachtet und urteilt, bleibt
bei Hume unbestimmt, allerdings spricht er an dieser Stelle von „unserer Beob-
achtung“, was auf eine Art von Erkenntnis-Gemeinschaft anstelle eines einsa-
men Erkenntnissubjektes hindeutet. Die von Hume beabsichtigte empirische
Prüfung der Geltung von Testimony bezieht sich auf bestimmte Arten von Zeug-
nissen (bzw. Zeugen), die anhand davon unabhängiger Erfahrung getestet wer-
den sollen. Dennoch sind auch Hume allgemeine Erwägungen nicht fremd, die
einen generellen Vertrauensvorschuß in das Zeugnis anderer sinnvoll erscheinen
lassen. Verschiedene uns durch Erfahrung bekannte Dispositionen der mensch-
lichen Natur führten zu der Neigung, die Wahrheit zu sagen: „Wäre nicht das
Gedächtnis bis zu gewissem Grade treu, neigten nicht die Menschen für ge-
wöhnlich der Wahrheit und den Prinzipien der Redlichkeit zu; wären sie nicht
der Scham zugänglich, wenn sie bei einer Lüge ertappt werden; wäre dies alles
nicht durch Erfahrung als wesentliche Eigenschaft der menschlichen Natur be-
kannt, – so würden wir niemals das geringste Vertrauen in menschliches Zeug-
10 Erster Teil
nis setzen“ (Hume 1748/1993: 131)10. Es ist wichtig festzustellen, daß sich die-
ses Argument, obwohl auch hier die Rolle der Erfahrung betont wird, von dem
zuerst genannten Prinzip der empirischen Prüfung bestimmter Arten von Zeug-
nissen unterscheidet. Denn die allgemeine Disposition, die Wahrheit zu sagen,
scheint eine generelle Rechtfertigung unseres Vertrauens in Testimony zu be-
gründen. Warum also noch eine zusätzliche empirische Prüfung der Glaubwür-
digkeit bestimmter Arten von Zeugnissen (und Zeugen)? – Hume gibt an einer
späteren Stelle eine Antwort darauf: Es existieren zugleich Dispositionen der
menschlichen Natur – etwa Sensationslust, religiöser Eifer und Mangel an Ur-
teilskraft –, die der natürlichen Wahrheitsneigung entgegenwirken und unter
Umständen die Oberhand gewinnen (vgl. Hume 1748/1993: 137 f.). Außerdem
wissen wir faktisch (aus Erfahrung), daß bestimmte Arten von Zeugnissen (und
Zeugen) insgesamt unglaubwürdig sind. Man kann Humes Position demnach so
zusammenfassen, daß die besondere Rolle von Testimony in der Erkenntnispra-
xis und weiterhin die Neigung zur Wahrheit als Disposition der menschlichen
Natur zwar einen Vertrauensvorschuß im praktischen Umgang mit Zeugnissen
anderer rechtfertigen, aber dennoch eine empirische Prüfung der einzelnen Ar-
ten von Zeugnissen und Zeugen erforderlich bleibt.
Hume stellt darüber hinaus verschiedene Kriterien auf, nach denen die Zu-
verlässigkeit oder Unzuverlässigkeit von Zeugnissen empirisch ermittelt werden
kann (vgl. Hume 1748/1993: 132):

• Gibt es entgegengesetzte Zeugnisse oder widersprechende Zeugen?


• Wie zuverlässig ist der Charakter des Zeugen?
• Wird das Zeugnis durch weitere Zeugen unterstützt?
• Ist bei dem Zeugnis persönlicher Vorteil im Spiel?
• Auf welche Art und Weise (z.B. übermäßig beteuernd) wird das
Zeugnis abgegeben?

Diese Kriterien bilden den Kern dessen, was man als eine empiristische
Technologie der Prüfung von Zeugnissen bezeichnen könnte. Sie greift zurück
auf Gesetzmäßigkeiten, die aus dem Alltagsleben bekannt sind, und die zumin-
dest implizit auch der juristischen Praxis der Beurteilung von Zeugen (vor Ge-
richt) zugrunde liegen.
Im Hinblick auf die besondere Art von Zeugnissen, den Wunderberichten,
die im 10. Abschnitt der „Untersuchung über den menschlichen Verstand“ dis-
kutiert wird, stellt Hume zunächst das Beurteilungsprinzip auf, die Glaubwür-
digkeit eines Berichtes mit der Glaubwürdigkeit des Berichteten zu vergleichen.
Die Frage lautet dann: Kann es Zeugnisse geben, die an sich so glaubwürdig
sind, daß sie etwas so Unglaubwürdiges wie ein Wunder glaubhaft machen? –
Humes Antwort auf diese Frage spielt für unseren Kontext nur insofern eine

10
Hervorhebung im Original.
Das Zeugnis anderer 11
Rolle, als er Argumente dafür bietet, unter bestimmten Umständen von einer
Falschheitspräsumtion gegenüber Zeugnissen (und Zeugen) bestimmter Art aus-
zugehen. Obwohl Hume nicht kategorisch ausschließt, daß es Wunder geben
könnte, zeigt er doch, daß die faktisch vorhandenen Wunderberichte innerhalb
der christlichen Tradition notorisch unzuverlässig sind und damit etwas so Un-
glaubwürdiges wie ein Wunder nicht belegen können.

1.2.2 Thomas Reid über das Zeugnis anderer

In dem Kapitel „Of the analogy between perception and the credit we give to
human testimony“ seiner „Inquiry into the Human Mind on the Principles of
Common Sense“ (1764) skizziert Thomas Reid, der Begründer der sogenannten
Common-Sense-Schule der schottischen Philosophie, eine alternative Vorstel-
lung von der Rolle des Zeugnisses anderer in der Erkenntnistheorie.
Seine zentrale These besteht in der Behauptung einer durchgängigen und
starken Analogie zwischen Sinneswahrnehmung (testimony of nature) und dem
Zeugnis anderer (human testimony):

„In the testimony of Nature given by the senses, as well as in human testimony given
by language, things are signified to us by signs [...]. We have distinguished our per-
ceptions into original and acquired; and language, into natural and artificial. Between
acquired perception and artificial language, there is a great analogy; but still a greater
between original perception and natural language“ (Reid 1764/2002: 234).

Bei den „signs in natural language“ handelt es sich um die menschliche Kör-
persprache, die „signs in original perception“ sind Gefühle, mit denen uns die
Natur ausgestattet hat. In beiden Fällen sei die Verbindung zwischen Zeichen
und Bezeichnetem vor jeder Erfahrung vorhanden. Auf der Grundlage von „ori-
ginal perception“ und „natural language“ entstünden „acquired perception“ so-
wie „artificial language“ (die menschliche Sprache in Rede und Schrift), die sich
gleichfalls analog zueinander verhielten. „Acquired perceptions“ sind als Wahr-
nehmungen zu verstehen, die einen gewissen Lernvorgang voraussetzen, etwa
die Identifikation eines Gemäldes als Werk Raffaels.
Die von Reid intendierte Analogie zwischen Wahrnehmung und menschli-
chem Zeugnis möchte ich durch ein Schaubild verdeutlichen:
12 Erster Teil
Zeugnis der Natur Menschliches Zeugnis
(testimony of Nature) (human testimony)
ursprüngliche Wahrnehmung entspricht: ursprüngliche Sprache
(original perception) (natural language)

(Die Verbindung zwischen Zeichen und den bezeichneten Dingen ist naturgegeben und
vor jeder Erfahrung)

Zeichen: Empfindungen (sensations) Empfindungen (sensations)


(signs) (Hitze, Härte, Bewegung ...) (Gesichtsausdruck, Gesten,
Ausdruck d. Stimme)

Grundlage für:

erworbene Wahrnehmung entspricht: erworbene bzw. ‚künstliche’ Sprache


(acquired perception) (artificial language)

(Verbindung zwischen Zeichen und (Verbindung zwischen Zeichen und


Bezeichnetem naturgegeben, aber durch Bezeichnetem vom Menschen gesetzt
Erfahrung festgestellt) und durch Erfahrung festgestellt)

Zeichen: Empfindungen (sensations) artikulierte Laute


oder Dinge, die wir mit Hilfe (articulate sounds)
von Empfindungen wahrnehmen

Wie man sieht, faßt Reid das menschliche Zeugnis in strenger Analogie zur
Sinneserfahrung auf. Es ist keineswegs abgeleitet von primärer Erfahrung durch
die Sinne, sondern er behauptet einen autonomen epistemologischen Status.
Reids Problem ist nun: Woher wissen wir, daß Menschen die Sprache zuver-
lässig und ohne Täuschungsabsicht benutzen? Sind wir dazu berechtigt, Zeug-
nisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr zu halten? – Reid gibt darauf eine
positive Antwort, und zwar aufgrund zweier Prinzipien der menschlichen Natur.

„The wise and beneficent Author of Nature, who intended that we should be social
creatures, and that we should receive the greatest and most important part of our
knowledge by the information of others, hath [...] implanted in our natures two prin-
ciples that tally with each other“ (Reid 1764/2002: 236).

Welches sind nun die zwei Prinzipien? Als erstes nennt Reid das principle of
veracity: „The first of these principles is, a propensity to speak truth [...]“ (Reid
1764/2002: 237). Das zweite ist das principle of credulity: „Another original
principle implanted in us by the Supreme Being, is as disposition to confide in
the veracity of others, and to believe what they tell us“ (ebd.).
Das Zeugnis anderer 13
Bei einem Vergleich der Positionen von Hume und Reid fällt zunächst auf,
daß beide dem menschlichen Zeugnis eine hohe Wertschätzung entgegenbrin-
gen. Beide Autoren halten Testimony für unverzichtbar und informativ sowie
für üblicherweise glaubwürdig. Es existiert hier also kein Unterschied in der
praktischen Einschätzung der Relevanz von Zeugnissen. Unterschiedlich fällt
die Beurteilung in epistemologischer Hinsicht aus:
Hume erkennt das Zeugnis nicht als Erkenntnisquelle sui generis an. Der
Rechtfertigungsgrund für die Akzeptanz von Zeugnissen liegt in der vorgängi-
gen Sinneserfahrung – eine Position, die in der ‚Testimony-Debatte’ als ‚reduk-
tionistisch’ bezeichnet wird (vgl. Coady 1973). Reid dagegen stellt Sinneswahr-
nehmung (Zeugnis der Natur) und Testimony (menschliches Zeugnis) als
gleichberechtigte und streng analoge Erkenntnisquellen nebeneinander. Damit
formuliert er ein theologisches Modell der Erkenntnis: Die Sprechweise „testi-
mony of nature“ ist nur dann nicht bloß metaphorisch, wenn man davon ausgeht,
die Natur gebe ein Zeugnis von etwas ab, und zwar ein Zeugnis Gottes, des
„weisen und wohlwollenden Autors der Natur“. Ein beträchtlicher weltanschau-
licher Gegensatz zum Skeptiker Hume, der gerade eine Schranke gegenüber re-
ligiösem Aberglauben aufrichten wollte, ist unübersehbar.

1.3 Ein später Sieg der Common-Sense-Philosophie?

1.3.1 C.A.J. Coadys Kritik an David Hume

Wer den Weg für die Anerkennung des Zeugnisses anderer als eigenständiger
Erkenntnisquelle freimachen möchte, muß sich zunächst mit Humes Argumen-
tation auseinandersetzen, in der die Geltung von Testimonialerkenntnis auf die
Erfahrung zurückgeführt wird. Als relevant werden hierbei insbesondere die kri-
tischen Ausführungen C.A.J. Coadys angesehen. Coady versucht, eine Zweideu-
tigkeit der „Reduktionismus-These“ Humes nachzuweisen und die These in bei-
den Deutungen ad absurdum zu führen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß sich
Testimony auf keine andere Erkenntnisquelle zurückführen lasse und somit eine
Erkenntnisquelle sui generis sei. In seinen Arbeiten (1973 und 1992: 79 ff.) ent-
wickelt Coady grundlegende Argumente gegen die sogenannte Reduktionismus-
These Humes.
Auf die Frage „Why do you believe that?“, verstanden als Frage nach den
Quellen der Erkenntnis, gibt es laut Coady mindestens vier grundlegende Ant-
worten: „observation, deductive inference, inductive inference and testimony“
(Coady 1973: 239). Die vierte Erkenntnisquelle, Testimony, sei in der traditio-
nellen philosophischen Diskussion bislang vernachlässigt worden; dieses Defizit
gelte es zu beheben.
Anhand von Zitaten illustriert Coady Humes Position zur Glaubwürdigkeit
des Zeugnisses anderer und verweist dabei zuletzt auf Humes Aussage: „Der
14 Erster Teil
Grund, aus dem wir Zeugen oder Geschichtsschreibern überhaupt Vertrauen
schenken, stammt nicht aus irgend einer Verknüpfung, die wir a priori zwischen
Zeugnis und Wirklichkeit auffassen, sondern aus der Gewohnheit, eine Ein-
stimmigkeit zwischen ihnen anzutreffen” (Hume 1748/1993: 132)11. Dies sei die
„Reductionist Thesis“ (RT), die Coady attackieren möchte (vgl. Coady 1992:
79). Bedauerlicherweise expliziert Coady RT nicht hinreichend; zuvor sprach er
allerdings von „a reduction of testimony as a form of evidence or support to the
status of a species [...] of inductive inference. And, again, in so far as inductive
inference is reduced by Hume to a species of observation [...], then in a like
fashion testimony meets the same fate“ (ebd.). Die Ausdrücke „reduction of te-
stimony“ und „Reductionist Thesis“ wirken recht plakativ, werden aber bei
Coady nicht genauer ausgeführt. Dies ist um so überraschender, geht es bei dem
sogenannten Reduktionismus doch um den eigentlichen Gegenstand der Kritik,
an dem sich die Testimony-Debatte überhaupt erst entzündet hat. Aufgrund des
Textzusammenhangs kann man wohl sagen, Coady versteht unter RT die These,
der Rechtfertigungsgrund für Zeugnisse anderer liege in der „Erfahrung“, ge-
nauer: in bestätigenden Beobachtungen, und ohne solche empirischen Bestäti-
gungen in jedem Einzelfall könne man die jeweiligen Zeugnisse und Zeugen
nicht für glaubwürdig halten.12
Als zentrales Argument gegen RT versucht er eine „fatal ambiguity“ der Be-
griffe „experience“ und „observation“ (Coady 1973: 240 sowie Coady 1992: 80)
nachzuweisen. Entweder sei mit diesen Begriffen individuelle Erfahrung oder
aber gemeinschaftliche Erfahrung (common experience) gemeint, in beiden Fäl-
len jedoch sei RT inakzeptabel:

„My criticism begins by calling attention to a fatal ambiguity in the use of terms like
‚experience’ and ‚observation’ in the Humean statement of RT. We are told by Hume
that we only trust in testimony because experience has shown it to be reliable, yet
where experience means individual observation [...], this seems plainly false and, on
the other hand, where it means common experience (i.e. the reliance upon the obser-
vations of others) it is surely question-begging“ (Coady 1992: 80).

Wenn RT nun auf individuelle Erfahrung bzw. Beobachtung Bezug nehme


(RT 1), laute die These folgendermaßen: „We rely upon testimony as a species

11
Hervorhebung im Original.
12
Ob Hume RT in dieser Form vertreten hat, ist zweifelhaft. Schließlich stellt er selbst
eine Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer auf, beruhend auf durch Er-
fahrung bekannten Dispositionen der menschlichen Natur. Coady zitiert auch diesen Ab-
schnitt, es entgeht ihm aber, daß es gerade für RT einen Unterschied macht, ob die
Glaubwürdigkeit von (sämtlichen) einzelnen Zeugnissen und Zeugen überprüft werden
muß, oder ob es zunächst ausreicht, die Erfahrung gemacht zu haben, daß Menschen in
der Regel zur Wahrhaftigkeit neigen. Hume scheint in diesem Punkt nicht ganz eindeutig
zu sein – es empfiehlt sich aber bei der Interpretation, getreu dem principle of charity, die
argumentativ stärkste Deutung zu wählen, wenn man Hume kritisieren möchte.
Das Zeugnis anderer 15
of evidence because each of us observes for himself a constant and regular con-
junction between what people report and the way the world is. More particu-
larly, we each observe for ourselves a constant conjunction between kinds of
report and kinds of situation so that we have good inductive grounds for expect-
ing this conjunction to continue in the future“ (Coady 1973: 241 f. u. Coady
1992: 82). In dieser Form sei die These aber „plainly false“, da ja unser gesam-
ter Wissensbestand nicht in allen Einzelheiten individuell nachgeprüft werden
könne. Es sei offenkundig, daß jeder Einzelne die meisten Bestandteile seines
Wissens nicht aus eigener Sinneserfahrung, sondern vermittelt durch das Zeug-
nis anderer erworben habe. Jeder weiß, daß Kinder von Frauen geboren werden,
aber wer hat dies schon gesehen? „Most of us have never seen a baby born”
(Coady 1973: 242). Also, so die absurde Konsequenz von RT 1, könne man gar
nicht wissen, ob es nicht doch der Storch ist, der die Kinder bringt.
Ist dagegen mit „experience“ gemeinschaftliche Erfahrung (common expe-
rience) gemeint, liege die Reduktionismus-These in der Form RT 2 vor, die sich
von RT 1 nur darin unterscheidet, daß nicht jeder einzelne für sich die Verknüp-
fung zwischen dem Bericht und den Tatsachen empirisch überprüfe, sondern
dies auf Grundlage der „common experience of mankind“ geschehe (vgl. Coady
1973: 240). In dieser Form sei die These aber petitiös („question-begging“) und
damit gleichfalls unhaltbar:

„Evidently then, R.T., as actually argued by Hume, is involved in vicious circularity


since the experience upon which our reliance upon testimony as a form of evidence is
supposed to rest is itself reliant upon testimony which cannot itself be reduced in the
same way” (Coady 1973: 241).

Die Beobachtung bzw. Erfahrung anderer sei immer durch ihr Zeugnis ver-
mittelt. Insofern müsse man stets auf Zeugnisse vertrauen, wenn man von der
Erfahrung anderer profitieren wolle. Also könne man nicht das eine auf das an-
dere zurückführen. Daraus scheint eine Gleichwertigkeit von Sinneserfahrung
und Zeugnis als Erkenntnisquellen zu folgen. Liegt aber wirklich ein Rechtferti-
gungszirkel vor? Coady glaubt, eine solche Zirkelhaftigkeit von RT 2 entdeckt
zu haben:

„The idea of taking seriously someone else’s observations, someone else’s experi-
ence, already requires us to take their testimony (in this case, reports of what they ob-
serve) equally seriously. It is ludicrous to talk of their observations being the major
part of our justification in taking their reports seriously when we have to take their re-
ports seriously in order to know what their observations are“ (Coady 1973: 241).

Coady möchte mit seiner anti-reduktionistischen Argumentation nicht die


Unfehlbarkeit von Testimony behaupten. Er gesteht zu, daß es falsche Zeugnisse
geben kann. Dies könne auch durch Beobachtung nachgewiesen werden. Seine
Kritik richte sich nur gegen die These, „that the general reliability of testimony
depends upon observation in the way R.T. requires” (Coady 1973: 247).
16 Erster Teil
Zwar könne Beobachtung manchmal Zeugnisse revidieren, doch gelte auch
der umgekehrte Fall. Da man Beobachtungen aufgrund von Zeugnissen kor-
rigieren könne, ließe sich – wolle man so argumentieren wie Hume – auch ein
umgekehrt reduktionistischer (und offenkundig absurder) Schluß ziehen: „In-
deed, it would seem equally as valid, on Hume’s line of argument, to claim that
since testimony sometimes leads us to abandon an observation then we rely
upon observation in general only because we have established its reliability on
the basis of testimony“ (Coady 1973: 248). Statt die eine Erkenntnisquelle auf
die andere reduzieren zu wollen, müsse man vielmehr ihre wechselseitige Ab-
hängigkeit akzeptieren.
Die Beurteilung von Coadys Argumentation gegen RT hängt davon ab, was
denn nun wirklich unter „Reduktion“ verstanden wird. In einen Rechtfertigungs-
Zirkel der beschriebenen Art kommt der Empirist nur dann, wenn er bean-
sprucht, daß kein Zeugnis (vorläufig) für wahr gehalten werden darf, bevor es
durch Erfahrung geprüft wurde, oder wenn er fordert, alle Zeugnisse müßten
gleichzeitig empirisch gerechtfertigt werden. Ein solcher „globaler Reduktio-
nismus“ wäre tatsächlich unhaltbar. Daß es demgegenüber noch andere Varian-
ten von „Reduktion“ geben kann, liegt auf der Hand (siehe Abschnitt 1.4). Hier
rächt sich die Vagheit des Reduktions-Begriffes sowie der zugehörigen „Reduk-
tionismus-These“ bei Coady.
Im übrigen ist sogar fraglich, ob Hume selbst ein (globaler) „Reduktionist“
in dem Sinne gewesen ist, daß jedes Zeugnis empirisch geprüft werden müsse,
bevor man es für wahr halten dürfe. Wie in Abschnitt 1.2 ausgeführt, findet man
auch bei Hume eine Art Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer,
die es unnötig macht, die Glaubwürdigkeit jedes einzelnen Zeugnisses und jedes
einzelnen Zeugen empirisch zu überprüfen. Wir (das heißt: jeder einzelne von
uns) wissen nach Hume aus Erfahrung, daß die menschliche Natur eine grund-
legende Disposition zur Wahrhaftigkeit besitzt, Menschen also in der Regel die
Wahrheit sagen. Nur unter besonderen Umständen ergeben sich Zweifel an
Zeugnissen und Zeugen bestimmter Art, die dann bei entsprechender empiri-
scher Bestätigung zu Falschheitspräsumtionen gegenüber diesen besonderen Ar-
ten von Zeugnissen und Zeugen führen. Verstehen wir Humes Haltung gegen-
über der Geltung von Testimony auf diese Weise, kann man ihm weder RT 1
noch RT 2 unterstellen. Will man aber bereits in dem Umstand, daß Hume seine
allgemeine Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer auf Erfahrung
„zurückführt“, eine „Reduktion“ sehen, so liegt hier jedenfalls eine andere Form
von „Reduktionismus“ vor, die sich sowohl von RT 1 als auch von RT 2 unter-
scheidet. Ob die Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis anderer tatsäch-
lich auf Erfahrung gründet, ist ein Streitpunkt, der von der Frage, ob die einzel-
nen Zeugnisse (bzw. die einzelnen Arten von Zeugnissen) empirisch gerechtfer-
tigt werden müssen, bevor man an sie glauben darf, unabhängig ist. In der Tat
gibt es bei Hume auch Textstellen, die darauf hinzuweisen scheinen, daß jedes
Zeugnis empirisch geprüft werden soll, bevor man daran glauben darf. Eine sol-
che Auffassung unterliegt zweifellos den Argumenten Coadys. Allerdings sollte
Das Zeugnis anderer 17
man, gemäß dem principle of charity, die (evtl. uneinheitliche) Auffassung eines
Autors möglichst in der argumentativ stärksten Form rekonstruieren und nicht in
einer Art und Weise, die ihm offensichtliche Absurditäten zuschreibt.

1.3.2 Was sind „Zeugnisse“ überhaupt?

Die Diskussion über den Stellenwert des Zeugnisses anderer leidet nicht nur an
der Unklarheit des Reduktionsbegriffes – auch der Begriff des Zeugnisses selbst
wird unterschiedlich verwendet. Was ist „Testimony“ überhaupt?
Um allen Verwendungsweisen dieses Begriffs in der Diskussion möglichst
gerecht zu werden, sagten wir anfangs, „Testimony“ bzw. „Zeugnis anderer“ sei
jegliche Art von Erkenntnis, die wir von anderen Menschen übernehmen. Aller-
dings gibt es auch Versuche, „Testimony“ anders und enger zu definieren.
Coady widmet in seiner Monographie „Testimony: A Philosophical Study“
der Frage „What is Testimony“ ein eigenes Kapitel. Während er zuvor „with a
rather loose notion of testimony“ operiert hat, um „the extent and significance of
our reliance upon the word of others“ (Coady 1992: 25) aufzuzeigen, verlangt –
so Coady – eine weitergehende Behandlung der damit verbundenen philosophi-
schen Probleme nach genauerer Abgrenzung und Definition. Die von Coady an-
gestrebte Konzeption des Zeugnisses anderer steht in der Tradition der
Sprechakttheorie Austins:

„The concept of testimony that I will thus define and use is that of a certain speech
act or, in J. L. Austin’s terminology, an illocutionary act, which may be and stan-
dardly is performed under certain conditions and with certain intentions such that we
might naturally think of the definition as giving us conventions governing the exis-
tence of the act of testifying“ (ebd.).

Das Zeugnis anderer sei zunächst einmal eine assertorische Sprechhand-


lung, d.h. ein Akt des Behauptens, der den Sprecher auf die Wahrheit des Be-
haupteten festlegt. Coady möchte jedoch darüber hinaus weitere Bedingungen
festlegen, die erfüllt sein müssen, damit von einem Zeugnis gesprochen werden
kann. Zu diesem Zweck unterscheidet er zwischen „formal testimony“ und „na-
tural testimony“. „Formal testimony“ bezeichnet das Bezeugen vor Gericht, in
Untersuchungskommissionen oder ähnlichen Situationen (vgl. Coady 1992: 27),
„natural testimony“ dagegen das Bezeugen in Alltagssituationen (vgl. Coady
1992: 38). Coady benennt sechs Kennzeichen eines formalen Zeugnisses:

„(a) It is a form of evidence.


(b) It is constituted by persons A offering their remarks as evidence so that we are in-
vited to accept p because A says that p.
(c) The person offering the remarks is in a position to do so, i.e. he has the relevant
authority, competence, or credentials.
18 Erster Teil
(d) The testifier has been given a certain status in the inquiry by being formally ac-
knowledged as a witness and by giving his evidence with due ceremony.
(e) As a specification of (c) within English law and proceedings influenced by it, the
testimony is normally required to be firsthand (i.e. not hearsay).
(f) As a corollary of (a) the testifier’s remarks should be relevant to a disputed or un-
resolved question and should be directed to those who are in need of evidence on the
matter“ (Coady 1992: 33).

Höchst relevant für unseren Diskussionszusammenhang ist der Umstand,


daß Coady unter (e) eine Bedingung für das Vorliegen eines (formalen) Zeug-
nisses angibt, die auf die Erfahrungsgrundlage von Testimony abhebt. Durch die
hier vorliegende Definition wird der Begriff des Zeugnisses (respektive der
Sprechakt des Bezeugens) auf solche Fälle beschränkt, in denen der Sprecher
direkte Beobachtungen berichtet, im Gegensatz zum bloßen Hörensagen. Wa-
rum aber kommt dem Bezeugen auf Grundlage direkter Beobachtung ein höhe-
rer epistemischer Wert zu? – Die naheliegende Antwort besteht darin, daß der
Erkenntnisgrund des Fürwahrhaltens eines Zeugnisses (und damit dessen Recht-
fertigung) einzig und allein in dem Zusammenhang von Zeugnis und Beobach-
tung liegt. Nur die Erfahrung, so wird durch diese Definition nahegelegt, bietet
den Rechtfertigungsgrund für Zeugnisse. Dies ist aber genau die Position, die
Coady als „reduktionistisch“ bezeichnet und die er letztlich verwirft. Deshalb
verweist Coady einschränkend darauf, es gebe bei dieser Bedingung „numerous
categories of exception“ und es sei „clear that a witness can have competence to
testify even when the evidence is in no way firsthand“ (Coady 1992: 28). Wei-
terhin bemüht sich Coady, den Ausschluß des Hörensagens im englischen Recht
auf alternative Weise zu erklären.
Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Zeugnis-Begriff in juristischen Zu-
sammenhängen – und nicht allein im englischen Recht – eine Affinität zur Au-
genzeugenschaft besitzt, also auf direkte Erfahrung rekurriert. Wer etwas nur
vom Hörensagen ‚weiß’, dessen ‚Wissen’ wird vom Richter in der Regel allen-
falls eingeschränkt und abgeleitet als Zeugnis aufgefaßt, und zwar abgeleitet von
dem Zeugnis des Augenzeugen, d.h. von direkter Erfahrung.13
Wichtiger als das formale Zeugnis erscheint Coady der Begriff des natürli-
chen Zeugnisses („natural testimony“), das er folgendermaßen definiert:

13
Die übliche Gleichsetzung von Zeugnissen mit der Augenzeugenschaft und etwaige
Probleme, die daraus entstehen, sind auch jenseits der philosophischen Fachdiskussion
bekannt. So lesen wir in einer Sammlung ostfriesischen Volkserzählgutes unter der Über-
schrift „Nur vom Hörensagen“: „Jan steht als Zeuge vor Gericht. Der Richter traut dem
redseligen Jan wohl nicht so recht. Er belehrt ihn eindringlich, er dürfe nur sagen, was er
selbst gesehen, nicht was andere ihm von der Sache erzählt hätten. Daraufhin fragt er:
‚Wann sind Sie geboren?’ Jan gibt zur Antwort: ‚Dat weet ik neet, dat hebbt anner Lü mi
bloot vertellt’.“ Das Buch vom ostfriesischen Humor. Band 3. Hg. v. Theo Schuster. Leer
1992. S. 65 f.
Das Zeugnis anderer 19
„A speaker S testifies by making some statement p if and only if:
(1) His stating that p is evidence that p and is offered as evidence that p
(2) S has the relevant competence, authority, or credentials to state truly that p.
(3) S’s statement that p [...] is directed to those who are in need of evidence on the
matter“ (Coady 1992: 42).

Die für Coadys Position problematische Bedingung (e) ist bei der Bestim-
mung des „natürlichen Zeugnisses“ nicht mehr vorhanden. Sie ist offenbar als
Spezialfall in die Kompetenz-Voraussetzung (2) eingegangen. Dagegen läßt sich
einwenden, daß bei natürlichen Zeugnissen, die Tatsachenfragen betreffen – und
nur solche hatte Hume im Auge – die Kompetenzbedingung häufig auf das Vor-
handensein direkter Erfahrung zurückführbar ist. Nehmen wir eines von Coadys
eigenen Beispielen für natürliche Zeugnisse: „reporting what happened in an
accident“. Berichte darüber, wie sich ein Unfall zugetragen hat, werden nur dann
als eine ernstzunehmende Erkenntnisquelle aufgefaßt, wenn sie auf direkte Be-
obachtung zurückgehen. Dem Augenzeugen kommt hierbei wiederum bei der
Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses eine Priorität zu. Bei einem
Bericht vom Hörensagen hängt die Beurteilung davon ab, wie glaubwürdig es
ist, daß der Sprecher die Beobachtungsaussagen eines Augenzeugen reprodu-
ziert. Coady dagegen legt Wert darauf, daß die Bedingung (e) für natürliche
Zeugnisse nicht gelte:

„That is to say, in ordinary life as in the lawcourts we will not treat just anybody at all
as a witness but we do not require natural testimony to be firsthand. Most of the re-
ports we unhesitatingly and rightly accept about race results, football results and at-
tendances, parliamentary happenings, and many geographical facts are far from first-
hand [...]“ (Coady 1992: 38).

Gibt es aber tatsächlich einen Unterschied zwischen dem Bezeugen eines


Unfallhergangs und dem Bezeugen eines Fußballergebnisses? Verlangen wir als
Kompetenzbedingung für die Schilderung eines Unfalls direkte Erfahrung, wäh-
rend wir im Falle von Zeugnissen über Fußballergebnisse andere Kompetenzkri-
terien anlegen? – Offensichtlich nicht. Natürlich erwarten wir nicht, daß die Per-
son, die uns das Fußballergebnis mitteilt, in dem betreffenden Stadion zur be-
treffenden Zeit anwesend war. Wir erwarten noch nicht einmal, daß die mittei-
lende Person das Fußballspiel im Fernsehen verfolgt hat, sie hat das Ergebnis
vielleicht nur in der Zeitung gelesen. Und dennoch glauben wir ihrem Bericht,
weil wir unterstellen, daß am Anfang der Kette von Zeugnissen ein Augenzeuge
stand, etwa der Sportreporter, der den Zeitungsbericht verfaßt hat.
Im übrigen ist, zumindest in der deutschen Sprache, der Begriff des Zeugen
für den Augenzeugen reserviert und wird nicht auf denjenigen ausgeweitet, der
den Bericht eines Augenzeugen weitergibt. Sicherlich steht es Coady frei, von
dem Alltagsgebrauch von Begriffen abzuweichen, doch seine Behauptung, na-
türliche Zeugnisse hätten mit Augenzeugenschaft nichts zu tun, entbehrt jeder
20 Erster Teil
Grundlage, gerade in den vom ihm selbst gewählten Beispielen von Zeugnissen,
die durchaus im Sinne Humes auf direkte Erfahrung „zurückgeführt“ werden
können. Daß wir, wie Coady betont, häufig den Berichten von Personen glauben
(müssen), die keine Augenzeugen sind, ist demgegenüber eine triviale und irre-
levante Tatsache. Das Problem liegt allein darin, ob wir epistemisch berechtigt
sind, solchen Berichten zu glauben, weil wir annehmen, daß am Anfang der
Kette von Personen, die als Mittler auftreten, jemand steht, der mit der Kompe-
tenz direkter Erfahrung mitteilt, oder ob wir auch ohne den Rekurs auf Erfah-
rung epistemisch berechtigt sind, an Zeugnisse zu glauben.
Dieses erkenntnistheoretische Problem läßt sich nicht definitorisch lösen,
weder indem man – wie Coady – behauptet, natürliche Zeugnisse seien weit ent-
fernt von der Augenzeugenschaft, allerdings auch nicht, indem man darauf ver-
weist, in natürlichen Sprachen sei der Begriff des Zeugen für den Augenzeugen
reserviert. Möchte man jedoch bei der Begriffsbestimmung möglichst dicht
beim üblichen Sprachgebrauch bleiben, läßt sich eine Bezugnahme der Begriffe
„Zeugnis” und „Zeuge” auf direkte Erfahrung schwerlich vermeiden.
Eine weitere Kritik an der oben zitierten Definition von „natural testimony“
äußert Arindam Chakrabarti in einer ansonsten überwiegend zustimmenden Re-
zension der Monographie Coadys:

„I have only one problem with the above three-part definition of testimony. The first
clause needs reformulation. No good testifier can offer the fact that he says so as evi-
dence for the truth of the knowledge that he tries to communicate. Some irate parents
can, of course, say ‚Because I say so’ to a child who demands evidence without hav-
ing the capacity to assess it. But that disqualifies the parents’ utterance from being a
natural testimony“ (Chakrabarti 1994: 967).

Was Chakrabarti an dieser Stelle anzweifelt, betrifft jedoch den Kern der
Diskussion, nicht bloß einen marginalen Punkt der Definition: Kann allein die
Tatsache, daß jemand etwas sagt, bereits als Erkenntnisgrund (epistemische
Rechtfertigung) für die Wahrheit des Gesagten gelten? Wenn ja, dann ist gegen
die erste Bedingung von Coadys Begriffsbestimmung nichts einzuwenden.
Denn wer annimmt, Testimony sei tatsächlich in diesem starken Sinn eine Er-
kenntnisquelle, der meint damit, daß das Zeugnis selbst die epistemische Recht-
fertigung seiner Wahrheit in sich trägt. Dies ist die sogenannte presumptive-
right-thesis (PR), die in den nächsten Abschnitten noch eingehender untersucht
werden soll. Sie mag durchaus – wie Chakrabarti nahelegt – an die Haltung au-
toritärer Eltern erinnern, was aber noch kein Argument in der Sache darstellt.
Da eine Begriffsdefinition nicht bereits Stellungnahmen zu den relevanten
inhaltlichen Streitfragen vorwegnehmen sollte, erscheint Coadys erste Bedin-
gung seiner Definition in der Tat unangebracht. Um festzustellen, ob die Äuße-
rung p ein ‚echtes’ Zeugnis (im Sinne dieser Definition) ist, müßte man bereits
eine Vorentscheidung treffen, ob Testimony in erwähnter Weise eine Erkennt-
nisquelle darstellt oder nicht. Wer bezweifelt, daß Testimony in diesem Sinne
Das Zeugnis anderer 21
eine Erkenntnisquelle darstellt, wird dann sagen müssen, daß es keine solchen
Zeugnisse gibt, die Klasse von Äußerungen, die alle Bedingungen der Definition
Coadys erfüllen, also leer ist. Zugleich wird man einem solchen Testimonial-
Skeptiker nicht die übliche Unterstellung machen können, er habe übersehen,
daß wir einen Großteil unseres Wissens dem Zeugnis anderer (im Sinne der
auch von Coady zunächst verwendeten weiten Definition) verdanken. Es würde
sich bei einer solchen Unterstellung lediglich um einen verbalen Trick handeln.
Um derartige Probleme zu vermeiden, empfiehlt es sich, auf Definitionen zu
verzichten, die eine Vorentscheidung der erkenntnistheoretischen Streitfrage in-
volvieren.
Doch selbst wenn wir uns auf Coadys eingangs erwähnte Bestimmung von
Testimony als assertorische Sprechhandlungen beschränken, kollidiert dies mit
den Erkenntniszielen mancher Vertreter der Sozialen Erkenntnistheorie, die den
Begriff des Zeugnisses eben nicht nur auf Behauptungen, sondern auch auf bild-
hafte Quellen u.ä. ausdehnen möchten. Deutlich wird diese Problematik auch
bei Scholz, der zwar die Definition von Testimony als assertorische Sprechhand-
lung erwähnt, aber sogleich betont, daß Bilder gleichfalls wichtige ‚Zeugnisse’
sein können (vgl. Scholz 2003: 356 f.). Die Definition von Zeugnissen als asser-
torische Sprechhandlungen ist in dieser Hinsicht also zu eng, gleichzeitig aber
auch in anderer Hinsicht zu weit, denn nicht alle assertorischen Sprechhandlun-
gen sind unserem begrifflichen Vorverständnis nach Zeugnisse. Wer beispiels-
weise nur wiedergibt, was er von anderen gehört hat – selbst wenn er von der
Wahrheit des Behaupteten überzeugt ist –, hat nach dem üblichen Verständnis
des Wortes kein Zeugnis abgegeben. Jeder Versuch aber, ähnlich wie Coady, die
Kriterien genauer zu bestimmen, nach denen von einem Zeugnis die Rede sein
kann, schließt Verwendungsweisen aus, die von anderen Autoren als relevant
erachtet werden oder nimmt eine Stellungnahme hinsichtlich des epistemologi-
schen Status’ von Testimony bereits vorweg.14 – Die Problematik der begriffli-
chen Unklarheit von „Testimony“ wird uns noch weiter verfolgen, insbesondere
in Abschnitt (1.5) im Zusammenhang mit der für die Soziale Erkenntnistheorie
maßgeblichen Frage, ob wir Zeugnisse vor jeder empirischen Prüfung für wahr
halten dürfen oder sogar müssen.

1.4 Über die Möglichkeit eines lokalen Reduktionismus

Wer für die Eigenständigkeit des Zeugnisses anderer als Erkenntnisquelle argu-
mentieren will, kann zwei Strategien verwenden: Die erste Argumentationslinie

14
Ein weiterer Streitpunkt könnte sein, ob sich der Begriff „Testimony“ auf „Zeugnisse
von“ einem oder auf „Zeugnisse für“ einen behaupteten Sachverhalt bezieht. Es macht
einen Unterschied, ob man Zeugnisse primär als Behauptungen auffaßt oder vor allem als
Beweisgründe für andere Behauptungen, die ihrerseits nicht als Zeugnisse bezeichnet
werden.
22 Erster Teil
leugnet schlicht die Möglichkeit einer Reduktion von Testimony auf andere
Quellen („negative claim“); die zweite Strategie hebt demgegenüber mit Hilfe
einer im Abschnitt 1.5 noch näher zu beschreibenden transzendentalen Argu-
mentation auf eine ‚positive’ Rechtfertigung von Testimony ab.
Christopher J. Insole hat die logische Struktur der ersten Argumentations-
strategie folgendermaßen dargestellt: Er beginnt mit dem Hinweis auf die unbe-
streitbare faktische Bedeutung des Zeugnisses anderer als Quelle des ‚Wissens’.
Diese erste Prämisse der Argumentation (‚common-sense restraint’) lautet:

„CR. Testimony is in fact a rich source of what we commonly call ‚know-


ledge’“ (Insole 2000: 44).

Die Reduktionsthese, gegen die argumentiert werden soll, differenziert Inso-


le wie folgt:

„R-Nec. Our epistemic right to believe what others tell us must be grounded in
other epistemic resources and principles such as perception, memory
and inference“ (Insole 2000: 45).

„R-Poss. It is possible to reduce the epistemic status of beliefs gathered from


testimony to other epistemic resources such as perception, memory and
inference“ (ebd.).

Der optimistische Reduktionist behaupte, daß ‚Reduktion’ sowohl möglich


als auch nötig ist: (R-Poss) & (R-Nec). Demgegenüber glaube der „pessimisti-
sche Reduktionist“, die Reduktion sei zwar nötig, nicht aber möglich: (R-Nec)
& not-(R-Poss). Laut Insole verstößt der pessimistische Reduktionist gegen die
von allen akzeptierte Prämisse CR. Seine Position kann daher als inkonsistent
ausgeschlossen werden (vgl. Insole 2000: 45). Somit bleibt als Gegner nur noch
der optimistische Reduktionist übrig. Das anti-reduktionistische Argument ge-
gen den optimistischen Reduktionisten sei transzendentaler Natur. Es handle
sich hierbei um ein Argument, das die sogenannte „presumptive right thesis“
(PR) rechtfertige. Letztere lautet:

„PR. A hearer has the epistemic right to believe testimony merely on the ground
that it has been asserted“ (Insole 2000: 46).

Die transzendentale Rechtfertigung von (PR) formuliert Insole in vier Schritten:

„1. Knowledge is gained by testimony [from (CR)]


2. Either it is the case that it is possible generally for the hearer to obtain
independent confirmation that an assertion by a given speaker is trustworthy,
or it is the case that the hearer has an epistemic right to believe testimony on
Das Zeugnis anderer 23
the ground that it has been asserted [...] [from ((R-Poss) or (PR) but not
both)]
3. It is not in fact possible generally for the hearer to obtain independent con-
firmation that a given speaker is trustworthy [from not-(R-Poss)] [...] There-
fore
4. (PR)” (Insole 2000: 46).

An der Folgerichtigkeit dieser Argumentation gibt es nichts zu beanstanden,


doch als entscheidender Punkt stellt sich sogleich die inhaltliche Begründung
der dritten Prämisse heraus. Außerdem leidet sogar die erste Prämisse, deren
Geltung als selbstverständlich unterstellt wird, unter der Mehrdeutigkeit des
Wissensbegriffs.
Ist ‚Reduktion’ möglich? Und, wenn ja, was heißt das genau? – Coady hatte
bereits in seiner Auseinandersetzung mit Hume die Durchführbarkeit einer glo-
balen Reduktion, d.h. den Anspruch, alle Zeugnisse zugleich empirisch rechtfer-
tigen zu wollen, in Frage gestellt. Elisabeth Fricker argumentiert demgegenüber
in ihrem Aufsatz „Against Gullibility“ für die Möglichkeit eines lokalen Reduk-
tionismus, d.h. von ‚Reduktionen’ unter bestimmten Umständen. Sie beschränkt
sich in ihrer Argumentation darauf, den von ihr so genannten „negative claim
(NC)“ zu entkräften, der mit not-(R-Poss) identisch ist:

„NC: It is not, generally speaking, possible for a hearer to obtain independent confir-
mation that a given speaker is trustworthy – that what she says will be true“ (Fricker
1994: 125).

Wenn dieser NC zutreffe, könne Wissen durch das Zeugnis anderer nur er-
worben werden, wenn es keine Notwendigkeit für eine unabhängige Bestätigung
der Glaubwürdigkeit des Sprechers gebe – mit anderen Worten: wenn die PR-
These haltbar sei (vgl. Fricker 1994: 125 f.). Die PR-These wird von Fricker
konkretisiert:

„PR thesis: On any occasion of testimony, the hearer has the epistemic right to as-
sume, without evidence, that the speaker is trustworthy, i.e. that what she says will be
true, unless there are special circumstances which defeat this presumption. (Thus she
has the epistemic right to believe the speaker’s assertion; unless such defeating condi-
tions obtain.)“ (Fricker 1994: 125).

Ihr eigenes Argumentationsziel liegt darin, die PR-These durch die Widerle-
gung von NC zu diskreditieren. Darüber hinaus weist Fricker auch die positiven
Argumente für PR zurück, die sich auf die Natur der Sprache und des Verste-
hens beziehen und dadurch eine generelle Disposition des Vertrauens begrün-
den, ohne jedoch in ihrem Beitrag darauf näher einzugehen (vgl. Fricker 1994:
126). Ihre zentralen Thesen lauten, kurz zusammengefaßt:
24 Erster Teil
„The Negative Claim, that there can, generally speaking, be no non-circular confir-
mation that a given speaker is trustworthy, is false. And any fully competent partici-
pant in the social institution of a natural language simply knows too much about the
characteristic role of the speaker, and the possible gaps which may open up between a
speaker’s making an assertion, and what she asserts being so, to want to form beliefs
in accordance with the policy a PR allows. The PR thesis is an epistemic charter for
the gullible and undiscriminating. This paper argues against gullibility“ (Fricker
1994: 126).

Mit den sozialen Erkenntnistheoretikern stimmt Fricker in der ersten


Prämisse, der Commonsense-Bedingung, überein: „I agree with the proponent
of the argument that it is a constraint on any epistemology of testimony, that it
preserve our commonsense view that knowledge can be gained through testi-
mony“ (Fricker 1994: 127 f.). Auch Fricker unterscheidet hierbei nicht zwischen
„Erkenntnisquelle“ im Sinne der Herkunft (Genese) unseres Wissens und „Er-
kenntnisquelle“ im Sinne der Rechtfertigung von Glaubensüberzeugungen, da
auch sie den klassischen Wissensbegriff der gerechtfertigten wahren Meinung
vorauszusetzen scheint.
Im folgenden beschäftigt sie sich ausschließlich mit dem Rechtfertigungs-
problem:

„The epistemological ‚problem of justifying belief through testimony’ is the problem


of showing how it can be the case that a hearer on a particular occasion has the epis-
temic right to believe what she is told – to believe a particular speaker’s assertion. If
an account showing that and how this is possible is given, then the epistemological
problem of testimony has been solved“ (Fricker 1994: 128).

Die reduktionistische Form der Rechtfertigung, gegen deren Möglichkeit


sich NC richtet, bestehe darin, die Vertrauenswürdigkeit eines Sprechers empi-
risch zu bestätigen, so daß der Schritt von „S behauptete, daß P“ zu „P“ ohne
Annahme eines präsumtiven Vertrauens-Rechtes (PR) vollzogen werden könne
(ebd.). Fricker akzeptiert nun die von Coady u.a. vorgebrachten Argumente ge-
gen einen (globalen) Reduktionismus, behauptet jedoch, daß es eine haltbare
Form des Reduktionismus gibt, die sie „lokalen Reduktionismus“ nennt:

„Local Reductionist Claim: It can be the case that, on a particular occasion O when a
speaker S makes an utterance U and in doing so asserts that P to a hearer H, H has, or
can gain, independent evidence sufficient to warrant her in taking S to be trustworthy
with respect to U“ (Fricker 1994: 133).

Im weiteren Verlauf versucht Fricker zu klären, welche Bedingungen vorlie-


gen müssen, um die Vertrauenswürdigkeit von Sprechern unabhängig von Te-
stimony zu ermitteln. Hierbei geht es ihr v.a. um „a speaker’s sincerity and
competence, or lack of them“ (Fricker 1994: 148). Die Vertrauenswürdigkeit
eines Sprechers könne vom Hörer geprüft werden durch „her monitoring the
Das Zeugnis anderer 25
speaker for any tell-tale signs revealing likely untrustworthiness“ (Fricker 1994:
150). Zugleich behauptet die Autorin, daß dieses „monitoring [... is] usually
found in ordinary hearers, at least to some extent“ (ebd.).
Dies ist nun eine Tatsachenbehauptung, die auch sogleich von Vertretern der
Sozialen Erkenntnistheorie bestritten wird. „Frickers positive Forderungen an
einen rationalen Hörer“, so Scholz, seien „entfremdet“ und „unrealistisch“.
Nicht nur bei einem Kind – was Fricker zugesteht – sei notgedrungen eine „Hal-
tung des schlichten Vertrauens“ ausgeprägt. „Auch für Erwachsene ruht die er-
worbene kritischere Haltung aber auf einer generellen Hintergrunddisposition
des Vertrauens auf“ (Scholz 2002a: 16). Demgegenüber sei es realistisch, die
„Haltung des schlichten Vertrauens“ durch „eine generelle Hintergrunddisposi-
tion, wachsam zu sein“ (ebd.), zu ergänzen.
Ist Frickers „monitoring“ tatsächlich entfremdet und unrealistisch? – In ihrer
Rezension von Coady 1992 führt Fricker ihre Position noch etwas aus:

„In my view, a PR principle worthy of the name must dispense a hearer from the re-
quirement to monitor and assess a speaker for trustworthiness. The contrasted posi-
tion I have suggested is that a hearer is always required thus to monitor and assess a
speaker, though this may be automatic and unconscious. She must engage in a piece
of psychological interpretation of her informant, constructing an explanation of her
utterance as an intentional speech act. Estimates of her sincerity and her competence,
or their lack, will be part of this explanatory mini-theory. Within the interpretative
exercise sincerity is the default setting: it can be assumed unless there are signs of its
lack. But – and this is why the account is not a PR theory – the hearer must always be
scrutinising the speaker for telltale signs of its absence, and she must be alert to the
presence of such signs. Similarly, competence may be assumed as default setting, but
in this case with respect to a subclass of tellings only, viz. those with subject matters
for which commonsense psychological knowledge licenses one to expect the speaker
to be competent about them. [...] Again, the speaker must be sensitive to indicators of
its lack. [...] A hearer who engages in it does not believe what she is told uncritically,
and she has empirical grounds for her trust in her informant“ (Fricker 1995: 404 f.).

Das längere Zitat macht deutlich, daß – entgegen dem ersten Eindruck – of-
fenbar doch keine gravierende Meinungsdifferenz in Tatsachenfragen zwischen
den Kontrahenten vorliegt. Beide Seiten gehen von „Wahrheitspräsumtionen“
bzw. von der Vertrauenswürdigkeit als „default setting“ aus. Die kritische Hal-
tung beruhe darauf, für widersprechende Indizien empfänglich zu sein und die
Anfangsvermutungen gegebenenfalls entsprechend zu korrigieren. (Der einzige
Unterschied dürfte darin liegen, daß es für einen Verfechter von PR schwer zu
akzeptieren ist, Zeugnissen bestimmter Art gegenüber eine generelle Falsch-
heitspräsumtion anzunehmen, während dies für einen empiristischen Standpunkt
in der Nachfolge Humes selbstverständlich ist.)
Der eigentliche Streitpunkt liegt aber auch hier wieder in dem Aspekt der
Rechtfertigung, also darin, ob es für das Vertrauen in Zeugnisse empirische
26 Erster Teil
Gründe gibt (geben muß) oder ob es auch ohne solche epistemisch gerechtfertigt
ist.
Daß es gelegentlich möglich ist, aufgrund eigener Erfahrung Zeugnisse an-
derer zu überprüfen, wird man kaum in Abrede stellen können. Auch Scholz
„möchte nur darauf beharren, daß eine erfolgreiche lokale Reduktion nicht der
Normalfall sein wird und auch nicht sein kann“ (Scholz 2002a: 16). In der Tat
sind wir bei der Überprüfung von Zeugnissen häufig auf die Erfahrung anderer
und damit auf ihr Zeugnis angewiesen. Dies kann ebensowenig sinnvoll bestrit-
ten werden wie die Möglichkeit „lokaler Reduktionen“. Ein wichtiger Erkennt-
nisfortschritt hinsichtlich der Geltung von PR ist von der Diskussion über loka-
len Reduktionismus nicht zu erwarten.
Darüber hinaus ist Frickers lokaler Reduktionismus eine sehr schwache Ver-
sion des Empirismus, sozusagen ein Rückzug auf den Sonderfall. Dies wird
deutlich, wenn wir uns Insoles Differenzierung von zwei Formen des lokalen
Reduktionismus näher betrachten:

„R-Possuniversal/local It is always the case in a local context that a speaker’s


trustworthiness regarding an utterance can be empirically con-
firmed (by a hearer in the mature, post-developmental phase)“
(Insole 2000: 51).
„R-Possparticular/local It is often, or more often than not, the case in a local context
that a speaker’s trustworthiness regarding an utterance can be
empirically confirmed“ (ebd.).

Offenbar ist nur der partikulare lokale Reduktionismus haltbar, denn einem
auf sich allein gestellten Individuum, das nur die eigenen Erfahrungen als Prüf-
instanz verwenden darf, sind enge Erkenntnisgrenzen gesetzt. Empirische Wis-
senschaft, die ja stets arbeitsteilig verfährt, kann aber durch „lokale Reduktio-
nen“ dieser Art nicht gerechtfertigt werden. Ein Empirist wäre also schlecht be-
raten, auf R-Possparticular/local zu setzen, um PR zu entkommen. Frickers Verweis
auf die Möglichkeit lokaler Reduktionen stellt sich für den Empiristen, der den
sozialen Charakter der Wissenschaft erkannt hat, also als eine argumentative
Sackgasse heraus.15

15
Das methodologische Prinzip der empirischen Prüfbarkeit von Hypothesen und Theori-
en ist übrigens von der soeben dargestellten Diskussion überhaupt nicht betroffen. Es be-
steht in dem Postulat, solche Hypothesen und Theorien aufzustellen, die erfahrungswis-
senschaftlich geprüft werden können – unabhängig davon, wer dies durchführt und wann
oder ob es de facto (in jedem einzelnen Fall) überhaupt getan wird.
Das Zeugnis anderer 27
1.5 Müssen wir Zeugnisse für wahr halten?

Neben der Argumentationsstrategie, die PR indirekt durch NC zu stützen ver-


sucht, werden auch positive Argumente für PR vorgebracht. Besonders deutlich
unternehmen dies Coady in seiner Monographie sowie Anthony Quinton in sei-
nem Beitrag „Authority and Autonomy in Knowledge“. In Abschnitt V versucht
Quinton zu zeigen, „why most testimony must be reliable“16:

„The reason why most testimony must be reliable, or at least that part of it which re-
lates to the current environment of witness and client, is that unless it were predomi-
nantly true what witnesses say could not be understood, and thus identified as testi-
mony, at all. How do we come to understand the sentences that other people utter? In
the first instance, at any rate, only by becoming aware of a regular correlation be-
tween a given repeated pattern of utterance and a repeated kind of observable situa-
tion which usually accompanies it. Unless we become aware of such a regular corre-
lation between utterance-pattern and situation-type we cannot take that pattern to be
an observation-sentence. Until we have identified the observation-sentences of those
who speak to us we cannot make sense of that large remainder of their utterances
which do not refer to the immediate, perceptual environment. For the non-
observational statements of other people have to be explained in terms of antece-
dently understood statements of observation“ (Quinton 1982: 71 f.).

Quinton formuliert hiermit eine Art ‚transzendentales’ Argument17 aus dem


Spracherwerb: Die Zuverlässigkeit der Mehrzahl der Zeugnisse sei eine ‚konsti-
tutive Bedingung’ der Möglichkeit des Sprechens und Verstehens überhaupt.
Dieses Argument ist ein Spezialfall des „Argumentes aus dem frühen Faktenler-
nen“ (Scholz 2002a: 14), welches darauf abhebt, daß ein Kind gar nichts lernen
würde, hätte es nicht berechtigterweise die Einstellung des einfachen Vertrau-
ens.
Gegen Quintons transzendentales Argument lassen sich zahlreiche Einwän-
de vorbringen:
(1) Zunächst bleibt es, genau betrachtet, reichlich unklar, was mit der These
„most testimony must be reliable“ überhaupt gemeint sein soll. Kein einziger
begrifflicher Bestandteil dieser These wird hinreichend expliziert.

16
Im dritten Teil dieser Arbeit werden die transzendentalen Argumente für Wahrheitsprä-
sumtionen systematisch kritisiert, auch unter Berücksichtigung der Arbeiten D. David-
sons. An dieser Stelle möchte ich mich auf die Argumente beschränken, die sich aus der
Testimony-Diskussion ergeben.
17
Quinton bezeichnet sein Argument selbst als transzendental: „The argument will be
transcendental in character“ (Quinton 1982: 70). Er begründet den transzendentalen Cha-
rakter des Arguments damit, daß es vor jeder Möglichkeit einer induktiven Generalisie-
rung ansetze, da etwaige Regeln induktiver Verallgemeinerung selbst wiederum vom
Zeugnis externer Autoritäten abhingen. Ein induktives Argument zugunsten der Verläß-
lichkeit von Zeugnissen sei also zirkulär (vgl. ebd.).
28 Erster Teil
Beginnen wir mit der unbestimmten Mengenangabe „most“. Was bedeutet
es zu sagen, daß die meisten Zeugnisse verläßlich sein müssen? Ist damit ge-
meint, daß sich eine numerisch abzählbare Gesamtmenge von Zeugnissen eruie-
ren läßt, mit denen ein Mensch im Laufe einer bestimmten Zeit konfrontiert
wird und von denen mehr als die Hälfte verläßlich sein müssen? Wird also etwa
angenommen, daß Herr Meier, der morgens zum Frühstück die Bildzeitung liest,
in diesem Zeitraum eine quantifizierbare Anzahl von ‚Zeugnissen’ aufnimmt,
und zwar mehr ‚verläßliche’ als nicht-‚verläßliche’? Oder ist gar nicht Herr
Meier bei seiner Bildzeitungslektüre als Bezugspunkt gemeint, sondern größere
soziale Einheiten, innerhalb derer Zeugnisse ausgetauscht werden, etwa „das
deutsche Volk“ oder gar die weltweite ‚Kommunikationsgemeinschaft’? – Je
nachdem, welchen Bezugspunkt man wählt, wird man unterschiedliche Ergeb-
nisse erhalten, da es bekanntlich mehr oder weniger verläßliche (und sogar noto-
risch unzuverlässige) ‚Zeugen’ gibt. Sollten nun aber wirklich alle Zeugnisse
gemeint sein, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von wem auch im-
mer bezeugt worden sind oder noch bezeugt werden, immunisiert sich die These
unzulässig gegen Kritik. Denn selbst, wenn sich alle bisherigen Zeugnisse als
‚unzuverlässig’ herausstellen sollten, könnte ja noch eine Mehrzahl ‚zuverlässi-
ger’ Zeugnisse in der Zukunft liegen.
Das Problem der begrifflichen Unklarheit setzt sich fort mit dem Ausdruck
„testimony“: Was gilt im Zusammenhang mit Quintons These als „Zeugnis“? Ist
damit all das gemeint, was uns andere sprachlich überliefern, also auch weltan-
schauliche Überzeugungen und kulturelle Werte? Oder bezieht sich die These
nur auf den verhältnismäßig kleinen Teil von Beobachtungssätzen? Im Rahmen
seiner Argumentation bezieht sich Quinton primär auf Beobachtungssätze, die
Beobachtungssituationen entsprechen. Dies setzt aus seiner Sicht aber nicht vor-
aus, „that there are pure observation-statements or that there is any precisely
demarcated boundary between observation-statements and others but it would
be too laborious to try to make this out in detail“ (Quinton 1982: 72). Doch was
ihm zu mühsam erscheint, um im Detail ausgearbeitet zu werden, berührt den
entscheidenden Streitpunkt: Bezieht sich der Zeugnis-Begriff exklusiv auf Be-
obachtungssätze, kann man die Testimony-Kontroverse sogleich mangels Rele-
vanz zu Grabe tragen. Beobachtungssätze spielen in Alltagskommunikationen
nur eine untergeordnete Rolle, und es war doch gerade der Anspruch der Ver-
fechter von Testimony als Erkenntnisquelle, auf die vernachlässigte Vielfalt von
Zeugnissen aufmerksam gemacht zu haben, die unser Wissen bereichern.18 Die
Zeitungslektüre gehörte hierbei zu den Standardbeispielen. Wer jedoch Zeitung
liest, wird bemerken, daß Beobachtungssätze in den Artikeln kaum eine Rolle

18
Dasselbe Problem ergibt sich, wenn man Coadys Vorschlag folgt und „Testimony“ als
assertorische Sprechhandlung (bestimmter Art) definiert. Auch hier werden – wie in Ab-
schnitt (1.3.2) ausgeführt – Verwendungsweisen des Begriffs außen vor gelassen, die von
Vertretern der Sozialen Erkenntnistheorie intendiert sind.
Das Zeugnis anderer 29
spielen. So bleibt die Frage, auf welche Art von Sätzen man sich bezieht, wenn
man von Testimony spricht.
Welche Probleme aufgrund der Unklarheit von „most“ und „testimony“ für
denjenigen auftreten, der der Frage nachgeht, was die These der Verläßlichkeit
der meisten Zeugnisse überhaupt besagt, wird schon dadurch deutlich, daß nie-
mand sagen kann, wie viele ‚Zeugnisse’ in einem einfachen Zeitungsartikel ent-
halten sind – geschweige denn, ob die Mehrzahl dieser Zeugnisse verläßlich ist.
Es kann nicht einmal definitiv festgestellt werden, wie viele Zeugnisse in einer
Zeitungsüberschrift enthalten sind. Nehmen wir an, Herr Meier liest am
26.09.2003 die Bildzeitungsüberschrift „Dieter Bohlen noch böser/Du Kanalrat-
te/Und Thomas Anders schlägt zurück/Du arme Wurst“. Wie viele Zeugnisse
sind in dieser Überschrift enthalten? Wer den Zeugnis-Begriff daran knüpft, ob
echte Aussagen im Sinne von wahrheitsfähigen Sätze vorliegen, wird behaupten
können, daß die Überschrift kein einziges Zeugnis enthält, denn in der vorlie-
genden Form stellt die Überschrift keine Aussage dar. Demgegenüber kann man
aber die Ansicht vertreten, die Überschrift sei eine abgekürzte Aussage und
könne übersetzt werden, z.B. mit „Der Streit zwischen den Mitgliedern des auf-
gelösten Pop-Duos ‚Modern Talking’, Dieter Bohlen und Thomas Anders,
nimmt an Intensität zu“. In diesem Fall ließe sich die Ansicht vertreten, es han-
dele sich bei der Überschrift um ein einziges Zeugnis. An der Berechtigung und
Vollständigkeit der gewählten Übersetzung läßt sich aber begründete Kritik an-
melden. Zumindest müßte man doch ergänzen, daß die Überschrift nahelegt,
Dieter Bohlen habe zu Thomas Anders „Du Kanalratte“ gesagt und Thomas
Anders zu Dieter Bohlen „Du arme Wurst“. Damit hätten wir bereits drei Zeug-
nisse in der Überschrift entdeckt. Nun jedoch dürfte eine Auseinandersetzung
entstehen zwischen denjenigen Interpreten, die es damit bewenden lassen möch-
ten, und denjenigen, die in den einzelnen Bestandteilen der Überschrift weitere
Zeugnisse über psychische Dispositionen von Dieter Bohlen und Thomas An-
ders sowie über gegenseitige Unterstellungen von negativen Charaktereigen-
schaften entdecken. „Dieter Bohlen noch böser“ bringt offenbar zweierlei zum
Ausdruck, einmal, daß die genannte Person sich in einem bestimmten Gemüts-
zustand befindet, weiterhin, daß sich dieser Gemütszustand noch verstärkt hat.
„Du Kanalratte“ deutet darauf hin, daß die erste Person der zweiten einen ver-
achtenswerten Charakter unterstellt. „Thomas Anders schlägt zurück“ läßt sich
interpretieren als eine Reaktion der zweiten Person auf Äußerungen der ersten.
„Du arme Wurst“ wäre dann wiederum eine despektierliche charakterliche Un-
terstellung. Damit hätten wir jetzt ungefähr acht Zeugnisse in der Überschrift
identifiziert. Gänzlich hoffnungslos wird die Situation, sobald jemand auf die
Idee kommt, daß bei den bislang vorgelegten Versuchen der Deutung und Quan-
tifizierung die sprachpragmatischen Implikaturen nicht genügend berücksichtigt
worden sind. Wenn eine Person zur anderen sagt „Du Kanalratte“, liegt ja mehr
als eine inhaltliche Stellungnahme über den Charakter des Angesprochenen vor.
Vielmehr weiß jeder Sprachkundige, daß damit eine Beleidigung ausgesprochen
wurde. Die Überschrift enthält somit auch das Zeugnis „Dieter Bohlen hat Tho-
30 Erster Teil
mas Anders beleidigt“. Außerdem weiß jeder, daß ein Beleidigter gekränkt rea-
giert, so daß sich die Antwort Thomas Anders’ auch als Ausdruck des Ge-
kränktseins auffassen läßt, nicht bloß als Aussage über den Charakter Dieter
Bohlens usw. usf. Da sich der Umfang sprachpragmatischer Implikaturen nicht
quantitativ eingrenzen läßt – es gehören bekanntlich auch solche Aussagen dazu
wie „Dieter Bohlen ist ein Mensch“, was wiederum unendlich viele Gesetzmä-
ßigkeiten impliziert –, könnten wir prinzipiell unendlich viele Zeugnisse in der
Überschrift entdecken. – Es ist schwer zu sagen, welche Definition von „Zeug-
nis“ geeignet wäre, ein eindeutiges Ergebnis bei alltäglichen Anwendungsbei-
spielen dieser Art zu bringen und darüber hinaus von allen Teilnehmern der Te-
stimony-Debatte akzeptiert werden könnte. Daß keiner der in Abschnitt (1.3.2)
besprochenen Definitionsversuche das Problem löst, ist offenkundig. Vorläufig
aber kann man festhalten, daß niemand in der Lage ist, auch nur anzugeben, wie
viele ‚Zeugnisse’ in einer Zeitungsüberschrift enthalten sind, so daß die These
einer Verläßlichkeit der Mehrzahl der Zeugnisse bereits aufgrund der Unmög-
lichkeit einer Quantifizierung hinfällig ist.
Nicht ohne Tücke erscheint auch der modale Ausdruck „must be“, denn es
fragt sich, in welchem Sinn hier etwas notwendig sein soll. Dies betrifft den
transzendentalen Charakter der PR-These. Quinton selbst hält seine These für
transzendental, weil sie jeder induktiven Generalisierung vorgängig sei. Doch
das beantwortet nicht die Frage, in welchem Sinn die meisten Zeugnisse verläß-
lich sein müssen. Vermutlich ist, wie eingangs erwähnt, mit „must be“ eine
‚konstitutive Bedingung’ der Möglichkeit von sprachlicher Verständigung ge-
meint, was etwas anderes darstellen soll als eine bloße praktische Notwendig-
keit, welche auch von einem Empiristen eingeräumt werden kann. Daß keines-
wegs klar ist, was solche ‚konstitutiven Bedingungen’ im Gegensatz zu prakti-
schen (bzw. instrumentellen) Notwendigkeiten ausmachen soll, möchte ich im
dritten Teil dieser Arbeit ausführlicher begründen.
Schließlich verbleibt noch der Ausdruck „reliable“. Da der Zeugnis-Begriff
nicht hinreichend geklärt ist, kann naheliegenderweise auch nicht deutlich ge-
macht werden, was unter „verläßlich“ zu verstehen ist. Quinton spricht zwar
auch von „predominantly true“, doch dies ist auf die Beobachtungssätze bezo-
gen, nicht auf die weit größere Menge von alltäglichen „Zeugnissen“, bei denen
es sich zum Teil nicht um wahrheitsfähige Sätze handelt, sofern der Zeugnis-
Begriff mehr als nur deskriptive Aussagen umfaßt. Beispielsweise wäre bei reli-
giösen Zeugnissen zu berücksichtigen, daß sie häufig nicht als deskriptive Aus-
sagen zu verstehen sind, die wahr oder falsch sein können, sondern Glaubensin-
halte und moralische Werte vermitteln, die nicht – jedenfalls nicht in demselben
Sinn wie deskriptive Aussagen – wahrheitsfähig sind. Wenn aber bei den zahl-
reichen Zeugnissen, die keine bloßen Beschreibungen sind, mit „reliable“ nicht
„true“ gemeint sein kann, was dann?
(2) Doch selbst wenn geklärt wäre, was mit der transzendentalen These
überhaupt gemeint ist, ist sie nicht hinreichend, um PR zu begründen. Aus der
Annahme, daß die Mehrzahl der Zeugnisse wahr (bzw. ‚verläßlich’) ist, ergibt
Das Zeugnis anderer 31
sich kein epistemisches Recht, ein konkret vorliegendes Zeugnis für wahr (bzw.
‚verläßlich’) zu halten. Wenn man in der unkonfortablen Erkenntnissituation
sein sollte, das betreffende Zeugnis nicht (empirisch) prüfen zu können, ergibt
sich eventuell die praktische Notwendigkeit, es ohne Prüfung zu akzeptieren.
Und man hat vielleicht sogar ein gutes Gefühl dabei, weil Zeugnisse ja in der
Regel zuverlässig sind. Doch wir können ohne Prüfung nicht wissen, ob das be-
treffende Zeugnis zu der Mehrzahl der zuverlässigen oder nicht doch zu den un-
zuverlässigen gehört. Dies ist der Grund, warum Hume trotz der notabene von
ihm aufgestellten – wenngleich nicht transzendental sondern naturalistisch be-
gründeten – These der überwiegenden Vertrauenswürdigkeit von Zeugnissen
kein Prinzip von der Art PR anerkennt. Eine Verbindung zwischen der These
einer überwiegenden Vertrauenswürdigkeit von Zeugnissen und PR ergäbe sich
allein durch die Einführung eines Brücken-Prinzips der Form: „Es ist episte-
misch gerechtfertigt, alles für wahr zu halten, was andere sagen, wenn das mei-
ste, was andere sagen, wahr ist“. Ein solches unkritisches Brückenprinzip wäre
aber genau das, was Fricker den Vertretern von PR unterstellt: „gullibility“.
(3) Wenden wir uns nun der inhaltlichen Ausführung des transzendentalen
Argumentes aus dem Spracherwerb zu. Bekanntlich haben Eltern ein besonderes
Interesse daran, daß ihre Kinder bestimmte Grundfertigkeiten erlernen, darunter
auch die Sprache, und sie werden ihre Kinder somit zumindest mit einer genü-
genden Anzahl korrekt gebildeter Beobachtungssätze konfrontieren. Folgt dar-
aus, daß die Mehrzahl aller Zeugnisse vertrauenswürdig ist? – Ganz offensicht-
lich nicht. Denn die Klasse der Zeugnisse umfaßt – wenn wir von dem üblichen
weiten Begriff von „Testimony“ ausgehen – erheblich mehr als bloße Beobach-
tungssätze. Es muß sich bei Zeugnissen noch nicht einmal um wahrheitsfähige
Sätze handeln, etwa im Fall von religiösen Zeugnissen, die Kindern jedoch übli-
cherweise so vermittelt werden, als handle es sich um wahre Aussagen. Wie nun
aber von der Annahme, daß die meisten Beobachtungssätze, die Kindern gegen-
über geäußert werden, wahr sind, auf die Zuverlässigkeit aller Arten von Zeug-
nissen zwischen beliebigen Menschen geschlossen werden kann, bleibt uner-
findlich. Offensichtlich kann man von der Annahme, daß die meisten Beobach-
tungssätze, die Eltern ihren Kindern gegenüber äußern, wahr sind, noch nicht
einmal auf die Wahrheit der meisten Beobachtungssätze schließen, die Erwach-
sene sich gegenseitig mitteilen. Das transzendentale Argument reicht somit nicht
einmal aus, die These der Wahrheit einer Mehrzahl von Beobachtungssätzen zu
begründen.
(4) Darüber hinaus ist noch ein weiteres Problem mit der transzendentalen
Pauschal-Rechtfertigung verbunden: Es wird einfach zu viel gerechtfertigt, der
absurdeste Aberglaube ebenso wie die aktuellen realwissenschaftlichen Theori-
en; eine längst widerlegte Weltauffassung (sofern sie noch Anhänger hat, die sie
tradieren) ebenso wie das Weltbild der modernen Physik. Miteinander inkonsi-
stente Auffassungen kommen also gleichermaßen in den Genuß dieser apriori-
schen Legitimierung. Dies führt entweder zum Wahrheitsrelativismus – sofern
der verwendete Rechtfertigungsbegriff auf Wahrheit oder wahrscheinliche
32 Erster Teil
Wahrheit zielt – oder zu einer Sinnentleerung des Rechtfertigungsbegriffs, der
Beliebiges ‚rechtfertigt’ und damit aber auch nur noch eine rhetorisch-
legitimierende Funktion hat, ohne auf etwas wie „objektive Verläßlichkeit“ hin-
zudeuten.
Der erkenntnistheoretische Optimist übersieht das Ausmaß der Veränderung
des Wissens: Das meiste, was ein mittelalterlicher Gelehrter für selbstverständ-
lich hielt, gilt inzwischen als obsolet. Und es ist ohne weiteres möglich, daß ein
Großteil „unseres“ Wissens – d.h. die aktuellen Theorien der Realwissenschaf-
ten sowie das Alltagswissen – sich in späterer Zeit als falsch herausstellt.
Daß Menschen faktisch so vorgehen, wie es beschrieben wird, daß sie übli-
cherweise dem Zeugnis anderer vertrauen (Reids principle of credulity), kann
durchaus zugestanden werden. Daß sie auch glauben, ihr Fürwahrhalten sei ‚ge-
rechtfertigt’, ist bereits weniger leicht nachzuweisen. (Üblicherweise glauben
wir einfach und sind von etwas überzeugt und verbinden damit auch einen
Wahrheitsanspruch, ohne daß wir zusätzlich davon sprechen, unser Fürwahrhal-
ten sei ‚gerechtfertigt’. Rechtfertigung wird im Alltag sowie in der Wissenschaft
erst dann zum Problem, sobald es Umstände gibt, die unser Fürwahrhalten frag-
lich erscheinen lassen.)
Auf jeden Fall muß aber zwischen dem faktischen Vorgehen und Für-
wahrhalten einerseits und der epistemischen Rechtfertigung andererseits unter-
schieden werden. Die Tatsache, daß Menschen dem Zeugnis anderer vertrauen
und auch vertrauen müssen, um Erkenntnisziele zu erreichen (also eine instru-
mentell notwendige Präsumtion), rechtfertigt dieses Vertrauen allenfalls
pragmatisch – man kann schließlich nicht anders handeln –, nicht aber
epistemisch oder im Sinne objektiver Verläßlichkeit.
Es ist unumstritten, daß zum Zwecke der Erkenntnisgewinnung – sowohl im
Alltagsleben als auch in der empirischen Wissenschaft – die Wahrheit bestimm-
ter Zeugnisse vorausgesetzt werden muß. Dies gilt ebenso für den theoretischen
Physiker, der sich zur Prüfung von Theorien auf Beobachtungsaussagen (Basis-
sätze) des Astronomen oder Experimentators verläßt, wie für den ortsunkundi-
gen Reisenden, der in einer fremden Stadt nach dem Weg fragt. In beiden Fällen
wäre es undurchführbar und für das Erkenntnisziel kontraproduktiv, wollte man
verlangen, jedwedes Zeugnis kritisch zu prüfen.19 Ein gewisses Vertrauen auf
die Verläßlichkeit des anderen ist unabdingbar für jegliche soziale Kooperation,
auf der ja auch die wissenschaftliche Arbeit basiert. Wäre dies gemeint mit PR,

19
Wenngleich es undurchführbar ist und deshalb ein sinnloses Postulat wäre, alle Zeug-
nisse zugleich kritisch zu prüfen oder jedes Zeugnis nur dann (vorläufig) für wahr zu hal-
ten, kann die Forderung nach empirischer Prüfbarkeit als methodologisches Prinzip den-
noch sinnvoll sein. Dies gilt, wie bereits gesagt, für die Wissenschaftstheorie, kann aber
auch auf den Umgang mit alltäglichen Zeugnissen (im Sinne von Behauptungen) ange-
wendet werden. Die Prüfbarkeit bezieht sich hierbei lediglich auf eine bestimmte Form
der Hypothesen bzw. „Zeugnisse“, die eine Korrektur anhand von Erfahrung gestattet,
nicht aber darauf, wer sie prüft und wann oder ob sie überhaupt geprüft werden.
Das Zeugnis anderer 33
befände sich die Soziale Erkenntnistheorie nicht bloß im Einklang mit dem ge-
sunden Menschenverstand, sondern auch mit vielen anderen erkenntnistheoreti-
schen Positionen. Allenfalls ließe sich noch einschränkend ergänzen, daß das
Vertrauen in Zeugnisse, die dem praktischen Handeln zugrunde liegen, bzw. in
Basissätze, die zum Zwecke der Theorieprüfung als wahr vorausgesetzt werden,
immer nur ein vorläufiges ist: Führt uns das Zeugnis in die Irre, werden wir auf-
grund dieser Erfahrung beim nächsten Mal weniger geneigt sein, einem Zeug-
nis/Zeugen entsprechender Art Vertrauen zu schenken. Ist die Beobachtungs-
aussage einer unabhängigen Prüfung nicht zugänglich, wird der theoretische
Physiker nicht bereit sein, diesem Zeugnis besonderes Gewicht zu geben.
Genau hier liegt aber das zweite Grundproblem der Sozialen Erkenntnistheo-
rie, das Problem der Rechtfertigung: Sie muß zeigen, daß das Vertrauen in das
Zeugnis anderer mehr ist als eine soziale Praxis, die sich aufgrund instrumentel-
ler Notwendigkeit herausbildet; sie muß vielmehr zeigen, daß wir epistemisch
gerechtfertigt sind, Zeugnissen anderer zu vertrauen, ohne sie geprüft zu haben.
Mit „epistemisch gerechtfertigt“ ist gemeint, daß auch ein Erkenntnisgrund da-
für vorliegt, daß das Zeugnis wahr ist, nicht bloß ein Realgrund bzw. Motiv. Im
Sinne von PR zu behaupten, ein Zeugnis sei epistemisch gerechtfertigt, allein
deshalb, weil es behauptet wurde, entspricht nun nicht mehr dem Common
sense, denn hier liegt gar kein Erkenntnisgrund vor. Anstatt eine Wahrheitsprä-
sumtion beim Umgang mit Zeugnissen transzendental zu begründen, reicht eine
pragmatische Rechtfertigung völlig aus.20
(5) Ist es aber überhaupt möglich, daß die Mehrzahl von Zeugnissen falsch
ist? – Ein Gegner der PR-These muß keineswegs die Falschheit einer Mehrzahl
der Zeugnisse behaupten. Er kann statt dessen, wie Hume, durchaus einräumen,
daß Menschen zur Wahrhaftigkeit tendieren. Er kann auch eine praktische Not-
wendigkeit anerkennen, viele Zeugnisse ohne Prüfung für wahr zu halten. Wie
steht es aber mit der Möglichkeit, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch ist? –
Coady unterstellt in seiner Argumentation gegen Hume, dieser müsse die Mög-
lichkeit in Erwägung ziehen, daß alle oder die meisten Zeugnisse falsch sind.
Bei der angestrebten empirischen Prüfung könnte sich ja herausstellen, daß nie-
mand die Wahrheit gesagt hat. Wer Testimony mit der Realität vergleichen wol-
le, müsse in Erwägung ziehen, daß es keinerlei Übereinstimmung gebe.
Vom Standpunkt eines erkenntnistheoretischen Realismus – der auch dem
Alltagsverstand und damit dem von der Sozialen Erkenntnistheorie beanspruch-
ten Common Sense zugrunde liegt – kann die Möglichkeit nicht ausgeschlossen
werden, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch ist.21 Man kann sich ohne weite-

20
Vgl. dazu die Darstellung und Diskussion der Rolle von Rationalitätsprinzipien bei der
Interpretation in Teil 3.
21
Da die These einer Zuverlässigkeit der Mehrheit aller Zeugnisse unklar ist, trifft dies
natürlich auch auf ihre Negation zu, so daß sich im Grunde inhaltliche Ausführungen er-
übrigen. Im folgenden stelle ich lediglich ein Gedankenexperiment auf der Basis einer
Common-Sense-Auslegung der Negation dieser These an.
34 Erster Teil
res den Fall einer (nahezu) totalen Propaganda oder Ideologie vorstellen: Be-
stimmte Menschen oder Gruppen von Menschen, die sich über alle Tatsachen
hinsichtlich ihrer Lebenswelt, ihres Daseins und ihrer Herkunft eine falsche
Meinung bilden und diese ihren Nachkommen vermitteln – ausgenommen eine
eng begrenzte Zahl von Zeugnissen, die zur Weitergabe der Sprache an die
Nachkommen und für das Überleben der eigenen Gruppe (etwa die Warnung
vor unmittelbaren Gefahren) unbedingt erforderlich ist.
In seiner Argumentation für die These, daß die Mehrzahl der Zeugnisse ver-
trauenswürdig sein muß, um überhaupt von einer Praxis des Bezeugens spre-
chen zu können, bestreitet Coady die Möglichkeit, daß alle (oder auch nur die
meisten) Zeugnisse falsch sein können:

„Imagine a world in which an extensive survey yields no correlation between reports


and (individually observed) facts. In such a colossally topsy-turvy world what evi-
dence would there possibly be for the existence of reports at all? Imagine a commu-
nity of Martians who are in the mess that RT 1 allows as a possibility. Let us suppose
for the moment that they have a language which we can translate [...] with names for
distinguishable things in their environment and suitable predicative equipment. We
find however, to our astonishment, that whenever they construct sentences addressed
to each other in the absence [...] of the things designated by the names, but when they
are, as we should think, in a position to report, then they seem to say what we [...] can
observe to be false. But in such a situation what reason would there be for believing
that they even had the practice of reporting?“ (Coady 1992: 85)

Aus der Sicht von Coady ist es nicht sinnvoll, von einer Praxis des Zeugnis-
gebens zu sprechen, wenn die (scheinbaren) Berichte allesamt in die Irre führen
und ihnen auch niemand mehr glaubt, weil sie sich in der Praxis als notorisch
unzuverlässig herausstellen. Schlimmer noch: Man könnte die angeblichen
Zeugnisse in diesem Fall erst gar nicht verstehen, weil die in scheinbaren Be-
richten vorkommenden Begriffe keinen eindeutigen Zusammenhang mit Beob-
achtbarem hätten, so daß ihr Sinn nicht zu ermitteln sei (vgl. Coady 1992: 85
ff.).
Diese Annahmen Coadys sind allerdings allesamt nicht zwingend: In dem
von mir gewählten Gedankenexperiment einer Totalideologie können viele Be-
griffe innerhalb der Aussagen eine eindeutige Referenz besitzen, ohne daß die
produzierten Berichte wahr sein müssen. (Dies ist ein typisches Phänomen etwa
bei fiktionaler Literatur.) Die Mitglieder einer Gemeinschaft von Totalideologen
erzählen sich sozusagen ununterbrochen Märchen über die Ereignisse der realen
Welt und deren kausale Verknüpfung, obwohl sie die Absicht haben, über die
wirkliche Welt zu informieren. Viele der verwendeten Begriffe stehen in eindeu-
tigem Zusammenhang mit beobachtbaren Phänomenen, andere Begriffe stehen
in ebenso eindeutigem Zusammenhang mit Entitäten aus einer Welt der Phanta-
sie. Keineswegs jedoch müssen die Begriffe völlig willkürlich verwendet wer-
den, wie Coady voraussetzt. Außerdem gibt es keinen zwingenden Grund, war-
um die Mitglieder der Gemeinschaft die Märchen als Märchen erkennen müs-
Das Zeugnis anderer 35
sen: Daß kein kausaler Zusammenhang zwischen beobachtbaren Ereignissen
(z.B. Regen) und rituellen Praktiken (z.B. Tanzritualen) besteht, muß niemanden
daran hindern, an einen derartigen Zusammenhang zu glauben und diesen Glau-
ben weiter zu tradieren. – Es ist jedenfalls nicht einsichtig, warum in einer Ge-
meinschaft von Menschen, die einander keine (mehrheitlich) wahren Zeugnisse
mitteilen, keine Praxis des Berichtens etabliert sein soll; es sei denn, man defi-
niert „Testimony“ derart, daß nur wahre Zeugnisse echte Zeugnisse sind.
In seiner Rezension versucht Chakrabarti, die Argumentation Coadys zu
verstärken und eine zentrale Rolle von Testimony für das gesamte Wissen nach-
zuweisen:

„In an earlier passage while arguing that without the presumption of general veracity
of reports the ability to use words ‚correctly’ (even while lying or communicating
false beliefs) cannot exist, Coady hits upon the point that teaching the meaning of
words itself involves testifying (p. 92). From these points an argument which Coady
does not develop could be constructed like this. No knowledge is possible without
true belief. No belief is possible without some conceptual representation of a situation
of the world. No conceptual representation is possible without some linguistic classi-
fication as to what is correctly called what. There is no other source of knowledge
about what is correctly called what except testimony of the experts of a community.
Thus testimony is central to all knowledge – including direct perception!“ (Chakra-
barti 1994: 969)

Damit legt Chakrabarti ein neues transzendentales Argument vor, das noch
anspruchsvoller ist als das alte. Während es bislang darum ging, die Verläßlich-
keit einer Mehrzahl von Zeugnissen zu begründen, um daraus PR abzuleiten,
geht es Chakrabarti um nichts weniger als den Nachweis einer Vorrangstellung
von Zeugnissen gegenüber anderen Erkenntnisquellen, wobei hier anscheinend
bereits vorausgesetzt wird, daß Testimony im Sinne von PR eine echte Erkennt-
nisquelle darstellt. Die These einer Vorrangstellung (oder „zentralen“ Stellung)
von Testimony ist jedoch viel zu diffus, um sinnvoll diskutiert werden zu kön-
nen.

Abschließend möchte ich zusammenfassen, daß aus der trivialen Tatsache,


daß wir die Bedeutung von Wörtern durch das ‚Zeugnis anderer’ gelernt haben,
weder die Verläßlichkeit der Mehrheit aller Zeugnisse folgt noch ein epistemi-
sches Recht, sie nur deshalb für wahr zu halten, weil sie geäußert worden sind.
Aus der Perspektive eines erkenntnistheoretischen Realisten kann die Möglich-
keit nicht ausgeschlossen werden, daß die Mehrzahl der Zeugnisse falsch bzw.
unzuverläßlich ist, doch die nachgewiesene Unklarheit der These „most testi-
mony must be reliable“ gilt ebenso für ihre Negation. Da die These selbst unklar
ist, kann auch eine inhaltliche Stellungnahme zur Negation dieser These nur auf
Grundlage mehr oder weniger willkürlicher Auslegungen erfolgen. Das Gedan-
kenexperiment einer Totalideologie war der Versuch einer Auslegung der Nega-
tion dieser These. Der Realist und Empirist, der Zeugnisse durch einen „Ver-
36 Erster Teil
gleich mit der Realität“ überprüfen will, braucht sich auf kontrafaktisches Ar-
gumentieren dieser Art nicht einzulassen. Da sowohl die These als auch ihre
Negation unklar sind, muß er weder postulieren, daß Zeugnisse de facto unzu-
verlässig sind, noch muß er die Möglichkeit behaupten, Zeugnisse seien generell
unzuverlässig. Wenn er die Möglichkeit weder ausschließt noch behauptet, übt
er damit eine skeptische Urteilsenthaltung aus.

1.6 Karl Popper über die Quellen des Wissens

Innerhalb des kritischen Rationalismus wurde schon früh – Jahrzehnte vor der
Diskussion über „Soziale Erkenntnistheorie“ und das „Zeugnis anderer“ – auf
die Bedeutung von Traditionen und sozialen Institutionen in der Erkenntnispra-
xis hingewiesen.
Karl Popper selbst setzt sich bereits in dem Vortrag „Towards a Rational
Theory of Tradition“ anläßlich der dritten Jahreskonferenz der Rationalist Press
Association am 26. Juli 1948 in Oxford mit dem Thema auseinander (Popper
1949). In diesem Vortrag steht das Spannungsverhältnis zwischen ‚Rationalis-
mus’ und ‚Traditionalismus’ im Vordergrund. Während Rationalisten bislang
die Bedeutung (sozialer) Traditionen für die Erkenntnis unterschätzt hätten,
pflegten Traditionalisten vielfach einen irrationalen Umgang mit Traditionen,
der die Relevanz einer Kritik am Überlieferten mißachte (Popper 1949: 175 f.).
Zu einem rationalen Umgang mit Traditionen gehöre die kritische Einstel-
lung, die zunächst bewußt mache, inwiefern wir Traditionen übernommen haben
und ihnen folgen. Dies eröffne die Möglichkeit der kritischen Prüfung, die zur
Annahme, Ablehnung oder Modifikation von Traditionen führen könne (Popper
1949: 178). Der Rationalismus seinerseits sei selbst eine Tradition, und zwar
eine Tradition mit bestimmten problematischen Aspekten (Popper 1949: 178 f.).
Neben dem Hinweis auf die Bedeutung von Traditionen weist Popper auch auf
die Notwendigkeit einer Analyse von „sozialen Institutionen“ hin (Popper 1949:
182).
In seinem Aufsatz „Von den Quellen unseres Wissens und unserer Unwis-
senheit“22 greift Karl Popper sehr entschieden in den Streit über Erkenntnisquel-
len ein und formuliert damit auch eine prägnante Position in der Testimony-
Kontroverse. Die Pointe seiner Position liegt in einer separaten und abweichen-
den Beantwortung der beiden Grundprobleme: Das Zeugnis anderer wird von
ihm als eigenständige und gleichberechtigte Erkenntnisquelle betrachtet, damit
ist jedoch keine epistemische Rechtfertigung verbunden.

22
Ein erster kurzer Beitrag mit dem Titel „On the Sources of our Knowledge“ findet sich
schon 1959 in: Indian Journal of Philosophy 1, 1959, S. 3-7, später ausführlicher als „On
the Sources of Knowledge and of Ignorance“ in: Proceedings of the British Academy 46,
1960, S. 39-71 sowie als “Introduction” in: Conjectures and Refutations. London 1963, S.
3-30; dt.: Vermutungen und Widerlegungen. Tübingen 1994, S. 2-44.
Das Zeugnis anderer 37
1.6.1 Darstellung

Popper beginnt mit einer Kritik an der „Lehre, daß die Wahrheit offenbar ist“,
sofern man sich der reinen Quellen bediene, sowie an der „Verschwörungstheo-
rie der Unwissenheit“, sofern man »verunreinigte« Quellen verwende (Popper
1960/1994: 3). Er richtet sich damit sowohl gegen den Empirismus, bei dem die
Beobachtung die „letzte Quelle aller Erkenntnis“ darstelle, als auch gegen den
Rationalismus, bei dem die „intellektuale Anschauung“ diese Funktion erfülle
(ebd.). Hiermit nimmt er die maßgebliche Positionierung der Sozialen Erkennt-
nistheorie vorweg, allerdings mit einem abweichenden Argumentationsziel, und
zwar dem der Kritik an jeglicher Lehre von (autoritativen) Erkenntnisquellen:

„Ich will hier versuchen zu zeigen, daß die Gegensätze dieser beiden Schulen, des
Empirismus und des Rationalismus, weniger groß sind als ihre Berührungspunkte,
und daß beide Schulen irren. Ich glaube, daß ihre Lehren falsch sind, obwohl ich
mich selbst in einem gewissen Sinn als einen Empiriker und auch als einen Rationa-
listen bezeichnen könnte. Denn obwohl ich überzeugt bin, daß sowohl die Beobach-
tung wie auch der Intellekt eine wichtige Rolle zu spielen haben, so glaube ich, daß
diese Rollen ganz andere sind als die, die ihre klassischen Vertreter ihnen zuge-
schrieben haben. Im übrigen möchte ich versuchen zu zeigen, daß weder die Beob-
achtung noch der Intellekt Quellen der Erkenntnis sind – in dem Sinn, in dem das
behauptet wurde und noch behauptet wird“ (Popper 1960/1994: 4).

Die Berufung auf Quellen der Erkenntnis führt Popper auf die Dichtkunst
zurück: „Die griechischen Dichter berufen sich auf ihre Quellen, und die Quel-
len ihres Wissens sind göttlicher Natur. Es sind die Musen“ (Popper 1960/1994:
11). Auch am Beginn der griechischen Philosophie, etwa bei Heraklit und Par-
menides, habe es eine Bezugnahme auf göttliche Wissensquellen (Zeus, Dike)
gegeben. Aus Poppers Perspektive stehen die neuzeitliche empiristische sowie
rationalistische Erkenntnislehre in dieser Tradition: Descartes’ veracitas dei als
Wahrheitsgarantie der intellektualen Anschauung und auch Bacons Berufung
auf das wahre Wesen der Natur, das man erkennen könne, sobald man den Geist
von Vorurteilen befreit habe.
Der in der neuzeitlichen Philosophie verbreitete Glaube an Erkenntnisquel-
len ist, nach Popper, ein unerkanntes Erbe der mittelalterlichen Scholastik und
damit letztlich autoritär: Obwohl „die Angriffe, die Bacon und Descartes gegen
Vorurteile und gegen leichtsinnig oder gedankenlos übernommene Ansichten
richteten, Ausdruck einer echten anti-autoritären und anti-traditionalistischen
Haltung“ (Popper 1960/1994: 21) gewesen seien, „konnten sich [Bacon und
Descartes] nicht von der autoritären Denkweise freimachen, so sehr sie auch da-
nach strebten. Sie konnten nur die eine Autorität – die Autorität des Aristoteles
und die Autorität der Bibel – durch die andere ersetzen. Beide appellierten an
neue Autoritäten, der eine an die Autorität unserer Sinne, der andere an die Au-
torität unseres Intellekts“ (Popper 1960/1994: 22). Dadurch werde der Irrtum
38 Erster Teil
auf unser schuldhaftes Versagen zurückgeführt, der jeweiligen Autorität zu ge-
horchen.
Die Herausforderung an die Erkenntnistheorie bestehe nun darin, einerseits
die Fehlbarkeit menschlicher Erkenntnis einzugestehen, andererseits Subjekti-
vismus und Relativismus zu vermeiden. Dieses Problem sei von Xenophanes,
Demokrit und dem Sokrates der Apologie gelöst worden durch die Betonung
von Kritik und Selbstkritik, der Suche nach Irrtümern und der Konzeption von
„objektiver Wahrheit“ als regulativer Idee (vgl. ebd.). Die kritische Lehre von
der menschlichen Fehlbarkeit, vertreten etwa von Sokrates, Cusanus, Erasmus,
Montaigne, Locke, Voltaire, Mill und Russell, stehe im Gegensatz sowohl zum
übertriebenen Optimismus als auch zum Pessimismus in der Erkenntnistheorie
(vgl. Popper 1960/1994: 23).
Popper stellt nun die These auf, daß über die Wahrheit einer Theorie nicht
durch die Nachforschung nach ihrem Ursprung (ihrer Quelle) entschieden wer-
den könne (vgl. Popper 1960/1994: 26 ff.). Während der Sinn eines Wortes tat-
sächlich autoritativ festgelegt werde und somit von seiner Herkunft abhängig
sei, gelte dies keineswegs im Hinblick auf die Wahrheit von Aussagen (vgl.
Popper 1960/1994: 27). Als falsch betrachtet Popper auch den Anspruch, Be-
hauptungen zu rechtfertigen, indem man die folgende Fragen beantwortet: „Wo-
her weißt Du das? Auf welche Quelle stützt sich Deine Behauptung?“ (Popper
1960/1994: 30).
Als Vorwegnahme aktueller Beiträge zur Testimony-Debatte erscheinen die
darauf folgenden Ausführungen Poppers: Unsere Behauptungen basierten in der
Regel gar nicht auf Wahrnehmungen, sondern auf allen möglichen anderen
‚Quellen’. Als Beispiel erwähnt Popper: „Ich las es in der Times“ (Popper
1960/1994: 31). Durch diesen Verweis auf das Zeugnis anderer als gleichbe-
rechtigter Erkenntnisquelle scheint er zum Bundesgenossen der Verfechter einer
eigenständigen Testimonialerkenntnis zu werden. Ausführlich setzt er sich mit
dem Argument der Empiristen auseinander, daß letzten Endes alle Zeugnisse auf
Beobachtungen und somit auf die Wahrnehmung als autoritative Erkenntnis-
quelle zurückgeführt werden müßten, sonst seien sie unglaubwürdig:

„Ich will versuchen zu zeigen, daß diese Argumente um nichts stichhaltiger sind als
Bacons Argumente: daß die Entscheidung der Frage nach den Quellen der Erkennt-
nis gegen die Empiristen ausfällt; und schließlich, daß diese ganze Frage nach den
letzten Quellen – Quellen, an die man appellieren kann wie an eine höhere Instanz
oder eine höhere Autorität – falsch gestellt ist und auf einem Irrtum beruht“ (Popper
1960/1994: 31).

Poppers Hauptargument ähnelt der Argumentation Coadys gegen die Reduk-


tionismusthese: Beim Versuch, die Quellen der Nachricht zurückzuverfolgen,
mache man ständig Gebrauch von Kenntnissen, die nicht auf unmittelbarer
Wahrnehmung beruhen, denn jede Beobachtung sei bereits „Interpretation im
Lichte unseres theoretischen Wissens“ (Popper 1960/1994: 33). Diese Kenntnis-
Das Zeugnis anderer 39
se müßten aber erneut durch eine Quelle bestätigt werden und so fort ad infini-
tum. Die Suche nach letzten Quellen führe demnach in einen unendlichen Re-
greß (vgl. ebd.). Eine ‚Reduktion’ unseres Wissens auf die Erfahrung als autori-
tative Erkenntnisquelle ist also für Popper – ebenso wie für den sozialen Er-
kenntnistheoretiker – nicht möglich. In diesem Zusammenhang gibt Popper eine
erste Antwort auf die Frage nach den Quellen der Erkenntnis:

„Was sind nun aber wirklich die Quellen unserer Erkenntnis? Ich glaube, die Antwort
auf diese Frage lautet: Es gibt Quellen der verschiedensten Art, aber es gibt keine Er-
kenntnisquelle, die Autorität besitzt“ (Popper 1960/1994: 35).

Da die Suche nach den ‚letzten’ Quellen unseres Wissens jedoch üblicher-
weise die Idee des Ursprungs mit der Idee der Gültigkeit konfundiert, seien die
Fragen des Empiristen: ‚Woher weißt Du das? Was ist die Quelle Deiner Be-
hauptung?’ falsch gestellt, beruhend auf einer „völligen Verkennung des Pro-
blems. Sie sind so gestellt, daß sie eine Antwort in einem autoritativen Sinn her-
ausfordern“ (Popper 1960/1994: 36). Damit wird für Popper die Frage nach den
Quellen des Wissens selbst fragwürdig:

„[...] Es ist klar, daß diesen Fragen eine autoritäre Tendenz innewohnt. Sie haben
große Ähnlichkeit mit jener Frage, die eine der traditionellen Grundlagen der philo-
sophischen Staatslehre ist, der Frage: ‚Wer soll herrschen?’ Diese Frage verlangt
nach einer autoritären Antwort: etwa ‚die Besten’ oder ‚die Weisesten’ oder ‚das
Volk’ oder ‚die Mehrheit’“ (Popper 1960/1994: 37).

Poppers Lösung besteht – ebenso wie in seiner politischen Philosophie –


darin, die Frage zu ändern. Analog zur Ersetzung der politischen Problemstel-
lung ‚Wer soll herrschen’ durch ‚Wie kann man Mißbrauch von Macht verhin-
dern’ soll erkenntnistheoretisch die Frage ‚Welches ist die verläßlichste Quelle
der Erkenntnis’ durch ‚Wie kann man Irrtümer entdecken und ausschalten?’ er-
setzt werden (vgl. ebd.). Wie andere autoritäre Fragen, so sei „auch die Frage
nach den Quellen der Erkenntnis eine Frage nach der Herkunft. Sie fragt nach
dem Ursprung unserer Erkenntnis in dem Glauben, daß die Erkenntnis sich
durch ihren Stammbaum legitimieren könne“ (Popper 1960/1994: 37). Es gebe –
und dies ist nun innerhalb der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationalismus
ein entscheidender Punkt – kein Wissen im klassischen Sinn (epistēmē), alles sei
Raten und Meinen (doxa). Hierdurch ändert sich für Popper die Situation grund-
sätzlich:

„Meine Antwort auf die Frage: ‚Woher weißt Du das? Was ist die Quelle, die Grund-
lage Deiner Behauptung? Welche Beobachtungen liegen ihr zugrunde?’ ist also: ‚Ich
sage ja gar nicht, daß ich es weiß: meine Behauptung war nur als Vermutung gemeint.
Auch wollen wir uns nicht um die Quelle oder die Quellen kümmern, aus denen mei-
ne Vermutung entsprungen sein mag; es gibt viele mögliche Quellen, ich bin mir kei-
40 Erster Teil
neswegs über alle im klaren. Auch haben Ursprung und Herkunft nur wenig mit der
Wahrheit zu tun“ (Popper 1960/1994: 39).

An die Stelle der Idee vom erkenntnislegitimierenden Ursprung des Wissens


möchte Popper die Idee der kritischen Prüfung setzen, ohne damit indes so et-
was wie Rechtfertigung des Wissens zu verbinden. Er ist allenfalls bereit, für
historische Behauptungen eine Ausnahme zuzugestehen: Letztere müßten sich
auf Quellen beziehen. Doch auch hier gehe es vorrangig darum, die Quellen kri-
tisch zu prüfen (vgl. Popper 1960/1994: 39f.).
Zum Abschluß faßt Popper seine erkenntnistheoretische Position zum Zeug-
nis anderer in Thesenform zusammen: „Es gibt keine letzten Quellen der Er-
kenntnis“ (Popper 1960/1994: 40). Jede Quelle sei uns willkommen, zugleich
aber auch Gegenstand kritischer Überprüfung. Und selbst bei historischen Tat-
sachenbehauptungen ziehe man es vor, die behaupteten Tatsachen selbst zu prü-
fen, statt den Quellen unserer Informationen nachzugehen. Die Fragen der Wis-
senschaftslehre haben, so Popper, mit Quellen eigentlich nichts zu tun. Wir un-
tersuchten statt dessen, ob eine Behauptung wahr ist. Dennoch komme der Tra-
dition – und damit dem Zeugnis anderer – bei der Genese unseres Wissens eine
immense Bedeutung zu:

„Die Tradition ist – abgesehen von Wissen, das uns angeboren ist – bei weitem die
wichtigste Quelle unseres Wissens, sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hin-
sicht. Den Großteil unseres Wissens haben wir durch Beispiel erworben, durch Er-
zählungen, durch das Lesen von Büchern oder dadurch, daß wir gelernt haben, Kritik
zu üben, uns der Kritik anderer zu unterwerfen, sie zu akzeptieren und die Wahrheit
zu respektieren“ (Popper 1960/1994: 40f.).

Dennoch sei „kein noch so kleiner Teil unseres überlieferten Wissens (und
sogar des uns angeborenen Wissens) [...] davor gefeit, kritisch untersucht und
gegebenenfalls umgestoßen zu werden. Trotzdem wäre ohne Tradition Erkennt-
nis unmöglich“ (Popper 1960/1994: 41).
Doch auch für die Tradition (und damit für das Zeugnis anderer) gelte die
Kritik an der Lehre von den Quellen der Erkenntnis, d.h. der Rechtfertigung ei-
nes Erkenntnisanspruchs durch seine Herkunft. Diese Zurückweisung des
‚Rechtfertigungsdenkens’ wird von Popper zuletzt noch radikalisiert, indem er
jegliche Rechtfertigung des Wissens durch „positive Gründe“ verwirft:

„Falsch ist, daß wir unsere Erkenntnis oder unsere Theorien durch positive Gründe
rechtfertigen müssen, das heißt durch Gründe, die auf mehr hinauslaufen als darauf,
daß die betreffenden Theorien bisher der Kritik standgehalten haben. Dieser falsche
Gedanke führt weiter zu dem Schluß, daß wir an eine letzte, unbedingte oder autori-
tative Quelle der Erkenntnis glauben müssen, wobei allerdings offen bleibt, was der
Charakter dieser Autorität ist: ob menschlich, wie etwa Beobachtung oder Vernunft,
oder übermenschlich und übernatürlich“ (Popper 1960/1994: 43).
Das Zeugnis anderer 41
Diese generelle Infragestellung einer Berufung auf autoritative Quellen der
Erkenntnis macht deutlich, wie vorschnell es gewesen wäre, Popper als Bundes-
genossen der Sozialen Erkenntnistheorie zu betrachten. Menschliches Zeugnis
mag zwar eine Erkenntnisquelle sein, doch sie verfügt – aus Sicht von Popper –
über keinerlei Autorität und rechtfertigt nichts; ebenso wenig wie jede andere
potentielle Quelle unseres Wissens.
Für unseren Zusammenhang entscheidend ist zunächst Poppers getrennte
Beantwortung der beiden Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie: Aus
der Tatsache, daß eine Quelle unseres Wissens nicht auf eine andere zu reduzie-
ren ist (Unabhängigkeitsthese), folgt nicht die epistemische Rechtfertigung von
Aussagen, die aus dieser Quelle stammen.
Dies ist ein Ergebnis, das nach der in Abschnitt (1.4) besprochenen Argu-
mentation Insoles gar nicht möglich sein dürfte. Und zwar deshalb nicht, weil in
der ersten Prämisse der Argumentation (CR) bereits der traditionelle Wissens-
begriff der „gerechtfertigten wahren Meinung“ verwendet wird. Ersetzen wir
diesen Wissensbegriff durch den Begriff des Vermutungswissens im Sinne Pop-
pers, kann man zugestehen, daß wir de facto ‚Wissen’ durch das Zeugnis ande-
rer erwerben, ohne damit eine epistemische Rechtfertigung dieses ‚Wissens’ zu
beanspruchen.

1.6.2 Fallibilismus ist nicht genug – das Problem der Rechtfertigung

Handelt es sich bei dieser Position des kritischen Rationalismus um einen ‚drit-
ten Weg’ zwischen empiristischem Reduktionismus und der transzendentalen
Wahrheitspräsumtion (PR)? Sowohl der empiristische Reduktionist als auch der
soziale Erkenntnistheoretiker könnten einwenden, Poppers Position sei entweder
ein rhetorisch verdeckter Skeptizismus oder aber eine Scheinlösung des Pro-
blems: Die Berufung auf ‚Vermutungswissen’ reiche nicht aus, um eine eigen-
ständige Position in der Debatte zu begründen, sofern damit lediglich der Falli-
bilismus gemeint sein sollte. Denn sowohl der Reduktionist als auch der soziale
Erkenntnistheoretiker können sich den Fallibilismus zu eigen machen, ohne ihre
Position damit zu gefährden.
Thomas Grundmann konstatiert in der Einleitung zu seinem Sammelband
„Erkenntnistheorie“ eine Vernachlässigung der Diskussion über den Rechtferti-
gungs-Begriff und führt dies auf den populären Fallibilismus zurück:

„Ein Grund dafür ist vermutlich, daß nach dem Niedergang der Gewißheits- und In-
fallibilitätskonzeptionen von Rechtfertigung der populäre Slogan des Fallibilismus
verdeckte, daß ein positiver Begriff der Rechtfertigung nicht mehr existierte. Die Be-
hauptung des Fallibilisten, daß jede gerechtfertigte Meinung sich als falsch erweisen
könne, ist rein negativ und läßt die Natur der Rechtfertigung hoffnungslos unterbe-
stimmt. Inzwischen gibt es eine Reihe positiver Vorschläge für die Definition der er-
42 Erster Teil
kenntnistheoretischen Rechtfertigung. Allerdings wird die Diskussion darüber nach
wie vor sehr kontrovers geführt“ (Grundmann 2003: 11 f.).

Es fragt sich indes, ob Grundmann den Fallibilismus, zumindest bei Popper,


in seiner Radikalität erkannt hat, schließlich war es ja nicht dessen Absicht, ei-
nen neuen Rechtfertigungsbegriff zu entwickeln, sondern die Konzeption der
Rechtfertigung von Wissen überflüssig zu machen. Grundmann dagegen er-
scheint es selbstverständlich, daß „Rechtfertigung“ unabdingbar mit dem Er-
kenntnisstreben verbunden ist: „Egal ob wir Infallibilisten oder Fallibilisten sind
[...], nichts als die Rechtfertigung bestimmt unser epistemisches Verhalten“
(Grundmann 2003: 12). Für den Infallibilisten sei „Rechtfertigung“ hinreichend
für „Wissen“. Für den Fallibilisten dagegen nur eine notwendige Bedingung.
„Dennoch können wir auch in diesem Fall nichts anderes tun, als unsere Mei-
nungen zu rechtfertigen, wenn wir nach Wissen streben“ (ebd.). – Damit geht
Grundmann von einem Wissensbegriff aus, den Popper durch seine Konzeption
des „Vermutungswissens“ überwunden zu haben meint. Aber was besagt die
Konzeption des „Vermutungswissens“ überhaupt? Tatsächlich meint Popper mit
„Vermutungswissen“ mehr als nur die Fehlbarkeit der Erkenntnis, und zwar die
Zurückweisung der Idee der (epistemischen) Rechtfertigung generell. Ist dies
eine skeptische Position? Und – wenn ja – kann sie dennoch als Antwort auf die
Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie angesehen werden?
Poppers Anspruch bestand darin, durch seine Konzeption des „Vermutungs-
wissens“ das Induktionsproblem gelöst zu haben (vgl. Popper 1973: 1). Die Lö-
sung soll darin bestehen, einerseits jegliche Möglichkeit einer empirischen
Rechtfertigung bzw. Bestätigung von (realwissenschaftlichen) Theorien zu leug-
nen, andererseits aber aufgrund der relativen „Bewährung“ von Theorien eine
rationale Auswahl zwischen konkurrierenden und noch nicht falsifizierten Theo-
rien treffen zu können. Unter „Bewährung“ versteht Popper nun jedoch einen
„konzentrierten Bericht, der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) den Stand der kri-
tischen Diskussion einer Theorie hinsichtlich folgender Punkte bewertet: wie die
Theorie ihre Probleme löst; der Grad ihrer Prüfbarkeit; die Strenge der Prüfun-
gen, der sie unterzogen wurde; und wie sie diese Prüfungen bestanden hat. Be-
währung(sgrad) ist also ein bewertender Bericht über die bisherigen Leistungen.
[...] Aber er sagt nicht das geringste über die zukünftigen Leistungen oder die
‚Verläßlichkeit’ einer Theorie“ (Popper 1973: 18). Es erscheint jedoch kaum
nachvollziehbar, wie das Problem der praktischen Bevorzugung einer bestimm-
ten Theorie gegenüber einer konkurrierenden aufgrund des Bewährungsgrades
gelöst werden kann. Denn die Theorienwahl unter praktischen Gesichtspunkten
hängt von der Erwartung ab, daß die betreffende Theorie auch in Zukunft erfolg-
reich sein wird oder zumindest erfolgreicher als die konkurrierenden Theorien.
Liefert Poppers Konzeption der Bewährung also keinerlei positiven Gründe für
eine Theorie, ist es für das praktische Problem der Bevorzugung und damit für
jede ernstzunehmende Theorie der Rationalität irrelevant. Das Prinzip der kriti-
schen Prüfung hätte dann keinen besonderen Nutzen für die Praxis rationaler
Das Zeugnis anderer 43
Entscheidungen und könnte lediglich mit Hilfe apodiktischer rationalistischer
Rhetorik begründet werden: „Die bestgeprüfte Theorie ist diejenige, die im
Lichte unserer kritischen Diskussion bis jetzt als die beste erscheint, und ich
kann mir nichts ‚Vernünftigeres’ vorstellen als eine gut geführte kritische Dis-
kussion“ (Popper 1973: 22). Diese Rhetorik überdeckt aber nur notdürftig, daß
schlicht kein Grund dafür vorgebracht wird, die bestgeprüfte Theorie der weni-
ger geprüften vorzuziehen. Das Kriterium der kritischen Prüfung erscheint unter
diesen Umständen völlig willkürlich; ebensogut könnte man sich für die
„Schönheit“ von Theorien als Kriterium ihrer praktischen Bevorzugung ent-
scheiden. Für Popper ist es „von größter Bedeutung, daß die ‚vernünftige’ Wahl
der bestgeprüften Theorie als Handlungsgrundlage nicht in dem Sinne ‚vernünf-
tig’ ist, daß sie auf guten Gründen für die Erwartung beruht, daß sie sich in der
Praxis als erfolgreich herausstellen wird: In diesem Sinne kann es keine guten
Gründe geben; genau darin besteht Humes Ergebnis“ (Popper 1973: 22). In
welchem anderen Sinn die Wahl der bestgeprüften Theorie als Handlungsgrund-
lage aber vernünftig ist, wenn nicht im Sinne von „guten Gründen für die Erwar-
tung [...], daß sie sich in der Praxis als erfolgreich herausstellen wird“, bleibt un-
beantwortet. Die kritische Prüfung droht damit zum Selbstzweck zu werden,
verbunden mit einer rein definitorischen Gleichschaltung von „Rationalität“ und
„Kritik“.
Während die Konzeption der Bewährung für die praktische Bevorzugung
von Theorien irrelevant erscheint, sofern sie nicht in irgendeiner Form als „Be-
stätigung“ aufgefaßt wird, gerät der Versuch, „Bewährung“ als Form von „Be-
stätigung“ aufzufassen, erneut in das Induktionsproblem. Denn warum sollte
man von dem bisherigen Erfolg einer Theorie, kritischen Tests zu widerstehen,
auf ihren zukünftigen Erfolg schließen dürfen?
Angesichts dieser Situation bildet die Rechtfertigungs- und Bewährungspro-
blematik den Kern der aktuellen Auseinandersetzung mit dem kritischen Ratio-
nalismus Karl Poppers, gerade auch zwischen kritischen Rationalisten selbst.
Bei der gegenwärtigen Debatte über die Rechtfertigungsproblematik innerhalb
des kritischen Rationalismus gilt es zu berücksichtigen, daß es inzwischen un-
terschiedliche „Varianten des kritischen Rationalismus” gibt, die sich z.T.
grundlegend voneinander unterscheiden (vgl. H. Albert 2002: 3 ff.). Während
manche jegliche Art von „Begründung“ oder „Bestätigung“ von Aussagen oder
Theorien sowie des Fürwahrhaltens von Aussagen oder Theorien aufgeben (vgl.
Bartley 1987 sowie Miller 1994: 51 ff.), gehen andere Autoren von der Mög-
lichkeit und Notwendigkeit bestimmter Arten von Rechtfertigung aus, sei es ei-
ne „Bestätigung“ von Aussagen oder Theorien infolge kritischer Tests (vgl. Ga-
denne 1998: 108 sowie Gadenne 2002: 76), mit der Konsequenz der Rechtferti-
gung ihres Fürwahrhaltens, sei es die Rechtfertigung ihres Fürwahrhaltens al-
lein, ohne den Anspruch auf Rechtfertigung des Glaubensinhalts (der Proposi-
tionen) selbst (vgl. Musgrave 2002: 26 ff.). Alle genannten Positionen scheinen
mit gewissen Schwierigkeiten belastet zu sein: Die erstgenannten vermeiden
zwar das Induktionsproblem, geraten dafür in die Nähe eines radikalen Skepti-
44 Erster Teil
zismus bzw. sehen diesem zum Verwechseln ähnlich; Musgraves Position um-
geht sowohl den Induktivismus als auch den Skeptizismus, leidet aber dafür an
dem schwer einsehbaren „seltsamen Prinzip“, es sei „möglich, einen vernünfti-
gen Grund dafür zu haben, eine Proposition P für wahr zu halten, ohne einen
vernünftigen Grund für die Wahrheit von P zu haben“ (Schurz 2002: 251); Ga-
dennes Lösung wiederum entspricht am ehesten dem Common Sense, scheint
aber genau der Kritik ausgesetzt zu sein, die von Popper selbst im Gefolge von
Hume gegenüber induktionslogischen Theoriebegründungen formuliert worden
ist23.
In unserem Diskussionszusammenhang ergibt sich folgendes: Die beiden
Grundprobleme der Sozialen Erkenntnistheorie lassen sich nicht einfach da-
durch lösen, daß man auf den Fallibilismus verweist. Popper selbst geht darüber
hinaus, indem er die Idee des Wissens als epistemisch gerechtfertigte Meinung
gänzlich aufgeben und durch die Konzeption des Vermutungswissens im Sinne
prüfbarer bzw. kritisierbarer und damit verbesserungsfähiger Aussagen und
Theorien ersetzen möchte. Entsprechend zielt seine Lösung der beiden Grund-
probleme der Sozialen Erkenntnistheorie darauf, Testimony als echte und un-
verzichtbare Wissensquelle anzuerkennen, ohne in dieser Herkunft eine episte-
mische Rechtfertigung zu sehen. Dies ist eine systematisch eigenständige Posi-
tion in der Diskussion über den Status des Zeugnisses anderer. Ob sie aber halt-
bar ist, hängt von der generellen Einschätzung der Popperschen Konzeption des
„Vermutungswissens“ ab.

Zuletzt möchte ich im Zusammenhang mit der Rechtfertigungsdiskussion


noch kurz auf den Versuch eingehen, den seit Hume bekannten und von Popper
aufgegriffenen kritischen Argumenten gegen die Möglichkeit epistemisch ge-
rechtfertigten Wissens durch eine Neubestimmung des Rechtfertigungs-Begriffs
zu entgehen. Dieser Strategie kommt auch innerhalb der Sozialen Erkenntnis-
theorie einige Bedeutung zu. In dem oben aufgeführten Zitat von Thomas
Grundmann wird auf „Vorschläge für die Definition der erkenntnistheoretischen
Rechtfertigung“ hingewiesen, von denen sich der Autor offenbar einen Erkennt-
nisfortschritt verspricht. Wolfgang Spohn übernimmt in Grundmanns Sammel-
band nun die Aufgabe, verschiedene Rechtfertigungs- (bzw. Begründungs-)24
Begriffe zu unterscheiden und den „angemessenste[n] und fruchtbarste[n]“
(Spohn 2003: 33) auszuwählen.
Spohn identifiziert vier Begründungsbegriffe, und zwar einen „deduktiven“,
einen „komputationellen“, einen „kausalen“ sowie einen „Begründungsbegriff
im Sinne der positiven Relevanz“ (ebd.).

23
Dies gilt dann, wenn mit „Bestätigung“ eine ‚objektive’ Verläßlichkeit von Theorien
gemeint ist, die mehr besagen will als eine psychologisch oder biologisch begründete
Disposition, bewährten Theorien zu vertrauen.
24
Spohn zieht den Ausdruck „Begründung“ dem Ausdruck „Rechtfertigung“ vor, da ihm
letzterer „wegen seiner moralischen Untertöne missfällt“ (Spohn 2003: 33).
Das Zeugnis anderer 45
Deduktive Begründungen bzw. Rechtfertigungen können nach Ansicht von
Spohn kein „Modell für Begründungen im allgemeinen liefern“, dies zeige sich
„am totalen Misserfolg von Versuchen, verschiedene Formen des induktiven
Begründens rein deduktiv zu behandeln. Ein Beispiel dafür ist etwa Poppers
hypothetischer Deduktivismus, der meines Erachtens ein totes Projekt ist; in der
einen oder anderen Weise braucht er Hilfe von außen, die sich nicht rein deduk-
tiv fassen lässt, etwa zur Auswahl zwischen bisher noch nicht falsifizierten
Hypothesen“ (Spohn 2003: 44). Nun haben wir zwar gesehen, daß die Proble-
matik der Bewährung von Hypothesen tatsächlich auch innerhalb des kritischen
Rationalismus kontrovers diskutiert wird, doch Spohn verkennt völlig, daß Pop-
per von vornherein nicht die Absicht hatte, Theorien und Hypothesen episte-
misch zu rechtfertigen. Auch die Konzeption der Bewährung soll lediglich dazu
dienen, das Problem der praktischen Bevorzugung von konkurrierenden und
noch nicht falsifizierten Theorien zu lösen, sie stellt ausdrücklich keinen Ver-
such dar, Theorien und Hypothesen epistemisch zu rechtfertigen bzw. zu be-
gründen. Vielmehr kann man die Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus
als eine Abkehr vom klassischen Begründungsdenken und dessen Verstrickung
in das Begründungs-Trilemma einer gleichermaßen aussichtslosen Wahl zwi-
schen „infinitem Regreß“, „logischem Zirkel“ und „dogmatischem Abbruch“
des Begründungsversuches sehen (vgl H. Albert 1980: 13).
Als zweite Art von Begründungen nennt Spohn die „komputationellen“
(oder „prozeduralen“). Eine komputationelle Begründung beziehe sich „auf eine
spezifische Theorie der Berechnung, der Ableitung oder des Beweises, und dann
besteht sie darin, dass eine Proposition (oder besser: ein Satz) genau dann ein
Grund für eine andere ist, wenn erstere ein wesentlicher Bestandteil einer Be-
rechnung oder Ableitung ist, die zu letzterer führt“ (Spohn 2003: 44). Doch
während „die Standardformen des deduktiven Beweises [...] wirklich gut ver-
standen“ sind, seien nicht-deduktive Schlußformen in einem „quasi-experi-
mentellen Zustand“ (Spohn 2003: 45). „Kurz, es gibt hier eigentlich nichts Sub-
stanzielles, worauf sich eine komputationelle Begründungsbeziehung stützen
könnte!“ (Spohn 2003: 47).
Die dritte Art von Begründungen sei die „kausale“. Eine Überzeugung sei
„genau dann ein Grund für eine andere, wenn erstere eine (Teil-)Ursache der
letzteren ist“ (Spohn 2003: 47). Kausale Begründungen beziehen sich, so Spohn,
also auf die „Verursachung von Überzeugungen“ (ebd.). Doch selbst wenn wir
über eine „Theorie der Verursachung von Überzeugungen“ verfügten, deren
Fehlen Spohn bemängelt, ist diese Art von kausaler Begründung nicht im ge-
ringsten geeignet, den Inhalt der Überzeugung als zuverlässig, wahr oder in an-
derer Hinsicht epistemisch auszuzeichnen. Kausale Begründungen in diesem
Sinn leisten daher nicht das, was von einer Rechtfertigung gemeinhin erwartet
wird.
Es gibt aber noch eine „vierte Sorte von Begründungsbeziehung“, die Spohn
favorisiert, und welche er als „Positive Relevanz-Relation“ bezeichnet (Spohn
2003: 48). Sie greife „die natürliche Idee auf, dass ein Grund das stützt oder be-
46 Erster Teil
stätigt oder dafür spricht oder den Glauben an das bestärkt, wofür er ein Grund
ist“ (ebd.). Dies lasse sich leicht präzisieren:

„Jede Theorie doxastischer Zustände muss davon ausgehen, dass Überzeugungen auf
die eine oder andere Weise Stärkegrade besitzen. Und jede dynamische Theorie do-
xastischer Zustände muss von bedingten Überzeugungen oder vielmehr von beding-
ten Glaubensgraden reden. Mit Hilfe dieser Begriffe können wir sagen, dass die Pro-
position oder Annahme A genau dann ein Grund für die Proposition oder Annahme B
ist, wenn A den Glauben an B stärkt, d.h., wenn der Glaubensgrad von B unter der
Bedingung A höher ist als unter der Bedingung non-A, d.h. wenn A für B positiv re-
levant ist“ (Spohn 2003: 48).

Der Vorteil dieser Begründungsart der „positiven Relevanz-Relationen“ soll


darin bestehen, daß sie auch das „nicht-deduktive oder nicht garantiert wahr-
heitserhaltende Räsonieren einbezieht“ (ebd.).
Wenden wir nun diesen schwächeren Begriff von Rechtfertigung (bzw. Be-
gründung) auf die Diskussion über die Rechtfertigung der Testimonialerkenntnis
an, stellt sich die Frage, ob die Ersetzung des klassischen Begründungsbegriffs
durch „positive Relevanz-Relationen“ die bislang geäußerte Kritik an den
Rechtfertigungsversuchen sozialer Erkenntnistheoretiker entkräftet. Der ent-
scheidende Unterschied zwischen der klassischen Idee von Begründung und
dem schwächeren Rechtfertigungsbegriff besteht darin, daß letzterer von einer
Begründung nicht mehr verlangt, die Wahrheit des zu Begründenden sicherzu-
stellen. Offenbar soll die Begründung noch nicht einmal irgendeine Art von
Wahrscheinlichkeit dafür angeben, daß die zu begründende Überzeugung wahr
ist. Statt dessen geht es in den „positiven Relevanz-Relationen“ um die „Stärke-
grade“ von Überzeugungen bzw. um „Glaubensgrade“. Soziale Erkenntnistheo-
retiker möchten nun begründen, daß die meisten Zeugnisse zuverlässig sind und
daß wir ein epistemisches Recht haben, an sie zu glauben. Daß wir de facto vie-
les, vielleicht sogar „das meiste“ glauben – d.h. für wahr halten –, was wir von
anderen erfahren, und somit Glaubensüberzeugungen von bestimmter Stärke
besitzen, ist trivial. Daß wir beim Erwerb von Wissen üblicherweise nicht an-
ders können, als an viele oder sogar die meisten Zeugnisse zu glauben, wenn wir
Erkenntnisfortschritte machen wollen, ist bereits weniger trivial, aber es kann
ebenfalls zugestanden werden, denn auf diese pragmatische Rechtfertigung von
Testimony kommt es sozialen Erkenntnistheoretikern in der Diskussion nicht an.
Sie möchten nachweisen, daß wir nicht bloß nicht anders können, als an die
meisten Zeugnisse zu glauben, sondern daß wir auch epistemisch berechtigt
sind, dies zu tun. Um eine solche epistemische Rechtfertigung zu erhalten, be-
darf es mehr, als die relative Stärke des Glaubens an Zeugnisse auf bestimmte
Gründe zurückzuführen. Vielmehr müssen die Zeugnisse selbst als in einem ob-
jektiven Sinn „verläßlich“ herausgestellt werden. Bei der objektiven Verläßlich-
keit einer Aussage scheint es sich aber um nichts anderes als um ihre Wahrheit
zu handeln. Falls jedoch soziale Erkenntnistheoretiker auf einen anderen Recht-
Das Zeugnis anderer 47
fertigungsbegriff ausweichen möchten, müßten sie diesen hinreichend explizie-
ren und nachweisen, daß er in der Lage ist, eine objektive Verläßlichkeit von
Zeugnissen zu begründen. Weiterhin wäre zu klären, was die objektive Verläß-
lichkeit einer Aussage anderes sein soll als ihre Wahrheit bzw. die Wahrschein-
lichkeit ihrer Wahrheit. Bislang ist jedenfalls nicht erkennbar, inwiefern ein
„nicht-deduktive[s] oder nicht garantiert wahrheitserhaltende[s] Räsonieren“,
wie beispielsweise Spohn es im Zusammenhang mit seiner Begründungsbezie-
hung der „positiven Relevanz-Relationen“ propagiert, auch nur im geringsten zu
einer epistemischen Rechtfertigung von Zeugnissen beitragen kann.

1.6.3 Soziale Erkenntnistheorie und kritischer Rationalismus –


die soziale Verfassung der Wissenschaft

Traditionell wurde in der Erkenntnistheorie der Erwerb sowie die Rechtferti-


gung von Wissen auf Einsicht und Erfahrung des einzelnen Erkenntnissubjektes
zurückgeführt. Demgegenüber berücksichtigt die Soziale Erkenntnistheorie die
Tatsache, daß Erkenntnis eine intersubjektive Dimension besitzt: Es handelt sich
sowohl bei der Gewinnung als auch bei der Übermittlung von Wissen um einen
arbeitsteiligen Prozeß, d.h. um eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen
Erkenntnissubjekten.
Im Bereich der Wissenschaftstheorie und Methodologie haben Autoren aus
dem Umfeld des kritischen Rationalismus besonders deutlich darauf hingewie-
sen, daß Wissenschaft immer auch ein sozialer Prozeß ist, der bestimmte institu-
tionelle Grundlagen besitzt. Bereits Karl Popper berücksichtigte die soziale Ver-
faßtheit der Wissenschaft. Zwar sprach er zunächst in seiner Logik der For-
schung von methodologischen Regeln als „Spielregeln“, die gewissermaßen als
Definitionen des Spiels der Wissenschaft aufzufassen seien (vgl. Popper 1934:
26), später jedoch bezog er die institutionellen Grundlagen wissenschaftlicher
Forschung in seine Methodologie ein. Hierbei gelangt er zu Ergebnissen, die
einer Sozialen Erkenntnistheorie recht nahe kommen:

„Was man als wissenschaftliche Objektivität bezeichnen kann, liegt einzig und allein
in der kritischen Tradition, die es trotz aller Widerstände so oft ermöglicht, ein herr-
schendes Dogma zu kritisieren. Anders ausgedrückt, die Objektivität der Wissen-
schaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler,
sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-
feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und auch
ihres Gegeneinanderarbeitens. Sie hängt daher zum Teil von einer ganzen Reihe von
gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen ab, die diese Kritik ermöglichen. [...]
Die sogenannte Wissenssoziologie, die die Objektivität im Verhalten der verschiede-
nen einzelnen Wissenschaftler sieht und die die Nichtobjektivität aus dem sozialen
Standort der Wissenschaftler erklärt, hat diesen entscheidenden Punkt – ich meine die
Tatsache, daß die Objektivität einzig und allein in der Kritik fundiert ist – völlig ver-
fehlt. Was die Soziologie des Wissens übersehen hat, ist nichts anderes als eben die
48 Erster Teil
Soziologie des Wissens – die Theorie der wissenschaftlichen Objektivität. Diese kann
nur durch solche soziale Kategorien erklärt werden, wie zum Beispiel: Wettbewerb
(sowohl der einzelnen Wissenschaftler wie auch der verschiedenen Schulen); Traditi-
on (nämlich die kritische Tradition); soziale Institution (wie zum Beispiel Veröffent-
lichungen in verschiedenen konkurrierenden Journalen und durch verschiedene kon-
kurrierende Verleger; Diskussionen auf Kongressen); Staatsmacht (nämlich die poli-
tische Toleranz der freien Diskussion)“ (Popper 1962: 112 f.).

Hans Albert führt in verschiedenen Schriften die institutionalistische Seite


der kritisch-rationalen Wissenschaftstheorie fort, besonders in seinem Traktat
über rationale Praxis (H. Albert 1978: 33-59), in dessen zweitem Kapitel er u.a.
die „soziale Einbettung der Wissenschaft“ beschreibt. Auch Max Albert hat in
Fortsetzung und Weiterentwicklung dieser wissenschaftstheoretischen Tradition
einen Vorschlag ausgearbeitet, die herkömmlicherweise eher individuumsorien-
tierte Methodologie in Richtung eines stärker sozial orientierten Ansatzes wei-
terzuentwickeln. Eine Grundidee dieser Weiterentwicklung besteht darin, daß
nicht direkte Handlungsanweisungen an einzelne Wissenschaftler den Erkennt-
nisprozeß steuern, sondern vielmehr die soziale Verfassung der Wissenschaft,
insbesondere ihre Institutionen. Hierbei ist die Auseinandersetzung mit Paul
Feyerabends Kritik an der herkömmlichen Methodologie ein wichtiger Aus-
gangspunkt der Argumentation Max Alberts. In seinem Hauptwerk Wider den
Methodenzwang diagnostiziert Feyerabend ein vermeintliches Dilemma der her-
kömmlichen Methodologie: Entweder seien die Regeln, die den Wissenschaft-
lern diktiert werden, zwar verhaltenssteuernd, aber durch ihre Strenge fort-
schrittshemmend – oder aber die Regeln seien zwar nicht fortschrittshemmend,
dafür jedoch auch nicht verhaltenssteuernd. Mit anderen Worten: Die Methodo-
logie sei entweder eine Fessel der Wissenschaft oder leeres Geschwätz (vgl.
Feyerabend 1975/1986: 14 f. sowie Feyerabend 1980: 97 f.).
Um die anarchistische und relativistische Kritik Feyerabends zu entkräften,
hat Max Albert in seinem Aufsatz „Der Kritische Rationalismus und die Verfas-
sung der Wissenschaft“ (M. Albert 2002) eine radikale Neuinterpretation der
Methodologie vorgeschlagen: Methodologische Regeln seien weniger als direk-
te und bindende Handlungsanweisungen für einzelne Wissenschaftler zu sehen,
vielmehr stellten sie eine Art „Verfassung für den Wissenschaftsbetrieb“ dar.
Mit diesem institutionalistischen Ansatz in der Methodologie könne das Feyera-
bendsche Dilemma überwunden werden.
Der skizzierte institutionalistische Ansatz in der Methodologie bildet ein
vielversprechendes Forschungsgebiet innerhalb der Sozialen Erkenntnistheorie.
Die Neuinterpretation der Methodologie als „Verfassung der Wissenschaft“
kann sich als fruchtbar erweisen, wie Max Albert am Beispiel des Umgangs mit
(vorläufig) falsifizierten Theorien zeigt:

„Wenn man sich klar macht, daß eine Methodologie nicht so sehr individuelle Ent-
scheidungen, sondern den Konkurrenzbetrieb der Wissenschaft regelt, dann wird
deutlich, daß methodologische Regeln durchaus streng sein können, ohne einem For-
Das Zeugnis anderer 49
scher irgend etwas zu verbieten. Wenn eine Methodologie fordert, daß falsifizierte
Theorien zu verwerfen sind, dann heißt das aus institutioneller Perspektive nicht, daß
der einzelne Forscher zu einer bestimmten Einstellung oder einem bestimmten Ver-
halten gezwungen wird. Geändert werden nur die Anreize für die Verfolgung ver-
schiedener Forschungsstrategien. „Verwerfen“ bedeutet, daß diejenigen, die an der
Weiterentwicklung einer falsifizierten Theorie arbeiten oder diese Theorie als Grund-
lage für andere Forschungen benutzen, Nachteile in Kauf nehmen müssen. Falsifizier-
te Theorien gelten offiziell als vorläufig widerlegt; daraus werden entsprechende
Konsequenzen gezogen. Aber diese Konsequenzen sind eben keine Denkverbote oder
konkreten Anweisungen. [...] Methodologische Regeln sind also keine Dienstvor-
schrift für Wissenschaftsbeamte [...]. Ein Forscher darf also durchaus an einer Theorie
festhalten, die nach den Regeln der Profession als wissenschaftlich erledigt gilt. Die
Regeln der Profession legen allerdings fest, welche Art von Erfolgen er irgendwann
vorweisen muß, um sich und seine Theorie zu rehabilitieren. Die Methodologie ist
Bestandteil des Regelwerks, innerhalb dessen Forscher miteinander konkurrieren. Die
methodologischen Regeln fungieren – mehr oder minder im Einklang mit dem jewei-
ligen Universitätsgesetz, den Regeln der DFG, den Leitlinien der Herausgeber wis-
senschaftlicher Zeitschriften, den Kriterien der Nobelpreiskomitees, etc. – als eine
Verfassung der Wissenschaft, die regelt, wem Geld und Ehre gebührt. Das Ganze
dient, wenn die Verfassung funktioniert, der Wahrheitsfindung; das bedeutet aber
keineswegs, daß die Wahrheitsfindung das einzige oder auch nur das wichtigste Ziel
aller Beteiligten sein muß“ (M. Albert 2002: 230 f.).

Es stellt sich die Frage, ob dieser Neuansatz tatsächlich die Schwierigkeiten


löst, die der herkömmlichen Methodologie zur Last gelegt werden. Das Haupt-
problem der ‚individualistischen’ Methodologie bestand darin, geeignete Regeln
zu finden, die präzis genug sind, das Handeln der einzelnen Wissenschaftler im
Hinblick auf die Wahrheitssuche zu steuern, gleichzeitig jedoch liberal genug,
um die Freiheit der Forscher nicht zu gefährden. Es müßte geprüft werden, ob
der institutionelle Ansatz ein analoges Problem nach sich zieht, und zwar das
Problem, geeignete institutionelle Regelungen zu finden, die oben genannte Kri-
terien erfüllen. Da Max Albert vom Idealfall eines bereits vorhandenen „funk-
tionierenden Wissenschaftsbetriebs“ (M. Albert 2002: 235) ausgeht, stellt sich
für ihn dieses Problem nicht. Ein Kritiker wie Paul Feyerabend dürfte dieses
Vertrauen in den etablierten Wissenschaftsbetrieb als allzu optimistisch zurück-
weisen. In jedem Fall ergeben sich für das Forschungsprogramm einer sozialen
Methodologie weitere Aufgaben: Insbesondere müßte der Zusammenhang zwi-
schen bestimmten Zielen der Wissenschaft und ihrem institutionellen Regelwerk
genauer analysiert und mit Hilfe empirischer Studien ermittelt werden. Welche
Auswirkungen haben die unterschiedlichen institutionellen Regeln? Weiterhin
wäre zu unterscheiden zwischen „formellen“ und „informellen“ Regeln des
Wissenschaftsbetriebs. Es ist anzunehmen, daß „eine Verfassung der Wissen-
schaft, die regelt, wem Geld und Ehre gebührt“, nur zum geringeren Teil aus
offiziell verlautbarten Regeln und zum größeren Teil aus nicht explizit formu-
lierten Mechanismen besteht, die den offiziell verlautbarten Regeln unter Um-
ständen sogar widersprechen.
50 Erster Teil
1.7 Zwischenergebnisse

Es gibt keine einzige autoritative Erkenntnisquelle, die sicheres Wissen garan-


tiert. Statt dessen müssen wir von einem Pluralismus der Quellen ausgehen. –
Diese fallibilistische These ist jedoch mit der Wissenschaftstheorie des kriti-
schen Rationalismus ebenso vereinbar wie mit der Sozialen Erkenntnistheorie.
Innerhalb der Diskussion über den Status des Zeugnisses anderer kann der kriti-
sche Rationalismus nur dann beanspruchen, eine eigenständige Position zu sein,
wenn er darüber hinausgehende Annahmen vertritt.
In diesem Abschnitt möchte ich im Anschluß an Überlegungen Karl Poppers
und Alan Musgraves einige vorläufige Ergebnisse im Hinblick auf den episte-
mologischen Status des ‚Zeugnisses anderer’ vorstellen. Hierbei komme ich zu
dem Resultat, daß man „Testimony“ zwar als eigenständige Erkenntnisquelle
bezeichnen kann, allerdings nur in dem von Popper gekennzeichneten (trivialen)
Sinn, der mit den Geltungsansprüchen der Sozialen Erkenntnistheorie nicht ver-
einbar ist, da er sich nur auf die Genese von Meinungen, nicht aber auf ihre Gel-
tung bzw. Rechtfertigung bezieht.
Hinsichtlich der beim Umgang mit Zeugnissen faktisch verwendeten Wahr-
heitspräsumtionen kommt eine pragmatische Rechtfertigung in Betracht, d.h.
eine Rechtfertigung der sozialen Praxis des Fürwahrhaltens von Zeugnissen
(„bis das Gegenteil erhellet“ Meier 1756/1996: 37), im Gegensatz zu den nicht
erfolgversprechenden apriorischen Rechtfertigungsversuchen. Wir vertrauen
einfach unterschiedlichen Erkenntnisquellen, darunter auch dem Zeugnis an-
derer, weil wir in der Erkenntnispraxis keine andere Wahl haben. Erst wenn
das Vermutungswissen – aus welchen Gründen auch immer – uns problema-
tisch wird, beginnt die kritische Prüfung. Diese kritische Prüfung macht wie-
derum Gebrauch von relevanten Erkenntnissen aus sämtlichen Wissensquel-
len, wobei es sich hier natürlich erneut um Vermutungswissen handelt, das
nicht epistemisch gerechtfertigt ist, aber im Prüfungszusammenhang vorläu-
fig als wahr vorausgesetzt werden muß. Nötig ist allein die prinzipielle Prüf-
barkeit bei Aussagen, die einen Anspruch erheben, über die Wirklichkeit zu
informieren. Die Prüfbarkeit wiederum ist einerseits eine formale Eigen-
schaft von Aussagen, andererseits hat sie eine soziale bzw. institutionelle
Komponente, welche die arbeitsteilige Organisation von Wissenschaft be-
trifft. Da das Erkenntnissubjekt im kritischen Rationalismus kein isoliertes
Individuum, sondern die scientific community ist, trifft die Individualismus-
Kritik der Sozialen Erkenntnistheorie diese Position nicht. Grundsätzlich
spielt es keine Rolle, von wem eine Behauptung aufgestellt wird und wer sie
überprüft. Es muß lediglich gewährleistet sein, daß es sich um intersubjektiv
prüfbare Aussagen handelt. (Auch bei Interpretationen ist das Kriterium der
intersubjektiven Prüfbarkeit anwendbar, und zwar auf der Grundlage be-
stimmter Interpretations- und Verfahrensregeln, die auf empirische Gesetzes-
annahmen zurückgehen.)
Das Zeugnis anderer 51
Wie ist eine solche kritisch-rationale Position innerhalb der Sozialen Er-
kenntnistheorie nun einzuordnen? Zunächst wäre zu sagen, daß der kritische Ra-
tionalismus keine Form von ‚Reduktionismus’ im Sinne der Sozialen Erkennt-
nistheorie darstellt. Zwar würde ein kritischer Rationalist einräumen, daß ein
einzelner Mensch unter bestimmten Bedingungen unabhängig von anderen Per-
sonen und allein auf der Basis seiner eigenen Wahrnehmungen Zeugnisse ande-
rer überprüfen kann. Daß es solche sogenannten „lokalen Reduktionen“ gibt,
wird aber auch ein sozialer Erkenntnistheoretiker kaum bestreiten. Dennoch wä-
re es ein utopisches Programm, jegliche Erkenntnisansprüche auf Wahrneh-
mungserlebnisse einzelner Menschen zurückführen zu wollen. Darüber hinaus
hat Popper schon früh darauf hingewiesen, daß aufgrund der „Transzendenz der
Darstellung“ nicht einmal einfache deskriptive Aussagen durch Wahrnehmungs-
erlebnisse verifiziert werden können (vgl. Popper 1934: 61). Beim kritischen
Rationalismus handelt es sich also keineswegs um eine „lokal-reduktionistische“
Position, geschweige denn um einen „globalen Reduktionismus“, der sämtliche
Erkenntnisansprüche auf ‚die Erfahrung’ als angeblich einzige legitime Er-
kenntnisquelle zurückführen möchte. Dennoch spielt ‚die Erfahrung’ bei der
Prüfung von Erkenntnisansprüchen eine prominente Rolle, allerdings eine ande-
re, als der Reduktionismusvorwurf nahelegt. Dies wird dadurch ermöglicht, daß
im kritischen Rationalismus ‚die Erfahrung’ methodologisch zu verstehen ist als
ein bestimmtes Prüfverfahren mit formalen sowie institutionellen Grundlagen,
bei dem natürlich die Sinneswahrnehmung der beteiligten Personen als einer
von vielen Faktoren relevant ist.25 Man kann hierbei von einem nicht-reduktiven
Empirismus (oder Kritizismus) sprechen. Sofern es sich beim Prüfungsgegen-
stand um eine Aussage über die Erfahrungswelt handelt, müssen auch die Prüf-
sätze Aussagen über beobachtbare Sachverhalte sein. Solchen wahrnehmungs-
bezogenen Aussagen kommt im Rahmen der kritischen Prüfung ein besonderer
Stellenwert zu. Übertragen auf die Diskussion über das Zeugnis anderer läßt sich
daher sagen, daß wahrnehmungsbezogene Zeugnisse gegenüber nicht-wahr-
nehmungsbezogenen Zeugnissen in methodologischer Hinsicht einen Vorrang
besitzen. Dies möchte ich im Anschluß an Ausführungen Alan Musgraves26 als

25
Bereits in der Logik der Forschung spricht Popper von der „Erfahrung als Metho-
de“ (Popper 1934: 13). „Die ‚Erfahrung’ erscheint in dieser Auffassung als eine be-
stimmte Methode der Auszeichnung eines theoretischen Systems“ (Popper 1934: 14).
Die deduktive Methode der Nachprüfung, die Popper hierbei im Blick hat, ist nicht
lediglich eine formal-logische Angelegenheit, sondern beruht u.a. auf methodologi-
schen Regeln, sozialen Institutionen und eben auch auf den Sinneswahrnehmungen
der an der Prüfung beteiligten Personen.
26
Alan Musgrave hat einen „Primat der Sinneserfahrung“ in Form seines „Prinzips E“
formuliert: „(E) Ein wahrnehmungsbezogener Glaube ist ein vernünftiger Glaube, außer
es gelang ihm nicht, der Kritik standzuhalten“ (Musgrave 2002: 33). Volker Gadenne hat
mich darauf aufmerksam gemacht, daß Musgrave in einem anderen Beitrag auch explizit
von ‚testimentory beliefs’ spricht und ein „Prinzip T“ aufstellt, das bestimmen soll, wann
derartige Überzeugungen vernünftig sind (vgl. Musgrave 1999: 349). Ob Musgraves
52 Erster Teil
methodologischen Primat der Erfahrung bezeichnen. Ein solcher methodologi-
scher Empirismus ist nicht-reduktiv, denn er verlangt weder die Durchführung
von „globalen“ noch von „lokalen“ Reduktionen, sondern bezieht sich auf die
Form der zu prüfenden Aussagen sowie auf das institutionelle Regelwerk der
Wissenschaft. Ein sozialer Erkenntnistheoretiker könnte nun einwenden, es sei
zwar richtig, daß die methodologische Regel, die auf kritische empirische Prü-
fung zielt, selbst keine Reduktion darstelle, wohl aber jede erfolgreich durchge-
führte und positiv ausfallende Prüfung als lokale Reduktion bezeichnet werden
müsse. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, daß erstens eine solche Be-
währung eben keine epistemische Rechtfertigung darstellt und zweitens der Gel-
tungsgrund der (vorläufig) für wahr gehaltenen geprüften Aussage nicht allein in
den Wahrnehmungserlebnissen einzelner Personen liegt, die eine Prüfung vor-
genommen haben. Ein positiver Geltungsgrund von Aussagen, sofern der jewei-
lige Vertreter des kritischen Rationalismus überhaupt geneigt ist, positive Grün-
de anzuerkennen, liegt allenfalls in dem komplexen Verfahren der kritischen
Prüfung mit all seinen formalen und institutionellen Komponenten, nicht aus-
schließlich in den Wahrnehmungserlebnissen der Personen, die eine Prüfung
durchgeführt haben.
Obwohl der kritische Rationalismus kein Reduktionismus ist, kommt er oh-
ne die Annahme aus, daß es ein epistemisches Recht gibt, Zeugnisse vor jeder
empirischen Prüfung für wahr zu halten. Führt nun aber eine Position, die weder
einen Reduktionismus beinhaltet noch ein epistemisches Recht, Zeugnisse vor
jeder empirischen Prüfung für wahr zu halten, auf geradem Wege in einen tota-
len Zeugnis-Skeptizismus, der Insoles Common-Sense-Bedingung widerspricht?
– Erinnern wir uns an die genaue Formulierung dieser Common-Sense-
Bedingung (CR): „CR. Testimony is in fact a rich source of what we commonly
call ‚knowledge’“ (Insole 2000: 44). Wer nun, wie Insole, unter „Wissen“ ge-
rechtfertigte wahre Meinung versteht, der hat bei der Beurteilung des erkennt-
nistheoretischen Stellenwerts von Zeugnissen tatsächlich nur die Wahl, (1.) den
Geltungsgrund von Zeugnissen auf andere Erkenntnisquellen zurückzuführen
(Reduktionismus) oder (2.) das genannte epistemische Recht anzunehmen,
Zeugnisse vor jeder Prüfung für wahr zu halten oder (3.) Zeugnisse nicht als
Quelle des Wissens zu betrachten. Der kritische Rationalist, der sich bereits ge-
gen (1) und (2) entschieden hat, müßte also (3) wählen und damit (CR) negieren.
Die Zurückweisung von CR stellt jedoch keinen allgemeinen Zeugnis-
Nihilismus oder Zeugnis-Skeptizismus dar; vielmehr wird lediglich die in CR
implizite Anwendung des klassischen Wissensbegriffs (auf beliebige Zeugnisse)

Rechtfertigungsbedingungen für Glaubensakte bestimmter Art und seine damit verbun-


dene Variante des kritischen Rationalismus haltbar sind, läßt sich im Rahmen meiner Ar-
beit nicht klären. In meiner Argumentation geht es lediglich darum, auf den methodologi-
schen Charakter der Auszeichnung von wahrnehmungsbezogenen Aussagen hinzuwei-
sen.
Das Zeugnis anderer 53
abgelehnt. Daß wir viele Meinungen von anderen übernehmen, bleibt unbestrit-
ten, daß dies praktisch erforderlich ist, ebenso wenig, doch darin liegt noch kei-
ne epistemische Rechtfertigung ihres Fürwahrhaltens. Keine Erkenntnisquelle
ist (für die Genese unseres Wissens) verzichtbar oder durch eine andere ersetz-
bar, doch die Herkunft einer Tatsachenbehauptung bietet allein noch keine
Rechtfertigung. Einzig in dem Sinn einer praktischen Unersetzbarkeit bei der
Bildung ‚unserer’ Überzeugungen ist das ‚Zeugnis anderer’ eine eigenständige
Erkenntnisquelle.
Werden Zeugnisse durch kritische Prüfung epistemisch gerechtfertigt? – Der
Prozeß der kritischen Prüfung ist potentiell unendlich. Ob kritische Prüfung zu
verläßlichen Resultaten führt, die in einem Sinn „bestätigt“ sind, der über prag-
matische Rechtfertigung hinausgeht, ist innerhalb des kritischen Rationalismus
umstritten (vgl. 1.6.2). Doch auch wenn kritische Prüfung keinen Erkenntnis-
fortschritt garantiert, kann man nicht bestreiten, daß dies die in der Praxis erfolg-
reichste Methode ist, um Erkenntnisziele zu erreichen. Ob bestimmte methodo-
logische Vorschläge die mit ihnen verbundenen Erkenntnisziele befördern, kann
ebenfalls Gegenstand von wissenschaftstheoretischen Untersuchungen sein. Ge-
rade eine naturalistische Erkenntnislehre, in der Erklärungen auf der Grundlage
nomologischen Wissens angestrebt werden, müßte sich um „detaillierte Erklä-
rungen“ bemühen, „die den Zusammenhang zwischen Methodologie und Er-
kenntniszielen herstellen sollen“ (Bühler 1991: 274).
Indem soziale Erkenntnistheoretiker dem Empiristen den Anspruch unter-
schieben, Zeugnisse auf individuelle Erfahrung zurückführen zu wollen, lasten
sie ihm einen uneinlösbaren Erkenntnisanspruch auf. Ein kritischer Empirist
(bzw. kritischer Rationalist) muß sich darauf nicht einlassen. Er muß weder ei-
nen globalen noch einen universellen lokalen Reduktionismus postulieren, weil
er gar nicht das aussichtslose Projekt verfolgt, alle Elemente unseres ‚Wissens’
zu rechtfertigen, bevor wir an sie glauben. Hierbei steht er in Einklang mit der
realen Erkenntnissituation: Es werden üblicherweise eine Vielzahl von Informa-
tionen aus unterschiedlichsten Quellen akzeptiert, ohne sie zu prüfen. Derartige
Wahrheitspräsumtionen sind in der Erkenntnispraxis instrumentell notwendig,
stellen aber keine epistemische Rechtfertigung dar. Erst wenn es einen Grund
gibt, etwas nicht zu glauben, kommt die kritische Prüfung (und damit der Primat
der Erfahrung) ins Spiel. Wenn sich, wie Hume richtig beschreibt, bestimmte
Arten von Zeugnissen und Zeugen wiederholt als unzuverlässig erweisen, kön-
nen wir aufgrund dieser Erfahrung auch zu allgemeinen Falschheitspräsumtio-
nen gegenüber diesen speziellen Arten von Zeugnissen und Zeugen kommen.
Ein solcher nicht-reduktiver Empirismus steht auch im Einklang mit dem Com-
mon sense, denn die Hermeneutik des Alltagslebens ist differenzierter, als sozia-
le Erkenntnistheoretiker unterstellen: Die Haltung des einfachen Vertrauens in
Zeugnisse ist zwar vielfach praktisch notwendig und pragmatisch gerechtfertigt,
doch ebenso kennzeichnend für den alltäglichen Umgang mit Zeugnissen ist ei-
ne Haltung des Abwägens aufgrund vorgängiger Erfahrung. Hierbei wird so-
wohl von Wahrheits- als auch von Falschheitspräsumtionen Gebrauch gemacht.
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2. TEIL: KARL POPPERS THEORIE OBJEKTIVEN VERSTEHENS
(SITUATIONSLOGIK)

2.1 Problemstellung

Die vorliegende Arbeit behandelt Probleme des Verstehens aus der Perspektive
kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie. Während im ersten Teil die Frage nach
dem Zeugnis anderer als Erkenntnisquelle aufgeworfen und dabei insbesondere
untersucht wurde, ob mit einem Verstehen von menschlichen Zeugnissen bereits
eine apriorische Rechtfertigung der Wahrheit derselben verbunden ist, sollen
nun Karl Poppers eigene Beiträge zum Problem des Verstehens chronologisch
nachvollzogen sowie eingehend geprüft werden: Worin besteht Poppers Theorie
objektiven Verstehens? Es zeigt sich, daß er mehrere voneinander abweichende
Konzeptionen vertritt, die zum Teil seinen eigenen wissenschaftstheoretischen
Kriterien nicht genügen und gerade nach Maßstäben kritisch-rationaler Wissen-
schaftstheorie zurückzuweisen sind. Insbesondere die Berufung auf ein unwider-
legbares Rationalitätsprinzip führt bei Popper zu einer apriorischen Rechtferti-
gung von Handlungen und Interpretationen, die zu seiner fallibilistischen Er-
kenntnislehre in klarem Widerspruch steht.

2.2 Karl Poppers Erkenntnisanspruch, sein Begriff von Hermeneu-


tik und das Verstehen in den Natur- und Geisteswissenschaften

Poppers Arbeiten über die Verstehensproblematik sind kaum bekannt. Allenfalls


als Schlagwort erfreut sich die Situationslogik einer gewissen Beliebtheit, wobei
dieser Begriff bisweilen in einer Form benutzt wird, die mit den Intentionen sei-
nes Urhebers nichts mehr zu tun hat.27
Entgegen der verbreiteten Meinung, der „linguistic turn“ sei an Popper spur-
los vorbeigegangen, läßt sich jedoch in seinem Werk über den Zeitraum von
mehreren Jahrzehnten eine immer neu einsetzende Auseinandersetzung mit dem
Problem des Verstehens und Interpretierens feststellen. Hierbei war es Poppers
Erkenntnisanspruch, eine Konzeption des „objektiven Verstehens“ für die Sozi-
al- und Geisteswissenschaften entwickelt zu haben. Sein Beitrag zur Hermeneu-
tik war der Versuch, die Hermeneutik – so wie er sie verstand – durch ein Ver-
fahren zu ersetzen, das er Situationslogik nannte. Damit werde „die sogenannte

27
Hartmut Esser beispielsweise verwendet in seinem Buch „Situationslogik und Han-
deln“ die folgende eigenwillige Definition: „Unter Situationslogik wird von Karl R. Pop-
per ganz allgemein die ‚logische‘ Verknüpfung der gesellschaftlich strukturierten Hand-
lungsumstände von Akteuren mit typischen Folgen des dadurch induzierten Handelns
verstanden“ (Esser 1999: 387, H.i.O.).
56 Zweiter Teil
‚Hermeneutik‘ überflüssig, beziehungsweise radikal vereinfacht“ (1970: 189)28.
An einer anderen Stelle gibt er indes die Auskunft, daß er „einen Beitrag zur
Theorie des Verstehens (der ‚Hermeneutik‘) leisten möchte“ (1968: 167). Pop-
per ist sich offenbar nicht ganz sicher, ob er die Hermeneutik beseitigt oder wei-
terentwickelt hat.
Hierbei unterstellt er einen Begriff von Hermeneutik als Lehre vom einfüh-
lenden Verstehen und Nacherleben. Insbesondere identifiziert er die Hermeneu-
tik mit der „Ansicht, die Geisteswissenschaften unterschieden sich grundlegend
von den Naturwissenschaften, und der herausragende Unterschied sei dieser:
Hauptaufgabe der Geisteswissenschaften sei das Verstehen in einem Sinne, wie
man nur Menschen, nicht aber die Natur verstehen könne“ (1968: 189). Da ein
solches Verstehen auf unserem gemeinsamen Menschsein beruhe, sei es „eine
Art intuitiver Identifikation mit anderen Menschen“, durch die wir diese selbst,
ihre Handlungen und die Erzeugnisse menschlichen Geistes verstünden (vgl.
ebd.).
Mit Poppers Kritik an der subjektivistischen Ausrichtung der Hermeneutik
werden wir uns später noch ausführlicher beschäftigen. An dieser Stelle möchte
ich auf Poppers Stellungnahme zu dem vermeintlich grundlegenden Unterschied
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften eingehen. Interessanterweise ver-
wendet er zwei ganz unterschiedliche Argumente, um die bekannte These einer
grundlegenden Differenz von Geistes- und Naturwissenschaften zu kritisieren.
Eher beiläufig verweist er auf die Einheit der Methode:

„Es ist lange Mode gewesen und nachgerade langweilig geworden, auf dem Unter-
schied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herumzureiten. Beide wenden die
Methode des Problemlösens, der Vermutung und Widerlegung an. Das geschieht bei
der Rekonstruktion eines lückenhaften Textes so gut wie bei der Aufstellung einer
Theorie der Radioaktivität.“ (1968: 192)

Statt nun aber anhand von Beispielen diese Einheit der Methode konkret
nachzuweisen, schreibt Popper in einer Fußnote lediglich, daß die Rekonstrukti-
on eines lückenhaften Textes „bestimmten Verfahren der theoretischen Physik“
sehr ähnlich sei und gelegentlich sogar eine Widerlegung hypothetischer Rekon-
struktionen erfolge. Solche Fälle seien aber „ziemlich selten“. In der Regel seien
geisteswissenschaftliche Hypothesen – und hierbei denkt Popper v.a. an „histo-
rische Interpretationen“ – nicht so streng prüfbar wie naturwissenschaftliche,
ausgenommen bestimmte ebenfalls unprüfbare kosmologische Hypothesen (vgl.
ebd.). Popper scheint seinem Argument von der methodologischen Einheit der
Geistes- und Naturwissenschaften also selbst nicht zu vertrauen, was auch er-

28
Da die Entwicklung der Verstehenskonzeption Karl Poppers das Hauptthema dieses
Teils meiner Arbeit ist, zitiere ich gemäß der Jahreszahl der Erstveröffentlichung. Um
Häufungen des Autornamens zu vermeiden, beschränke ich mich bei Popper-Zitaten auf
Jahres- und Seitenzahl.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 57
klärt, warum er es nur en passant erwähnt, und auch dies nur in der allgemein-
sten Form.29 Die „Methode des Problemlösens“ wird laut Popper bekanntlich
auch von niederen Tierarten angewendet. Wenn nun die methodologische Ge-
meinsamkeit von Geistes- und Naturwissenschaft einzig und allein darin läge,
wäre diese Aussage völlig trivial, da für Popper – um den Titel eines seiner letz-
ten Bücher zu zitieren – gilt: „Alles Leben ist Problemlösen“. Daß die geistes-
wissenschaftlichen Hermeneutiker davon keine Ausnahme darstellen, ist erfreu-
lich, reicht aber auch nicht aus, um eine methodologische Einheit zwischen Gei-
stes- und Naturwissenschaften zu begründen.30 Popper ist offenbar von dieser
methodologischen Einheit nicht überzeugt, relativiert seine These bereits in der
zitierten Fußnote und demonstriert besonders durch seine eigene Verstehens-
konzeption, die Situationslogik, daß das Verstehen von Handlungen und von
Erzeugnissen des menschlichen Geistes seines Erachtens doch grundlegend an-
ders verläuft als die durch deduktiv-nomologisches Erklären und empirisches
Prüfen charakterisierte Methode der Naturwissenschaften.
Poppers zweites Argument gegen die These von dem Unterschied zwischen
Geistes- und Naturwissenschaften wird von ihm ausführlicher erläutert. Es han-
delt sich hierbei nicht primär um ein methodologisches Argument, sondern er-
staunlicherweise um ein ontologisches. Ebenso wie wir andere Menschen auf-
grund unseres gemeinsamen Mensch-Seins verstehen könnten, sei es möglich,
die Natur zu verstehen, „weil wir ein Teil von ihr sind“ (1968: 190). Dieses Ar-
gument zielt darauf, daß Natur- und Geisteswissenschaften dasselbe Ziel haben,
nämlich das Verstehen, und daß sie dieses Ziel nur deshalb erreichen können,
weil das jeweilige Erkenntnissubjekt dem Objekt der Erkenntnis in gewisser
Hinsicht ‚seinsmäßig verwandt’ ist. Popper gibt zu, daß das Verstehen anderer
Menschen nicht ganz dasselbe ist wie das Verstehen von Sonnensystemen oder
Elementarteilchen, „doch es gibt hier keine scharfe Trennungslinie“, wie er
meint, sondern eher graduelle Abstufungen des Verstehens. Das intuitive Ver-
stehen selbst unserer Freunde sei unvollkommen, während man am unteren En-
de der Skala des Verstehens selbst einzelligen Organismen Ziele und Absichten
zuschreiben könne. Poppers Ausführungen erinnern an Dennetts Theorie inten-
tionaler Systeme (vgl. Dennett 1987), denn sicherlich mag es zur Beschreibung
und zum ‚Verständnis’ von menschlichem Handeln, tierischem Verhalten oder
sogar dem Funktionieren technischer Apparate zweckmäßig sein, Absichten und
ähnliche intentionale Zustände zu unterstellen. Der Unterschied zwischen derar-

29
In früheren Arbeiten vertrat Popper noch einen dezidierten Begriff von „Einheit der
Methode“ als der „Aufstellung deduktiver Kausalerklärungen und [...] ihrer Überprüfung
(mit Hilfe von Prognosen). Man nennt dieses Vorgehen manchmal die hypothetisch-
deduktive Methode“ (1944/45: 103).
30
Vgl. demgegenüber beispielsweise Føllesdals Aufsatz „Hermeneutik und die hypothe-
tisch-deduktive Methode“, in dem ausführlich und anhand eines Fallbeispiels dargelegt
wird, daß auch geisteswissenschaftliche Interpretationen von der hypothetisch-deduktiven
Methode Gebrauch machen (vgl. Føllesdal 2003).
58 Zweiter Teil
tigen „intentionalen Systemen“ liegt allerdings darin, daß man gewöhnlich an-
nimmt, Menschen verfügten tatsächlich über solche Dispositionen, während die
Zuweisung von Zielen und Absichten an einzellige Organismen nur metapho-
risch oder zum Zwecke einer abkürzenden Sprechweise statthaft ist und es sich
bei einer ernstgemeinten ontologischen Zuschreibung solcher mentalen Entitä-
ten um einen Anthropomorphismus handeln würde.
Eine zweite Übereinstimmung zwischen geisteswissenschaftlichem und na-
turwissenschaftlichem Verstehen sei die „Rationalität oder verstehbare Notwen-
digkeit“ von Naturgesetzen in Analogie zur Rationalität der Gedanken und
Handlungen von Menschen. Wir können, so Popper, das eine wie das andere
aufgrund dieser vorhandenen Rationalität verstehen (vgl. 1968: 190). – Diese
vermeintliche Analogie scheint jedoch lediglich auf der Mehrdeutigkeit des Ra-
tionalitätsbegriffs zu beruhen, der sich im Falle menschlicher Rationalität in der
Regel auf zweckrationales Handeln bezieht, während Popper mit der Rationali-
tät von Naturgesetzen anscheinend v.a. so etwas wie „kosmische Symmetrie“
meint, also eine möglichst einfache Form der Naturgesetze, die es dem Forscher
ermöglicht, sie leichter zu ‚verstehen‘.
Die dritte Analogie zum geisteswissenschaftlichen Verstehen soll darin be-
stehen, daß ein bedeutender Naturwissenschaftler, wie Einstein, die Natur als ein
Kunstwerk begreift, als eine Schöpfung Gottes, und sie als solche zu verstehen
trachtet. – Dieses Argument erinnert sehr an Thomas Reids Analogie von hu-
man testimony und testimony of nature, wobei das Zeugnis der Natur auf einen
göttlichen Autor verweise, mit der Konsequenz, daß man natürliche Zeugnisse
auf ähnliche Art verstehen könne wie menschliche Zeugnisse.31 Daß bedeutende
Naturwissenschaftler von derlei metaphysischen Annahmen inspiriert worden
sind, muß man nicht in Abrede stellen, doch die theologischen Voraussetzungen
dieser Analogie dürften heutzutage nur noch von einer Minderheit der Natur-
wie der Geisteswissenschaftler geteilt werden; im übrigen auch von dem
Agnostiker Karl Popper nicht.
Als vierte und letzte Analogie verweist Popper auf das sowohl in den Gei-
steswissenschaften als auch in den Naturwissenschaften verbreitete „Bewußtsein
eines letztlichen Versagens all unserer Versuche zu verstehen“ (vgl. ebd.). Da er
jedoch nicht expliziert, worin die Übereinstimmung des jeweils scheiternden
Verstehens liegen soll, besteht die Analogie höchstens darin, daß in den Natur-
wissenschaften ebenso wie in den Geisteswissenschaften hochgespannte Er-
kenntnisansprüche scheitern. Eine Identität dieser Erkenntnisansprüche ist damit
noch nicht begründet.
Insgesamt möchte Popper mit seinem Argument von der Analogie zwischen
naturwissenschaftlichem und geisteswissenschaftlichem ‚Verstehen‘ ein „szien-
tistisches Vorurteil“ gegenüber den Naturwissenschaften aus dem Weg räumen,
und zwar das Vorurteil, die Tätigkeit des Naturforschers sei ein mechanisches

31
Vermutlich aber war Popper von Bacons interpretatio naturae beeinflußt, was er mit
„Lesen im Buch der Natur“ übersetzt (vgl. 1963/1994: 17).
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 59
Sammeln von Beobachtungen und Konstruieren von Theorien, ohne den schöp-
ferischen Impuls, etwas ‚verstehen’ zu wollen. Leider versucht er, dieses Vorur-
teil aus dem Weg zu räumen, indem er durchaus problematische ontologische
Voraussetzungen des Verstehens, die in der geisteswissenschaftlichen Herme-
neutik mitunter postuliert werden, auf den Bereich der naturwissenschaftlichen
Erkenntnis ausweitet. Daß wir die Natur aufgrund unseres Natur-Seins verstehen
können, ebenso wie wir andere Menschen aufgrund unseres Mensch-Seins ver-
stehen, erscheint als ontologische These ohne empirischen Gehalt. Es ist
schlechterdings kein Erkenntnissubjekt vorstellbar, das nicht in irgendeinem
Sinn „Natur“ wäre, denn auch ein Computer besteht ja aus „natürlichen“ Mate-
rialien. Insofern hat Poppers ontologische These keinen empirischen Gehalt.32
Wenn seine ontologische Behauptung lediglich als notwendige Bedingung der
Naturerkenntnis gemeint ist, hat sie auch keinerlei methodologische Konse-
quenzen; es folgen weder methodologische Regeln aus ihr noch werden be-
stimmte wissenschaftliche Vorgehensweisen durch sie verboten, nicht einmal
der Versuch einer induktiven Theoriebildung. Sie hat nur dann methodologische
Konsequenzen, sofern Popper allen Ernstes behaupten will, daß unser Natur-
Sein nicht bloß eine notwendige, sondern zugleich eine hinreichende Bedingung
der Naturerkenntnis ist. In diesem Fall verstehen wir die Natur intuitiv und aus
keinem weiteren Grund als unserem eigenen Natur-Sein. Damit wäre Popper
zum Natur-Mystiker geworden. Beide Alternativen, die methodologische Trivia-
lität wie der Mystizismus, sind für Poppers wissenschaftstheoretische Position
natürlich inakzeptabel. Offenbar sind Popper – in dem Bestreben, Geisteswis-
senschaftlern den Wert der Naturforschung nahezubringen – die Konsequenzen
seiner behaupteten Analogie zwischen Naturerkenntnis und der von ihm anson-
sten stets bekämpften subjektiven Nachvollzugs-Hermeneutik nicht bewußt ge-
worden.
Das Grundproblem in Poppers Argumentation besteht aber schon darin, die
geisteswissenschaftliche Methode des Verstehens mit dem subjektiven Einfüh-
len und Nachvollziehen zu identifizieren und die Möglichkeit dieses Nachvoll-
zugs ontologisch auf das gemeinsame Mensch-Sein zurückzuführen. Eine solche
Verstehens-Konzeption trifft zum Teil auf die Hermeneutik Diltheyscher Prove-
nienz zu, berührt aber viele moderne (und auch ältere) Konzeptionen von Her-
meneutik nicht.
Wilhelm Dilthey hatte in seiner Schrift „Die Entstehung der Hermeneutik“
(1900) die Möglichkeit allgemeingültiger Interpretationen auf die Gemeinsam-
keit der „allgemeinen Menschennatur“ des Autors mit der seines Auslegers zu-
rückgeführt. Der Interpret müsse „seine eigne Lebendigkeit gleichsam probie-
rend in ein historisches Milieu“ versetzen, um dadurch „eine Nachbildung frem-
den Lebens in sich herbeizuführen“ (Dilthey 1900/1957: 329 f.). Wer einen Text

32
Ich setze hier Poppers eigene Gleichsetzung von „empirischem Gehalt“ und Widerleg-
barkeit voraus.
60 Zweiter Teil
adäquat verstehen wolle, müsse die Seelentätigkeit des Autors quasi in der eige-
nen Psyche reproduzieren, sich in den Autor ‚hineinversetzen‘ und einfühlen.33
Eine solche „Einfühlungs-Hermeneutik“ ist es, die Popper als Psychologis-
mus brandmarkt und die ihn zur Entwicklung einer genau entgegengesetzten
Theorie des Verstehens veranlaßt: Im Zeitraum mehrerer Jahrzehnte nimmt er
verschiedene Anläufe, eine anti-psychologische Verstehenstheorie zu entwik-
keln, in der psychologische Erklärungsfaktoren schließlich vollständig eliminiert
werden. Sein Anspruch, die Hermeneutik damit überflüssig zu machen, setzt
dabei eine Festlegung dieses Begriffs auf eine Einfühlungs-Hermeneutik Dil-
theyscher Provenienz voraus.34 Als weiteren Gewährsmann dieser Verstehens-
Konzeption nennt Popper lediglich den Philosophen und Historiker R.G. Col-
lingwood, der die Aufgabe des (historischen) Verstehens darin gesehen habe,
„vergangene Erlebnisse nachzuvollziehen“ (1968: 194). Angesichts zahlreicher
Hermeneutik-Konzeptionen, die keineswegs auf Einfühlung beruhen, mutet
Poppers anti-psychologischer Feldzug in seinem Spätwerk mitunter etwas
sonderbar an.35

2.3 Die Entwicklung der Situationslogik im Überblick

Popper hat seine Überlegungen zur Situationslogik als einer objektiv-


verstehenden Methode an verschiedenen verstreuten Stellen seines Werkes ver-
öffentlicht. Die ersten Ausführungen finden sich in „Die offene Gesellschaft und
ihre Feinde“ (1945) sowie in „Das Elend des Historizismus“ (1944/45)36. Be-
kannt wurden Poppers Thesen zur „Logik der Sozialwissenschaften“ anläßlich
seines Eröffnungsvortrages auf der Tagung der Gesellschaft für Deutsche Sozio-
logie in Tübingen, veröffentlicht in dem Band zum „Positivismusstreit in der
deutschen Soziologie“ (1962). Thematisch eng damit verbunden ist der Vortrag
an der Universität Harvard über „The status of the rationality principle in the
social sciences“ (1963)37.

33
Popper gesteht Dilthey allerdings auch zu, daß dieser „von der Subjektivität loskom-
men wollte, weil er Willkür fürchtete“ (vgl. 1968: 193).
34
Vgl. die Bestimmung des Verstehensbegriffs in seinem Aufsatz „Zur Theorie des ob-
jektiven Geistes“ (1968: 189).
35
So mag man die „philosophische Hermeneutik“ Hans-Georg Gadamers, die seit den
60er Jahren zu den einflußreichsten Hermeneutik-Konzeptionen gehört, durchaus kritisch
beurteilen, auf ‚Einfühlung‘ beruht sie jedoch nicht. Popper versäumt auch die Auseinan-
dersetzung mit den Verstehensprinzipien innerhalb der klassischen Hermeneutik des 17.
und 18. Jahrhunderts sowie der analytischen Philosophie („principle of charity“).
36
Die erste englische Buchausgabe erschien 1957, Teile des Manuskripts waren aber be-
reits 1944 und 1945 in der Zeitschrift „Economica“ veröffentlicht worden.
37
Auszüge aus dem Vortragsmanuskript wurden 1967 in französischer Sprache veröf-
fentlicht. Erst 1994 erschien der Text als 8. Kapitel des Buches „The myth of the frame-
work“. Um die Entstehungszeit und die Zugehörigkeit zur zweiten Entwicklungsphase
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 61
In seinem Spätwerk hat Popper dann versucht, die Überlegungen zur Situati-
onslogik mit seiner Ontologie der drei Welten zu verknüpfen, vor allem in dem
bereits zitierten Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ (1968). Ein aus-
führliches Anwendungsbeispiel der Situationslogik wird diskutiert in „Eine ob-
jektive Theorie des historischen Verstehens“ (1970).
Obwohl Karl Popper eine Kontinuität seiner Auffassungen zur Situationslo-
gik unterstellt (vgl. 1968: 184, FN 26), fallen doch diverse Widersprüche ins
Auge. Vor allem zwischen den Ausführungen in der „offenen Gesellschaft“ und
der „Logik der Sozialwissenschaften“ existieren grundlegende Unterschiede, die
es erforderlich machen, von zumindest zwei miteinander unvereinbaren Kon-
zeptionen der Situationslogik zu sprechen. Durch die Verknüpfung mit der Drei-
Welten-Ontologie werden ab Ende der 60er Jahre wiederum neue Akzente ge-
setzt und erhebliche Modifikationen vorgenommen – besonders hinsichtlich der
Zielsetzung einer objektiv-verstehenden Methode –, so daß hiermit eine dritte
Konzeption von Situationslogik vorliegt. Poppers Vorstellungen zur Situations-
logik haben sich also im Laufe der Zeit geändert, und zwar so erheblich, daß
man von drei verschiedenen Konzeptionen sprechen muß.
Ich möchte im folgenden die Entwicklung der Popperschen Situationslogik
anhand der genannten Texte untersuchen. Damit ist kein Anspruch auf Voll-
ständigkeit verbunden; vielmehr sollen durch die Interpretation exemplarischer
Textstellen bislang kaum thematisierte Brüche in Poppers Ausführungen zur Si-
tuationslogik aufgezeigt werden. Weiterhin besteht durchgängig die Fragestel-
lung, ob Poppers methodologische Vorschläge für eine sozial- und geisteswis-
senschaftliche Verstehenslehre tauglich sind.

2.4 Die erste Konzeption der Situationslogik

2.4.1 Die Autonomie der Soziologie und die Situationsanalyse

Der Ausgangspunkt der Überlegungen Poppers zu einer ‚Logik‘ der Situation


steht im Zusammenhang einer Verteidigung der Autonomie der Soziologie so-
wie einer Kritik des psychologischen Reduktionismus. Sein zentrales Argument
gegen die Reduktion der Soziologie auf die Psychologie bilden die unbeabsich-
tigten Folgen menschlicher Handlungen.
Die erste ausführliche Erörterung der Situationslogik findet im vierten Kapi-
tel des zweiten Bandes der „offenen Gesellschaft“ statt. Diese Diskussion steht
im Kontext der Frage nach der Autonomie der Soziologie. Zu den wenigen
Punkten, die Popper an dem im zweiten Band der „offenen Gesellschaft“ vor-
nehmlich kritisierten Karl Marx bewundert, gehört dessen Anti-Psychologismus:

der Situationslogik zu verdeutlichen, zitiere ich hier gemäß dem Datum des Vortrags,
nicht der Buchveröffentlichung.
62 Zweiter Teil
seine Weigerung, die Soziologie auf Psychologie zu reduzieren. Die Kritik des
Psychologismus, der soziale Gesetzmäßigkeiten auf die menschliche Natur zu-
rückführen wolle, wird bei Popper zum Ausgangspunkt der Suche nach einer
objektiven Handlungstheorie, welche die unbeabsichtigten Folgen des menschli-
chen Handelns einbezieht. Diese unbeabsichtigten Nebenfolgen sind zugleich
Poppers zentrales Argument gegen den psychologischen Reduktionismus. Als
Beispiel nennt er eine Marktsituation, in der die Käufer einer Ware durch
verstärkte Nachfrage den Preis erhöhen:

„Das soziale Leben ist [...] Handeln in einem [...] Rahmen von Institutionen und Tra-
ditionen, und es führt [...] zu vielen unvorhergesehenen Rückwirkungen innerhalb
dieses Rahmens [...]. Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften besteht nun, wie ich
glaube, in dem Versuch, diese Rückwirkungen zu analysieren und sie soweit wie
möglich vorherzusehen. Es ist ihre Aufgabe, die unbeabsichtigten sozialen Rückwir-
kungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analysieren – also jene Rückwir-
kungen, deren Bedeutung sowohl von der Verschwörungstheorie als auch [...] vom
Psychologismus vernachlässigt wird. [...] Wenn jemand ein Haus kaufen möchte,
dann kann man mit Sicherheit annehmen, daß er nicht wünscht, den Marktpreis des
Hauses zu erhöhen. Aber gerade der Umstand, daß er als ein Käufer auf dem Markt
erscheint, wird die Tendenz haben, die Marktpreise zu erhöhen. [...] Wir sehen hier,
daß nicht alle Folgen unserer Handlungen beabsichtigte Folgen sind.“ (1945: 120 f.)

Der Psychologist könnte nun als Gegenargument „darauf verweisen, daß das
Wissen der Verkäufer um die Anwesenheit eines Käufers am Markt sowie ihre
Hoffnung, einen höheren Preis zu erzielen, also psychologische Faktoren, die
beschriebenen Rückwirkungen erklären“ (1945: 121 f.). Demgegenüber behaup-
tet Popper, daß dieses Wissen und diese Hoffnung nur „auf Grund der sozialen
Situation – der Marktsituation – erklärt werden können“ (ebd., H.i.O.). Soziale
Situationen jedoch ließen sich nicht auf subjektive Beweggründe zurückführen,
sie müßten daher von einer autonomen Sozialwissenschaft erforscht werden
(vgl. 1945: 122).
Die „Logik der Situation“ trete neben psychologische Erklärungen, ohne
diese aber völlig ersetzen zu können. Als relevante Ergänzung zu psychologi-
schen Erklärungsfaktoren müsse die Analyse der Situation hinzukommen, in der
eine Handlung stattfindet: Popper stellt in der „offenen Gesellschaft“ fest, „daß
sich unsere Handlungen in weitem Ausmaße aus der Situation erklären lassen, in
der sie stattfinden“ (1945: 122). Allerdings macht er zugleich eine wichtige Ein-
schränkung: Eine Erklärung aus der Situation allein sei natürlich nie möglich,
man müsse vielmehr Bezug nehmen auf die psychischen Beweggründe des
Handelnden. Diese seien zwar – verglichen mit der Bedeutung der Situations-
analyse – für die Handlungserklärung weniger relevant, dennoch aber unver-
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 63
zichtbar (vgl. 1945: 122 f.). Als Referenzmodell für die Anwendung der Situati-
onslogik nennt Popper die „ökonomische Analyse“ (1945: 123).38
Während Popper in der späteren Konzeption seiner Situationslogik eben dies
versucht, was er hier noch selbstverständlich ausschließt: das Handeln aus der
‚Situation‘ allein zu erklären, möchte er in der „offenen Gesellschaft“ noch auf
psychische Faktoren, auf die Beweggründe des handelnden Subjekts, Bezug
nehmen.
Was ist damit gemeint, daß die ‚Logik‘ der Situation relevanter für die Er-
klärung (respektive: das Verstehen) einer Handlung sei als die subjektiven Dis-
positionen des Handelnden? In welchem Sinn spricht Popper überhaupt von Si-
tuationslogik?

2.4.2 Situationslogik als Metapher für instrumentelle


Notwendigkeiten

Im „Elend des Historizismus“ finden sich in den Abschnitten 31 und 32 kurze


Ausführungen zu historischen Interpretationen sowie zur Situationslogik. Leider
wird auch hier nur indirekt deutlich, mit welchen Intentionen Popper den Begriff
der Situationslogik verwendet: So weitet er in den genannten Passagen seine
Kritik des psychologischen Reduktionismus auf entsprechende Vorstellungen
einer psychologisierenden Historiographie aus. Entschieden wendet sich Popper
gegen eine Geschichtsschreibung nach dem Führerprinzip, die historische Ent-
wicklungen auf die Entscheidungen ‚großer Männer‘, einzelner Feldherren oder
Politiker, zurückführt (vgl. 1944/45: 116). Dieser „Geschichte als Geschichte
großer Männer“ setzt er die ‚Logik‘ historischer Situationen entgegen, welche
offenbar gegenüber den bewußten Entscheidungen der Individuen vorrangig sei.
Popper verweist in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung Tolstois, wonach
in einer historischen Kriegssituation etwa der Rückzug einer Armee eine Situa-
tionsnotwendigkeit sein könne:

„Es gibt hier Möglichkeiten für eine mehr ins einzelne gehende Analyse der Logik
von Situationen. Die besten Historiker haben diesen Begriff oft – mehr oder weniger
unbewußt – verwendet: Tolstoi beispielsweise, wenn er beschreibt, wie nicht eine
bewußte Entscheidung, sondern die ‚Notwendigkeit’ die russische Armee dazu brach-
te, Moskau kampflos aufzugeben und sich in Gegenden zurückzuziehen, wo sie Le-
bensmittel finden konnte.“ (1944/45: 116 f., H.i.O.).

38
In seinem Harvard-Vortrag wird er konkreter und nennt F.A. von Hayeks „Economics
and Knowledge“ (1936) als Inspirationsquelle (1963: 181). Im Zusammenhang der Be-
schreibung des der Situationslogik verwandten Konzeptes der Nullmethode verweist
Popper, neben Hayek, auf J. Marschak, C. Menger und P. Sargant Florence (vgl. 1944/45:
110 f.).
64 Zweiter Teil
Einer Situation kann also etwas objektiv Zwingendes anhaften, eine ‚eherne
Logik‘, die wenig Spielraum für subjektive Entscheidungen läßt und Unter-
schiede in der Persönlichkeit der jeweils Handelnden ihrer Bedeutung beraubt.
Poppers Begriff der Situationslogik scheint somit ursprünglich als Metapher für
das gemeint zu sein, was man heute als Sachzwang bezeichnen würde: Die Un-
terschiede in den subjektiven Dispositionen der Handelnden treten zurück ge-
genüber der instrumentellen Notwendigkeit, in einer bestimmten Situation sich
auf die einzig mögliche Weise adäquat zu verhalten. (Hierbei werden bestimmte
naheliegende Zwecke, in der Kriegssituation etwa der militärische Sieg oder das
Überleben, als selbstverständlich unterstellt.)
Man wird Popper einräumen, daß derartige Situationsnotwendigkeiten im
gesellschaftlichen Leben tatsächlich vielfach für die Erklärung von Handlungen
vorrangig sind gegenüber psychologischen Analysen, die auf Unterschieden der
handelnden Persönlichkeiten beruhen. Wer etwa das Handeln eines deutschen
Finanzministers verstehen und erklären will, der unter den Bedingungen der po-
litischen und ökonomischen Situation des Jahres 2002 Entscheidungen trifft,
wird hierbei wohl kaum auf Besonderheiten des Charakters Hans Eichels rekur-
rieren. Statt dessen muß sich jede adäquate Erklärung seines Handelns auf Be-
dingungen der objektiven Situation, etwa auf die Staatsverschuldung Deutsch-
lands, die Einbindung in europäische Verträge, die eine Höchstgrenze der Neu-
verschuldung festlegen, etc. beziehen.
Halten wir fest: Situationslogik ist ursprünglich für Popper eine Metapher,
die anschaulich zum Ausdruck bringt, daß vielfach nicht subjektive Beweggrün-
de, sondern objektive Situationsmerkmale (bzw. Sachzwänge) das menschliche
Handeln bestimmen. Diese Betonung der Situation gegenüber psychologischen
Erklärungsfaktoren steht im Kontext seiner Kritik des Psychologismus.

2.4.3 Die Nullmethode der Konstruktion von Modellen


rationalen Handelns

Daß Popper mit der Verwendung des Wortes Situationslogik offenbar auch ur-
sprünglich weitere Absichten verbindet als die metaphorische Umschreibung
von Sachzwängen, geht aus einer mit der Situationsanalyse verwandten Idee
hervor, die er zur gleichen Zeit propagiert: der sogenannten Nullmethode der
Konstruktion von Modellen rationalen Handelns. Ausführungen zur Nullmetho-
de finden sich in den Kapiteln 29 und 32 des „Elend des Historizismus“. Ob-
wohl die Ähnlichkeit der Situationslogik mit der Nullmethode augenfällig ist,
und Popper auch bei der Beschreibung der letzteren von einer ‚Logik‘ spricht,
unterläßt er es, das Verhältnis beider Begriffe zu klären. Möglicherweise hält er
die Nullmethode für einen Spezialfall der Situationslogik, vielleicht aber auch
für eine Ergänzung (vgl. Keuth 2000: 237). Eine dritte Deutungsmöglichkeit
liegt darin, beide Begriffe als synonym zu betrachten. Dafür spricht, daß Popper
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 65
den Begriff Situationslogik in der „offenen Gesellschaft“ sowie im „Elend des
Historizismus“ – wie bereits beschrieben – zunächst kaum inhaltlich konkreti-
siert und nur sehr vage benutzt als Hinweis auf die Relevanz von Situationen bei
Handlungserklärungen sowie als Metapher für Sachzwänge, während er in sei-
nen späteren Schriften unter Situationslogik in etwa das versteht, was bereits im
„Elend des Historizismus“ als „Nullmethode“ beschrieben wird. Der Begriff
Nullmethode spielt in diesen späteren Schriften keine Rolle mehr, so daß man
annehmen kann, die Idee der Nullmethode sei vollständig in die spätere Konzep-
tion der Situationslogik eingegangen.39
Dies ist mehr als ein Kuriosum der Popper-Exegese, denn aufgrund der
Beziehung beider Begriffe zueinander kann man etwas Aufhellung für die doch
sehr nebulöse Konzeption der Situationslogik erwarten, indem man den etwas
besser explizierten Begriff der Nullmethode untersucht. Vor allem läßt sich an-
hand der Textstellen zur Nullmethode erkennen, daß Popper in dieser Modell-
bildung rationalen Handelns von bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Ar-
beiten angeregt war und daß er in der Möglichkeit der Anwendung solcher Mo-
delle einen Unterschied zur Methode der Naturwissenschaften sieht. Selbst
wenn man es ablehnt, Situationslogik und Nullmethode als Synonyme aufzufas-
sen, wird man die Nullmethode als wichtiges Bindeglied zwischen der ersten,
eher metaphorischen, Konzeption von Situationslogik und der späteren Konzep-
tion ansehen können.
Poppers Ausführungen zur Nullmethode beginnen damit, die Komplexität
sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnisgegenstände zu
vergleichen. Im Gegensatz zu denjenigen, die die Sozialwissenschaften und ih-
ren Gegenstandsbereich für „komplizierter“ halten als die Naturwissenschaften
und ihren Erkenntnisgegenstand, behauptet Popper:

„In Wirklichkeit gibt es aber gute Gründe, nicht nur anzunehmen, daß die Sozialwis-
senschaft weniger kompliziert ist als die Physik, sondern auch, daß die konkreten so-
zialen Situationen im allgemeinen weniger kompliziert sind als die konkreten Situa-
tionen in der Natur. Denn in den meisten, wenn nicht in allen sozialen Situationen
gibt es ein rationales Element. Zugegeben, die Menschen handeln kaum je vollkom-
men rational (d.h. so wie sie handeln würden, wenn sie zur Erreichung ihrer jeweili-
gen Ziele alle erreichbaren Informationen optimal ausnützen könnten), sie handeln
aber trotzdem mehr oder weniger rational, und daraus ergibt sich die Möglichkeit, re-
lativ einfache Modelle ihrer Aktionen und Interaktionen zu konstruieren und als An-
näherungen zu verwenden.“ (1944/45: 110)

39
In seinem Harvard-Vortrag spricht Popper im Zusammenhang der Erörterung des für
die Situationslogik relevanten Rationalitätsprinzips von einem „zero-principle“, das an die
„Nullkoordinate“ erinnert, die in der Nullmethode eine Rolle spielt – ein Indiz dafür, daß
die Nullmethode in die spätere Konzeption der Situationslogik eingegangen ist (vgl.
1963: 169 f.).
66 Zweiter Teil
Obwohl Menschen nicht vollkommen rational handelten, existiere „ein ra-
tionales Element“ in sozialen Situationen, das es ermögliche, soziales Handeln
mit Hilfe einfacher Modelle zu beschreiben. Aufgrund dieser Möglichkeit von
Modellen rationalen Handelns sei die Sozialwissenschaft weniger kompliziert
als die Naturwissenschaft, worin eine zentrale methodologische Differenz liege:

„Hier scheint mir nun tatsächlich ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Natur-
und den Sozialwissenschaften zu liegen – vielleicht der wichtigste methodische Un-
terschied, da es sich bei den anderen wichtigen Unterschieden, nämlich bei den spezi-
fischen Schwierigkeiten des Experimentierens [...] und bei der Anwendung quantita-
tiver Methoden [...] um graduelle, nicht um essentielle Differenzen handelt.“ (ebd.)

Die darauf folgende Textstelle ist entscheidend für das Verständnis der
Nullmethode:

„Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Möglichkeit, in den Sozialwissen-


schaften ein Verfahren zu verwenden, das man die Methode der logischen oder ratio-
nalen Konstruktion oder vielleicht die ‚Nullmethode’ nennen kann. Ich meine damit
folgendes Verfahren: man konstruiert ein Modell auf Grund der Annahme, daß alle
beteiligten Individuen sich vollkommen rational verhalten (und vielleicht auch, daß
sie im Besitze des vollständigen Informationsmaterials sind), und dann schätzt man
die Abweichung des tatsächlichen Verhaltens dieser Individuen vom Modellverhal-
ten, wobei dieses als eine Art Nullkoordinate dient. Ein Beispiel für diese Methode ist
der Vergleich zwischen dem tatsächlichen Verhalten (etwa unter dem Einfluß tradi-
tioneller Vorurteile usw.) und dem Modellverhalten, das auf Grund der ‚reinen Logik
der Wahl’ zu erwarten wäre und seinen Ausdruck in den Gleichungen der Wirt-
schaftswissenschaft findet“ (1944/45: 110 f.).

Auffallend ist, daß Popper bei der Beschreibung der Nullmethode das
Wichtigste außer acht läßt: Er geht mit keinem Wort darauf ein, welchen Zielen
diese Modellkonstruktion dienen soll. Zu welchem Zweck wird denn, auf der
Grundlage idealisierender Rationalitätsunterstellungen, ein solches Modell
rationalen Handelns geschaffen und dann mit dem tatsächlichen Verhalten
verglichen? – Herbert Keuth vermutet, die Nullmethode diene der Erklärung
und Prognose: „Demnach erklären und prognostizieren wir menschliches
Verhalten mit Hilfe unserer Vorstellung davon, was zu tun in einer Situation
rational wäre.“ (Keuth 2000: 238) Aber liegt hier tatsächlich eine Erklärung
(bzw. Prognose) vor, wie sie Popper in der Logik der Forschung beschreibt (vgl.
1934: 31 f.)? Zunächst einmal: Das Explanandum kann auch in diesem Fall
nichts anderes sein als das empirisch gegebene, beobachtbare menschliche
Verhalten, das von der idealen Rationalitätsnorm abweicht. Warum sollte nun
ein Modell, das von der kontrafaktischen Voraussetzung idealer Rationalität
ausgeht, das tatsächliche menschliche Verhalten erklären und prognostizieren?
Offenbar deshalb, weil Menschen – wie Popper zuvor erwähnte – „trotzdem
mehr oder weniger rational“ handelten, was es erlaube, das Modell rationalen
Handelns als Annäherung an das tatsächliche Handeln zu verstehen. Das
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 67
sächliche Handeln zu verstehen. Das Explanans besteht somit in der Unterstel-
lung idealer (Zweck-Mittel)-Rationalität, wobei anscheinend das Rationalitäts-
prinzip die Rolle der Gesetzesannahme übernehmen soll, während die Annahme
bestimmter Ziele des Handelnden sowie seine Kenntnisse der relevanten Hand-
lungsumstände die Randbedingungen darstellen.
Welchen erkenntnistheoretischen Status die bei der Erklärung zu verwen-
dende Rationalitätsunterstellung besitzt, diskutiert Popper ebenfalls nicht. Prin-
zipiell sind folgende Alternativen denkbar: Sie könnte eine empirische (bzw.
empirisch zu prüfende) Hypothese sein oder eine apriorische Festlegung. Beide
Alternativen führen zu Schwierigkeiten, die im Abschnitt 2.5, in dem es um das
Rationalitätsprinzip im Rahmen der späteren Konzeption der Situationslogik
geht, noch eingehender erörtert werden. Betrachtet man die Unterstellung idea-
ler Rationalität als eine empirische (bzw. empirisch prüfbare) Hypothese, dann
wird sie gleich durch die ersten Beobachtungen widerlegt, denn sie ist offen-
kundig falsch. Soll sie hingegen als apriorisches Prinzip eingeführt werden, stellt
sich die Frage, ob es analytisch ist oder synthetisch-apriorische Geltung bean-
sprucht. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Nullmethode geht Popper
auf das Problem des erkenntnistheoretischen Status’ seiner Rationalitätsunter-
stellung nicht ausführlicher ein, sondern schließt lediglich aus, daß eine psycho-
logische Methode gemeint ist:

„Nebenbei möchte ich erwähnen, daß weder das Prinzip des methodologischen Indi-
vidualismus noch das der Nullmethode der Konstruktion rationaler Modelle uns zur
Annahme einer psychologischen Methode verpflichtet. Im Gegenteil, meiner Ansicht
nach lassen sich diese Prinzipien mit der Auffassung vereinen, daß die Sozialwissen-
schaften von psychologischen Annahmen relativ unabhängig sind [...]“ (1944/1945:
111).

Daß die Nullmethode und damit das in ihr enthaltene Rationalitätsprinzip


von „psychologischen Annahmen relativ unabhängig“ sei, deutet darauf hin, daß
es sich bei der Rationalitätsunterstellung nicht um eine empirische Hypothese
handeln soll. Tatsächlich verneint Popper einen empirisch-wissenschaftlichen
Charakter der Nullmethode, indem er erklärt: „Die ‚Nullmethode‘ der Konstruk-
tion rationaler Modelle ist keine psychologische, sondern eine logische Metho-
de“ (1944/1945: 123).
Eine entsprechende These werden wir später auch im Hinblick auf die Situa-
tionslogik finden – sie sei keine psychologische, sondern eine logische Methode.
Daß mit dieser Auskunft, wenn sie denn ernst gemeint ist und das Wort „Logik“
nicht in einem metaphorischen Sinn gebraucht wird, ein Bekenntnis zum analy-
tischen Charakter der mit dieser ‚Methode‘ hervorgebrachten Aussagen enthal-
ten ist, erwähnt Popper nicht.
68 Zweiter Teil
2.4.4 Beurteilung

Möchte man zu einer Einschätzung der frühen Ausführungen zur Situationslogik


kommen, läßt sich zunächst feststellen, daß Popper in der „offenen Gesellschaft“
sowie dem „Elend des Historizismus“ keine Methodenlehre der Situationsanaly-
se vorgelegt hat, sondern lediglich einige verstreute Bemerkungen und Hinwei-
se. Diese ersten Bemerkungen zur Situationslogik sind zwar methodologisch
unproblematisch, aber nicht hinreichend ausgearbeitet, um die Erkenntnispraxis
in den Sozial- und Geisteswissenschaften anleiten zu können: Daß die situativen
Rahmenbedingungen des Handelns vielfach wichtiger sind als Persönlichkeits-
unterschiede des Handelnden, dürfte unbestritten sein. Bedauerlicherweise geht
Poppers erste Fassung seiner Situationslogik über diese einfache Feststellung
kaum hinaus. Zwar mag er in seinem Kampf gegen den Psychologismus an ge-
wisse psychoanalytische Schulen gedacht haben, die in der Tat bisweilen sehr
einseitig den Charakter des Handelnden für sein Handeln verantwortlich machen
und die Situation hierbei nicht berücksichtigen.40 Doch er bezieht sich in seiner
Kritik des Psychologismus in der „offenen Gesellschaft“ ausschließlich auf J.S.
Mill „und seine psychologistisch eingestellte soziologische Schule (der sich spä-
ter viele Psychoanalytiker anschlossen)“ (1945: 112).
Angesichts der heute ganz selbstverständlichen Berücksichtigung sozialer
Situationen in der Soziologie – und wohl schon zur Zeit der „offenen Gesell-
schaft“41 – muß die diesbezügliche Forderung Poppers als eine Trivialität gelten.
Mit seiner ersten Fassung der Situationslogik hat Popper daher wohl etwas
durchaus Richtiges gefordert, ohne damit allerdings den Sozialwissenschaften
einen besonderen methodologischen Erkenntniszuwachs bereitet zu haben.
Ebensowenig weiterführend erscheint der Gebrauch des Ausdrucks „Logik der
Situation“ als metaphorische Umschreibung von Sachzwängen. Demgegenüber
bleibt fraglich, inwiefern die Betonung der unbeabsichtigten Folgen menschli-
chen Handelns sowie der Hinweis auf die Bedeutung sozialer Situationen als
gültiges Argument für eine autonome Soziologie und gegen den psychologi-
schen Reduktionismus aufgefaßt werden kann (vgl. Keuth 2000: 236).
Größere Ähnlichkeit mit der späteren Konzeption der Situationslogik hat in
Poppers frühen Arbeiten das, was er als „Nullmethode der Konstruktion rationa-
ler Modelle“ beschreibt. Hierbei sollen einfache Modelle menschlichen Han-

40
Daß sich diese Problematik auch heute noch auf tiefenhermeneutische Methoden der
Sozialforschung auswirken kann, läßt sich etwa anhand der psychoanalytischen Studie
„Die Charaktermauer – Zur Psychoanalyse des Gesellschafts-Charakters in Ost- und
Westdeutschland“ verfolgen (vgl. Funk u.a. 1995). Vgl. hierzu die kritische Rezension
Böhm/Hoock 1998: S. 62-95.
41
Auch in den 40er Jahren war es in der Soziologie – unabhängig von Poppers Arbeiten –
durchaus selbstverständlich, die Bedeutung sozialer Situationen herauszustellen. Vgl. et-
wa das Buch „Situational Analysis. An Observational Approach to Introductory Sociol-
ogy“ von Lowell Juilliard Carr aus dem Jahr 1948.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 69
delns konstruiert werden, die von dem Prinzip idealer Rationalität ausgehen und
anscheinend der Erklärung und Prognose des jeweiligen Verhaltens dienen, ob-
wohl es aufgrund der de facto nur unvollkommenen menschlichen Rationalität
zu Abweichungen zwischen dem theoretisch abgeleiteten und dem tatsächlichen
Verhalten kommen kann. Der erkenntnistheoretische Status des verwendeten
Rationalitätsprinzips bleibt jedoch unklar. Popper schließt lediglich aus, daß es
sich hierbei um eine psychologische Annahme handelt. Der Hinweis auf den
„logischen“ Charakter der Nullmethode deutet darauf hin, daß Popper das Ra-
tionalitätsprinzip für analytisch hält. Wie aber ein analytisches Prinzip als
Grundlage der Erklärung tatsächlichen menschlichen Verhaltens dienen soll,
bleibt schleierhaft. Diese Problematik tritt in ganz ähnlicher Weise im Zusam-
menhang mit der späteren Konzeption der Situationslogik auf. – Obwohl Popper
die These einer methodologischen Einheit von Natur- und Sozialwissenschaften
vertritt und anfangs noch die „hypothetisch-deduktive Methode“ der „Aufstel-
lung deduktiver Kausalerklärungen“ (1944/45: 103), später eher vage die „Me-
thode des Problemlösens“ (1968: 192) als Kern der methodologischen Einheit
benennt, wendet er sich mit seiner Nullmethode zugleich von dieser Einheit ab.
Mit Hilfe der Rationalitätsunterstellung könne man auf empirisch-psycho-
logische Gesetzeshypothesen bei der Erklärung menschlichen Verhaltens ver-
zichten.

2.5 Die zweite Konzeption der Situationslogik

2.5.1 Der Begriff der Situation

Die Situationslogik in Poppers späteren Arbeiten unterscheidet sich grundlegend


von der ursprünglichen Begriffsverwendung in der „offenen Gesellschaft“: In
der späteren Fassung sollen sämtliche psychologische Faktoren eliminiert bzw.
in Elemente der ‚objektiven Situation‘ transformiert werden.
Während man Poppers erste Fassung der Situationslogik als methodologisch
unstrittig, jedoch weitgehend trivial bezeichnen kann, trifft auf seine spätere
Version von Situationslogik das Gegenteil zu: Durch einen veränderten Situati-
onsbegriff sollen psychische Faktoren bei der Erklärung nun völlig eliminiert
werden. Die resultierende situationslogische Methode ist nicht leicht zu verste-
hen, also alles andere als trivial – dafür jedoch ist sie gerade vor dem Hinter-
grund kritisch-rationaler Wissenschaftstheorie kaum akzeptabel.
Besonders deutlich wird dies angesichts der wichtigsten Referenzstellen, die
sich in Poppers Vortrag „Die Logik der Sozialwissenschaften“ (1962) finden. In
der 25. These seines Vortrags erfahren wir, „daß es eine rein objektive Methode
in den Sozialwissenschaften gibt, die man wohl als die objektiv-verstehende Me-
thode oder als Situationslogik bezeichnen kann. Eine objektiv-verstehende Sozi-
alwissenschaft kann unabhängig von allen subjektiven oder psychologischen
70 Zweiter Teil
Ideen entwickelt werden. Sie besteht darin, daß sie die Situation des handelnden
Menschen hinreichend analysiert, um die Handlung aus der Situation heraus oh-
ne weitere psychologische Hilfe zu erklären“ (1962: 120, H.i.O.).
Während in der ersten Konzeption aus den 40er Jahren die Analyse der Si-
tuation neben psychologische Handlungserklärungen tritt, sollen nun „die psy-
chologischen Momente prinzipiell aus[ge]schaltet und durch objektive Situati-
onselemente ersetzt“ (1962: 121) werden. Popper erläutert dies wie folgt: „Das
objektive ‚Verstehen‘ besteht darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv
situationsgerecht war. Mit anderen Worten, die Situation ist so weitgehend ana-
lysiert, daß die zunächst anscheinend psychologischen Momente, zum Beispiel
Wünsche, Motive, Erinnerungen und Assoziationen, in Situationsmomente ver-
wandelt wurden. Aus dem Mann mit diesen oder jenen Wünschen wird dann ein
Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er diese oder jene objektiven Ziele ver-
folgt“ (1962: 120, H.i.O.).
Es mutet zunächst wie eine rein verbale ‚Lösung‘ – eine schlichte Umbe-
nennung – an, wenn Popper die Transformation von psychischen Dispositionen
in Situationselemente fordert. Jedoch beruht diese zweite Fassung der Situati-
onslogik nicht darauf, daß die tatsächlichen Motive der handelnden Person zu-
nächst empirisch ermittelt und anschließend in einem nicht-psychologischen
Vokabular als Elemente der objektiven Situation präsentiert werden. Poppers
Ansatz ist viel radikaler: Er leugnet die Möglichkeit einer Prüfung von Hypothe-
sen über psychische Dispositionen des Handelnden (vgl. 1962: 121). Vielmehr
ergebe sich die Kenntnis der Handlungsziele aus der Analyse der Situation so-
wie der Annahme eines Rationalitätsprinzips – darauf soll später noch ausführ-
lich eingegangen werden.
Wie wird nun aber „aus dem Mann mit diesen oder jenen Wünschen [...] ein
Mann, zu dessen Situation es gehört, daß er diese oder jene objektiven Ziele ver-
folgt“? Mit anderen Worten: Wie gelingt Popper die wundersame Verwandlung
von psychischen Dispositionen in Elemente einer ‚objektiven Situation‘? – Die
Antwort liegt einfach darin, daß Popper seinen Situationsbegriff ändert, ohne
dies jedoch explizit zu machen.
In seinem Vortrag „Die Logik der Sozialwissenschaften“ gibt Popper ein
Beispiel dafür, wie man einen Handelnden ‚objektiv‘ versteht. Das ‚objektive‘
Verstehen sei dann gegeben, wenn man sagen könne: „Zwar habe ich andere
Ziele und andere Theorien (als zum Beispiel Karl der Große); aber wäre ich in
seiner so-und-so analysierten Situation gewesen – wobei die Situation Ziele und
Wissen einschließt –, dann hätte ich, und wohl auch Du, ebenso gehandelt“
(1962: 120).
Während Popper etwa in der „offenen Gesellschaft“ unter „Situation“ die
sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen für Handlungen versteht, um-
faßt der Situationsbegriff in der späteren Konzeption der Situationslogik sämtli-
che handlungsrelevante Faktoren, einschließlich der Dispositionen des Handeln-
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 71
den. Und er bezieht dies ausdrücklich auf alle Dispositionen, soweit sie für das
Verständnis respektive die Erklärung des Handelns in Betracht kommen.42 So
gehören auch die Überzeugungen und Ziele eines Wahnsinnigen zur ‚Situation‘,
die man verstehen müsse, wenn man seine Handlungen verstehen will (vgl.
1963: 179). Popper bleibt jedoch auch innerhalb seiner zweiten Konzeption von
Situationslogik nicht konsistent bei dem erweiterten Situationsbegriff. Wenn er
etwa belegen will, daß es auch Handlungen gibt, die nicht ‚situationsgerecht‘
sind, verwendet er (implizit!) erneut den engeren Situationsbegriff (vgl. 1963:
172). Wir müssen also im folgenden jeweils deutlich unterscheiden zwischen:

S1: „Situation“ als Gesamtheit sozialer/institutioneller Rahmenbedingun-


gen des Handelns
S2: „Situation“ als Gesamtheit aller handlungsrelevanten Faktoren (ein-
schließlich der Dispositionen des Handelnden sowie einschließlich S1)

Was ist aber dadurch gewonnen, den Situationsbegriff entgegen dem übli-
chen Sprachgebrauch auf Dispositionen des Handelnden – seine Motive/Ziele,
seine Überzeugungen/sein Wissen etc. – auszudehnen? Offenbar kommt es doch
durch diese Transformation psychischer Handlungsdispositionen, die empirisch
zu ermitteln wären, in Elemente der ‚objektiven Situation‘ keineswegs zu einer
Zunahme der Prüfbarkeit von Aussagen, die mit Hilfe der situationslogischen
Methode hervorgebracht werden, sondern im Gegenteil zur Abnahme ihres In-
formationsgehaltes, bis hin zur Analytizität.
Dies wird gerade anhand des oben zitierten kurzen Beispiels deutlich, das
Popper zur Erläuterung des objektiven Verstehens vorbringt. Ein Satz der Form:
„Wäre ich in der Situation Karls des Großen gewesen, dann hätte ich wie Karl
der Große gehandelt“, ist entweder gehaltvoll, aber (wahrscheinlich) falsch –
oder aber analytisch wahr; je nachdem, welchen der beiden von Popper verwen-
deten Situationsbegriffe man zugrunde legt. Ist „Situation“ im Sinne von S1
gemeint, dürfte kaum anzunehmen sein, daß auch Menschen mit entgegenge-
setzten Motiven/Zielen ebenso wie Karl der Große handelten, selbst wenn sie
unter denselben Rahmenbedingungen handeln müßten.43 Popper möchte jedoch
sagen: „Wäre ich in der Situation (S2) Karls des Großen gewesen, dann hätte ich
wie Karl der Große gehandelt.“ Da nun aber S2 zugleich alle handlungsrelevan-

42
An einer Stelle bringt Popper seinen neuen Situationsbegriff auf den Punkt: „We must
remember, of course, that the situation, as I use this term, already contains all the relevant
aims and all the available relevant knowledge, especially of the various possible means
for realizing these aims“ (1963: 169).
43
Strenggenommen handelt es sich hierbei um metaphysische Aussagen bzw. um Ge-
dankenexperimente, da exakt dieselben Rahmenbedingungen niemals reproduzierbar
sind. Da es jedoch lediglich auf bestimmte typische soziale Situationen ankommt – z.B.
den Umgang mit Macht –, erscheint mir eine Überführung in empirisch prüfbare Aussa-
gen prinzipiell möglich.
72 Zweiter Teil
ten Dispositionen (Motive/Ziele, Überzeugungen/Wissen etc.) einschließt, ist
die Aussage gleichbedeutend mit: „Wäre ich in jeder handlungsrelevanten Hin-
sicht identisch mit Karl dem Großen (inklusive Handlungsdispositionen und
Rahmenbedingungen), dann würde ich wie Karl der Große handeln“. Diese
Aussage ist zwar (auf triviale Weise) wahr, hat aber keinen Informationsgehalt;
das Personalpronomen „Ich“ bezieht sich hier gar nicht mehr auf eine personale
Identität jenseits von Karl dem Großen, sondern wird mit diesem weitestgehend
gleichgesetzt. Daß nun Karl der Große handeln würde wie Karl der Große, mag
man Popper einräumen, ohne darin einen Triumph seiner situationslogischen
Methode zu erblicken.
Sollte es tatsächlich das Ziel der Situationslogik als einer Methode objekti-
ven Verstehens sein, Handlungen dergestalt als situationsgerecht zu rekonstruie-
ren, daß man sagen kann: „Ich hätte in derselben Situation (S2) ebenso gehan-
delt“, werden damit offenbar keine gehaltvollen Aussagen produziert, die über
die Wirklichkeit informieren könnten. Vielmehr tritt bereits der apologetische
Zweck der Situationslogik, der sich in späteren Schriften Poppers noch stärker
ausprägt, zum Vorschein: Ziel des Verfahrens ist die Rechtfertigung von Hand-
lungen.
Unter anderem aus diesem Grund darf man die Situationslogik nicht
verwechseln mit dem alltagspraktischen Sich-Hineinversetzen in andere
Personen. Wenn A zu B sagt „An deiner Stelle würde ich soundso handeln“,
bedeutet dies eben nicht „In deiner Situation (S2) würde ich ebenso handeln wie
du“. Vielmehr soll in der Regel dem Handelnden eine Handlungsalternative
offeriert werden. A macht sich nur partiell Ziele von B zu eigen und gibt B
aufgrund eines anderen Wissensstandes oder aufgrund zusätzlicher
Zielpräferenzen einen Ratschlag; er liefert üblicherweise keine Ex-post-
Rechtfertigung der Handlung A’s.
In Poppers zweiter Konzeption von Situationslogik, so kann man zusam-
menfassen, wird der Begriff der Situation äquivok verwendet. Die Einbeziehung
sämtlicher erklärungsrelevanter Faktoren in den Situationsbegriff führt hierbei
zu einer Immunisierung situationslogischer Analysen mit apologetischer Ten-
denz, d.h. zu einer Rechtfertigung von Handlungen.

2.5.2 Das Rationalitätsprinzip

Die rationalen Rekonstruktionen der Situationslogik, so gesteht Popper selbst


ein, seien „über-vereinfacht und über-schematisiert und daher im allgemeinen
falsch. Dennoch können sie einen großen Wahrheitsgehalt haben, und sie kön-
nen im streng logischen Sinn gute Annäherungen an die Wahrheit sein“ (1962:
121, H.i.O.).
Wie könnte dies gemeint sein? – Orientiert man sich an der bei Popper übli-
chen Verwendung des Wahrheitsbegriffs im Sinne einer realistisch verstandenen
Korrespondenztheorie, müßte man davon ausgehen, daß die Beschreibung der
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 73
tatsächlichen Motive/Ziele und Überzeugungen/Kenntnisse der Handelnden der
Zweck des Verfahrens ist.44 Zugleich aber lehnt es Popper ab, diese Handlungs-
dispositionen, etwa mit Hilfe sozialpsychologischer Methoden, empirisch zu
ermitteln. Doch auch die Analyse der Situation nach Maßgabe des erweiterten
Situationsbegriffes (S2) erfordert die Annahme bestimmter Handlungsziele. Wie
nun, so fragt man sich, möchte Popper gewährleisten, daß die im Rahmen der
Situationslogik angenommenen Handlungsziele etwas mit den tatsächlichen
Motiven der handelnden Personen zu tun haben? Und selbst wenn er dies nicht
als relevantes Problem erachtet: Wie gelangt man durch situationslogische Ana-
lyse überhaupt zu irgendwelchen Handlungszielen?
An dieser Stelle tritt ein von Popper vielfach beschworenes, jedoch nicht
hinreichend expliziertes Rationalitätsprinzip auf den Plan; ein Prinzip, das im
Rahmen situationslogischer Analysen die Anwendung (empirisch-psychologi-
scher) Gesetzeshypothesen bei der Erklärung menschlichen Handelns ersetzen
soll und mit dem man anscheinend – um eine Polemik des Autors der „open so-
ciety“ gegen Hegels Dialektik aufzugreifen – „wirkliche, physische Kaninchen
aus rein metaphysischen Zylindern“ (1945: 36) hervorzaubern kann. Ein Zau-
bertrick scheint darin zu bestehen, daß Popper wiederum – vermutlich ohne be-
wußte Absicht – Begriffe mehrdeutig verwendet und einer Äquivokation erliegt:
Neben dem Situationsbegriff benutzt er auch den Begriff des Rationalitätsprin-
zips uneinheitlich.
Zunächst hält er dieses Prinzip für ein „almost empty principle“. Der zentrale
Punkt der Situationslogik sei „that we need [...] no more than the assumption
that the various persons or agents involved act adequately, or appropriately –
that is to say, in accordance with the situation“ (1963: 169).
Diese Annahme der Situationsadäquatheit des Handelns ist die erste Fas-
sung, die uns Popper als Rationalitätsprinzip präsentiert. (Nennen wir sie R1.)
Dieses Rationalitätsprinzip habe nichts gemein mit der empirischen oder
psychologischen Behauptung, der Mensch verhalte sich stets oder überwiegend
rational (vgl. 1963: 169). Vielmehr sei dieses Prinzip, das Popper auch als
„zero-principle“ bezeichnet, lediglich „a consequence of the methodological
postulate that we should pack or cram our whole theoretical effort, our whole
explanatory theory, into an analysis of the situation“ (ebd., H.i.O.). R1 wird
damit eingeführt als Nebenprodukt („by-product“) der methodologischen
Entscheidung, Handlungen mit Hilfe der Situation (S2) zu erklären. Als bloßes
Nebenprodukt eines methodologischen Postulates komme ihm nicht die Rolle
einer prüfbaren Hypothese zu (vgl. ebd.). 45

44
Manche Äußerungen Poppers scheinen demgegenüber darauf hinzudeuten, daß er den
tatsächlichen Motiven des Handelnden keinerlei Relevanz einräumt und es sogar in Abre-
de stellt, daß empirisch-psychologische Motivationsforschung situationslogische Hand-
lungserklärungen widerlegen kann (vgl. 1963: S. 182).
45
Dies kontert Michael Schmid mit der provokanten aber berechtigten Frage, ob Popper
nunmehr „den Grundsätzen seines Methodologischen Kritizismus abgeschworen hat, die
74 Zweiter Teil
Was ist nun von R1 zu halten? – Popper hat zweifellos recht, wenn er R1 als
„almost empty principle“ bezeichnet. Mehr noch: R1 hat keinerlei erkennbaren
argumentativen Nutzen. Die entscheidende Schwierigkeit der Popperschen Si-
tuationslogik besteht doch darin, ohne Zuhilfenahme empirisch-psychologischer
Forschung die Ziele des Handelnden zu bestimmen. Um hier Abhilfe zu schaf-
fen, hätte es eines Rationalitätsprinzips bedurft, das den Begriff der Situations-
adäquatheit inhaltlich ausfüllt, indem es a priori festlegt, an welchen Zielen sich
menschliches Handeln orientiert.46 Da sich Popper auf ein leeres Rationalitäts-
prinzip (R1) festlegt, löst er sein Problem nicht und argumentiert darüber hinaus
zirkulär: Das einzige, was die Poppersche Situationsanalyse an Zusatzannahmen
benötige, sei ein Rationalitätsprinzip. Doch dieses Rationalitätsprinzip verweist
wiederum nur darauf, daß man die Situation analysieren müsse, um zu erkennen,
daß die Handlung situationsadäquat sei. Wie man mittels der situationslogischen
Methode Handlungsziele eruieren kann, bleibt also weiterhin schleierhaft, und
auch der Hinweis auf die Situationsadäquatheit des Handelns erweist sich als
Leerformel.
Karl Popper steigert jedoch noch die Verwirrung des Lesers, indem er sich
gegen den möglichen Vorwurf, sein Rationalitätsprinzip gelte a priori, mit dem
überraschenden Argument verteidigt, das Prinzip sei „clearly false – even in its
weakest zero formulation“ (1963: 172). Und ein falsches Prinzip könne eben
nicht a priori gültig sein.47 – Wie kann, so fragt sich der frappierte Leser, ein in-
haltsleeres Prinzip wie R1 falsch sein? Auch Michael Schmid notiert verwun-
dert: „Natürlich ist fraglich, wie man zugleich die Falschheit und die Leerheit
einer Aussage behaupten kann“ (Schmid 1996: 127, FN 52). Aus Poppers Bei-
spielen geht jedoch hervor, daß es eigentlich gar nicht R1 ist, das er im Blick
hat, wenn er von der Falschheit des Rationalitätsprinzips spricht. Das einzige,
was Popper durch Beispiele belegt, ist, daß Menschen in bestimmten Situationen
(S1) nicht ‚rational‘ handeln. (Er nennt etwa die genervten Reaktionen von Au-
tofahrern unter den Bedingungen eines Verkehrsstaus.) Dieser Situationsbegriff

seiner Philosophie einen solch nachhaltigen Erfolg gebracht haben“ (Schmid 1996: 126).
Schmid ist jedoch „grundsätzlich nicht bereit, die konventionalistische Wende der Pop-
perschen Sozialphilosophie zu unterstützen“, denn dadurch würde „nicht nur jede einzel-
ne situationslogische Erklärung vor einer Widerlegung bewahrt und damit gegen Kritik
immunisiert, sondern [...] die Suche nach einer denkbaren Alternative zum situationslogi-
schen Erklärungsmodell wird per conventionem unmöglich“ (Schmid 1996: 132). Viktor
Vanberg scheint übrigens der erste Sozialwissenschaftler gewesen zu sein, der Poppers
Situationslogik kritisiert hat (vgl. Vanberg 1975: 109 ff.).
46
Selbstverständlich teile ich Poppers Ablehnung eines Prinzips, das eine Geltung a priori
beansprucht. Da er jedoch den Weg der empirischen Feststellung von Handlungszielen
ausschlägt, hätte er konsequenterweise eine Apriori-Position einnehmen müssen.
47
Popper zieht daraus übrigens die Folgerung, daß auch alle situationslogischen Erklä-
rungen falsch sein müssen, da sie ja mit dem Rationalitätsprinzip verknüpft sind, das
falsch sei. Er meint, dieses Problem lösen zu können, indem er behauptet, situationslogi-
sche Erklärungen seien zwar falsch, aber gute Annäherungen an die Wahrheit.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 75
S1 hat aber nichts mit der Konzeption von Situationslogik zu tun, um das es hier
geht: Da zur Situation (S2) auch sämtliche handlungsrelevante Dispositionen
gehören – wir erinnern uns: Popper schließt sogar die „aims“ und „convictions“
eines Psychopathen („madman“) in S2 ein –, können problemlos selbst die
Streßreaktionen gereizter Autofahrer als ‚situationsadäquat‘ im Sinne von S2
gedeutet werden!48 Wenn er dennoch aus seinen Beispielen ableitet, „that we do
not always act in accordance with the rationality principle“, geht er nicht allein
von einem anderen Situationsbegriff, sondern auch von einem anderen Begriff
von Rationalitätsprinzip aus, und zwar versteht er Rationalität nun doch in dem
gehaltvolleren Sinn, in dem üblicherweise von rationalen oder irrationalen Reak-
tionen, Handlungen, Überzeugungen etc. die Rede ist. Popper widerlegt mit sei-
nen Beispielen lediglich ein Rationalitätsprinzip (R2), das er ohnehin nicht als
Grundlage der Situationslogik akzeptiert hat: „the [...] psychological assertion
that man always, or in the main, or in most cases, acts rationally“ (1963: 169),
eine Annahme, die er seit den ersten Ausführungen zum Thema (in der „offenen
Gesellschaft“) als einen Teil jenes Psychologismus perhorresziert, der das Han-
deln auf Bedingungen der menschlichen Natur zurückführe.
Es bleibt festzuhalten: Das der Situationslogik zugrunde gelegte Rationali-
tätsprinzip (R1) ist keineswegs falsch, wie Popper glaubte, wohl aber inhaltsleer.
Deshalb kann es nicht dazu dienen, näher zu bestimmen, welche Handlungen
situationsadäquat sind49 bzw. welche Ziele ein Handelnder verfolgt. Das Ver-
hältnis zwischen den im Rahmen der Situationslogik unterstellten Handlungszie-
len und den faktischen Motiven des Handelnden ist völlig ungeklärt.50
Warum gerade Popper, der Begründer des deduktiv-nomologischen Modells
der kausalen Erklärung (vgl. Popper 1934: 31 f.), eine hermeneutische Konzep-
tion vertritt, in der empirisch gehaltvolle Gesetzeshypothesen beim Verstehen
und Erklären menschlicher Handlungen keine Rolle spielen, kann schwer nach-
vollzogen werden.51 Wer an der Wissenschaftstheorie des kritischen Rationa-
lismus festhalten möchte, wird ihm hierin nicht folgen können.

48
Hierbei handelt es sich natürlich wieder um analytische Aussagen, die zwar notwendig
wahr sind, aber keinen Informationsgehalt besitzen.
49
Genauer gesagt: Es schließt aus der Menge aller möglichen Handlungen keine Hand-
lung als situationsinadäquat aus.
50
Popper führt zwar eine Unterscheidung ein zwischen „(1) The situation as it actually
was“, „(2) The situation as the agent actually saw it“ und „(3) The situation as the agent
could (within the objective situation) have seen it, and perhaps ought to have seen it.“
(1963: 183). Das entscheidende Problem, wie die jeweiligen ‚Situationen‘ nebst den zu-
gehörigen Handlungszielen im Rahmen der Situationslogik zu ermitteln sind, wird aller-
dings nicht einmal ansatzweise gelöst.
51
Michael Schmid hat auf diesen merkwürdigen Umstand bereits 1979 hingewiesen (vgl.
Schmid 1979: 7) und in diesem Zusammenhang für nomologische Handlungserklärungen
und gegen Poppers Rationalitätsprinzip Stellung bezogen (vgl. Schmid 1979: 16 ff.).
Auch Hans Albert hat sich in einer neueren Arbeit von Poppers Situationslogik und dem
in ihr enthaltenen Rationalitätsprinzip ausdrücklich distanziert: „Im Übrigen ist die Zu-
76 Zweiter Teil
2.6 Die ‚Drei-Welten‘-Ontologie und das objektive Verstehen –
die dritte Konzeption der Situationslogik

In seinem Spätwerk verknüpft Karl Popper die zweite Konzeption der Situati-
onslogik mit der Ontologie der drei Welten. Durch die Einführung einer dritten
Welt objektiver Gedankeninhalte („objektiver Geist“) sollen der Gegenstand
und sogar der Akt des Verstehens weiter ‚objektiviert‘ werden. Im Zuge dieses
verschärften Kampfes gegen Psychologismus und Subjektivismus modifiziert
Popper seine Situationslogik erneut erheblich, so daß man von einer dritten
Konzeption sprechen muß.
Erkenntnisgegenstand des ‚objektiven Verstehens‘ sind nicht mehr einzelne
Handlungen, sondern „Welt-3-Problemsituationen“. Und sogar der Akt des Ver-
stehens habe mehr mit der Welt 3 des „objektiven Geistes“ als mit der Welt 2
subjektiver Bewußtseinszustände zu tun.
In seinem Aufsatz „Zur Theorie des objektiven Geistes“ (1968) hat Popper
die Situationslogik als objektiv-verstehende Methode ausdrücklich mit seiner
Drei-Welten-Ontologie in Verbindung gebracht. Die Einfühlungs- bzw. Nacher-
lebens-Hermeneutik, welche nun als „Welt-2-Methode“ bezeichnet wird, liefert
das Gegenmodell, vor dem sich die nunmehr „Welt-3-Methode“ genannte Situa-
tionslogik vorteilhaft abheben soll: „[Ich versuche,] die Überlegenheit der Welt-
3-Methode der kritischen Rekonstruktion von Problemsituationen über die Welt-
2-Methode des intuitiven Nachvollziehens persönlicher Erfahrungen zu zeigen
[...]“ (1968: 176).
Bereits bekannte Thesen über die Eigenart des objektiven Verstehens er-
scheinen nun in ontologischem Gewand: Gegenstände und Resultate des Ver-
stehens bzw. Interpretierens seien nicht Welt-2-Zustände (Bewußtseinszustände)
sondern Welt-3-Objekte (vgl. 1968: 167 f.). Und selbst der Akt des Verstehens
respektive Interpretierens habe mehr mit Welt 3 zu tun als mit Welt 2, denn es
gehe dabei stets um Welt-3-Objekte, etwa kritische Argumente:

„Aber auch der subjektive Akt oder Dispositionszustand des ‚Verstehens‘ selbst kann
nur durch eine Verbindung mit Gegenständen der Welt 3 verstanden werden. Ich be-
haupte nämlich folgende drei Thesen für den subjektiven Akt des Verstehens:
1. Jeder subjektive Verstehensakt ist weitgehend in der Welt 3 verankert.
2. Fast alles Wesentliche, was über einen derartigen Akt zu sagen ist, betrifft seine
Beziehungen zu Gegenständen der Welt 3.
3.Ein solcher Akt besteht im wesentlichen aus Operationen mit Gegenständen
der Welt 3: Wir gehen mit ihnen fast wie mit materiellen Gegenständen um“
(1968: 169).

rückweisung der Verwertung psychologischer Annahmen in sozialwissenschaftlichen


Erklärungen, die Popper mit seiner Verwendung dieses Prinzips verbindet, meines Erach-
tens kaum mit seiner allgemeinen methodologischen Auffassung vereinbar“ (Albert 2003:
34).
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 77
Die ‚Gegenstände‘ der Welt 3 sind Elemente von Problemsituationen, dazu
gehören ein oder mehrere Probleme, Theorien sowie Hintergrundwissen (vgl.
1968: 178). Diese Welt-3-Problemsituationen bilden nunmehr den zentralen Er-
kenntnisgegenstand des objektiven Verstehens; Ziel des Verfahrens ist ihre ra-
tionale Rekonstruktion.
Bislang war das Erklären und Verstehen von menschlichen Handlungen das
Ziel der situationslogischen Methode. Mit der Festlegung auf Welt-3-Problem-
situationen liegt nun eine dritte Verstehenskonzeption vor. Allerdings geht Pop-
per davon aus, die „idealisierte Rekonstruktion der Problemsituation [...], in der
sich der Handelnde befand“, trage dazu bei, „die Handlung ‚verstehbar‘ (oder
‚rational verstehbar‘) zu machen“ (1968: 185, H.i.O.).
Popper benutzt im Rahmen seiner dritten Verstehenskonzeption einen erwei-
terten Objektivitätsbegriff, indem er unter „Objektivität“ die Eliminierung sämt-
licher psychologischer Faktoren sowie die Konzentration auf „Welt-3-
Gegenstände“ versteht. Popper verwendet also in seinen Ausführungen zur Ver-
stehensproblematik implizit einen Objektivitätsbegriff, der Objektivität gleich-
setzt mit der Ausschaltung des ‚Subjektiven‘ in jeglicher Form. Nur so ist zu
verstehen, daß er die Verbindung der Situationslogik mit seiner Theorie des ob-
jektiven Geistes (Welt 3) überhaupt als methodologischen Fortschritt verbuchen
kann: Wenn selbst der Gegenstand sowie der Akt des Verstehens als etwas
Nicht-Subjektives begriffen werden können, so sei ein weiterer wichtiger Schritt
auf dem Wege der ‚Objektivierung‘ gelungen.
Allerdings hat diese Gleichsetzung von Objektivität mit Nicht-Subjektivität
nichts zu tun mit dem für die kritisch-rationale Wissenschaftstheorie zentralen
Objektivitätsbegriff: der intersubjektiven Nachprüfbarkeit von Hypothesen und
Theorien (vgl. Popper 1934: 18). Sofern diese Prüfbarkeit gegeben ist, besteht
keinerlei Veranlassung, psychologische Hypothesen, die Aussagen über subjek-
tive Dispositionen des Handelnden – seine Intentionen, Motive, Überzeugungen
etc. – machen, als nicht-objektivitätsfähig zu diskreditieren.52 Popper hätte viel-
mehr zeigen müssen, warum seiner Ansicht nach Hypothesen dieser Art nicht
prüfbar sind. Weiterhin hätte er eine Alternative anbieten müssen, wie die realen
Handlungsziele der Akteure zu ermitteln wären. Beides geschieht jedoch nicht.
Die Situationslogik führt auch im Rahmen der Drei-Welten-Ontologie zu keiner
Verbesserung der Prüfbarkeit interpretativer Hypothesen. Statt dessen belastet
Popper seine Methode der rationalen Rekonstruktion zusätzlich mit fragwürdi-
gen metaphysischen Annahmen über die Autonomie einer Welt des objektiven
Geistes.53

52
Meines Erachtens bestehen hier keine grundsätzlichen Schwierigkeiten: Sobald ein ge-
setzmäßiger Zusammenhang zwischen beobachtbaren Phänomenen (Verhalten und
verbale Äußerungen bestimmter Art) und psychischen Dispositionen angenommen wird,
sind psychologische Hypothesen einer empirischen Prüfung zugänglich.
53
Zur Kritik der Drei-Welten-Ontologie vgl. etwa Keuth 1978: 174 ff. sowie Keuth 2000:
358 ff.
78 Zweiter Teil
Die situationslogische Methode soll psychologische Handlungserklärungen
durch logische Analyse ersetzen. Dies bedeutet aber die Preisgabe des empiri-
schen Charakters einer auf die Situationslogik verpflichteten Sozialwissenschaft.
Während Poppers Begriff der Situationslogik zunächst als Metapher für eine
empirische Methode der Geistes- und Sozialwissenschaften verstanden werden
konnte, soll es sich hierbei nun ausdrücklich um eine logische Analyse der Be-
ziehungen von Welt-3-Objekten handeln:

„Anstelle von psychologischen Erklärungsprinzipien benutzen wir Welt-3-


Betrachtungen, die hauptsächlich logischen Charakter haben; und meine These ist,
daß das historische Verstehen durch solche Analysen gefördert wird“ (1968: 184, H.
v. J.M.B.).

Auch an anderer Stelle (vgl. 1970: 189) behauptet Popper, seine Methode
der Situationsanalyse ersetze psychologisierende Erklärungen durch die Unter-
suchung „logischer Beziehungen“. Bekanntlich besteht die formale Logik nun
aber aus tautologischen Umformungen. Poppers Erklärung, die Situationslogik
sei hauptsächlich logische Analyse (im wörtlichen Sinne), bedeutet somit das
Eingeständnis, daß die Situationslogik keine empirische Methode darstellt. Al-
lerdings geht das, was Popper unter einer Analyse von Welt-3-Problem-
situationen versteht, über die Anwendung formal-logischer Operationen weit
hinaus. Der epistemologische Status der Popperschen Situationsanalyse wird
durch die Einbeziehung der Drei-Welten-Ontologie keineswegs klarer.

2.7 Die Anwendung der Situationslogik und


Poppers Interpretationspraxis

2.7.1 Das Fallbeispiel: Galileis Theorie der Gezeiten

Das einzige ausführliche Fallbeispiel für Poppers praktische Anwendung seiner


situationslogischen Methode bezieht sich interessanterweise auf das problemlö-
sende Handeln54 eines Wissenschaftlers: auf die Problemsituation Galileis im
Zusammenhang mit der Entwicklung seiner Theorie der Gezeiten. Dieses Fall-
beispiel findet sich bereits innerhalb der „Theorie des objektiven Geistes“ (vgl.
1968: 176 ff.), wird aber in einem eigenen Beitrag „Eine objektive Theorie des
historischen Verstehens“ (1970) noch einmal ausgeführt.
Die Behandlung des Fallbeispiels macht offenkundig, daß das Ziel der Pop-
perschen Rekonstruktionsmethode hauptsächlich darin besteht, das Handeln Ga-
lileis als ‚situationsadäquat‘ zu rechtfertigen. Hierin zeigt sich eine apologeti-
sche und immunisierende Tendenz, die in der Konsequenz der Anwendung ei-

54
Diese Tatsache macht deutlich, wie stark Poppers Handlungstheorie auf problemlösen-
des Verhalten, besonders auf wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung, fixiert ist.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 79
nes (inhaltsleeren) Rationalitätsprinzips liegt, mit dessen Hilfe sich beliebige
Handlungen als ‚situationsgerecht‘ deuten lassen.
Ausgangspunkt von Poppers Verteidigung Galileis ist die Feststellung, ver-
schiedene Historiker hätten Galilei ein dogmatisches Festhalten an theoretischen
Positionen vorgeworfen, von denen er habe wissen können, daß sie falsch sind
(vgl. 1970: 185, 188). Popper hält solche psychologischen Annahmen, die Gali-
leis Verhalten durch andere als rein wissenschaftliche Beweggründe erklären,
für unangemessen. Statt nun aber der Frage nachzugehen, welche Motive Galilei
tatsächlich hatte, rekonstruiert er eine Problemsituation, die Galileis Verhalten
als ‚rational‘ gerechtfertigt erscheinen lassen soll:

„Was ich die Problemsituation nenne, stellt sich daher als ein Komplex heraus: Die
Problemsituation enthält das Gezeitenproblem, aber in der spezifischen Rolle eines
Prüfsteines der kopernikanischen Theorie. Aber auch das genügt noch nicht zum Ver-
ständnis von Galileis Problemsituation“ (1970: 187).

Was muß also noch hinzukommen, um das Festhalten des „echten Kosmo-
logen und Theoretikers“ (ebd.) Galilei an einer Theorie zu rechtfertigen, von der
er offenbar hätte wissen können, daß sie falsch ist? – Der entscheidende Recht-
fertigungsgrund für Galileis Verhalten scheint die von Popper angeführte me-
thodologische Regel zu sein, an Theorien möglichst lange festzuhalten, um
festzustellen, was sie zu leisten in der Lage sind. (In diesem Kontext wiederholt
er auffallend häufig Wendungen wie „er war methodisch völlig im Recht“, „und
er war darin gerechtfertigt“, „Galilei war völlig im Recht“, „Galilei ging völlig
richtig vor“ (1970: 187 f.). Das ist umso erstaunlicher, da doch Popper sich
selbst das Verdienst zuspricht, das bislang in Philosophie und Wissenschaft vor-
herrschende Begründungs- und Rechtfertigungsdenken durch die Methode der
kritischen Prüfung abgelöst zu haben (vgl. etwa 1976: 60).
Hat Popper nun mit Hilfe seiner Rekonstruktion der Galileischen Problemsi-
tuation dessen Festhalten an bestimmten (falschen) Annahmen erfolgreich legi-
timiert? – Der diesbezügliche Erfolg seiner Methode muß bezweifelt werden,
denn zum einen bleibt das Verhältnis der ‚rekonstruierten‘ zu der von Galilei
selbst wahrgenommenen Problemsituation ungeklärt. Popper macht, getreu sei-
nen situationslogischen Grundsätzen, nicht einmal den Versuch, anhand histori-
scher Quellen die tatsächlichen Intentionen Galileis herauszufinden. So spielt es
für Popper auch keine Rolle, ob die methodologische Regel, die zur Rechtferti-
gung des Festhaltens an zweifelhaften Theorien angeführt wird, von Galilei
überhaupt akzeptiert wurde, geschweige denn: ob sie dessen Verhalten motivier-
te. Zum anderen kann mittels solcher ‚Rekonstruktionen‘ ohne weiteres jedes
beliebige Festhalten an zweifelhaften Theorien gerechtfertigt werden.55 Man

55
Man könnte ohne Schwierigkeiten etwa Sigmund Freuds ‚Problemsituation‘ so rekon-
struieren, daß sein Festhalten an der fragwürdigen Libidotheorie gerechtfertigt wird. Daß
Freud, im Gegensatz zu Galilei, nicht die Gnade situationslogischer Rechtfertigung
80 Zweiter Teil
muß lediglich Poppers Vorgehen folgen, die Problemsituation so darzustellen,
daß das inkriminierte Verhalten als situationsadäquat erscheint – ohne sich wei-
ter um die faktischen Beweggründe der handelnden Personen zu kümmern und
ohne die reale historische Problemsituation in langwieriger empirischer For-
schungsarbeit zu rekonstruieren!
Poppers Fallbeispiel für die Anwendung der Situationslogik, die Analyse
von Galileis Theorie der Gezeiten, macht somit die apologetische Tendenz der
situationslogischen Methode deutlich: Jede Handlung kann prinzipiell mit Hilfe
derartiger „idealisierter Rekonstruktionen“ als ‚situationsgerecht‘ gedeutet wer-
den.

2.7.2 Situationslogik und Nachvollzugs-Hermeneutik


im Vergleich

Bei der Untersuchung der zweiten und dritten Konzeption der Situationslogik
sind wir auf die Problematik des Rationalitätsprinzips (R1) gestoßen. Statt die
realen Dispositionen des Handelnden empirisch zu ermitteln, wendet Popper
weitreichende Rationalitätsunterstellungen an. Es stellt sich die Frage, ob er auf
diese Weise den mit der Situationslogik verbundenen Erkenntnisanspruch erfül-
len kann. Sind im Vergleich mit der Einfühlungs-Hermeneutik, deren Ablösung
Popper vor allem intendierte, Vorteile der situationslogischen Methode erkenn-
bar? – Erinnern wir uns an den mit der Situationslogik verknüpften Erkenntnis-
anspruch: „Die These, die ich hier unterbreiten wollte, möchte ich abschließend
folgendermaßen zusammenfassen: Die Theorie des Verstehens muß ihre psy-
chologisierende Methode aufgeben und auf einer Theorie der Welt 3 aufgebaut
werden. [Fußnote:] Damit wird die sogenannte ‚Hermeneutik‘ überflüssig, be-
ziehungsweise radikal vereinfacht“ (1970: 189). Es hat sich indes gezeigt, daß
Popper für die angestrebte Eliminierung sämtlicher psychologischen Bezüge
einen hohen Preis zahlen mußte: den Preis einer weitgehenden Analytizität sei-
ner situationslogischen Methode, welche jedes beliebige Verhalten als situati-
onsadäquat rechtfertigen kann.
Poppers Anspruch, die Hermeneutik durch ein objektiv-verstehendes Ver-
fahren abgelöst zu haben, muß vor diesem Hintergrund als unangemessen zu-
rückgewiesen werden. – Doch wenn er schon nicht die Hermeneutik generell
überflüssig gemacht hat, so könnte ja immerhin ein Vorzug seiner situationslo-
gischen Methode beim direkten Vergleich mit der von ihm primär bekämpften
Einfühlungs-Hermeneutik erkennbar sein.
Neben Dilthey, der nur kurz angesprochen wird, erwähnt Popper als wich-
tigsten Gewährsmann der Hermeneutik den Historiker und Philosophen R.G.

zuteil wird, sondern Popper der Psychoanalyse pauschal Dogmatismus unterstellt, scheint
auf persönliche Sympathien und Antipathien zurückzuführen zu sein.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 81
Collingwood und diskutiert dessen „These, das historische Verstehen des Histo-
rikers bestehe in seinem Nachvollzug vergangener Erlebnisse“ (1968: 193).
Popper selbst nennt einen konkreten Vorteil, welcher der Situationslogik ge-
genüber der Methode der Einfühlung zukomme: Der Historiker, der die Metho-
de des subjektiv-nachvollziehenden Verstehens anwende, müsse in bestimmten
Fällen kapitulieren, die jedoch mit Hilfe der Situationslogik problemlos behan-
delt werden könnten. Man könne nicht „von dem Historiker verlangen, daß er
die Fähigkeiten von Caesar, Cicero, Catull und Theodosius in sich vereinigt.
Kein Kunsthistoriker kann ein Rembrandt sein; und nur wenige würden ein gro-
ßes Meisterwerk auch nur kopieren können“ (1968: 195). Diesem Argument
könnte ein Vertreter der Nachvollzugs-Hermeneutik entgegnen, daß es auf der
Seite des Interpreten nicht darauf ankomme, die entsprechenden Fähigkeiten,
Gefühle und Charaktereigenschaften in genau demselben Maße zu besitzen wie
die Person, deren Handeln es zu deuten gilt. Vielmehr reiche es aus, über solche
psychischen Dispositionen zumindest ansatzweise zu verfügen, wenn auch nicht
in derselben Quantität. Als Beispiel verweist Popper auf Akte ungeheurer Grau-
samkeit, in die man sich nicht einfühlen könne (vgl. ebd.). Ein Verfechter der
Nachvollzugs-Hermeneutik könnte dem problemlos entgegenhalten, daß je-
mand, der solche Akte ungeheurer Grausamkeit verstehen wolle, zwar nicht
selbst ebenso grausam sein, aber immerhin eine begrenzte Fähigkeit besitzen
müsse, derartige Gefühlsregungen nachzuvollziehen – und dies sei aufgrund der
Universalität der menschlichen Natur ohne weiteres für jeden gegeben.56
Worin soll nun aber in solchen Fällen, in denen vermeintlich oder tatsächlich
eine Unmöglichkeit subjektiven Nachvollzugs besteht, ein Vorzug der Popper-
schen Situationslogik liegen? Popper meint, man könne sich in Fälle ungeheurer
Grausamkeit zwar nicht einfühlen, aber sie dennoch durch das objektive Verste-
hen als situationsgerechte Handlungen rekonstruieren (vgl. ebd.). Es verwundert
in der Tat nicht, wenn die Anwendung der Situationslogik zu dem Ergebnis
kommt, auch Akte ungeheurer Grausamkeit als situationsangemessen herauszu-
stellen. Wie sollte sie auch nicht? Schließlich führt die Anwendung des inhalts-
leeren Rationalitätsprinzips (R1) in Verbindung mit dem erweiterten Situations-
begriff (S2) mit Notwendigkeit zur Verleihung des Prädikats „situationsgerecht“
an beliebige Handlungen: So gehört es zweifellos zur Situation (S2) des römi-
schen Kaisers Caligula, bestimmte Ziele zu verfolgen, zu deren Realisierung
Akte ungeheurer Grausamkeit adäquat sind – mag es sich hierbei auch lediglich
um das Ziel abwechslungsreicher Unterhaltung und vergnüglichen Zeitvertreibs
handeln.

56
Die häufig wiederholte Behauptung, bestimmte moralisch verwerfliche Handlungen
seien völlig ‚unverständlich‘, beruht bekanntlich in der Regel nicht auf kognitiven Re-
striktionen oder einer prinzipiellen Begrenzung des psychologischen Nachvollzugs, son-
dern auf normativen Einschränkungen. Das Nicht-Verstehen-Können soll in diesen Fällen
einfach nur Mißbilligung ausdrücken.
82 Zweiter Teil
Daß sich die situationslogische Methode auf beliebige Handlungen anwen-
den läßt und stets zu dem Ergebnis kommt, daß sie situationsangemessen sind,
zeichnet die Situationslogik allerdings nicht positiv gegenüber der Nachvoll-
zugs-Hermeneutik aus. Ganz im Gegenteil: Der von Popper zitierte Colling-
wood berücksichtigt die Notwendigkeit einer Rekonstruktion von Entschei-
dungssituationen ebenso. Während aber die Situationslogik von einem un-
zweckmäßigen Situations-Begriff ausgeht, legt Collingwood sinnvollerweise
Wert darauf, die Situation so zu rekonstruieren, wie sie sich aus der Perspektive
des Handelnden ausnahm; der Historiker müsse „die Situation betrachten, mit
der der Kaiser fertigzuwerden versuchte, und zwar so, wie sie dem Kaiser er-
schien“ (zitiert nach Popper 1968: 194). Zu rekonstruieren, wie die Entschei-
dungssituation aus der Perspektive des Handelnden aussah, setzt nun aber empi-
risch-psychologische Hypothesen beispielsweise über die Ziele/Absichten und
das tatsächlich verfügbare Wissen des Handelnden voraus.

2.7.3 Karl Poppers Interpretationspraxis

Gegenstand der Darstellung und Kritik waren bislang Poppers theoretische Aus-
führungen zum objektiven Verstehen sowie sein einziges diesbezügliches Fall-
beispiel. In diesem Abschnitt möchte ich nachweisen, daß Popper in seiner Pra-
xis des Interpretierens eine ganz andere Methode benutzt als die propagierte, und
zwar die Methode der Aufstellung von empirisch-psychologischen Hypothesen
über Absichten und Motive von Autoren bzw. Handelnden. Damit soll nicht ge-
sagt werden, daß Popper insgeheim ein Anhänger der von ihm bekämpften
Nachvollzugs-Hermeneutik gewesen ist. Wie Popper zu den psychologischen
Hypothesen über Absichten und Motive gelangte, durch subjektiven Nachvoll-
zug bzw. Einfühlung oder durch einen anderen Vorgang, spielt in diesem Zu-
sammenhang keine Rolle. Viel wichtiger ist es, daß er in seiner Interpretations-
praxis solche Annahmen über Absichten und Motive als psychologische Hypo-
thesen vorbringt und mit ihrer Hilfe hypothetisch-deduktive Erklärungen von
Handlungen und sogar von philosophischen Ideen sowie Traditionen vornimmt,
ganz ohne Situationslogik und das mit ihr verbundene analytische Rationalitäts-
prinzip.
Bereits bei einem von Popper als weiteres Exempel für die Anwendung der
Situationslogik gedachten Übersetzungs- und Interpretationsbeispiel, das in ei-
ner Fußnote abgehandelt wird, ist von einer Situationslogik nichts mehr zu er-
kennen. Popper leitet die Fußnote ein mit den Worten: „Neben der oben disku-
tierten Gezeitentheorie Galileis und seiner Beziehung zu Kepler mag hier noch
ein anderes Beispiel für eine Interpretation erwähnenswert sein.“ (1968: 195)
Was er im Anschluß daran präsentiert, ist jedoch nichts anderes als eine Kritik
einer Übersetzung aus dem Lateinischen aufgrund einer Vermutung, was der
Autor tatsächlich sagen wollte. Popper ersetzt eine etwas blumige und ungenaue
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 83
Übersetzung eines Satzes von Francis Bacon durch eine Übersetzung, die dem
entspricht, was Bacon meinte und zieht danach die Schlußfolgerung:

„Wie man aus Rankes falscher Übersetzung des einfachen lateinischen Textes von
Bacon ersieht, ist die Interpretation (Hermeneutik) von Texten, die ja zur Geschichts-
schreibung gehört, fast so risikoreich wie die Interpretation der Natur. Es ist ein Ge-
biet, auf dem wir mit Vermutungen und Widerlegungen arbeiten müssen: das heißt,
wir müssen versuchen, unsere Vermutungen zu widerlegen, bis sie ganz in den Kon-
text der Problemsituation hineinpassen, das Willkürliche abgestreift haben und so et-
was wie ein Maximum an Erklärungskraft für das erreichen, was der Verfasser sagen
wollte“ (1968: 197, H.i.O.).

Die Übersetzung eines Wortes gemäß der vom Verfasser intendierten Be-
deutung hat nun aber gar nichts mehr mit der ‚Logik‘ von Situationen zu tun.
Vielmehr bildet der Übersetzer bzw. Interpret aufgrund aller relevanten Textstel-
len eine Hypothese darüber, was der Autor jeweils sagen wollte, und diese Au-
torintention ist zweifellos zunächst einmal ein psychischer Zustand (ein Gegen-
stand der „Welt 2“ in Poppers Terminologie). Entsprechend ist die Hypothese
über die Absicht des Autors eine psychologische Hypothese, und zwar eine An-
nahme, die man prüfen und die sich als falsch herausstellen kann, wie Popper
selbst demonstriert, indem er eine Übersetzung vorschlägt, die der Absicht des
Autors besser entspricht. An dem Sachverhalt, daß wir eine Hypothese über die
tatsächlichen Absichten des Autors bilden, ändert sich nichts dadurch, daß wir
nicht mehr von Absichten sprechen, sondern statt dessen von „Zielen“ und
„Problemsituationen“, denn die Kenntnis solcher „Welt-3-Gegenstände“ – so-
fern man Poppers ontologische These einer Welt objektiver Gedankeninhalte
überhaupt akzeptiert – läßt sich nur ableiten aus unserer Kenntnis der realen Ab-
sichten und Motive.
Daß Popper in der Praxis des Interpretierens psychologische (und sogar tie-
fenpsychologische) Hypothesen verwendet, geht aus zentralen Passagen der „of-
fenen Gesellschaft“ hervor. Popper unternimmt in der „offenen Gesellschaft“
nichts Geringeres als eine sozialpsychologische Erklärung der Ideengeschichte
von Heraklit und Platon über Hegel bis hin zu den totalitären Bewegungen des
20. Jahrhunderts. Am Beispiel Heraklits läßt sich Poppers sozialpsychologische
Erklärung und die damit zusammenhängende Methode der Interpretation philo-
sophischer Werke prägnant aufzeigen.
Heraklit sei der Philosoph gewesen, der die Idee der Veränderung entdeckt
habe, er habe die Auffassung eingeführt, daß es keine stabile Weltordnung gebe
und damit einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie
ausgeübt:

„Man kann die philosophischen Systeme des Parmenides, Demokrit, Platon und Ari-
stoteles allesamt sehr angemessen als Versuche bezeichnen, die Probleme dieser
wechselnden Welt, die Heraklit entdeckt hatte, zu lösen. Die Größe dieser Entdek-
kung läßt sich schwerlich überschätzen. Sie wurde erschreckend genannt, und ihre
84 Zweiter Teil
Wirkung wurde mit der eines ‚Erdbebens’ verglichen, in dem ‚alles ... zu wanken
scheint’. Und für mich besteht kein Zweifel, daß sich diese Entdeckung Heraklit
durch erschütternde persönliche Erfahrungen enthüllte, unter denen er infolge der so-
zialen und politischen Wirren seiner Tage litt. Heraklit, der erste Philosoph, der sich
nicht nur mit der ‚Natur’, sondern in weit größerem Maße mit ethisch-politischen
Problemen beschäftigte, lebte in einem Zeitalter sozialer Revolutionen. In seiner Zeit
begannen die griechischen Stammesaristokratien der neuen Kraft der Demokratie zu
weichen“ (1945: 36).

Heraklits Idee der Veränderung wird schon hier auf „erschütternde persönli-
che Erfahrungen“ zurückgeführt, die offenbar mit der Auflösung der griechi-
schen Stammesaristokratie zu tun haben, in der bislang „das soziale Leben [...]
durch soziale und religiöse Tabus bestimmt [wird]; jedermann hat seinen vorbe-
stimmten Platz innerhalb des Ganzen der sozialen Struktur; jedermann fühlt, daß
sein Platz der richtige, der natürliche Platz ist“ (ebd.). Doch Popper erkennt noch
einen spezifischeren Zusammenhang zwischen Heraklits Philosophie und dem
Zerfall der überkommenen Sozialordnung. Heraklit sei als führender Aristokrat
von den politischen Veränderungen besonders betroffen gewesen und habe sie
als einen Niedergang erlebt, was sich in seiner politischen Philosophie wider-
spiegele:

„Der Tradition gemäß war Heraklits eigener Platz der des Hauptes der königlichen
Familie der Priesterkönige von Ephesos; er verzichtete aber zugunsten seines Bruders
auf seine Ansprüche. Trotz seiner stolzen Weigerung, am politischen Leben seiner
Stadt teilzunehmen, unterstützte er die Sache der Aristokraten, die sich vergeblich der
steigenden Flut der neuen revolutionären Kräfte entgegenzustemmen versuchten.
Diese Erfahrungen im sozialen und politischen Bereich spiegeln sich in den erhalte-
nen Fragmenten seines Werkes“ (1945: 36).

Hierbei handelt es sich ganz offensichtlich um eine sozialpsychologische


Erklärung bestimmter Aspekte der Philosophie Heraklits, wobei sowohl dessen
soziale Herkunft, gesellschaftliche Veränderungen als auch emotionale Reaktio-
nen auf diese Veränderungen als Bestandteile des Explanans angesehen werden.
Popper beschreibt aber noch genauer, wie sich Heraklits soziale Herkunft auf
seine politische Philosophie ausgewirkt hat. Er führt verschiedene Beispiele für
Heraklits „konservative[.] und antidemokratische[.] Gesinnung“ (1945: 37) an,
etwa schriftliche Äußerungen als Reaktion auf konkrete Ereignisse, beispiels-
weise anläßlich der Verbannung eines seiner aristokratischen Freunde. Daneben
ließen sich auch grundsätzliche politisch-anthropologische Aussagen auf seine
soziale Herkunft zurückführen, beispielsweise generelle Vorurteile gegenüber
dem einfachen Volk. Der (letztlich erfolglose) Einsatz für die überkommene
Ordnung habe jedoch nicht allein Heraklits politische Ansichten geprägt, son-
dern auch seine Theorie der Veränderung:
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 85
„Aber der Kampf, den Heraklit für die alten Gesetze seiner Stadt führte, war vergeb-
lich, und die Vergänglichkeit aller Dinge machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Die-
ses Gefühl spiegelt sich in seiner Theorie der Veränderung: ‚Alles fließt’, so sagt er,
und ‚man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen.’ Enttäuscht argumentiert er
gegen den Glauben, daß die bestehende soziale Ordnung ewig währen werde: ‚Wir
dürfen nicht handeln und reden wie die Kinder, die nach dem beschränkten Grundsatz
großgezogen wurden: Wie es uns überliefert ward’“ (1945: 37).

Neben der Tatsache der Veränderung entdeckt Heraklit aber auch eine Kon-
stanz innerhalb der Prozesse, „ein Gesetz, ein Maß, eine Vernunft, eine Weis-
heit; und nachdem er den Kosmos als Gebäude zerstört und ihn einen Misthau-
fen genannt hat, führt er ihn als die vorausbestimmte Ordnung der Ereignisse im
Weltprozeß wieder ein. Jeder Prozeß in der Welt, insbesondere das Feuer selbst,
entwickelt sich nach einem wohlbestimmten Gesetz, seinem ‚Maß‘. Dieses Ge-
setz ist unerbittlich und unwiderstehlich“ (1945: 38 f.). Dieses Gesetz nennt
Popper das „historizistische Schicksalsgesetz“, und er fragt sich, wie es kommt,
daß Historizisten, d.h. Anhänger des Glaubens an unerbittliche Gesetze der Ge-
schichte, die Idee der Veränderung mit der Vorstellung eines Schicksalsgesetzes
verknüpfen. Auch hier ergibt sich die Notwendigkeit einer Erklärung. Diesmal
wählt Popper eine tiefenpsychologische Erklärung:

„Dieser Glaube [an die Veränderung, verbunden mit einem Schicksalsgesetz] ist ein
Ausdruck für eine Haltung, die für die meisten, wenn nicht für alle Historizisten cha-
rakteristisch ist. Auf den ersten Blick scheint diese Haltung dem Nachdruck zu wider-
sprechen, mit dem die Historizisten die Bedeutung der Veränderung hervorheben.
Aber dies läßt sich vielleicht erklären, wenn wir annehmen, daß alle Historizisten der
Idee der Veränderung einen unbewußten Widerstand entgegensetzen; ihre übermäßi-
ge Betonung der Veränderung wäre dann ein Symptom der Anstrengung, die sie auf-
zuwenden haben, um diesen Widerstand zu überwinden. So wäre auch die emotionale
Spannung erklärt, aus der heraus viele Historizisten (auch heute noch) sich gebärden,
als hätten sie etwas ganz Neues und nie vorher Bemerktes entdeckt. Dies legt den
Gedanken nahe, daß diese Historizisten die Veränderung fürchten und daß sie die
Idee der Veränderung nicht ohne schwere innere Kämpfe akzeptieren können. Oft
scheint es, als versuchten sie sich über den Verlust einer stabilen Welt zu trösten, in-
dem sie an der Annahme eines unveränderlichen Gesetzes festhalten, das die Verän-
derung beherrscht. (Bei Parmenides und Platon stoßen wir sogar auf die Lehre, daß
die wechselnde Welt, in der wir leben, eine bloße Täuschung ist und daß eine in hö-
herem Grade wirkliche Welt existiert, in der sich nichts verändert.)“ (1945: 38, Her-
vorhebung v. J.M.B.)

Popper bedient sich hier sogar psychoanalytischer Begriffe als Elemente der
Erklärung und Deutung philosophischer Theorien und ideengeschichtlicher Tra-
ditionen. Ohne Frage handelt es sich auch hierbei um eine psychologische Me-
thode der Interpretation, allerdings unter Verwendung von erklärenden Hypo-
thesen, die zwar plausibel sind, deren Nachprüfbarkeit indes zweifelhaft er-
scheint.
86 Zweiter Teil
Es wirkt zudem übertrieben, daß Popper auch Hegel und den neueren Histo-
rizismus mit Heraklit, Platon und dem Zerfall der antiken Sozialordnung in en-
gen Zusammenhang bringt (vgl. 1945: 33 f. sowie 271). Nun gleich die gesamte
Geschichte des Historizismus von der Antike über Hegel bis zum Totalitarismus
des 20. Jahrhunderts auf Heraklit und Platon und damit auf die Gefühle beim
Zusammenbruch der griechischen Stammesaristokratien zurückführen zu wol-
len, erscheint doch etwas gewagt. Es ist vor allem zweifelhaft, ob philosophi-
sche Werke, selbst wenn sie eine verbreitete Zeitstimmung aufgreifen, entschei-
denden Einfluß auf soziale Bewegungen ausüben. Viel plausibler ist demgegen-
über die folgende, ebenfalls psychologische, Erklärung des Entstehens und der
Verbreitung historizistischer Ideen, in welcher revolutionäre Veränderungen in
der Moderne als Voraussetzung des späteren Historizismus in Betracht gezogen
werden:

„Es ist überraschend, daß man in diesen frühen Fragmenten [...] so viele Lehren fin-
det, die auch die modernen historizistischen und antidemokratischen Tendenzen cha-
rakterisieren. Aber abgesehen davon, daß Heraklit ein Denker von unübertroffener
Kraft und Originalität war und daß viele seiner Ideen in Folge davon (durch die Ver-
mittlung Platons) Teil des Bestandes der philosophischen Tradition geworden sind,
läßt sich die Ähnlichkeit der Lehren in gewissem Ausmaß durch die Ähnlichkeit der
sozialen Bedingungen in den entsprechenden Perioden erklären. Historizistische
Ideen scheinen in Zeiten großer sozialer Veränderungen leicht in den Vordergrund zu
treten. Sie erschienen, als das griechische Stammesleben in Trümmer fiel und ebenso,
als das Stammesleben der Juden durch die Auswirkungen der babylonischen Erobe-
rung erschüttert wurde. Es kann meiner Ansicht nach kaum einen Zweifel darüber
geben, daß Heraklits Philosophie der Ausdruck eines Gefühls des Dahintreibens ist,
eines Gefühls, das eine typische Reaktion auf die Auflösung der alten Stammesfor-
men, des sozialen Lebens sein dürfte. Im modernen Europa wurden historizistische
Ideen während der industriellen Revolution, besonders aber unter dem Einfluß der
politischen Revolutionen in Amerika und Frankreich neu belebt. Es ist wohl mehr als
ein bloß zufälliges Zusammentreffen, daß Hegel, der so viel von den Gedanken Hera-
klits aufnahm und an alle modernen historizistischen Bewegungen weitergab, ein
Wortführer der Reaktion gegen die Französische Revolution war“ (1945: 42).

Popper scheint sich nicht ganz schlüssig zu sein, ob die historizistischen


Tendenzen der neueren Zeit aufgrund der von Heraklit und Platon begründeten
ideengeschichtlichen Tradition entstanden oder durch ähnliche historische Um-
stände neu geschaffen werden oder sowohl durch ideengeschichtliche Vorläufer
als auch durch aktuelle Zeitumstände zu erklären sind. Bestimmte Formulierun-
gen im obigen Zitat, z.B. der Ausdruck „neu belebt“ deuten darauf hin, daß er
von einer Kombination beider Erklärungsfaktoren ausgeht.
Es ist überraschend, daß Poppers Praxis der Interpretation philosophischer
Werke und Traditionen sich grundlegend von der situationslogischen Methode
unterscheidet. Genauer gesagt: Seine Interpretationspraxis stellt das Gegenteil
seiner methodologischen Postulate dar, wie wir sie aus den Beiträgen zur Null-
methode und dem objektiven Verstehen gemäß der Situationslogik kennen.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 87
Popper macht ausdrücklich von psychologischen Hypothesen Gebrauch, um die
realen Absichten des Autors herauszufinden. Diese psychologische Methode der
Interpretation wendet er mit aufklärerisch-kritischen Intentionen an, während die
Situationslogik demgegenüber apologetischen Zwecken dient.57

2.8 Poppers Situationslogik im Vergleich mit der


objektiven Hermeneutik Ulrich Oevermanns

Auch in der interpretativen Sozialforschung gibt es ein Verfahren, das beträcht-


liche Ähnlichkeiten mit Poppers Situationslogik aufweist. Die sogenannte Ob-
jektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns befindet sich, ebenso wie Poppers An-
satz, in „schärfste[m] Gegensatz zu jeglicher Spielart von Nachvollzugsherme-
neutik“ (Oevermann 1996b: 14). Die Polemik Oevermanns gegen jedwedes
„Nachfühlen“ oder subjektive Verstehen im Sinne eines Sich-Hineinversetzens
in die Lage anderer stimmt völlig überein mit Poppers anti-psychologischer
Grundhaltung. Entsprechend ist es auch nicht das Ziel der Objektiven Herme-
neutik, die persönlichen Motive und Intentionen der Handelnden (bzw. im Inter-
view Befragten) zu ermitteln. Statt dessen werden „objektive Bedeutungsmög-
lichkeiten als real eingeführt, unabhängig davon, ob sie von den an der Interak-
tion beteiligten Subjekten intentional realisiert wurden oder nicht. Mit der objek-
tiven Hermeneutik soll dasjenige Interpretationsverfahren bestimmt sein, das zur
Aufschlüsselung dieser Realität benötigt wird. Wir nennen es [...] vorläufig ‚ob-
jektive Hermeneutik‘, weil wir damit verdeutlichen wollen, daß es ausschließ-
lich um die sorgfältige, extensive Auslegung der objektiven Bedeutung von In-
teraktionstexten, des latenten Sinns von Interaktionen geht, und dieses Verfah-
ren des rekonstruierenden Textverstehens mit einem verstehenden Nachvollzug
innerpsychischer Prozesse [...] nichts zu tun hat“ (Oevermann et al. 1979: 381).
Die Parallelen zwischen Situationslogik und Objektiver Hermeneutik gehen
noch erheblich weiter: Sowohl Popper als auch Oevermann vertreten die ontolo-
gische These, daß es „objektive Bedeutungsstrukturen“ gebe, die real existierten,
und es sei die Aufgabe der Situationslogik respektive der objektiven Hermeneu-
tik, diese objektiven Bedeutungsstrukturen zu erfassen. Während Popper diese
Strukturen als Welt 3 der objektiven Gedankeninhalte bezeichnet, spricht Oe-
vermann von „latenten Sinnstrukturen“:

„Latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen sind jene abstrakten,


d.h. sinnlich nicht wahrnehmbaren Gebilde, die wir alle mehr oder weniger gut und
genau ‚verstehen’, wenn wir uns verständigen [...], und die durch bedeutungsgenerie-

57
Auffallend ist, daß Popper die Werke seiner philosophischen Gegner psychologisch-
kritisch analysiert, während seine geistesgeschichtlichen Vorbilder von solcher Entlar-
vung verschont bleiben oder sogar – im Falle Galileis – in den Genuß situationslogischer
Rechtfertigung kommen.
88 Zweiter Teil
rende Regeln erzeugt werden und unabhängig von unserer je subjektiven Interpretati-
on objektiv gelten. Die objektive Hermeneutik ist ein Verfahren, diese objektiv gel-
tenden Sinnstrukturen intersubjektiv nachprüfbar je konkret an der les-, hör- und
sichtbaren Ausdrucksgestalt zu entziffern“ (Oevermann 1996a: 1).

Genau wie Popper unterstellt, man könne objektive Elemente der „Situation“
im Sinne des Situationsbegriffs S2, d.h. auch die Ziele des Handelnden, ohne
Hilfe empirisch-psychologischer Hypothesen über dessen (subjektive) Absich-
ten und Motive erfassen, glaubt auch Oevermann, daß die „objektiven Sinn-
strukturen“ den psychischen Dispositionen der Handelnden gegenüber vorrangig
sind:

„Die Methodologie der objektiven Hermeneutik operiert bekanntlich mit einem für
sie spezifischen Begriff der Realität von objektiven bzw. latenten Bedeutungs- und
Sinnstrukturen, die durch Texte und deren Generierungsregeln konstituiert sind. Be-
vor in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften die Frage behandelt werden
kann, was jemand, eine Person, eine Gruppe, eine Organisation oder eine Institution
mit einer Handlung beabsichtigte und bezweckte bzw. welche Funktion diese erfüllte
oder was sich an Dispositionen der handelnden Subjektivität aus ihr herauslesen läßt,
muß, so zeigt die objektive Hermeneutik, beantwortet worden sein, was diese Hand-
lung objektiv, nach geltenden Regeln der Bedeutungserzeugung, bedeutet“ (Oever-
mann 1993: 112 f., H.i.O.).

Aber was bedeutet eine Handlung „objektiv“? – Der Begriff „objektive Be-
deutung“ wird von Oevermann in einer verwirrenden Vieldeutigkeit benutzt
(vgl. Hoock 1999: 84 ff.). Völlig unterschiedliche Erkenntnisgegenstände kön-
nen „objektive Bedeutungen“ besitzen, so zum Beispiel Äußerungen, Interaktio-
nen, Biographien und sogar die Geschichte ganzer Gesellschaften (vgl. Oever-
mann et al. 1980: 27).
Erzeugt werde die ‚objektive Bedeutung‘ durch bedeutungsgenerierende
Regeln:

„Latente Sinnstrukturen sind objektiv gegebene Realitäten genau insofern, als sie von
objektiv geltenden Regeln im Sinne von Algorithmen generiert werden und als solche
mit Anspruch auf objektive Gültigkeit durch Inanspruchnahme genau jener Regeln
im Interpretationsakt rekonstruiert werden können, die schon bei der Erzeugung der
zu interpretierenden protokollierten Wirklichkeit operierten.“ (Oevermann 1993: 115)

Was mit diesen ebenfalls objektiv geltenden Regeln, welche die objektive
Bedeutung im Sinne von Algorithmen erschaffen, genau gemeint ist, läßt sich
nur schwer feststellen. Oevermann offeriert so unterschiedliche Sachverhalte
wie „universale Regeln der Sprachfähigkeit und Sprachverwendung, historisch
gebundene soziale Normen, universale Strukturen der Erkenntnis etc., kurz die
idealisierten Ausstattungen des sozialisierten Subjekts in einer spezifischen, hi-
storisch gebundenen sozio-kulturellen Lebenswelt“ (Oevermann et al. 1980: 23).
An anderer Stelle sind es „die universellen und einzelsprachlichen Regeln der
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 89
sprachlichen Kompetenz auf den Ebenen der Syntax und Phonologie, die Regeln
einer kommunikativen oder illokutiven Kompetenz [...], die universellen Regeln
einer kognitiven und moralischen Kompetenz und die das sozio-historisch spezi-
fische Bewußtsein des sozialisierten Subjekts konstituierenden institutionalisier-
ten Normen, lebensweltspezifischen Typisierungen und Deutungsmuster“ (Oe-
vermann et al. 1979: 387). Man kann sich offenbar kaum eine Regel vorstellen,
die nicht irgendwie der Erzeugung der ‚objektiven Bedeutung‘ dient.
Es kann in diesem Abschnitt, der sich mit den Parallelen der Situationslogik
zur Objektiven Hermeneutik beschäftigt, keine vollständige Kritik des Oever-
mannschen Ansatzes durchgeführt werden. Erwähnen möchte ich nur noch, daß
sich in der Interpretationspraxis bei Oevermann, ebenso wie bei Popper, letztlich
doch ein Rekurs auf psychische Dispositionen der Handelnden, auf ihre Absich-
ten und Motive, feststellen läßt. Zwar fordert Oevermann eine Interpretations-
technik der extensiven Auflistung möglicher Bedeutungen einer Äußerung bzw.
Handlung und unterstellt, daß es sich bei dem herauszufindenden „latenten
Sinn“ um mehr handle als um unbewußte Absichten und Motive, doch was als
Ergebnis von objektiv-hermeneutischen Fallstudien präsentiert wird, sind häufig
nichts anderes als tiefenpsychologische Hypothesen über solche subjektiven
psychischen Dispositionen. Dies wird besonders deutlich, wenn Oevermann ex-
plizit psychoanalytisches Vokabular bei der Interpretation benutzt, etwa bei der
Deutung eines Mutter-Sohn-Dialogs, den Oevermann als „Beispiel für eine ge-
lungene ödipale Interaktion“ (Oevermann et al. 1976: 381) bezeichnet. Die ‚ob-
jektive Bedeutung‘ der Handlung eines viereinhalb Jahre alten Jungen, der den
in der Wohnung mit einem Schlagbohrer arbeitenden Vater nachahmt, indem er
so tut, als bohre er mit seiner Spielzeugpistole Löcher in die Wand, ist für Oe-
vermann der gelungene Umgang des Kindes mit seiner „möglicherweise letzt-
lich triebdynamisch bedingte[n] Angst“ (Oevermann et al. 1976: 382) vor der
Übermacht des Vaters. Die Mutter sei sich nur des manifesten Gehaltes der Sze-
ne bewußt, indem sie glaubt, der Junge habe einfach Angst vor dem Bohrlärm.
Der objektive Sinngehalt, dessen sich keines der interagierenden Subjekte be-
wußt sei, liege in dem latenten ödipalen Konflikt und dessen Bewältigung.

2.9 Grenzen und Möglichkeiten der Anwendung von


Rationalitätsunterstellungen

Die Zurückweisung der Situationslogik bedeutet nicht den generellen Verzicht


auf ein Rationalitätsprinzip zum Zwecke des Verstehens. Das leere Rationali-
tätsprinzip (R1) muß jedoch ersetzt werden durch die Verwendung (fehlbarer)
Rationalitätspräsumtionen. Diese spielen bereits beim Verstehen alltagssprachli-
cher Äußerungen eine entscheidende Rolle. Sie sind für das Verstehen (instru-
mentell) notwendig, müssen aber gegebenenfalls anhand der faktischen Hand-
lungsdispositionen empirisch überprüft und korrigiert werden.
90 Zweiter Teil
Die situationslogische Methode und das in ihr enthaltene Rationalitätsprinzip
finden ihre Parallelen in der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts als „Prinzip der
hermeneutischen Billigkeit“ (besonders bei Alexander Gottlieb Baumgarten und
Georg Friedrich Meier) sowie in der analytischen Philosophie seit der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts als „principle of charity“, etwa bei Quine und Da-
vidson. Jedoch sind nicht alle Verstehenskonzeptionen, die Rationalitätsunter-
stellungen involvieren, gleichermaßen mit Problemen behaftet wie Karl Poppers
Situationslogik. Wer diese zurückweist, muß damit nicht auf Rationalitätsan-
nahmen zum Zwecke des Verstehens und Interpretierens verzichten, sondern
lediglich das leere Rationalitätsprinzip (R1), welches als Allzweck-
Rechtfertigung für beliebige Handlungen dienen kann, durch ein gehaltvolles
ersetzen.
In seinem Buch „Verstehen und Rationalität“ hat Oliver R. Scholz den epi-
stemologischen Status der allgemeinen Grundsätze des Verstehens und Interpre-
tierens in einer Weise rekonstruiert, die besonders dem vom kritischen Rationa-
lismus vertretenen Fallibilismus – der Einsicht in die Fehlbarkeit jeglichen Wis-
sens – entgegenkommt, zugleich jedoch der Tatsache Rechnung trägt, daß all-
gemeine Verstehensprinzipien in einem ganz bestimmten Sinne a priori sind.
Scholz untersucht zunächst die Verwendung von Präsumtionen in der Jurispru-
denz (vgl. Scholz 1999: 148 f.). An Beispielen, wie der Unschuldsvermutung im
Prozeßrecht, zeigt sich, daß die Verwendung von Unterstellungen, deren Wahr-
heit ungeklärt ist oder sogar als unwahrscheinlich erscheint, in vielen Fällen
wichtige Funktionen erfüllt. Während es im Recht allerdings auch unwiderlegli-
che Präsumtionen gibt, die man als juristische Fiktionen bezeichnen kann, lassen
sich die allgemeinen Verstehens- und Interpretationsprinzipien als „Präsumti-
onsregeln mit widerleglichen Präsumtionen“ (ebd.) auffassen. Im Anschluß an
H.P. Grices Theorie rationaler Dialoge (vgl. Grice 1989 sowie Levinson 1994:
103 ff.) weist Scholz nach, daß hermeneutische Präsumtionsregeln bereits für
das Verstehen alltagssprachlicher Äußerungen instrumentell notwendig sind
(vgl. Scholz 1999: 166 ff.). Die hier zur Anwendung kommende Rationalitäts-
präsumtion ist natürlich insofern a priori58, als nicht bekannt ist, ob es sich tat-
sächlich um einen rationalen Dialogpartner handelt. Dennoch ist es notwendig,
dies zunächst zu unterstellen.59 Gibt es im Verlauf der Kommunikation Gründe
für die Annahme des Gegenteils, wird die zunächst starke Rationalitätsannahme

58
Gemeint ist natürlich „genetisch a priori“, d.h. zeitlich vor jeder Wahrnehmung, nicht
aber „a priori gültig“ (vgl. Popper 1987: 127).
59
Präsumtionen werden üblicherweise in Entscheidungssituationen verwendet, in denen
u.a. zeitliche Restriktionen bestehen; die handelnden Personen müssen unter Zeitdruck
eine rationale Entscheidung treffen. Präsumtionen besitzen in diesen Situationen eine ent-
lastende Funktion (vgl. Scholz 1999: 154 ff.). Im Falle der hermeneutischen Präsumtio-
nen kommt hinzu, daß ein Verstehen (etwa ironischer oder metaphorischer Äußerungen)
vielfach gar nicht möglich wäre, würde man dem Sprecher nicht unterstellen, er wolle
einen zweckmäßigen (informativen, wahren und relevanten) Gesprächsbeitrag leisten.
Karl Poppers Theorie objektiven Verstehens 91
„nach unten“ korrigiert. Rationalitätspräsumtionen sind also offen für empiri-
sche Widerlegung: Bei gegebenem Anlaß muß die Rationalitätsvermutung an-
hand der faktischen Handlungsdispositionen überprüft werden.
Diese Ergebnisse machen deutlich, daß die Verwendung eines Rationalitäts-
prinzips, das dem Verstehen von Handlungen oder dem Interpretieren von Tex-
ten vorgängig ist, durchaus mit einem konsequenten Fallibilismus sowie mit
dem Kriterium intersubjektiver Nachprüfbarkeit vereinbar sein kann. Kontrovers
bleibt allerdings die Frage, ob Prinzipien des Verstehens noch in einem anderen
Sinn „a priori“ und „notwendig“ sind als in dem soeben skizzierten. Scholz stellt
entsprechende Thesen auf und nennt die Interpretationsprinzipien „konstitutive
Bedingungen“ (Scholz 1999: 190) des Verstehens.

In dem dritten Teil der Arbeit möchte ich daher im folgenden den epistemo-
logischen Status der Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen beim Verstehen
und Interpretieren näher untersuchen und mich hierbei insbesondere der Frage
zuwenden, ob die Unterstellung von Rationalität und Wahrheit noch in einem
anderen als rein instrumentellen Sinn „notwendig“ ist, und ob diesen Präsumtio-
nen erfahrungsunabhängige Geltung zukommt.
This page intentionally left blank
3. TEIL: ÜBER DIE ‚NOTWENDIGKEIT’ VON RATIONALITÄTS- UND
WAHRHEITSPRÄSUMTIONEN BEIM VERSTEHEN

3.1 Einleitung

In dem ersten Teil dieser Arbeit wurde der epistemologische Status des Zeugnis-
ses anderer besprochen. Die Frage der Wahrheitspräsumtionen spielte hierbei
bereits eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Diskussion, ob die mei-
sten Zeugnisse vor jeder Prüfung als verläßlich eingeschätzt werden können
oder sogar müssen. Nunmehr ist zu fragen: In welcher Hinsicht sind solche Un-
terstellungen beim Verstehen und Interpretieren notwendig?
In seinem radikalen Versuch, eine Nachvollzugs-Hermeneutik überflüssig zu
machen, verwendete auch Popper ein Rationalitätsprinzip, das zumindest die
Zweckrationalität von Handlungen voraussetzt. Sowohl in der Sozialen Er-
kenntnistheorie als auch in Poppers Situationslogik wird das ‚Prinzip der wohl-
wollenden Interpretation’ im Sinne weitreichender Präsumtionen angewendet.
In dem dritten Teil meiner Arbeit möchte ich die Möglichkeiten und Gren-
zen der Anwendung von Präsumtionen beim Verstehen und Interpretieren sy-
stematisch untersuchen. Eine einführende Übersicht über die Geschichte des
Prinzips wohlwollender Interpretation soll zeigen, daß seit der Antike und insbe-
sondere seit der frühen Neuzeit immer wieder Rationalitäts- und Wahrheitsprä-
sumtionen einen wesentlichen Bestandteil der jeweiligen Verstehens-Theorien
ausmachten. Dennoch verlief die historische Entwicklung der Hermeneutik
nicht kontinuierlich, sondern ist gekennzeichnet durch immer neue Brüche so-
wie sachlich unbegründete Abgrenzungen späterer Autoren von ihren Vorgän-
gern.
Im Anschluß an den historischen Überblick wird die von Oliver Scholz un-
ternommene Rekonstruktion der Verstehensprinzipien in Form einer Theorie der
Präsumtionen dargestellt und diskutiert. Die entscheidende These der ‚Notwen-
digkeit’ von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen beim Verstehen und In-
terpretieren wird in Auseinandersetzung mit den Argumenten Scholzens in ihre
unterschiedlichen möglichen Bedeutungen ausdifferenziert und kritisch bespro-
chen. Daran anschließend spielt – ausgehend von den Arbeiten David Hender-
sons und Axel Bühlers über die Grenzen des Prinzips der wohlwollenden Inter-
pretation – die Frage eine Rolle, ob auch Falschheits- und Irrationalitätspräsum-
tionen in der Praxis des Verstehens und Interpretierens zur Anwendung kom-
men, und welche Bedeutung empirische Theorien sowie durch vergangene Er-
fahrung geprägte Erwartungen im Prozeß des Verstehens und Interpretierens
besitzen. Zuletzt skizziere ich im Anschluß an Hans Albert die Grundzüge einer
naturalistischen Hermeneutik.
94 Dritter Teil
3.2 Zur Geschichte der „wohlwollenden Interpretation“

3.2.1 Antike und Mittelalter

Das Problem des „richtigen“ Verstehens und Auslegens existiert, seitdem es


überhaupt eine systematische Beschäftigung mit menschlichen Zeugnissen, ins-
besondere mit Texten, gibt. Dementsprechend lassen sich Prinzipien der Inter-
pretation bereits im Altertum aufweisen. Gegenstand der Auslegungskunst wa-
ren poetische und philosophische Texte, Mythen, Gesetze, Orakel, religiöse
Schriften und künstlerische Darstellungen (vgl. Pépin 1988: 722). Für den Ge-
schichtsschreiber kam das Problem des Verstehens von Handlungen sowie von
Personen hinzu, weit verbreitet war auch die Deutung natürlicher Phänomene
(Wetter, Vogelflug, Träume etc.) als Zeichen für Übernatürliches oder zukünfti-
ge Ereignisse.
Als wesentlicher Ausgangspunkt antiker Auslegungskunst kann, neben der
Klärung partieller Unklarheiten, „die Verteidigung bestimmter Autoren und
Texte“ angesehen werden (vgl. Gatzemeier 1984: 274). Vielfach galt es, Texte,
deren autoritativer Anspruch in Frage gestellt wurde, durch die Anwendung be-
stimmter Interpretationsprinzipien als kanonische Texte zu „retten“. Durch eine
affirmative Deutung von als maßgeblich empfundenen Überlieferungen wurde
versucht, eine Form von weltanschaulicher und moralischer Übereinkunft zu
schaffen.
Eine solche Form wohlwollender Interpretation findet sich bereits in der
Poetik des Aristoteles, in der maßgebliche Werke der Dichtkunst, aber auch die
Malerei, gegen Kritik verteidigt werden. Die Vorwürfe, gegen die Aristoteles
Stellung bezieht, „lassen sich auf fünf Kategorien zurückführen: daß etwas un-
möglich sei oder ungereimt oder sittlich schlecht oder widersinnig oder den Er-
fordernissen einer Disziplin entgegengesetzt“ (Aristoteles 1996: 95). Stellt der
Dichter etwas scheinbar oder tatsächlich Unmögliches dar, so müsse man dies
auf eine der folgenden Weisen rechtfertigen:

„Aufs Ganze gesehen muß man das Unmögliche rechtfertigen, indem man entweder
auf die Erfordernisse der Dichtung oder auf die Absicht, das Bessere darzustellen,
oder auf die allgemeine Meinung zurückgreift. [...] Und wenn es unmöglich sein mag,
daß es solche Menschen gibt, wie sie Zeuxis gemalt hat, dann hat er sie eben zum
Besseren hin gemalt; das Beispielhafte muß ja die Wirklichkeit übertreffen“
(Aristoteles 1996: 93).

Was das scheinbar oder tatsächlich Ungereimte angeht, so könne man „zei-
gen, daß das Ungereimte bisweilen nicht ungereimt ist; es ist ja wahrscheinlich,
daß sich manches auch gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt“ (ebd.). Bei den
Textstellen, die „Widersinniges auszudrücken scheinen“, müsse man genau prü-
fen, „ob sich eine Aussage auf denselben Gegenstand bezieht und ob sie im sel-
ben Sinne gilt“ (ebd.). Die wohlwollende Interpretation scheint bei Aristoteles
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 95
aber auch Grenzen zu besitzen, zumindest zieht er in Erwägung, daß Kritik an
Dichtern und ihren Werken berechtigt sein kann. Beispielsweise sei „der Vor-
wurf der Ungereimtheit und Schlechtigkeit [...] berechtigt, wenn ein Dichter oh-
ne zwingenden Grund davon Gebrauch macht“ (Aristoteles 1996: 93).
Eine ausgeprägte Spielart des Prinzips der wohlwollenden Interpretation be-
gegnet uns in Form allegorischer Deutungen von Werken der Überlieferung.
Dabei handelte es sich um die noch immer beliebte Praxis, bestimmte Texte ge-
gen Kritik zu immunisieren, letztlich also um eine Interpretation „aus apologeti-
schen Motiven“ (König u. Koppe 1980: 86; vgl. auch Scholz 1999: 17). Als „al-
legorisch“ bzw. „Allegorese“ läßt sich diese Methode deshalb bezeichnen, weil
bei ihr „ein Text nicht im ‚buchstäblichen’, sondern in einem übertragenen Sinn
[...] verstanden wird. Dabei geht es allerdings nicht um die Erschließung allego-
rischer Texte, sondern um Unterlegung eines allegorischen Sinns für ursprüng-
lich gerade nicht allegorisch verfaßte und nicht allegorisch rezipierte Schriften“
(König u. Koppe: 86). Textstellen, deren wörtlicher Sinn („sensus litteralis“) als
sachlich irrtümlich oder moralisch bedenklich eingestuft wurde, konnte durch
das Verfahren der Allegorese ein neuer „Hintersinn“ unterlegt werden, die um-
strittene Stelle wurde gerechtfertigt durch einen hinzugefügten, konsensfähigen
Gehalt in Form des übertragenen Sinns („sensus allegoricus“). So erschienen
etwa dem Interpreten Theagenes von Rhegion und seinen Nachfolgern Homers
und Hesiods Erzählungen von anthropomorphen Göttern, die als leidenschaft-
lich und gegeneinander kämpfend dargestellt werden, als inakzeptabel. Eine al-
legorische Interpretation erlaubte es, die Götter in einem übertragenen Sinn als
widerstreitende Prinzipien zu deuten und damit den in Frage gestellten Gel-
tungsanspruch der Mythen aufrechtzuerhalten. Der Grundsatz der wohlwollen-
den Interpretation wurde in Antike und Mittelalter somit häufig zum Zwecke der
Verteidigung des Wahrheits- und Geltungsanspruchs jener zum Kanon gerech-
neten Texte verwendet. Dieses Prinzip affirmativer Interpretation könnte man
wie folgt formulieren: ‚Maßgebliche Texte der Überlieferung sind erst dann
richtig verstanden, wenn der Interpret die mit ihnen verbundenen Geltungsan-
sprüche hinsichtlich sachlicher Wahrheit und normativer Richtigkeit übernom-
men und vermeintliche Widersprüche zwischen Aussagen der Überlieferung
und dem jeweiligen Weltbild des Interpreten als nicht-existent nachgewiesen
hat’ (vgl. Scholz 1999: 18).60
Im Christentum gewinnt die allegorisch-apologetische Interpretationsmetho-
de ebenfalls maßgeblichen Einfluß. Unter anderen Augustinus und Thomas von
Aquin vertreten jene „Interpretationsmethode, die eine historica interpretatio und
eine intelligentia spiritualis (mit den Teilen allegoria, anagoge und tropologia)

60
Ein Nebeneffekt der affirmativen Interpretation ist ein Relativismus bei der Interpreta-
tion von Texten. Da sich Weltanschauungen im Zuge naturwissenschaftlichen Fortschritts
oder politischer Umwälzungen verändern, der Kanon maßgeblicher Texte üblicherweise
jedoch kaum variiert, erfordert das Prinzip der affirmativen Interpretation eine dauernde
Umdeutung der Überlieferung im Sinne des jeweils aktuellen Weltbildes.
96 Dritter Teil
unterscheidet: Die historische Interpretation erarbeitet den unmittelbaren Wort-
sinn, die allegoria den Glaubensinhalt, die tropologia den moralischen Gehalt
und die anagoge den himmlischen, eschatologischen Schriftsinn“ (Gatzemeier
1984: 274). Dabei sind Glaube und die Liebe zu Gott und dem Nächsten sowohl
Schriftsinn als auch Verstehensbedingung und Verstehenskriterium: Caritas gilt
als Voraussetzung einer sinnvollen Bibelauslegung61, und verstanden hat die
heilige Schrift nach Augustinus nur derjenige, der durch das Schriftstudium ca-
ritas aufbaut:

„Wer also die ganzen heiligen Schriften oder wenigstens irgendeinen Teil davon ver-
standen zu haben glaubt, dabei aber doch durch dieses Verständnis jene Doppelliebe
zu Gott und zum Mitmenschen nicht auferbaut, der hat sie noch nicht verstanden“
(Augustinus 1925: 43).

Mit Scholz kann demnach in der caritas des Augustinus ein „theologisch
und moralisch begründete[s] Prinzip der wohlwollenden Interpretation“ (Scholz
1999: 31) bei der Deutung von Bibelstellen gesehen werden, das wiederum den
Wahrheits- und Geltungsanspruch der zu deutenden Schrift und des in ihr ver-
kündeten Glaubens dogmatisch voraussetzt.
Das Prinzip der wohlwollenden Interpretation verliert erst allmählich seinen
dogmatischen Hintergrund. Während es auch bei Abälard noch in Form der ca-
ritas erscheint, „die alles glaubt, alles hofft, alles erträgt und nicht schnell Fehler
bei denen vermutet, die sie liebend umschließt“ (Scholz 1999: 33), kann mit Be-
ginn der Neuzeit von einer hermeneutischen Wende gesprochen werden, inso-
fern nunmehr die Historisierung der Bibel einsetzt und nicht mehr der Glaube,
sondern „die Vernunft als einzige Auslegungsnorm fungiert“ (Veraart u. Wim-
mer 1984: 87). Bereits die frühe protestantische Bibelauslegung ist dadurch ge-
kennzeichnet, daß sie die Theorie des vierfachen Schriftsinns kritisiert und den
wörtlichen Schriftsinn rehabilitiert. So bedient sich etwa Luther nur noch gele-
gentlich der allegorischen Interpretation und erkennt den Wortsinn als aus-
schlaggebend an (vgl. Loewenich 1954: 16).

3.2.2 Wohlwollende Interpretation im 17. und 18. Jahrhundert

Konnte das Prinzip des Wohlwollens in Antike und Mittelalter als Unterstellung
der Richtigkeit eines autoritativen Geltungsanspruchs aufgefaßt werden, der im
Falle von Kritik durch allegorisierende Deutungen aufrechterhalten werden
mußte, so beinhaltet das Prinzip wohlwollender Interpretation im 17. Jahrhun-
dert zwar auch eine Vollkommenheitsunterstellung gegenüber dem Autor, aller-

61
„So sollen auch wir in der Liebe gewurzelt und begründet sein, um mit allen Heiligen
begreifen zu können, welches da sei die Breite und Länge und Höhe und Tiefe: das ist das
Kreuz Christi“ (Augustinus 1925: 106).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 97
dings eine, die sich auf dessen vernünftigen und klugen Gebrauch von Zeichen
stützt und den wörtlichen Sinn als gemeinten Sinn ernst nimmt. „Der Sinn einer
von einem weisen und guten Autor vorgebrachten Rede“, so der Straßburger
Theologe und Philosoph J.C. Dannhauer, der als einer der ersten die Wichtigkeit
einer allgemeinen Hermeneutik hervorgehoben hat (vgl. Bühler/Cataldi Madon-
na 1996: XXIV), könne nur „ein wahrer und vom Autor beabsichtigter“ Sinn
sein (vgl. ebd.). Wohlwollen bzw. Billigkeit gegenüber einem Autor bedeutet
hier, diesem Autor intellektuelle Kompetenz und seiner Rede einen von ihm be-
absichtigten und wahren Sinn zu unterstellen. Innerhalb einer solchen Konzepti-
on ist es nur schlüssig, daß Dannhauer dem wörtlichen, vom Autor intendierten
Sinn die zentrale Rolle zuerkennt (vgl. Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXV).
Entgegen der früher vorherrschenden, von Schleiermacher, Dilthey und spä-
ter von Gadamer propagierten Lehrmeinung bemühte sich bereits eine Vielzahl
von Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts darum, eine allgemeine Hermeneutik
(hermeneutica generalis) zu begründen.62 Als epochemachendes Werk gilt in der
Wissenschaftshistoriographie Dannhauers Schrift „Idea Boni Interpretis“ von
1630. Im Anschluß an Dannhauer und von diesem geprägt unternahm Johann
Clauberg in seiner 1654 erschienenen „Logica Vetus et Nova“ den Versuch ei-
ner Grundlegung der Hermeneutik. Bemerkenswert ist – sowohl bei Dannhauer
als auch bei Clauberg – die Zuordnung der Hermeneutik zur Logik im Sinne ei-
ner allgemeinen Methodologie, zu der dann auch die Kunstlehre des Verstehens
zu rechnen sei. Wichtiger als die Frage nach Fächergrenzen und Zuordnungen
erscheint die Ausgestaltung der Hermeneutik als Wissenschaft: ihre Zielsetzung
und die Begründung ihrer Regeln. Hier zeigt sich nun bei den maßgeblichen
Vertretern der klassischen Hermeneutik, Dannhauer und Clauberg, eine ebenso
einfache wie wegweisende Konzeption des Verstehens, die explizit Bezug
nimmt auf Kausalerklärungen sowie auf die Analyse von Zweck-Mittel-
Relationen. Als Ziel der Hermeneutik wird „die Rekonstruktion der vom Autor
einer Rede intendierten Bedeutung“ (Alexander 1993: 66 f.) angesehen, die
hermeneutischen Regeln gelten als Mittel, die zu dem vorgegebenen Ziel führen.
Dannhauer leitet die Regeln aus der Analyse der Ursachen von Verständnis-
schwierigkeiten her und teilt seine Hermeneutik, nach dem Vorbild der Medizin,
in drei Teile: die Prinzipien gelungenen Verstehens (Physiologie), die Ursachen
des Mißverstehens (Pathologie) und schließlich, darauf aufbauend, die Regeln
zur Beseitigung dieser Ursachen (Therapie) (vgl. Alexander 1993: 63). Clauberg
bemüht sich, die hermeneutischen Regeln direkt aus dem kausalen Verhältnis
der Mittel des Verstehens zu ihrem Zweck herzuleiten – ohne den Umweg über
eine „Pathologie“ des Verstehens (vgl. Alexander 1993: 67). Beiden Begründern
der klassischen Hermeneutik ist die Erkenntnis gemein, daß rekonstruktives
Verstehen als eine Form kausalen Erklärens aufgefaßt werden muß und sich die

62
Im folgenden sollen diese Versuche der Begründung einer allgemeinen Hermeneutik
im 17. und 18. Jahrhundert unter dem Begriff „klassische Hermeneutik“ zusammengefaßt
werden.
98 Dritter Teil
hermeneutischen Regeln allein dadurch rechtfertigen lassen, wirksame Mittel für
den gegebenen Erkenntniszweck, die Ermittlung der Autorenintention, zu sein.
Christian Thomasius, der „wohl als erster die Thematik einer allgemeinen
Hermeneutik in der deutschen Sprache behandelt“ (Bühler/Cataldi Madonna
1996: XXVII), unternahm 1691 in seinem Werk „Ausübung der Vernunftlehre“
den Versuch, die Vielfalt hermeneutischer Regeln auf einige zentrale zu reduzie-
ren. Er stellte fünf Regeln der Interpretation auf, die bereits ein implizites Billig-
keitsprinzip enthalten. Ein Interpret solle sich erstens mit den persönlichen Um-
ständen eines Autors vertraut machen und zweitens bei der Interpretation Ab-
sichten des Autors berücksichtigen, „drittens sei zu berücksichtigen, was ein Au-
tor zuvor, hernach und an anderer Stelle geschrieben habe [...]. Viertens sei im-
mer die vernünftige der unvernünftigen Auslegung vorzuziehen. Und fünftens
sei diejenige Interpretation zu wählen, die das Handeln des Autors begründet
erscheinen lasse“ (Bühler/Cataldi Madonna 1996: XXVIII f.). So schreibt Tho-
masius in dem Kapitel „Von der Geschicklichkeit, andere zu verstehen“:

„Betrachte das vorhergehende und nachfolgende/oder was ein Autor anderswo ge-
schrieben hat mit Fleiß/so wirstu seine Meinung desto besser verstehen. Denn man
muthmasset nicht unbillig/daß ein Autor dasjenige/von dem er einmahl zu reden an-
gefangen/allezeit in seinen folgenden Reden für Augen habe [...]. So muthmasset man
auch nicht leichte/daß ein Autor seiner vorigen Meinung werde widersprechen und
sich contradicieren“ (Thomasius 1691/1998: 184 f.).

Die angeführten Regeln der Interpretation enthalten insofern bereits ein im-
plizites Billigkeitsprinzip, als sie einem Autor Einheitlichkeit, Widerspruchs-
freiheit und Zweckrationalität beim Einsatz der zum Erreichen seines Vorhabens
dienenden Mittel unterstellen.
Explizit wird die wohlwollende Interpretation von Georg Friedrich Meier in
dessen „Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst“ zum zentralen Prinzip der
Hermeneutik erklärt sowie ausführlich dargelegt und begründet. Meier unter-
scheidet die hermeneutische Billigkeit gegenüber Gott bei der Deutung natürli-
cher Zeichen und die Billigkeit bei der Auslegung willkürlicher, vom Menschen
gesetzter Zeichen. Billigkeit bei der Auslegung der Zeichen menschlicher Auto-
ren bestehe darin, „diejenige Bedeutung für hermeneutisch richtig [zu] halten,
welche mit den Vollkommenheiten des Urhebers derselben am besten überein-
stimmt, bis das Gegenteil erhellet“ (Meier 1756/1996: 37). Zu den unterstellten
Vollkommenheiten des Autors rechnet Meier „die Fruchtbarkeit seines Kopfes“,
die „Größe seines Gemüts“, die „Wahrhaftigkeit“, die „Verständlichkeit“, die
„Gründlichkeit“, die Auswahl von Zeichen, die „praktisch“ sind und die Orien-
tierung des Autors am allgemeinen „Bezeichnungsgebrauch“ (Meier 1756/1996:
38). Nach Meier entspricht es also hermeneutischer Billigkeit, jene Bedeutungen
für wahr zu halten, die sich mit der Annahme am besten vereinen lassen, der
Autor sei verständlich und bediene sich des allgemeinen Bezeichnungsge-
brauchs.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 99
Der Passus „bis das Gegenteil erhellet“ zeigt an, daß Meier nicht dogmatisch
die Wahrheit der Autorenrede voraussetzt. Vielmehr können Indizien darauf
hindeuten, daß im Einzelfall die allgemeinen Billigkeitsannahmen eingeschränkt
werden müssen. Allerdings wäre es nach Meier unbillig, Vollkommenheitsan-
nahmen ohne hinreichende Indizien einzuschränken und darauf eine Interpreta-
tion aufzubauen:

„Die Unbilligkeit eines Auslegers (iniquitas interpretis) ist die Neigung desselben,
diejenige Bedeutung für hermeneutisch wahr zu halten, welche mit den Vollkom-
menheiten des Urhebers schlecht übereinstimmt, obgleich ihre Unrichtigkeit erwiesen
werden kann. Ein unbilliger Ausleger irrt nicht nur auf eine hermeneutische Art, son-
dern handelt auch aus Haß gegen den Urheber der Zeichen, weil er ohne überwiegen-
de Beweisgründe eine Bedeutung für hermeneutisch wahr hält, welche ein Beweis
der Unvollkommenheiten des Urhebers der Zeichen ist. [...] Alle unbillige Auslegung
ist falsch und den Regeln der Sittenlehre zuwider“ (Meier 1756/1996: 36).

Billigkeit erscheint hier als ethisches Postulat: Es gelte, dem Autor und sei-
ner Rede positiv gegenüberzutreten, „Haß gegen den Urheber der Zeichen“ füh-
re nicht nur zu einer falschen Deutung, sondern sei geradezu unsittlich.
Billig ist es nach Meier, daß ein Interpret die Zeichen, die er interpretiert, als
klug ausgewählt erachtet. Ein Ausleger versuche es noch nicht einmal, „willkür-
liche Zeichen auszulegen, die töricht erwählt sind – es müßte denn erst durch die
versuchte Auslegung erhellen, daß sie töricht erwählt sind“ (Meier 1756/1996:
34). „Klüglich erwählte Zeichen“ sind nach Meier dadurch gekennzeichnet, daß
sie sich zur beabsichtigten Bedeutung als „geschickte Mittel“ erweisen (Meier
1756/1996: 33). Unterstellt der Interpret dem Autor also Klugheit als ein
wesentliches Moment seiner Vollkommenheit, so unterstellt er ihm
Geschicktheit in der Wahl der Zeichen, die auf „Einsicht des Zusammenhangs
der Zwecke und Mittel“ (Meier 1756/1996: 15) beruht, was nichts anderes
bedeutet, als daß dem Autor Rationalität in der Wahl seiner Mittel unterstellt
wird. Eine in diesem Sinne verstandene Zweckrationalität ist also ein
wesentliches Moment des Meierschen Billigkeitsprinzips.
Billigkeit gegenüber einem Autor bedeutet bei Meier zum einen, diesem Au-
tor kognitive Kompetenzen (Zweckrationalität, Klarheit, Gründlichkeit etc.) zu-
zuschreiben. Darüber hinaus sei es billig, dem Autor Tugendhaftigkeit in einem
moralischen Sinne zu unterstellen, „bis das Gegenteil erhellet“:

„Ein Ausleger willkürlicher Zeichen muß bei der Auslegung solcher Zeichen diejeni-
gen Bedeutungen für wahr halten, welche mit den Vollkommenheiten der Erkenntnis-
und Begehrungskräfte des Urhebers der Zeichen am besten übereinstimmen, bis das
Gegenteil erhellet. Folglich zieht er bei der Auslegung willkürlicher Zeichen die Be-
deutungen, welche logisch und metaphysisch wahr und gewiß sind, denjenigen vor,
welche logisch und metaphysisch falsch und ungewiß sind, die klaren den dunklen,
die lebhaften und deutlichen den trockenen und verworrenen, die tugendhaften den
lasterhaften, die gottseligen den gottlosen, die ehrbaren den unehrbaren, die gerechten
100 Dritter Teil
den ungerechten, die billigen den unbilligen, die keuschen den unkeuschen u.s.w., bis
das Gegenteil erhellet“ (Meier 1756/1996: 41).

Bei Meier beinhaltet das interpretatorische Prinzip des Wohlwollens morali-


sche und kognitive Vollkommenheitsunterstellungen, und es ist in einen theolo-
gischen Kontext eingebettet. Die Diskussion um interpretatorische Billigkeit in
der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts begreift Verstehen ebenfalls
als vernunftgeleiteten, rationalen Prozeß, verzichtet allerdings auf zusätzliche
moralische und theologische Kontextualisierung.63

3.2.3 Allgemeine Hermeneutik im 19. und 20. Jahrhundert

Bei der klassischen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts handelte es sich
um eine Hilfswissenschaft64 für all jene Disziplinen, die auf die Auslegung von
Texten angewiesen sind; ursprünglich neben der Theologie vor allem die Philo-
logie und die Jurisprudenz. Auch die Zielsetzung der klassischen Hermeneutik
war vergleichsweise bescheiden: Das Erkenntnisziel bestand vor allem darin,
den vom Autor intendierten Sinn des Textes zu ermitteln.65 Hierzu bediente man
sich der Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens. Analog zu einer
handwerklichen Kunst geht es hierbei um ein mehr oder weniger systematisier-
tes Regelwerk, welches das Handeln im Hinblick auf einen gegebenen Zweck
anleitet. Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, daß die Regeln einer der-
artigen Kunstlehre auf die Erkenntnis von Zweck-Mittel-Relationen und damit
auf nomologisches Wissen angewiesen sind, so daß es sachlich gerechtfertigt ist,
ebenso von einer „Technologie“ oder einer „Methode“ des Verstehens zu spre-
chen. Dies meint aber keinesfalls, daß ein regelgeleitetes Verstehen „mechani-
stisch“ oder „automatenhaft“ verläuft, die produktive Anwendung einer wissen-
schaftlichen Methode bedarf stets der schöpferischen Phantasie des Forschen-
den. Der klassischen Hermeneutik war es eine Selbstverständlichkeit, daß ein
„bonus interpres“ sowohl Erfindungsgabe (ingenium) als auch Urteilsvermögen
(iudicium) besitzen müsse; ersteres, um eine Vielfalt von Deutungshypothesen
zu ersinnen, letzteres, um diese „Muthmassungen“ kritisch zu prüfen und die
„wahrscheinlichste“ zu wählen (vgl. Scholz 1994: 15). Es hat sich jedoch seit

63
Vgl. ausführlicher hierzu Bühler 1995.
64
Diese Bezeichnung soll die Relevanz der klassischen Hermeneutik nicht schmälern, als
Hilfswissenschaft war sie für eine Reihe von Fächern unverzichtbar. Außerdem meint die
Rede von einer Hilfswissenschaft keineswegs, daß es sich hier allein um belanglose Spe-
zialhermeneutiken handelt. Wie im letzten Abschnitt beschrieben, hatte bereits die klassi-
sche Hermeneutik das Ziel, universelle Auslegungsregeln zu formulieren, die für die In-
terpretation jeglicher Schriftgattung geeignet sind (vgl. Alexander 1993).
65
Dies gilt selbstverständlich nicht für die juristische Interpretation, bei der die Anwen-
dung von gegebenem Recht im Vordergrund steht.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 101
Schleiermacher und Dilthey eingebürgert, ein Zerrbild der „Regelhermeneutik“
zu entwerfen, die einen bloßen Formalismus darstelle, in dem die Auslegung zur
mechanischen Tätigkeit innerhalb einer Spezialdisziplin verkomme (vgl. Alex-
ander 1993: 6).
Was die Behauptung Schleiermachers angeht, die Hermeneutik vor ihm sei
lediglich eine recht belanglose Spezialhermeneutik und ein unbegründetes „Ag-
gregat von Observationen“ (Schleiermacher 1993: 92), so muß dieses einfluß-
reiche Urteil wohl auf eine verblüffende Unkenntnis Schleiermachers zurückge-
führt werden; eine Ignoranz, die heutige Wissenschaftshistoriker in Erstaunen
setzt. Angesichts der weiten Verbreitung allgemeiner Auslegungslehren im 17.
und 18. Jahrhundert spricht etwa Oliver Scholz (im Anschluß an Wolfgang Hü-
bener) von einer durch Schleiermacher inszenierten „‚Erstmaligkeits-Emphase’,
über die man sich rückblickend nur wundern kann“ (Scholz 1994: 7). Nach der
Durchsicht bekannter zeitgenössischer Nachschlagewerke zieht Scholz folgen-
des Fazit:

„Für unsere abschließenden Bemerkungen können wir auf die eingangs gestellte Fra-
ge zurückkommen, wie schwer es für einen hermeneutisch oder hermeneutikge-
schichtlich Interessierten gewesen wäre, sich über die Hermeneutik des 17. und 18.
Jahrhunderts ins Bild zu setzen. Die Antwort kann auch nach den wenigen stichpro-
benartigen Ermittlungen nicht mehr zweifelhaft sein: Es wäre kinderleicht gewesen!
Schon mit bescheidenstem Aufwand und mit den spärlichsten Vorkenntnissen hätte
man in einer mittelmäßig ausgestatteten Bibliothek an einem Nachmittag bequem das
Erste und Nötigste über die allgemeine Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts in
Erfahrung bringen können. [...] Warum versäumten Gelehrte wie Schleiermacher,
Dilthey, Wach, Ebeling und viele andere es, so etwas zu unternehmen? Oder vermu-
ten wir falsch und sie unterzogen sich dieser kleinen Mühe? Dies einmal angenom-
men – wie erklären sich dann Urteile wie der berühmte Auftakt der Schleiermacher-
schen Hermeneutik, demzufolge es ‚nur mehrere spezielle Hermeneutiken’ gebe, oder
das Diltheys, erst durch die glückliche Mischung der Anlagen und Talente Schlei-
chermachers (sic!) sei ‚die allgemeine Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung’
entstanden, ja sie habe nur so und erst dann entstehen können“ (Scholz: S. 24 f.).

Der Hermeneutikhistoriographie, so Scholz weiter, verbleiben allein die


beiden gleichermaßen unbequemen Optionen, „entweder von erstaunlicher Un-
kenntnis oder von einem mangelhaften Urteilsvermögen auszugehen“ (ebd.).
Mag dies für Schleiermacher und manche anderen Autoren tatsächlich gel-
ten, so sollte man nicht verkennen, daß die Geringschätzung der klassischen
Hermeneutik womöglich auch auf anderen Gründen beruht als bloßer Unkennt-
nis oder fehlender Urteilskraft: auf einer allmählichen Abwendung vom Modell
der Hermeneutik als Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens. Gadamer deutet dies
an, wenn er schreibt:

„Die Ausbildung einer Wissenschaft der Hermeneutik, wie sie von Schleiermacher in
der Auseinandersetzung mit den Philologen F.A. Wolf und F. Ast und in Fortbildung
der theologischen Hermeneutik Ernestis geleistet wurde, ist also nicht einfach nur ein
102 Dritter Teil
weiterer Schritt in der Geschichte der Kunst des Verstehens selbst. An sich ist die Ge-
schichte des Verstehens schon seit den Tagen der antiken Philologie von theoretischer
Reflexion begleitet. Aber diese Reflexionen haben den Charakter einer ‚Kunstlehre’,
d.h. sie wollen der Kunst des Verstehens dienen, wie etwa Rhetorik der Redekunst,
die Poetik der Dichtkunst und ihrer Beurteilung dienen wollen. In diesem Sinne war
auch die theologische Hermeneutik der Patristik und die der Reformation eine Kunst-
lehre. Jetzt aber wird das Verstehen als solches zum Problem gemacht. Die Allge-
meinheit dieses Problems bezeugt, daß das Verstehen in einem neuen Sinne zur Auf-
gabe geworden ist, und damit erhält auch die theologische Reflexion einen neuen
Sinn. Sie ist nicht mehr eine Kunstlehre, die der Praxis des Philologen oder der Praxis
des Theologen dient. Schleiermacher nennt seine Hermeneutik zwar schließlich auch
‚Kunstlehre’, aber in einem ganz anderen systematischen Sinn. Er sucht die theoreti-
sche Begründung des den Theologen und Philologen gemeinsamen Verfahrens zu
gewinnen, indem er hinter beider Anliegen auf ein ursprünglicheres Verhältnis des
Verstehens von Gedanken zurückgeht“ (Gadamer 1960/1986).

Was sich für Gadamer bei Schleiermacher abzeichnet, ist die beginnende
Zurückdrängung des ursprünglichen Gedankens einer Methode des Verstehens
und dessen Überlagerung und schließliche Substitution durch eine rein philoso-
phische Hermeneutik, als deren Höhe- und Schlußpunkt Heidegger und Gada-
mer selbst im hellen Licht erstrahlen. Ob diese Entwicklung nun einen Erkennt-
nisfortschritt darstellt, das ist allerdings die Frage – und man kann sie mit guten
Gründen verneinen (vgl. Bühler 1998)66. Außerdem bleibt es zweifelhaft, in
welchem Ausmaß bei Schleiermacher und Dilthey tatsächlich, über die „Erstma-
ligkeits-Emphase“ hinaus, ein grundlegender Bruch mit der früheren Tradition
erfolgte. Immerhin plädieren beide Autoren für eine Kunstlehre regelgeleiteten
Verstehens. In einer neueren Arbeit stellt Scholz die These auf, der „Schleier-
macher-Legende“, die diesen Autor als fälschlich als Begründer der allgemeinen
Hermeneutik auszeichnet, entsprächen diverse Spiegelbild-Legenden über die
Hermeneutik vor Schleiermacher (Scholz 2001: 168). Unter anderem sind damit
die Behauptungen gemeint, vor Schleiermacher habe es nur Spezialhermeneuti-
ken gegeben, Schleiermacher habe die Hermeneutik „aus ihrer Unterordnung
unter die einzelnen Fakultäten gelöst“, und die Hermeneutiken vor Schleierma-
cher seien „Stellenhermeneutiken“ gewesen, d.h. Verstehenslehren, denen es nur
um die Interpretation schwerverständlicher Textstellen gegangen sei (ebd.). Im
Gegensatz zu diesen Legenden hat sich Schleiermachers methodologische Inno-
vation offenbar vor allem darauf bezogen, das Ziel der Hermeneutik neu be-
stimmt zu haben67: „Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein,

66
Bühler setzt sich in seinem anregenden Aufsatz kritisch mit Annahmen auseinander,
die in der gegenwärtigen Hermeneutik-Diskussion weit verbreitet sind; darunter auch der
Behauptung, Heideggers und Gadamers Verstehensanalysen seien ein wichtiger Beitrag
zur Hermeneutik (vgl. Bühler 1998: 88 ff.).
67
Da Schleiermacher kein ausgearbeitetes Hermeneutik-Lehrbuch hinterlassen hat, seine
Konzeption der Hermeneutik somit erst aufgrund verschiedener Entwürfe und Vorle-
sungsnotizen rekonstruiert werden muß, und außerdem die Hermeneutikkonzeptionen des
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 103
wie Schwierigkeiten zuvorzukommen, als Observationen, um solche aufzulö-
sen“ (Schleiermacher 1993: 84). Mit dieser Auffassung hebt er sich ab von der
Zielsetzung der klassischen Hermeneutik, die sich im allgemeinen auf die Auf-
hellung „dunkler Rede“, d.h. auf die Lösung von Problemen des Verstehens,
beschränkte. Dies nun bezeichnet Schleiermacher als die „laxere Praxis in der
Kunst“. Die „laxere Praxis“ gehe davon aus „daß sich das Verstehen von selbst
ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden“
(Schleiermacher 1993: 92). Demgegenüber behauptet die „strengere Praxis“
Schleiermachers, „daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verste-
hen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (ebd.). Eine Abkehr von
der Konzeption der Hermeneutik als Methode regelgeleiteten Verstehens bedeu-
tet Schleiermachers Neuerung nicht – ein fundamentaler methodologischer Fort-
schritt in der Kunstlehre des Verstehens und Interpretierens läßt sich nicht er-
kennen. Da für Schleiermacher nur das sprachlich Produzierte als Erkenntnis-
gegenstand der Hermeneutik in Betracht kommt und dadurch beispielsweise die
bildenden Künste ausgeschlossen werden, ist die Hermeneutik Schleiermachers
in dieser Hinsicht sogar weniger allgemein als die von solchen Restriktionen des
Erkenntnisgegenstands nicht betroffene klassische Hermeneutik, etwa bei G.F.
Meier (vgl. Scholz 1999: 70).
Auch Dilthey bekennt sich zu der Auffassung von Hermeneutik als Kunst-
lehre des Verstehens:

„Diese Kunst der Interpretation hat sich nun ganz so allmählich, gesetzmäßig und
langsam entwickelt, als etwa die der Befragung der Natur im Experiment. Sie ent-
stand und erhält sich in der persönlichen genialen Virtuosität des Philologen. [...] Zu-
gleich aber verfährt jede Kunst nach Regeln. Diese lehren Schwierigkeiten überwin-
den. Sie überliefern den Ertrag persönlicher Kunst. Daher bildete sich früh aus der
Kunst der Auslegung die Darstellung ihrer Regeln. Und aus dem Widerstreit dieser
Regeln, aus dem Kampf verschiedener Richtungen über die Auslegung lebenswichti-
ger Werke und dem so bedingten Bedürfnis, die Regeln zu begründen, entstand die
hermeneutische Wissenschaft. Sie ist die Kunstlehre der Auslegung von Schriftdenk-
malen“ (Dilthey 1900/1957: 320).68

Worin liegt dann aber für Dilthey die Differenz der neueren Hermeneutik
seit Schleiermacher gegenüber der älteren Tradition? Dilthey gibt uns darüber
eine klare Auskunft; die eigentliche Neuerung Schleiermachers sei die Begrün-
dung der Hermeneutik durch eine Analyse des Verstehens:

„Die Hermeneutik war bis dahin im besten Falle ein Gebäude von Regeln gewesen,
dessen Teile, die einzelnen Regeln, durch den Zweck einer allgemeingültigen Inter-

17. und 18. Jahrhunderts noch nicht genügend erforscht sind, scheint ein abschließende
Würdigung der Eigenart der Hermeneutik Schleiermachers noch nicht möglich zu sein
(vgl. Scholz 2001: 275).
68
Hervorhebungen im Original.
104 Dritter Teil
pretation zusammengehalten wurden. Sie hatte die Funktionen, welche in diesem
Vorgang der Interpretation zusammenwirken, als grammatische, historische, ästhe-
tisch-rhetorische und sachliche Auslegung gesondert. Und sie hatte aus der philologi-
schen Virtuosität vieler Jahrhunderte die Regeln zum Bewußtsein gebracht, nach
welchen diese Funktionen wirken müssen. Hinter diese Regeln ging nun Schleierma-
cher zurück auf die Analysis des Verstehens, also auf die Erkenntnis dieser Zweck-
handlung selber, und aus dieser Erkenntnis leitete er die Möglichkeit allgemeingülti-
ger Auslegung, deren Hilfsmittel, Grenzen und Regeln ab“ (Dilthey 1900/1957: 327).

Erst durch die Verbindung von philologischer Virtuosität und philosophi-


scher Genialität in Schleiermachers Geiste, so die überschwengliche Laudatio
Diltheys, seien die Voraussetzungen für die Grundlegung der Hermeneutik als
allgemeiner Wissenschaft und Kunstlehre der Auslegung geschaffen worden
(vgl. Dilthey 1900/1957: 329). In eigentümlichem Kontrast zur ‚Erstmaligkeits-
Emphase’ und dem Begründungspathos steht die traditionelle humanistische
Verstehens-Theorie, die Dilthey im Anschluß an Schleiermacher vorbringt:

„Die Möglichkeit der allgemeingültigen Interpretation kann aus der Natur des Ver-
stehens abgeleitet werden. In diesem stehen sich die Individualität des Auslegers und
die seines Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber: auf der
Grundlage der allgemeinen Menschennatur haben sich beide gebildet, und hierdurch
wird die Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis
ermöglicht. Hier können die formelhaften Ausdrücke Schleiermachers psychologisch
weiter aufgeklärt werden. Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch
qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander, sondern nur durch Gradun-
terschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt. Indem nun aber der Ausleger seine eigne
Lebendigkeit gleichsam probierend in ein historisches Milieu versetzt, vermag er von
hier aus momentan die einen Seelenvorgänge zu betonen und zu verstärken, die ande-
ren zurücktreten zu lassen und so eine Nachbildung fremden Lebens in sich herbeizu-
führen“ (Dilthey 1900/1957: 329 f.).

Diese Form von verstehendem Nachvollzug hatte Karl Popper vor Augen,
als er sich radikal von jeglicher subjektiver Hermeneutik distanzierte. In der Tat
lassen sich gegen Diltheys Versuch einer Grundlegung der Hermeneutik als
Wissenschaft verschiedene Argumente anführen: Zum einen handelt es sich bei
dem Verstehen aufgrund der „allgemeinen Menschennatur“ allenfalls um heuri-
stische Voraussetzungen des regelgeleiteten Verstehens, nicht aber um eine
„Begründung“ des Regelwerks. Nehmen wir mit Dilthey an, daß der Autor und
sein Interpret bis zu einem gewissen Grad ähnliche psychische Dispositionen
besitzen, so kann dies für den Ausleger bei der Bildung von Deutungshypothe-
sen tatsächlich hilfreich sein – es liefert aber weder eine Legitimation der Deu-
tung noch einen Ersatz für ein textbezogenes Prüfungsverfahren und natürlich
auch keine „Begründung“ eines solchen Verfahrens. In welchem Maße das See-
lenleben des Interpreten übereinstimmt mit dem des Autors mag relevant sein
für die zeitliche Dauer, die es erfordert, um durch eine kritische Prüfung und
Korrektur der vorgebrachten Deutungen allmählich zu einer adäquaten Textaus-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 105
legung zu kommen – ein eigenständiges Kriterium für die Qualität einer Inter-
pretation liegt darin indes nicht. Dem einen Ausleger wird es leichter fallen als
dem anderen, sich „in den Autor hineinzuversetzen“, doch das ist methodolo-
gisch irrelevant.
Zweitens führen uns die Metaphern des „Hineinversetzens“ und „Nachvoll-
ziehens“ ein wenig in die Irre. Interpretation bedeutet eben nicht: ein subjektives
Nachbilden und Nacherleben fremder Seelentätigkeit. Dasselbe zu fühlen, was
der Autor empfand und dessen Lebensbedingungen gleichsam in der eigenen
Psyche zu reproduzieren, ist ein unerreichbares Ziel und der dies fordernde
Grundsatz daher substanzlos. Allenfalls kann das subjektive Nachvollziehen da-
zu führen, daß wir uns die Situation des Autors vergegenwärtigen und dadurch
(vielleicht) Ähnliches empfinden wie er selbst. Doch ob der vom sich „hinein-
versetzenden“ Interpreten empfundene Gemütszustand tatsächlich den Gefühlen
des Autors ähnelt – und wenn ja: in welchem Grade –, können wir nicht wissen.
Es gibt keine zuverlässige Methode, dies herauszufinden. Glücklicherweise
müssen wir aber gar nicht erst zu dem anderen Menschen werden, um ihn ver-
stehen zu können. Weiterhin sind wir in der Lage, auch uns fremdartig erschei-
nende Äußerungen und Handlungen zu verstehen, sofern wir fähig sind, ihre ur-
sächlichen Bedingungen zu rekonstruieren. Wer von sich sagt, er könne ein ihn
befremdendes Verhalten nicht verstehen, möchte damit im allgemeinen nur sei-
ne emotionale Distanz oder moralischen Abscheu bekunden und keineswegs
Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit behaupten. Das rekonstruierende Verstehen
bleibt möglich, denn Verstehen heißt nicht Einverständnis.
Drittens ist die humanistische Idee einer allgemeinen Menschennatur, wel-
che die Voraussetzung für gegenseitiges Verstehen sei, alles andere als eine
neue und originelle Schöpfung der Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys.
Sie findet sich gerade in der klassischen Hermeneutik, so daß der Anspruch, mit
Hilfe dieser Idee die Voraussetzungen des Verstehens ermittelt und damit die
Hermeneutik als Wissenschaft im Gegensatz zu dem früheren „Aggregat von
Observationen“ begründet zu haben, geradezu grotesk erscheint. Insgesamt
bleibt festzuhalten, daß die Hermeneutik Schleiermachers und Diltheys noch
weitgehend in der klassischen Tradition einer Kunstlehre des Verstehens ver-
bleibt.
Erst Martin Heidegger unternimmt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts
eine grundsätzliche Neubestimmung der Hermeneutik, die er als „fundamental-
ontologische Wende“ verstanden wissen will. Diese Wende vollzieht er bereits
im Sommersemester 1923 mit seiner Vorlesung „Ontologie (Hermeneutik der
Faktizität)“, die seinen damaligen Studenten Hans-Georg Gadamer maßgeblich
beeinflußte. Heidegger distanziert sich ausdrücklich von einer Kunstlehre des
Verstehens und grenzt sich dabei auch von Schleiermachers „formaler Methodo-
106 Dritter Teil
logie“ ab.69 Seine „fundamentalontologische Wende“, die er bereits durch den
Titel der Vorlesung zum Ausdruck bringt, kennzeichnet er wie folgt:

„Im Titel der folgenden Untersuchung ist Hermeneutik nicht in der modernen Bedeu-
tung und überhaupt nicht als noch so weit gefaßte Lehre von der Auslegung ge-
braucht. Der Terminus besagt vielmehr im Anschluß an seine ursprüngliche Bedeu-
tung: eine bestimmte Einheit des Vollzugs des hermeneuein (des Mitteilens), d.h. des
zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktizität. [...] Die
Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem
Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das
Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein
eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein“ (Heidegger
1923/1988: 14 f.).

Hermeneutik soll also keine Auslegung von Rede und Text mehr sein, son-
dern ein „Sich-Selbstverstehen“ (oder auch: eine „existenziale Analytik des Da-
seins“), das jeder Beschäftigung mit den Wissenschaften vorangehe und in ei-
nem transzendentalphilosophischen Sinne „vorrangig“ sei. Wie man auch immer
diese Fundamentalontologie Heideggerscher Provenienz beurteilen mag, muß –
durchaus im Einklang mit Heideggers eigenem Erkenntnisanspruch – festgestellt
werden, daß sie nichts beitragen kann und nichts beitragen will zu einer Herme-
neutik als Methode des Verstehens und Interpretierens.
In Heideggers Nachfolge lehnt auch Hans-Georg Gadamer die Hermeneutik
als Kunstlehre bzw. Methode des Verstehens und Interpretierens ab. Trotz seiner
Opposition gegenüber dem Methodendenken moderner Wissenschaft formuliert
er ein allgemeines Verstehensprinzip: den „Vorgriff der Vollkommenheit“:

„Der Sinn dieses Zirkels, der allem Verstehen zugrunde liegt, hat aber eine weitere
hermeneutische Konsequenz, die ich den ‚Vorgriff der Vollkommenheit’ nennen
möchte. Auch das ist offenbar eine formale Voraussetzung, die alles Verstehen leitet.
Sie besagt, daß nur das verständlich ist, was wirklich eine vollkommene Einheit von
Sinn darstellt. So machen wir denn diese Voraussetzung der Vollkommenheit immer,
wenn wir einen Text lesen, und erst wenn diese Voraussetzung sich als unzureichend
erweist, d.h. der Text nicht verständlich wird, zweifeln wir an der Überlieferung und
suchen zu erraten, wie sie zu heilen ist“ (Gadamer 1960: 299)

Neben dieser Forderung, das zu Verstehende als „vollkommene Einheit von


Sinn“ zu behandeln, soll auch die Wahrheit des Textes unterstellt werden: „Das
Vorurteil der Vollkommenheit enthält also nicht nur dies Formale, daß ein Text
seine Meinung vollkommen aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er
sagt, die vollkommene Wahrheit ist“ (ebd.). Dieser Vorgriff der Vollkommen-
heit, der hier von Gadamer auch als „Vorurteil“ bezeichnet wird, scheint eine

69
„Schleiermacher hat dann die umfassend und lebendig gesehene Idee der Hermeneutik
(vgl. Augustin!) eingeschränkt auf eine ‚Kunst (Kunstlehre) des Verstehens’ der Rede
eines anderen“ (Heidegger 1923/1988: 13).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 107
starke Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion darzustellen, ein Prinzip wohl-
wollender Interpretation, allerdings ohne Bezug auf die ältere Tradition oder auf
die gleichzeitige Diskussion innerhalb der analytischen Philosophie und in einer
Form, die aufgrund ihrer Vagheit keinen Fortschritt gegenüber früheren Formu-
lierungen darstellt.70
Als Abschluß der kurzen Geschichte wohlwollender Interpretation möchte
ich noch auf die Wiederentdeckung hermeneutischer „Caritas“ in der analyti-
schen Philosophie eingehen. Es soll und kann an dieser Stelle kein vollständiger
philosophiehistorischer Überblick über das principle of charity gegeben, son-
dern lediglich aufgezeigt werden, daß die vielfältigen Formen von Charity-
Prinzipien, die sich in der analytischen Philosophie finden, in der klassisch-
hermeneutischen Tradition wohlwollender Interpretation stehen.
Eingeführt wurde der Ausdruck „principle of charity“ in dem Aufsatz „Sub-
stances without Substrata“ von Neil L. Wilson aus dem Jahre 195971. Diese Ein-
führung von charity bei der Interpretation kann man aufgrund der bereits skiz-
zierten hermeneutischen Tradition als eine Wiedereinführung bezeichnen, ob-
wohl Wilson sich dieser Tradition allem Anschein nach nicht bewußt war (vgl.
Scholz 1999: 89).
Handelt es sich bei dem Ausdruck „charity“ aber womöglich nur um eine
terminologische Ähnlichkeit mit dem Prinzip wohlwollender Interpretation? –
Tatsächlich muß man bei Wilsons Konzeption des Charity-Prinzips bemerken,
daß es sich um kein allgemeines Verstehensprinzip handelt, sondern um ein
Prinzip der Wahrheitsmaximierung bei der Interpretation singulärer Termini
(vgl. Scholz 1999: 88 ff). In dem Aufsatz untersucht Wilson „the nature of indi-
viduals“ (Wilson 1959: 521), genauer gesagt, er beschäftigt sich mit dem Pro-
blem, wie man herausfinden kann, welche Bedeutung ein Sprecher den Eigen-
namen gibt, die er in den von ihm gesprochenen Sätzen verwendet. Seine Lö-
sung besteht – kurz zusammengefaßt – darin, daß dem Sprecher diejenige Be-
deutung des Eigennamens unterstellt werden sollte, bei der die größtmögliche
Menge von Sätzen, die der Sprecher unter Verwendung des besagten Eigenna-
mens formuliert, wahr ist. Indem wir so handeln, wenden wir ein Prinzip wohl-
wollender Interpretation an: „And so we act on what might be called the Princi-
ple of Charity“ (Wilson 1959: 532). Es handelt sich demnach um eine Art
Wahrheitspräsumtion, wenngleich im Rahmen der Behandlung eines sprachphi-
losophischen Spezialproblems.
Quine und Davidson gehen in ihren Formulierungen von Charity-Prinzipien
bekanntlich weit darüber hinaus. Im Rahmen seiner Konzeption der Erstüberset-
zung und im Zusammenhang mit der Zurückweisung von Lévy-Bruhls These

70
Zur Kritik an der Hermeneutikkonzeption Gadamers vgl. Holweg 1999.
71
Der Aufsatz basiert auf einem bereits im Jahre 1958 bei einem Treffen der „Eastern
Division of the American Philosophical Association“ gehaltenen Vortrag (vgl. Wilson
1959: 521).
108 Dritter Teil
der „prälogischen Mentalität“ bestimmter Eingeborenen-Kulturen72 formulierte
Quine das Prinzip, fremde Sprachen so zu übersetzen, daß offenkundige logi-
sche Widersprüche in den übersetzten Äußerungen vermieden werden. In der
Übersetzung müsse unterstellt werden, daß für die fremde Sprache dieselben
logischen Gesetze gelten wie in unserer eigenen Sprache. Weiterhin müsse man
den Sprechern dieser Sprache möglichst wenige offensichtlich falsche oder wi-
dersprüchliche Meinungen zuschreiben. Quine verweist in „Wort und Gegen-
stand“ mit einer Fußnote auf Wilsons Prinzip der Nachsichtigkeit, geht aber weit
über Wilson hinaus, indem er das Prinzip wie folgt ausführt:

„Die Übersetzungsmaxime, die all dem zugrunde liegt, ist, daß Behauptungen, die
oberflächlich auffällig falsch sind, auf verborgenen Unterschieden der Sprache beru-
hen. [...] Die durchaus vernünftige Annahme, die hinter dieser Maxime steckt, ist, daß
die Dummheit des Gesprächspartners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger
wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung oder – im einzelsprachlichen Fall –
abweichendes Sprachverhalten“ (Quine 1960/1987: 114 f.).

Man kann das Charity-Prinzip bei Quine durchaus als eine allgemeine
Wahrheits- und Rationalitätspräsumtion anzusehen, allerdings sollen diese Prä-
sumtionen offenbar empirisch prüfbare Hypothesen darstellen, die mit einer ge-
wissen „Wahrscheinlichkeit“ gelten.
Auch bei Donald Davidson ist das Charity-Prinzip im wesentlichen eine all-
gemeine Wahrheits- sowie Rationalitätspräsumtion. Im Zusammenhang mit sei-
ner Theorie der Erstinterpretation und seiner Suche nach einer Wahrheitstheorie
für die zu interpretierende Sprache stellt er verschiedene Prinzipien auf, in denen
einerseits den Sprechern einer Sprache die Wahrheit der von ihnen für wahr ge-
haltenen Sätze zugebilligt (vgl. Davidson 1984/1985: 152)73 und andererseits die
Konsistenz der Äußerungen der Sprechern unterstellt wird (vgl. Davidson
1984/1985: 27): „Charity in interpreting the words and thoughts of others is
unavoidable [...]: just as we must maximize agreement, or risk not making sense
of what the alien is talking about, so we must maximize the self-consistency we
attribute to him, on pain of not understanding him“ (ebd.).
In einem späteren Aufsatz („Three Varieties of Knowledge“, 1991b) unter-
scheidet Davidson zwei Arten von Charity-Prinzipien: das Prinzip der Kohärenz
sowie das Prinzip der Korrespondenz (vgl. Scholz 1999: 119):

„The Principle of Coherence prompts the interpreter to discover a degree of logical


consistency in the thought of the speaker; the Principle of Correspondence prompts

72
„Je absurder oder exotischer die Überzeugungen, die man einem Volk unterstellt, desto
eher sind wir berechtigt, der Übersetzung mit Argwohn zu begegnen; der Mythos von den
prälogischen Völkern markiert nur den Extremfall“ (Quine 1960/1987: 131).
73
„I propose that we take the fact that speakers of a language hold a sentence to be true
(under observed circumstances) as prima-facie evidence that the sentence is true under
those circumstances“ (Davidson 1984/1985: 152).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 109
the interpreter to take the speaker to be responding to the same features of the world
that he (the interpreter) would be responding to under similar circumstances. Both
principles can be (and have been) called principles of charity: one principle endows
the speaker with a modicum of logical truth, the other endows him with a degree of
true belief about the world. Successful interpretation necessarily invests the person in-
terpreted with basic rationality” (Davidson 1991b: 158).

So wird deutlich, daß das principle of charity tatsächlich – in der Tradition


der klassischen Hermeneutik – auch bei seinen Hauptvertretern Quine und Da-
vidson als allgemeine Unterstellung der Rationalität von Sprechern sowie der
Wahrheit des Gesagten angesehen werden muß. Allerdings werden diese Prä-
sumtionen bei Quine und Davidson im Kontext der Theorien der Erstüberset-
zung bzw. Erstinterpretation entwickelt, während es den früheren Vertretern
wohlwollender Interpretation üblicherweise um das Verstehen und Interpretieren
normalsprachlicher Zeugnisse ging.

3.3 Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als notwendige


Bedingungen des Verstehens und Interpretierens

3.3.1 Verstehens- und Interpretationsprinzipien als Präsumtionen

Scholzens Theorie der Präsumtionen stellt einen wichtigen Versuch dar, den er-
kenntnistheoretischen Status der Verstehens- und Interpretationsprinzipien zu
klären. Gemeint sind hierbei diejenigen Verstehens- und Interpretationsprinzipi-
en, die in einem doppelten Sinn allgemein sind: zum einen im Sinne besonders
grundlegender Prinzipien bzw. „Metaprinzipien“, von denen spezielle Regeln
abhängen, zum anderen im Sinne von Prinzipien mit einem besonders weiten
Anwendungsbereich, der sich auf beliebige Texte oder sogar nicht-sprachliche
Zeichen bezieht (vgl. Scholz 1999: 147).
Bevor man den Status der Prinzipien des Verstehens klären könne, müsse
man zunächst eine „Theorie der Präsumtionen und Präsumtionsregeln“ entwik-
keln. Scholz beginnt mit einer Darstellung der Präsumtionen in der Rechtswis-
senschaft, in der Präsumtionen von jeher eine Rolle spielen. Als bekanntes Bei-
spiel kann die sogenannte Unschuldsvermutung dienen: Die Justiz muß bis zum
Nachweis des Gegenteils von der Unschuld des Angeklagten ausgehen. Ein an-
deres Beispiel ist die sogenannte Todesvermutung: Wer eine gewisse Zeit lang
verschollen ist, wird für tot erklärt (vgl. Scholz 1999: 149).74
Die hermeneutischen Präsumtionen dienen dazu, das Verstehen und
Interpretieren menschlicher Zeugnisse anzuleiten. Die relevanten Präsumtionen
sind für Scholz hierbei die Wahrheit und Konsistenz des Gesagten bzw. die

74
Es gibt aber auch Präsumtionen im Bereich von Moral und Politik, Scholz nennt als
Beispiel die Präsumtion der Gleichheit.
110 Dritter Teil
Rationalität des Sprechers. Wozu benötigen wir überhaupt Präsumtionen? – Zu-
nächst benötigen wir sie natürlich deshalb, weil wir das, worüber wir entschei-
den müssen, nicht wissen. Es besteht die Notwendigkeit, eine praktische Ent-
scheidung zu treffen, ohne über die relevanten Informationen zu verfügen, ent-
weder weil sie nicht erhältlich oder mit einem zu hohen Beschaffungsaufwand
verbunden sind. In derartigen Situationen unter Handlungsdruck existieren also
unter anderem zeitliche Restriktionen. Im Vergleich mit Willkürentscheidungen
erlauben Präsumtionen aber auch in solchen Entscheidungssituationen ein ge-
wisses Maß an Rationalität.
Es gibt jedoch noch ein zweites Motiv für die Verwendung von Präsumtio-
nen: Präsumtionen sind häufig nicht nur Mittel zur erleichterten Entscheidungs-
findung, sondern auch echte Normen, die die Praxis regulieren sollen, und zwar
nicht nur für Erkenntnisziele, sondern auch im Rahmen bestimmter Wertvorstel-
lungen. Deutlich wird dies v.a. bei den juristischen Präsumtionen. Die Un-
schuldsvermutung dient nicht nur dem Zweck, die Wahrheitsfindung vor Ge-
richt zu fördern, sondern auch dem Schutz des Angeklagten. Hermeneutische
Präsumtionen besitzen gegenüber den Präsumtionen im Recht gewisse Beson-
derheiten: Manche juristischen Präsumtionen sind unwiderleglich („praesumtio
absoluta“), man könnte hier genauer von Fiktionen des Rechts sprechen, etwa
der Festsetzung, daß Kinder keine kriminellen Absichten haben und deshalb
nicht im üblichen Sinne schuldfähig sind (Scholz 1999: 152). Demgegenüber
gibt es Präsumtionen, die sich prinzipiell widerlegen lassen („praesumtio condi-
tionalis“). Scholz zählt die hermeneutischen Präsumtionen zu den fehlbaren,
seine zentrale These lautet: „Allgemeine Verstehens- und Interpretations-
prinzipien sind Präsumtionsregeln. Genauer gesagt: sie sind Präsumtionsregeln
mit widerleglichen Präsumtionen“ (Scholz 1999: 148). Ob auch die Präsumti-
onsregeln selbst, die ja das Verstehen und Interpretieren anleiten sollen, fallibel
sind und verbessert werden können, beantwortet Scholz zunächst nicht. Ein kon-
sequenter Fallibilismus würde sich ebenso auf die Verstehens- und Interpretati-
onsprinzipien – d.h. auf die Präsumtionsregeln – beziehen und sie als fehlbare
und verbesserungsfähige Mittel des Verstehens und Interpretierens auffassen,
statt die bestehenden Problemlösungen transzendentalphilosophisch zu rechtfer-
tigen.
Bei den hermeneutischen Präsumtionen kann man ebenfalls noch die dop-
pelte Motivierung entdecken: Einerseits sollen Wahrheits- und Rationalitätsprä-
sumtion die Erkenntnispraxis anleiten. Andererseits besteht auch das Motiv, ei-
nen moralisch angemessenen Umgang des Interpreten mit dem Autor und sei-
nem Werk zu befördern. Scholz spricht in diesem Zusammenhang von einer
„minimalen Ethik der Interpretation“ (Scholz 1999: 158). Diese sei auch heute
nicht obsolet. Anhand von historischen Untersuchungen weist er nach, daß in
der Geschichte der Hermeneutik das Prinzip wohlwollender Interpretation häu-
fig in dieser doppelten Bedeutung gesehen wurde: einerseits als Mittel zur „rich-
tigen“ Interpretation im technologischen Sinn, andererseits auch als Anweisung
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 111
zum „richtigen“ Umgang mit dem Autor und seinem Werk im moralischen
Sinn.
Hinsichtlich der Form von Präsumtionen kann man nach Scholz „Präsum-
tionen“, „Präsumtionsformeln“ und „Präsumtionsregeln“ unterscheiden.
Das Schema für eine Präsumtion (Pr) lautet:
„(Pr) Es gibt eine Präsumtion, daß Q“ oder auch „Es gibt eine Präsumtion zu-
gunsten Q“ (Scholz 1999: 150).
Die allgemeine Form einer Präsumtionsformel (Pr-F) lautet:
„(Pr-F) Aufgrund von P wird Q präsumiert“ (Scholz 1999: 151). Andere Formu-
lierungen lauten „Aufgrund von P gibt es eine Präsumtion, daß Q“ sowie „P er-
zeugt die Präsumtion, daß Q“ (ebd).
Bei dieser Präsumtionsformel erscheint vor allem relevant, daß es einer prä-
sumtionserzeugenden Tatsache (P) bedarf, bevor man gerechtfertigterweise prä-
sumieren kann, daß Q. Eine Präsumtionsregel (Pr-R) hat die allgemeine Form:

„(Pr-R) Gegeben p ist der Fall, verfahre so, als sei q der Fall, bis Du zureichende
Gründe hast, zu glauben, daß q nicht der Fall ist“ (ebd.).

Wie sieht die Anwendung der Präsumtionstheorie beim Umgang mit natürli-
chen Zeugnissen nun genau aus? Am Beispiel der Wahrheitspräsumtion für na-
türliche Zeugnisse gibt Scholz eine genaue Formulierung:

„(Test-Präs-F) Es gibt eine Präsumtion, das Zeugnis anderer solange als wahr zu ak-
zeptieren, bis man Gründe zu der Annahme hat, daß besondere Umstände vorliegen,
die die Präsumtion annullieren.“ (Scholz 2002, unveröffentlicht)
„(Test-Präs-R) Gegeben, dass ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständli-
che assertorische Äußerung U (über das Thema T) vollzogen hat, mit der er sich auf
die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe
zu der Annahme hast, daß eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. (Es gibt i.w. zwei
Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der Gele-
genheit O) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Spre-
cher (in bezug auf das fragliche Thema T) nicht kompetent ist.)“ (ebd.).

Wir sehen: Die Wahrheitsunterstellung wird formuliert als Präsumtionsregel


mit widerleglichen Präsumtionen. Zunächst ist davon auszugehen, daß ein Spre-
cher die Wahrheit sagt. Erst wenn bestimmte Annullierungsbedingungen vorlie-
gen, darf man von dieser Annahme abrücken.75 Eine ähnliche Erkenntnissituati-
on, bei der der Erkennende zunächst auf die Wahrheit seiner Erkenntnis vertraut,
aber unter bestimmten Annullierungsbedingungen von dieser Meinung ab-
weicht, findet sich in der Wahrnehmung. Üblicherweise nehmen wir an, daß un-

75
Scholz unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen hermeneutischen Präsumtionen im
engeren Sinn, die Mittel zum Zwecke des Verstehens von Zeugnissen darstellen und an-
deren Präsumtionen, die dazu dienen, Zeugnisse als glaubwürdig oder unglaubwürdig zu
beurteilen.
112 Dritter Teil
sere sinnlichen Wahrnehmungen korrekt sind; nur wenn bestimmte Bedingun-
gen (Annullierungsbedingungen) vorliegen, die beispielsweise zu Wahrneh-
mungsstörungen führen, sind wir bereit, die Korrektheit unserer Wahrnehmun-
gen in Frage zu stellen. Die allgemeine Präsumtionsregel beim Umgang mit
Zeugnissen anderer ist also unserer Beurteilung von Sinneswahrnehmungen
nachgebildet. Dies verweist auf den Glauben, daß das Zeugnis anderer als Er-
kenntnisquelle mit der sinnlichen Wahrnehmung vergleichbar ist, eine Analogie,
die – wie im ersten Teil der Arbeit bereits ausgeführt wurde – in der Sozialen
Erkenntnistheorie eine Rolle spielt und auf Thomas Reid zurückgeht.
Es wird zu klären sein, ob die Praxis des Verstehens und Interpretierens tat-
sächlich den von Scholz vorgeschlagenen Präsumtionsregeln folgt. Unterstellen
wir immer erst die Wahrheit des Gesagten und die Rationalität des Sprechers,
wenn wir etwas interpretieren? Lassen sich hermeneutische Präsumtionen als
notwendige Bedingungen des Verstehens und Interpretierens rechtfertigen, und
in welchem Sinne könnten sie notwendig sein?

3.3.2 Präsumtionen als „instrumentell notwendige“ Bedingungen

Als schwächste Notwendigkeitsbehauptung kann man die These auffassen, Ra-


tionalitäts- und Wahrheitsunterstellungen seien „unentbehrliche Mittel“ für das
„Verständnis sprachlicher Äußerungen“ (vgl. Scholz 1999: 165). Scholz belegt
diese These vor allem anhand der Interpretation ironischer sowie metaphorischer
Äußerungen76 und stützt sich hierbei auf P. Grices Theorie rationaler Dialoge
(vgl. Grice 1989 sowie Levinson 1994: 103 ff.), indem er die von Grice formu-
lierten Konversationsmaximen als hermeneutische Präsumtionsregeln rekonstru-
iert. Mit „Rekonstruktion“ ist hierbei gemeint, daß es ein Entsprechungsverhält-
nis zwischen den Griceschen Konversationsmaximen (sowie seinem grundle-
genden Kooperativitätsprinzip) einerseits und den hermeneutischen Präsumti-
onsregeln andererseits gebe. Dem Kooperativitätsprinzip, welches besagt, daß
ein Sprecher seine Äußerungen als angemessene Beiträge im Hinblick auf den
wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches vorbringen soll, „entspreche“

76
Scholz zeigt aber auch, daß Präsumtionen beim Verstehen wörtlicher Rede eine Rolle
spielen: „Ein Kind ist gestürzt und hat sich wehgetan. Da es gar nicht mehr aufhören will
zu jammern, sagt die Mutter schließlich: ‚Du wirst schon nicht sterben.’ Buchstäblich ge-
nommen bedeutet der Satz, daß der Adressat nicht sterben wird, mit anderen Worten: un-
sterblich ist. Aber natürlich ist die Äußerung des Satzes anders zu verstehen, nämlich et-
wa folgendermaßen: ‚Du wirst an diesem Kratzer schon nicht sterben.’ Wir unterstellen
der Mutter, daß sie etwas Wahres sagen möchte, daß sie etwas für diesen Gesprächszu-
sammenhang Relevantes beitragen möchte, daß sie selbstverständlich weiß, daß Men-
schen nicht unsterblich sind etc. Diese Präsumtionen können nur aufrechterhalten werden,
wenn man der Äußerung einen Inhalt zuschreibt, der spezifischer ist als der, den der ge-
äußerte Satz buchstäblich ausdrückt“ (Scholz 1999: 179).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 113
beispielsweise eine hermeneutische Präsumtionsregel, konkrete Äußerungen ei-
nes Gesprächspartners als tatsächlich angemessene Beiträge im Hinblick auf den
wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches zu interpretieren, solange man
keine zureichenden Gründe für die gegenteilige Annahme hat (vgl. Scholz 1999:
167).
Es handelt sich hier um eine Annahme der Zweckrationalität des Sprechers.
Doch genau genommen folgt die Rationalitätsunterstellung nicht logisch aus den
gegebenen Prämissen: Wenn erstens sowohl der Sprecher als auch der Zuhörer
über einen wechselseitig akzeptierten Zweck des Gespräches verfügen und
zweitens der Sprecher die Absicht hat, mit seinem Redebeitrag diesem Zweck zu
dienen, ergibt sich nicht die tatsächliche Zweckrationalität des Sprechers, d.h.
seine Fähigkeit, die adäquaten sprachlichen Mittel zur Realisierung des gegebe-
nen Gesprächs-Zwecks zu wählen. Letzteres zu unterstellen, mag dennoch rich-
tig sein, ist aber keine Konsequenz aus dem Griceschen Kooperativitätsprinzip.
Insofern bleibt fraglich, was es heißen soll, wenn Scholz von einer „Entspre-
chung“ zwischen Prinzip und Maximen der Konversation und hermeneutischen
Präsumtionsregeln spricht. Noch problematischer erscheint Scholzens Rekon-
struktion der Maxime der Qualität als (Wahrheits-)Präsumtionsregel:

„Nehmen wir die Maxime der Qualität, und zwar die übergeordnete Maxime: Versu-
che deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist. Die entsprechende hermeneutische
Präsumtionsregel würde etwa folgendermaßen lauten:
(QUAL-Pr-R): Wenn dein Gesprächspartner eine Äußerung u in einem gemeinsamen
Gespräch getan hat, dann interpretiere u als wahre Äußerung, solange bis du zurei-
chende Gründe für die gegenteilige Annahme hast“ (Scholz 1999: 168).

Was Scholz unter „Entsprechung“ zwischen der Konversationsmaxime und


der damit in Verbindung gebrachten Präsumtionsregel versteht, bleibt weiterhin
unklar. Die Absicht, die Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen mit Hilfe der
Theorie rationaler Konversationen als instrumentell notwendig zu rechtfertigen,
wäre ja nur dann erreicht, wenn eine logische Beziehung zwischen der jeweili-
gen Konversationsmaxime und der „entsprechenden“ Präsumtionsregel vorläge.
Ganz offensichtlich läßt sich aber aus der auf den Sprecher bezogenen Maxime
„Versuche deinen Beitrag so zu machen, daß er wahr ist“ keineswegs die für den
Zuhörer geltende Präsumtionsregel (QUAL-Pr-R) logisch ableiten. Unter der
Annahme, daß der Sprecher der Maxime der Qualität folgt, kann man allenfalls
folgende Präsumtionsregel ableiten: „Wenn dein Gesprächspartner G eine Äu-
ßerung u in einem gemeinsamen Gespräch getan hat, dann interpretiere u als
Äußerung, von der G glaubt, daß sie wahr ist.“ Die Annahme, daß ein Sprecher
kooperativ ist und deshalb im allgemeinen die Wahrheit sagen möchte, rechtfer-
tigt nicht die Präsumtion, daß das, was er sagt, tatsächlich die Wahrheit ist.
Der naheliegende Einwand, die Wahrheitsunterstellung beziehe sich nur auf
Äußerungen von Sprechern, die im Hinblick auf das Gesagte hinlänglich kompe-
tent sind, führt gleichfalls nicht zum Ziel. Denn auch aus der Konjunktion der
114 Dritter Teil
Kompetenzannahme und der Maxime der Qualität folgt nicht, daß der Sprecher
die Wahrheit sagt – es sei denn, man definiert einen „kompetenten Sprecher“ als
einen solchen, der im Besitz der Wahrheit ist. In diesem Fall könnte jedoch nie-
mand wissen, welcher Sprecher (wenn überhaupt einer) „kompetent“ ist. Übli-
cherweise bedeutet „Kompetenz“ lediglich Sachkenntnis, und auch ein Sach-
kundiger kann sich irren.77
Aus den sprecherorientierten Konversationsmaximen bei Grice ergeben sich
also nicht ohne weiteres die rezipientenorientierten hermeneutischen Präsumti-
onsregeln; vor allem lassen sich letztere nicht durch den Verweis auf faktisch
vorhandene Kooperativität bzw. ein Verfolgen der Konversationsmaximen
durch den Sprecher rechtfertigen.
Dennoch zeigt Scholz, daß Grice im Rahmen seiner Lehre von den konver-
sationalen Implikaturen78 zumindest von der grundlegenden Rationalitätsprä-
sumtion Gebrauch macht. Sowohl bei ironischen als auch bei metaphorischen
Äußerungen tritt der Fall ein, daß ein Sprecher eklatant gegen eine der Konver-
sationsmaximen zu verstoßen scheint. In solchen Fällen wird jedoch üblicher-
weise nicht angenommen, daß ein wirklicher Verstoß vorliegt und der Sprecher
nicht mehr kooperiert. Scholz verwendet folgendes Beispiel: „Person B, die bis
vor kurzem mit Person A befreundet war, äußert sich öffentlich äußerst abfällig
über A. A und der Adressat der folgenden Äußerung, nennen wir ihn: C, wissen
dies beide. A äußert nun gegenüber C: ‚B ist ein feiner Freund’“ (Scholz 1999:
171). Da diese Äußerung, wörtlich verstanden, falsch ist und der Sprecher dies
auch weiß, gibt es nun mehrere Möglichkeiten, sie zu interpretieren:

„(i) A ist nicht rational (bzw. der Austausch ist kein rationales Gespräch); die Ratio-
nalitätspräsumtion könnte dann nicht aufrechterhalten werden. (ii) A kooperiert nicht
oder jedenfalls nicht mehr; die Kooperativitätspräsumtion müßte aufgegeben werden.
(iii) A hat gegen die erste Maxime der Qualität verstoßen (die entsprechende Präsum-
tion kann nicht bewahrt werden), verhält sich aber grundsätzlich weiterhin koopera-
tiv. (iv) A hat nur auf der Ebene des wörtlich Gesagten gegen die erste Maxime der
Qualität verstoßen. Er beutet diese Maxime und die entsprechende hermeneutische
Präsumtion aus, um mittelbar etwas anderes zu verstehen zu geben als das, was er
wörtlich gesagt hat. Durch die hierarchische Ordnung der Präsumtionen nach ihrer
Stärke ist zunächst die vierte Möglichkeit vorzuziehen; für die Aufgabe der in (iii),
(ii) und (i) genannten Präsumtionen wären immer stärkere Gründe vonnöten. Die
Beweislast wächst von Schritt zu Schritt in der Richtung von (iv) nach (i)“ (Scholz
1999: 171).

77
Diese Möglichkeit des Irrtums ist keineswegs eine zu vernachlässigende Randerschei-
nung. Wer die Geschichte der Wissenschaften ernst nimmt, wird nicht leugnen können,
daß das Sich-Irren von Sachkundigen nicht eine seltene Ausnahme, sondern eher den Re-
gelfall darstellt.
78
Unter einer konversationalen Implikatur versteht Grice all das, was ein Sprecher über
die wörtliche Bedeutung einer Aussage hinaus zu verstehen gibt.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 115
Nun trifft es zwar bei dem vorliegenden Beispiel zu, daß wir beim Verstehen
der (ironischen) Äußerung die Präsumtionen in der oben angegebenen hierarchi-
schen Ordnung verwenden. Eine allgemein verbindliche hierarchische Ordnung
von Präsumtionen gibt es jedoch nicht. Insbesondere gibt es keinen Grund, die
Rationalitäts- und Kooperativitätspräsumtionen stets als die grundlegenden Prä-
sumtionen aufzufassen, deren Preisgabe nur als allerletzte Möglichkeit in Frage
käme. Welche Präsumtionen wir verwenden sowie wann und wie schnell wir sie
aufgeben, richtet sich nach unseren Erwartungen, die aufgrund bisheriger Erfah-
rungen entstanden sind und als rudimentäre psychologische Theorien angesehen
werden können, die dem Verstehen und Interpretieren implizit zugrunde liegen.
Dies läßt sich an einem Beispiel aus der Praxis des Verstehens zeigen. Um
das Beispiel einfach zu halten und den Einfluß nonverbalen Kommunikations-
verhaltens beim Verstehen und Interpretieren auszuschließen, nehmen wir an,
eine männliche Person A schreibt einer weiblichen Person B, die A kürzlich
kennengelernt hat, eine SMS. In dieser SMS stellt A die Frage: „Hast Du auch
eine eMail-Adresse?“ Auf diese Frage erhält A nach einiger Zeit eine SMS mit
dem Inhalt „Ja“. Obwohl diese Antwort vermutlich zutreffend ist, wird sie A
unter Umständen dazu bewegen, die Kooperativitätspräsumtion aufzugeben,
denn für jeden kompetenten Sprecher ist es offensichtlich, daß B mit ihrer Ant-
wort nicht auf das Implikat der Frage von A eingegangen ist. Gemeint war mit
der Frage natürlich die Bitte um die eMail-Adresse, sofern eine solche Adresse
vorhanden ist. Auf solche Implikate nicht zu antworten, gilt im allgemeinen als
Ausdruck grober Unhöflichkeit. Da auch A und B als kompetente Sprecher dies
wissen sowie voneinander wissen, daß der jeweils andere es weiß, besteht eine
naheliegende Hypothese darin, die Kooperativitätspräsumtion aufzugeben und
anzunehmen, daß B A provoziert und ‚hinhält’, ohne mit ihm einen weiteren
Kontakt eingehen zu wollen. Ebenso kann es aber sein, daß B mit ihrer Antwort
A lediglich ‚necken’ möchte und diese Antwort als Ausdruck von Flirtverhalten
zu deuten wäre. Welche der beiden konkurrierenden Deutungshypothesen zu-
trifft, kann A anhand der isolierten Antwort B’s nicht wissen. In realen Kom-
munikationssituationen gibt es natürlich in der Regel weitere Indizien, die feh-
lende Kooperation anzeigen, ebenso wie es üblicherweise vielfältige Anzeichen
für vorhandene Kooperationsbereitschaft gibt, so daß in den meisten Kommuni-
kationssituationen eine ausreichende Erfahrungsbasis für adäquate interpretative
Hypothesen vorliegt. Präsumtionen sind aber gerade dann von Bedeutung, wenn
eine Entscheidung für eine bestimmte Deutungshypothese ohne hinreichende
und eindeutige Indizien getroffen werden muß. Wäre die Wahl zwischen den
konkurrierenden Deutungshypothesen problemlos empirisch zu bestimmen, gä-
be es keine Notwendigkeit, beim Verstehen und Interpretieren überhaupt mit
Präsumtionen zu arbeiten. Ob A die Antwort von B als Kooperationsverweige-
rung oder als Ausdruck von Flirtverhalten deuten wird, hängt – abgesehen von
weiteren Indizien in der Gesprächssituation, die wir in unserem Beispiel bewußt
ausklammern – ab von A’s bisherigen Erfahrungen mit ähnlichen Gesprächssi-
116 Dritter Teil
tuationen sowie von seinen diesbezüglichen psychologischen Theorien, etwa
über weibliches Flirtverhalten.
Es wäre also ein Irrtum anzunehmen, es gebe fundamentale Präsumtionen
beim Verstehen, die so grundlegend sind, daß man sie nur dann aufgibt, wenn
gar keine alternativen Deutungsmöglichkeiten existieren. Im übrigen bedeutet
die Preisgabe der Kooperativitätspräsumtion nicht notwendig den Abbruch des
Gespräches. A kann zwar der Meinung sein, daß B nicht (oder nicht mehr) ko-
operiert, aber er kann dies nicht sicher wissen und alternative Deutungsmöglich-
keiten in Betracht ziehen. Obwohl er den Eindruck hat, daß B nicht kooperiert,
wird er vermutlich so tun, als ob er noch an eine gemeinsame Basis des Ge-
sprächs glaubt, sofern sein Interesse an einem Aufrechterhalten des Kontaktes
groß genug ist. Es könnte ja sein, daß B nur vorübergehend die Kooperation
verweigert oder mit einer partiellen Kooperationsverweigerung bestimmte Re-
aktionen bei A provozieren möchte. Auch die völlige Aufgabe der als grundle-
gend angesehenen Präsumtionen führt nicht zwangsläufig zu einer Abkehr von
dem Verhalten, das gemeinhin mit diesen Präsumtionen in Zusammenhang ge-
bracht wird: Es kann sinnvoll sein, trotz der faktischen Aufgabe der Rationali-
täts- oder der Kooperativitätspräsumtion den Betreffenden so zu behandeln, als
wäre er rational bzw. kooperativ. Wenn davon gesprochen wird, bestimmte An-
nahmen – etwa die Rationalität des Sprechers – seien für das Verstehen ‚konsti-
tutiv’, könnte dies von der Tatsache herrühren, daß wir in der Kommunikations-
praxis üblicherweise auch dann noch so tun, als wären diese Annahmen berech-
tigt, selbst wenn wir sie de facto längst aufgegeben haben.
Wir können als vorläufiges Ergebnis festhalten, daß es in bestimmten Kom-
munikationssituationen bei der Bildung von interpretativen Hypothesen „in-
strumentell notwendig“ ist, von Präsumtionen auszugehen. Welche Präsumti-
onsregeln und Präsumtionen wir aber in der Verstehenspraxis anwenden, hängt
nicht ab von einer vermeintlich vorgegebenen hierarchischen Ordnung von Prä-
sumtionen, sondern von unseren Erwartungen. Da wir in vielen Kommunikati-
onssituationen die Erfahrung machen, daß menschliche Zeugnisse häufiger ‚ver-
trauenswürdig’ sind als unzuverlässig sowie ihre Urheber weitgehend rational in
der Wahl ihrer sprachlichen Mittel relativ zu dem gegebenen Zweck der Kom-
munikation, sind wir auch in späteren, als ähnlich wahrgenommenen Situatio-
nen, geneigt, die Präsumtionen der Rationalität und Wahrheit anzuwenden.79
Psychisch äußert sich diese Bereitschaft als Erwartung. Diese Erwartungen, die
mit bisherigen Erfahrungen in ähnlichen (bzw. als ähnlich wahrgenommenen)
Kommunikationssituationen zusammenhängen, leiten als rudimentäre und im-

79
Wie im ersten Teil der Arbeit bereits dargestellt wurde, halte ich die Annahme von
durch Erfahrung begründeten und sich in Erwartungen äußernden Präsumtionen für die
eigentliche Position Humes (Hume 1748/1993: 131), nicht aber den angeblichen empiri-
stischen „Reduktionismus“, der jedes einzelne Zeugnis durch Erfahrung rechtfertigen will
und gegen den sich Coadys Argumente hauptsächlich richten.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 117
plizite Theorien über die relevanten Aspekte der Kommunikationssituation die
Bildung von interpretativen Hypothesen an.
Zugleich ist die Rationalität des Sprechers und die Wahrheit des Gesagten in
vielen Fällen aufgrund der beim Verstehen zugrunde gelegten alltagspsycholo-
gischen Theorie erklärbar. Ebenso gibt es viele Fälle, in denen die Irrationalität
des Sprechers, die Unwahrheit des Gesagten oder eine fehlende Kooperation
erklärbar ist. In solchen Fällen gehen wir beim Verstehen konkreter Äußerungen
dieses Sprechers von den Präsumtionen der Irrationalität, der Unwahrheit oder
der Nicht-Kooperation aus, es sei denn, wir erhalten starke entgegengesetzte In-
dizien.
Es trifft im allgemeinen zu, daß wir beim Verstehen und Interpretieren häu-
figer von der Rationalität und Kooperationsbereitschaft des Sprechers sowie von
der Wahrheit des Gesagten ausgehen als vom Gegenteil. Dies hängt vor allem
damit zusammen, daß wir in der Vergangenheit entsprechende Erfahrungen ge-
macht und diesbezügliche Erwartungen gebildet haben. Sollten wir eines Tages
entgegengesetzte Erfahrungen machen, werden wir im Rahmen veränderter all-
tagspsychologischer Theorien und Erwartungen häufiger mit Irrationalitäts-,
Unwahrheits- und Nichtkooperationspräsumtionen arbeiten als bisher. Eine sol-
che veränderte Verstehenspraxis setzt lediglich voraus, daß das entsprechende
irrationale, unwahrhafte und unkooperative Kommunikationsverhalten erklärbar
– und nicht völlig willkürlich und unvorhersehbar – ist.

3.3.3 Präsumtionen als „evolutionär“ bzw. „naturgesetzlich“


notwendige Bedingungen

Neben der ersten Bedeutung von „notwendig“ im Sinne der Unentbehrlichkeit


von Mitteln für das Verständnis sprachlicher Äußerungen können Präsumtionen
auch als „evolutionär“ zustande gekommene bzw. „naturgesetzlich notwendige“
Bedingungen des Verstehens aufgefaßt werden. Was heißt das?

„Die Grundidee läßt sich folgendermaßen angeben: Die biologische Evolution stellt
sicher, daß wir rational sind. Oder schon etwas ausführlicher: Die biologische Evolu-
tion stellt sicher, daß die meisten unserer Schlußstrategien und übrigen Meinungsbil-
dungsstrategien rational sind, und daß die meisten unserer Meinungen rational oder
sogar wahr sind“ (Scholz: 181).

Obwohl es sich bei der These von der evolutionären Notwendigkeit um eine
stärkere Notwendigkeitsbehauptung als bei der These einer ‚lediglich’ instru-
mentellen Notwendigkeit handelt, und ihr prima facie eine gewisse Plausibilität
zukommt, steht ihr auch Scholz skeptisch gegenüber. So schreibt er selbst, daß
eine evolutionsbiologische Begründung der Wahrheit der meisten unserer Über-
zeugungen nicht stichhaltig ist: Im Hinblick auf „Meinungen über Dinge wie die
eigene Nahrung und über die großen Gefahren, z.B. die natürlichen Feinde“ be-
118 Dritter Teil
sitze die „Idee der Überlebenszuträglichkeit wahrer Meinungen“ noch relativ
große Plausibilität (Scholz 1999: 188). Hingegen sei „in zahllosen anderen Be-
reichen die Wahrheit oder Falschheit unserer Überzeugungen ohne jeden Ein-
fluß auf den Bestand der Spezies“ (Scholz 1999: 189).
Stich hat die zunächst überraschende These aufgestellt, daß ein Meinungs-
bildungssystem, aus dem weniger wahre und mehr falsche Meinungen abgeleitet
werden kann als aus einem alternativen System, dennoch von der natürlichen
Selektion begünstigt werden könnte:

„What I propose to argue is this. Let us suppose that there is a pair of genetically
coded inferential systems, G1 and G2, in some species – either human or nonhuman.
Let us further suppose that in the natural environment of this species, G1 is more reli-
able; it leads to true beliefs more often, and to false beliefs less often, than does G2. I
contend that it is nonetheless possible that G2, the less reliable system, will exceed
G1 both in internal fitness and in external fitness. If this is right [...], then natural se-
lection will prefer G2 to G1 despite G1’s greater reliability in generating truths and
avoiding falsehoods“ (Stich 1990: 61).

Wahrheitsmaximierung scheint nicht notwendig ein Selektionsvorteil zu


sein. Eine evolutionstheoretische Erklärung dafür, daß die praktische Nützlich-
keit eines Meinungssystems unabhängig sein kann von der Wahrheit der Mei-
nungen, könnte darin bestehen, daß übervorsichtige Lebewesen bessere Überle-
benschancen haben als ihre weniger vorsichtigen Artgenossen, selbst dann,
„wenn sie mehr falsche als wahre Meinungen [bilden], auch wenn viele der
Meinungen auf irrationale Weise gebildet werden“ (Scholz: 189 f.). Die natürli-
che Selektion begünstigt also unter Umständen Meinungssysteme mit einem
vergleichsweise geringeren Wahrheitsgehalt. Die Wahrheit der meisten unserer
Überzeugungen ist daher evolutionstheoretisch nicht begründbar. Statt dessen
machen evolutionstheoretische Überlegungen verständlich, warum viele unserer
Überzeugungen nützlich sein können, ohne wahr zu sein. Auch Scholz hält es
für „nicht zwingend, daß der Besitz einer großen Anzahl von falschen Meinun-
gen die Überlebenschancen mindert. Ferner leisten auf vielen Gebieten mehr
oder weniger gute Annäherungen an die Wahrheit mindestens so gute Dienste
wie die wahre Meinung. Und der Versuch herauszufinden, was strenggenom-
men wahr ist, kann häufig gerade eine gefährliche Vergeudung wertvoller Zeit
und Energie bedeuten“ (Scholz 1999: 189). Warum also sollte man a priori da-
von ausgehen, daß die meisten unserer Meinungen wahr sind?80

80
Auch Elliott Sober stellt in Frage, daß evolutionsbiologische Hypothesen über den Ur-
sprung unserer kognitiven Ausstattung deren Rationalität begründen können: „It is entire-
ly conceivable that drift or mutation is responsible for the fact that we possess the suppo-
sedly optimal equipment we do. And it is even more conceivable that our mental equip-
ment emerged in a selection process in which many possible alternative endowments
were simply not represented and therefore never had a chance to demonstrate their selec-
tive advantage. If the true evolutionary story corresponds to either of these possible sce-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 119
Scholz liefert sogar ein evolutionstheoretisches Argument dafür, daß „die
meisten“ unserer Überzeugungen falsch sein könnten: „Meinungsbildungsstra-
tegien, die im Hinblick auf die Erzeugung wahrer und Vermeidung falscher
Meinungen gut abschneiden, können in puncto interner Fitness miserabel sein.
Es ist daher gut vorstellbar, daß die natürliche Auslese ein weniger verläßliches
Meinungsbildungssystem einem verläßlicheren vorzieht, weil es wesentlich
ökonomischer ist“ (Scholz 1999: 189).
Es ist nachvollziehbar, daß einfache Modelle der realen Welt, die lediglich
eine grobe „Annäherung an die Wahrheit“ darstellen, für den Überlebenskampf
wertvoller sein können als komplizierte Theorien, die zwar möglicherweise
wahr sind, aber schwer verständlich und in der Praxis weniger leicht anwendbar.
Vor diesem Hintergrund verkehrt sich das ursprünglich als Rechtfertigung unse-
rer Meinungen gedachte evolutionsbiologische Argument in ein skeptisches:
Wenn der Evolutionsprozeß nicht die Bildung wahrer Meinungen, sondern die
Bildung von Meinungen begünstigt, die für den Lebenskampf brauchbar wenn-
gleich übermäßig vereinfacht und daher falsch sind, kann die Evolutionstheorie
nicht die These eines Vorhandenseins überwiegend wahrer Meinungen begrün-
den. Möglicherweise bietet die Evolutionstheorie also nur eine Erklärung für das
Vorhandensein überwiegend falscher Meinungen, die aber für das Alltagshan-
deln dennoch brauchbar sind.

3.3.4 Präsumtionen als „konstitutive Bedingungen“

3.3.4.1 Präsumtionen als „praxiskonstitutive“ Bedingungen

Was bedeutet es, Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen als „praxiskonstitu-


tive Bedingungen“ des Verstehens und Interpretierens zu bezeichnen? Mit der
„Praxis“, die „konstituiert“ werden soll, sind die sprachliche Verständigung so-
wie das alltagspsychologische Personenverstehen gemeint (vgl. Scholz 1999:
191).
Folgt die These von den Präsumtionen als praxiskonstitutiven Bedingungen
aus der These der instrumentellen Notwendigkeit? Scholz scheint das zu glau-
ben:

„Erfolgreiche Kommunikation ist ohne die erwähnten gegenseitigen Präsumtionen


kaum oder gar nicht denkbar. Besonders grundlegend ist dabei eine allgemeine Ra-
tionalitätspräsumtion. Das gilt für alle Arten der Verständigung, die alltägliche eben-
so wie die wissenschaftliche oder philosophische. Daß eine Verständigung in spezifi-
schen Bereichen nicht möglich wäre, zeigten bereits die Argumentationen für die
Thesen, daß es sich um unentbehrliche Mittel für das Verstehen ironischer und meta-

narios, what would become of our hope to demonstrate the rationality of our information
processing equipment by appeal to a hypothesis about its genesis?“ (Sober 1981: 110f.).
120 Dritter Teil
phorischer Rede und allgemeiner: für das Verstehen von Implikaturen handelt. Ent-
sprechendes konnte dann sogar für wörtliche Äußerungen plausibel gemacht werden.
Da somit niemand mehr behaupten kann, es drehe sich dabei um unwichtige oder iso-
lierte Randbereiche der Sprachpraxis, führt von diesen Betrachtungen bereits ein di-
rekter Weg zu der These, daß die allgemeinen Prinzipien konstitutiv für die Praxis der
sprachlichen Kommunikation, so wie wir sie kennen, sind“ (Scholz 1999: 191).

Dies klingt zunächst plausibel. Wenn die genannten Präsumtionen instru-


mentell notwendig sind für die Praxis des Verstehens, dann scheint man wohl
auch sagen zu können, daß sie diese Praxis ‚konstituieren‘. Es kommt aber dar-
auf an, was genau man darunter versteht. Man kann den Ausdruck „praxiskon-
stitutiv“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwenden. Legen wir die erste
zu Grunde, dann ist die These von den Präsumtionen als konstitutive Bedingun-
gen gleichbedeutend mit der These von der instrumentellen Notwendigkeit, d.h.
sie hat keinen darüber hinausgehenden Gehalt. Legen wir die zweite zu Grunde,
dann erhalten wir ein ‚transzendentales‘ Argument für die Notwendigkeit von
Präsumtionen, das zwar über die These von der instrumentellen Notwendigkeit
hinausgeht, aber auch nicht von der Plausibilität dieser These profitieren kann.
„Praxiskonstitutiv“ kann erstens heißen: notwendig für unsere Praxis des
Verstehens und Interpretierens (bzw. der Kommunikation), d.h. für die Praxis,
so wie sie faktisch existiert. Dies geht nicht über die These von der instrumentel-
len Notwendigkeit hinaus. „Praxiskonstitutiv“ kann zweitens heißen: Bedingung
der Möglichkeit von Verstehen und Interpretieren schlechthin, d.h. nicht nur als
Voraussetzung der Kommunikationspraxis, wie wir sie faktisch vorfinden, son-
dern bezogen auf beliebige Praxen. Damit werden die hermeneutischen Präsum-
tionen zur Bedingung der Möglichkeit auch solcher Kommunikationsformen
erklärt, die es noch gar nicht gibt, die entweder eine bloße theoretische Mög-
lichkeit darstellen oder erst in Zukunft erdacht und praktiziert werden. Diese
Behauptung der Präsumtionen als Bedingung der Möglichkeit beliebiger Praxen
des Verstehens und Interpretierens ist daher eine transzendentale These, die über
die Behauptung einer instrumentellen Notwendigkeit hinausgeht und auch nicht
aus ihr folgt.
Welche Auffassung vertritt nun Scholz? In dem zitierten Absatz sprach er
von der „Praxis der sprachlichen Kommunikation, so wie wir sie kennen“, was
nahelegt, daß er die faktisch existierende Praxis meint. In diesem Fall läßt sich,
wie gesagt, nur ableiten, daß die instrumentell notwendigen Präsumtionen die
faktisch existierende Praxis „konstituieren“, d.h. möglich machen, was analy-
tisch wahr ist, nicht aber, daß die instrumentell notwendigen Präsumtionen für
jede denkbare Kommunikationspraxis „konstitutiv“ sind. Dieser durchaus rele-
vante Unterschied wird von Scholz übersehen, wenn er abschließend, wie folgt,
argumentiert:

„Vorerst können wir das folgende Zwischenergebnis festhalten: Daß die allgemeinen
Interpretationsprinzipien für die Praxis der Verständigung mit Sprache (und wohl
auch die mit anderen Zeichen) konstitutiv ist, scheint unbestreitbar. Wenn Rationali-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 121
tätsunterstellungen und verwandte Präsumtionen unentbehrliche Mittel für das Ver-
stehen nicht-wörtlicher sowie vieler wörtlicher Äußerungen sind, und zugestanden
wird, daß dies wiederum konstitutiv für die Praxis der sprachlichen Verständigung ist,
ergibt sich diese Schlußfolgerung unmittelbar“ (Scholz: 195).

Der Schluß, den Scholz in seinem letzten Satz zieht, ist zwar logisch korrekt,
aber aufgrund der fehlenden Unterscheidung zwischen der faktisch existieren-
den Kommunikationspraxis und jeder beliebigen Kommunikationspraxis irrele-
vant. Scholz hat jedoch völlig recht, wenn er es für unbestreitbar hält, „daß unse-
re alltagspsychologische Praxis eine andere wäre, wenn man sich die Rationali-
tätsunterstellungen aus ihr wegdenken würde“ (ebd.). Diese Annahme ist aber
bereits in der These von der instrumentellen Notwendigkeit der betreffenden
Präsumtionen enthalten.
Nun könnte jemand einwenden, die begriffliche Unterscheidung zwischen
der real existierenden Kommunikationspraxis und denkbaren anderen Kommu-
nikationspraxen sei eine bloße sprachanalytische Pedanterie ohne sachliche Be-
deutung. Ich möchte dies bestreiten: Es ist ohne weiteres möglich, daß sich die
bestehende Praxis der Kommunikation verbessern läßt, wohingegen die These
einer praxiskonstitutiven Notwendigkeit von Rationalitäts- und Wahrheitsunter-
stellungen diese bestehende Praxis des Verstehens und Interpretierens gegen
jegliche Kritik immunisiert und damit mögliche Alternativen verhindert. Das
läßt sich am Beispiel eines gemäßigt futuristischen Gedankenexperimentes
leicht zeigen: Gesetzt den Fall, es sei gelungen, eine leicht und vor allem ohne
Zeitverzögerung anwendbare Technik der empirischen Ermittlung psychischer
Dispositionen zu finden.81 Durch die Anwendung dieser Technik wüßten wir
mit großer Wahrscheinlichkeit, inwieweit ein Sprecher kooperationsbereit, ra-
tional und aufrichtig ist. Unter solchen Umständen wäre es unzweckmäßig, den-
noch mit der Methode der Präsumtionen vorzugehen. Es wäre effizienter,
sogleich die empirisch geprüften Annahmen über Dispositionen des Sprechers
beim Verstehen und Interpretieren zu verwenden. Selbstverständlich möchte ich
mit diesem Beispiel nicht zugleich die Prognose verbinden, daß ein solches
„Gedankenlesen“ unsere bisherige Praxis des Verstehens und Interpretierens ab-
lösen wird. Das Beispiel sollte lediglich zeigen, daß eine alternative Praxis des
Verstehens denkbar ist, die ohne die einschlägigen Präsumtionen auskommt. Da
wir nicht wissen, wie sich die Praxis des Verstehens in Zukunft entwickeln wird,

81
Wer ein anschauliches Beispiel vorzieht, kann sich hierbei einen weiterentwickelten
Lügendetektor vorstellen, etwa die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT), die
tatsächlich bereits eingesetzt wird, um emotionale Reaktionen anhand von Gehirnaktivitä-
ten zu messen. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist inzwischen die Erforschung der Effi-
zienz von Werbung („Neuromarketing“). Einige Forscher sind der Meinung, diese Me-
thode zu einem wirksamen Lügendetektor weiterentwickeln und damit auch andere psy-
chische Dispositionen messen zu können. Vgl. Vasek, Thomas: Marktforschung mit dem
Hirnscanner. In: Spiegel online, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/
0,1518,322093,00.html.
122 Dritter Teil
läßt sich über die Realisierbarkeit einer solchen alternativen Methode nichts sa-
gen. Und aus demselben Grund erscheint die stärkere These von der Praxiskon-
stitutivität hermeneutischer Präsumtionen unhaltbar.

3.3.4.2 Präsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingungen

Die sich nun anschließende kritische Prüfung derjenigen Argumente, welche die
Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen als „begriffskonstitutive“ Bedingun-
gen des Verstehens und Interpretierens begründen, bildet den Schwerpunkt des
dritten Teils der vorliegenden Arbeit. Die wesentlichen apriorischen Argumente
zugunsten des principle of charity sind hier versammelt. Dabei ist es zunächst
nicht einmal ohne weiteres zu verstehen, was überhaupt mit „begriffskonstituti-
ven“ Bedingungen gemeint sein soll. Scholz erläutert diesen Ausdruck folgen-
dermaßen:

„Nunmehr ist die Frage zu untersuchen, ob und inwieweit derartige Prinzipien dar-
über hinaus konstitutiv für die gerechtfertigte Anwendbarkeit der Begriffe sind, die
beim Verstehen gemeinhin zugeschrieben werden. Soweit sich dies einsichtig ma-
chen lassen sollte, hätte man damit auch gezeigt, daß sie konstitutive Bedingungen für
das Vorliegen von Verstehenskandidaten sind. Zu den wichtigsten Prädikaten, die
beim Verstehen und Interpretieren zugesprochen werden, zählen: die Begriffe für
propositionale Einstellungen (wie „Meinung“, „Wunsch“, „Erwartung“ etc.), das se-
mantische Vokabular („Bedeutung“, „Inhalt“, „Referenz“ etc.), der Begriff der Hand-
lung und schließlich der Begriff der Person.“ (Scholz 1999: 196)

Diese Aufzählung läßt bereits vermuten, daß die Begründung der Präsum-
tionen als begriffskonstitutive Bedingungen aus einer Vielfalt von Thesen be-
steht, die einzeln dargestellt und besprochen werden müssen. Scholzens beson-
dere Leistung liegt darin, die im Rahmen der umfangreichen Diskussion über
die Theorie der radikalen Interpretation insbesondere von Donald Davidson spo-
radisch geäußerten Hinweise zur These der Begriffskonstitutivität hermeneuti-
scher Präsumtionen identifiziert, systematisiert und auch argumentativ präzisiert
zu haben. Durch eine solche argumentative Ausarbeitung vager Hinweise setzt
sich Scholz natürlich der Gefahr der Widerlegung aus, wie er selbst bemerkt:

„Da solche Artikuliertheit mit größerer Angreifbarkeit und somit mit der Gefahr der
Widerlegung einhergeht, handelt es sich um eine riskante Unternehmung. Aber dazu
gibt es keine sinnvolle Alternative. Diese Arbeit zu scheuen, hieße, die in diesem Be-
reich aufgestellten Thesen durch Unklarheit zu immunisieren, was die Behauptungen
zwar künstlich weiterleben ließe, aber nur um den Preis, daß sie unverbindlich und
folgenlos, mit einem Wort: leer, blieben. Zu dem genannten risikoreichen, aber in je-
dem Fall lohnenden, Unterfangen möchte ich im folgenden einen Beitrag leisten“
(Scholz 1999: 196).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 123
Diese kritisch-rationale Haltung, sich durch Klarheit und Präzisierung der
Thesen und Argumente der Gefahr der Widerlegung auszusetzen, dürfte unstrei-
tig der beste Weg sein, die wissenschaftliche Diskussion voranzubringen – mein
argumentativer Beitrag im dritten Teil der Arbeit soll darin bestehen, dieses An-
gebot zur Kritik aufzugreifen.82

3.3.4.2.1 Begründungen aus der methodologischen Notwendigkeit

Inwiefern ist die Behauptung der methodologischen Notwendigkeit hermeneuti-


scher Präsumtionen eine Konstitutivitätsthese? Es hat zunächst den Anschein,
als ob die Behauptung methodologischer Notwendigkeit nicht über die relativ
schwache These von den Präsumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens
hinausgeht bzw. sogar mit ihr identisch ist. Worin also besteht der zusätzliche
Gehalt der Behauptung von der methodologischen Notwendigkeit hermeneuti-
scher Präsumtionen?

„Eine erste Begründungsstrategie, die die methodologische Notwendigkeit akzentu-


iert (sich unter Umständen aber sogar zu einer Konstitutivitätsargumentation entwik-
keln läßt), kann man aus den Überlegungen Quines zur Übersetzung der aussagenlo-
gischen Konstanten und zur Kritik an der These von der prälogischen Mentalität ge-
winnen. Bei diesem Philosophen ein solches Argument zu entdecken, entbehrt frei-
lich nicht einer gewissen Ironie, da der Empirist und Naturalist Quine bekanntlich
kein Freund aprioristischer Begründungen ist. Und tatsächlich redet Quine selbst häu-
fig so, als stünden vor allem induktiv-probabilistische Erwägungen hinter seiner Ar-
gumentation [...]. Ginge es allein um Wahrscheinlichkeiten, dann stünde Quines Zu-
rückweisung der These von der prälogischen Mentalität allerdings auf tönernen Fü-
ßen. Ethnologen, die eine solche Auffassung vertreten, könnten Quine ungerührt fra-
gen, worauf sich denn seine Annahme stützen soll, daß absurde Meinungen und ab-
wegige Schlüsse unwahrscheinlich seien. Wie will Quine dies auf induktivem Wege
herausgefunden haben? Gestehen wir Quine vorerst zu, er verfüge über ausreichende
induktive Belege dafür, daß offenkundig falsche Meinungen in seinem kulturellen
Umfeld, also etwa unter seinen Landsleuten und unter Angehörigen verwandter Kul-
turen, eher selten sind. Solche Belege brauchten jemanden, der behauptet, in fremden
Kulturen hege man widersprüchliche oder in anderer Weise flagrant falsche Überzeu-
gungen, natürlich nicht zu beeindrucken. Ein Verfechter der These von der prälogi-
schen Mentalität bestreitet ja gerade die relevante Ähnlichkeitsbasis, die einzig und
allein einen inferentiellen Übergang von einer Annahme bezüglich der Meinungssy-
steme und Schlußstrategien in unserer Kultur zu einer entsprechenden Annahme in
bezug auf die fremde Kultur ermöglichen könnte“ (Scholz 1999: 198).

82
Doch nicht nur derjenige, der neue Thesen erfindet respektive bestehende in eine kriti-
sierbare Form bringt, geht ein Risiko ein. Auch die Aufgabe des Kritikers ist nicht ohne
Risiko, setzt er sich doch nicht allein der Gefahr einer Gegenkritik aus, sondern auch dem
häufig anzutreffenden Unverständnis der Bedeutung von Widerlegungsversuchen für den
Erkenntnisfortschritt.
124 Dritter Teil
Das Argument soll nun offenbar darin bestehen, daß es nicht möglich ist, auf
empirisch-induktivem Wege von den Meinungssystemen der eigenen Kultur auf
diejenigen fremder Kulturen zu schließen; wenn aber die Annahmen über Mei-
nungssysteme der fremden Kulturen nicht in dieser Form empirisch-induktiv
gewonnen werden können, so scheinen sie doch in irgendeiner Form erfahrungs-
unabhängig zu sein. Sicherlich ist auch aus kritisch-rationaler Sicht zuzustim-
men, daß Hypothesen, die über den Bereich des bislang Beobachteten hinausge-
hen, nicht durch bisherige Beobachtungen gerechtfertigt werden können. Was
jedoch für Rechfertigungsfragen gilt, kann nicht ohne weiteres auf die Genese
von Überzeugungen übertragen werden. Wir sagten – im Anschluß an Hume –
daß wir aufgrund unserer Erfahrungen Erwartungen ausbilden, die dann als ru-
dimentäre Theorien den Verstehens- und Interpretationsprozeß anleiten. Wenn
wir nun die Erfahrung machen, daß alle Menschen, die wir bislang kennenge-
lernt haben, keine offensichtlich absurden Meinungen vertreten, erwarten wir
dies auch von jedem Menschen, den wir in Zukunft kennenlernen werden. Daß
wir allein aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen nicht epistemisch berechtigt
sind, raum-zeitlich uneingeschränkte Hypothesen zu vertreten, ist seit Hume ei-
ne erkenntnistheoretische Binsenweisheit. (Daß wir dennoch in der Praxis so
vorgehen und darin auch pragmatisch gerechtfertigt sein können, ist die andere –
allerdings weniger unumstrittene – Erkenntnis Humes.83)
Scholz möchte offenbar nicht die grundsätzliche These vertreten, der Empi-
rismus sei aufgrund des Induktionsproblems gescheitert in dem Sinne, daß es
keine empirisch prüfbaren Hypothesen gebe. Wenn es also möglich sein soll,
empirische Hypothesen über unterschiedliche Erkenntnisobjekte zu bilden –
warum dann nicht auch über „Meinungssysteme und Schlußstrategien“ realer
Menschen? Wenn wir aufgrund unserer bisherigen Erfahrungen in einem Raum-
Zeit-Bereich über naturwissenschaftliche Erkenntnisgegenstände allgemeine
Hypothesen bilden, gibt es keinen erkennbaren Grund, warum wir nicht auf
demselben Wege zu empirischen Hypothesen über menschliche Dispositionen
gelangen sollten. Eine Hypothese über das Verhalten von australischen Urein-
wohnern auf Basis von Erfahrungen mit Menschen im europäischen Kulturkreis
ist – methodologisch gesehen – nicht prinzipiell verschieden von der Hypothese
eines Naturforschers über das Verhalten von Tieren einer bestimmten Art in Au-
stralien auf Basis von Beobachtungen an Tieren dieser Art in Europa. Sowohl
die naturwissenschaftliche als auch die humanwissenschaftliche Hypothese be-
ruht auf einer raum-zeitlichen Verallgemeinerung, die kein logischer Schluß sein

83
Popper hat bekanntlich bestritten, daß es überhaupt eine solche empirisch-
psychologische Induktion gibt (vgl. etwa 1934: 374). Ich kann ihm in diesem Punkt je-
doch nicht folgen. Recht hat Popper allerdings mit dem Hinweis, daß in vielen Fällen die
Wiederholung nicht ausschlaggebend ist bei einem „Lernen aus Erfahrung“. Ein Kind
muß nicht wiederholt eine heiße Herdplatte anfassen, um zu erkennen, daß es sich daran
verbrennen kann. In Poppers Lerntheorie bleibt es jedoch mysteriös, wie wir überhaupt zu
unseren Erwartungen und Theorien kommen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 125
kann, weil sie gehaltserweiternd ist, die aber dennoch ein legitimes Mittel der
Theoriebildung sein kann. Das von Scholz gegen Quines Auffassung, seine Zu-
rückweisung der These von der prälogischen Mentalität sei empirisch und nicht
apriorisch, angeführte Argument ist also höchst zweifelhaft, denn dieses Argu-
ment ließe sich gegen jegliche empirische Theoriebildung einwenden. Da
Scholz die Möglichkeit empirischer Theoriebildung nicht grundsätzlich bestrei-
tet, beruht sein Argument auf einer Prämisse, die er selbst nicht teilt. Es ist daher
hinfällig.
Doch Scholz sieht sogar „in bezug auf Angehörige unserer eigenen Kultur“
für einen Interpreten eine Schwierigkeit, auf der Basis seiner Erfahrungen zu
dem Urteil zu gelangen, daß absurde Meinungen die Ausnahme bilden: „Denn
natürlich müssen wir im allgemeinen interpretieren, was eine Person sagt, um
entscheiden zu können, ob sie abwegige Meinungen hat. Und dazu müssen wir
eine Art Übersetzungshandbuch oder etwas Vergleichbares erstellen. Bei der
Entwicklung eines solchen Manuals sollen wir, wie Quine ja selbst betont, nach-
sichtig verfahren, d.h., die Zuschreibung abwegiger Meinungen nach Möglich-
keit gerade vermeiden. Um also auf induktivem Wege Anhaltspunkte für das
Charity-Prinzip zu sammeln, müßten wir bereits voraussetzen, daß es korrekt ist.
Demnach würde der Versuch, das Prinzip induktiv zu rechtfertigen, in einer
petitio principii landen“ (Scholz 1999: 199).
Setzt also derjenige, der meint, bestimmte menschliche Dispositionen, etwa
kommunikative Rationalität, empirisch ermitteln zu können, das bereits voraus,
was er erst durch Erfahrung feststellen möchte? Und wenn ja: Ist das ein Pro-
blem für die empirische Hypothesenbildung? Bezogen auf Angehörige unseres
eigenen Kulturkreises liegt hier offenkundig das von Scholz behauptete metho-
dologische Problem gar nicht vor: Erstens müssen wir kein „Übersetzungshand-
buch“ erstellen, um eine Person unseres eigenen Kulturkreises zu verstehen.
Zweitens können wir bei Personen unseres Kulturkreises, die wir im allgemei-
nen auch ohne Übersetzungshandbuch verstehen, in stärkerem Ausmaß auch
Falschheitspräsumtionen und Irrationalitätsunterstellungen verwenden, als dies –
aus den im Rahmen der Diskussion über Erstübersetzung bekannten methodolo-
gischen Gründen – beim Verstehen von Personen möglich ist, deren Sprache wir
nicht kennen. Drittens: Selbst dann, wenn wir gezwungen sind, das Charity-
Prinzip zu verwenden, um eine Person zu verstehen, müssen wir damit nicht
voraussetzen, daß das Prinzip „korrekt ist“, genauer gesagt: daß wir berechtigt
sind, das Prinzip auf den gegebenen Fall anzuwenden. Ob wir dazu berechtigt
waren, klärt sich – eventuell – im nachhinein. Dies ist aber für einen nicht-
naiven Empiristen (bzw. kritischen Rationalisten), der lediglich beansprucht,
daß Hypothesen empirisch prüfbar sein sollen, nicht aber, daß sie vor ihrer
Verwendung auch tatsächlich empirisch geprüft worden sind, kein methodologi-
sches Problem. Denn in solchen Fällen handelt es sich lediglich um Annahmen,
die genetisch a priori sind (vgl. Popper 1987: 127) – also um für die Praxis des
Verstehens unentbehrliche Vorannahmen im Sinne von Abschnitt 3.3.2 – nicht
126 Dritter Teil
aber um „konstitutive Bedingungen“, wie sie in diesem Kapitel besprochen wer-
den.
Wie aus dem Argument, daß sich Ethnologen, die scheinbar widersprüchli-
che oder absurde Äußerungen des Sprechers einer fremden Sprache als tatsäch-
liche Widersprüche oder Absurditäten interpretieren und dabei – wie etwa der
Ethnologe Lévy-Bruhl – eine prälogische Mentalität des Sprechers unterstellen,
methodologisch absurd verhalten, eine Konstitutivitätsthese hergeleitet werden
soll, möchte Scholz im folgenden begründen: Er referiert ausführlich das be-
kannte Beispiel des Ethnologen, der die Lautfolge „p kei uh p“ eines Eingebore-
nen als „p und nicht-p“ übersetzt und dann behauptet, diese Eingeborenen besä-
ßen eine prälogische Mentalität.

„Was könnte aber ein stärkerer Grund gegen die Richtigkeit der genannten Überset-
zungshypothesen sein als der, daß sie dazu führen, ernsthafte Aussagen als
Kontradiktionen zu übersetzen und damit die fremden Sprecher als Leute
hinzustellen, die inkonsistente Überzeugungen haben?“ (Scholz 1999: 200).

Erneut müssen wir uns fragen, worin denn eigentlich die Konstitutivitätsthe-
se bestehen soll. Wenn die Konstitutivitätsthese in der Forderung besteht, zu-
nächst einmal von der Rationalität des Sprechers auszugehen, bis sich das Ge-
genteil erweist, handelt es sich um nichts anderes als um die These von den Prä-
sumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens (instrumentelle Notwendig-
keit) und damit um ein lediglich zeitliches Apriori. Wenn die Konstitutivitäts-
these aber darin besteht, jegliche Unterstellung von Irrationalität zu verbieten
und die Präsumtion der Rationalität für unumstößlich zu erklären, dann unter-
scheidet sie sich wirklich von der These bloßer instrumenteller Notwendigkeit.
Sie hätte dann zwar einen starken apriorischen Anspruch, wäre aber zugleich
auch falsch, da es bekanntlich Fälle offenkundiger Irrationalität de facto gibt;
sogar logische Widersprüche im Meinungssystem von Sprechern kommen gele-
gentlich vor – übrigens nicht nur bei Eingeborenen, sondern durchaus auch bei
Angehörigen unseres Kulturkreises, mitunter sogar bei solchen, die sich als Phi-
losophen beruflich auf die Bildung konsistenter Meinungssysteme spezialisiert
haben.
Um das Zwischenergebnis kurz festzuhalten, kann man sagen, daß die Beru-
fung auf Quines Ausführungen über die Übersetzung logischer Konstanten bei
der Erstübersetzung keine Konstitutivitätsthese begründet, die über die lediglich
instrumentelle Notwendigkeit hermeneutischer Präsumtionen hinausgeht. Da die
Verwendung von Präsumtionen als unentbehrliche Mittel des Verstehens, wie
wir gesehen haben, zum einen nicht völlig losgelöst ist von Erwartungen, die
aufgrund bisheriger Erfahrung gebildet wurden, und zum anderen allenfalls zeit-
lich der empirischen Prüfung vorangeht, ohne apriorische Geltung beanspruchen
zu können, läßt sich der „Empirist und Naturalist Quine“, der „bekanntlich kein
Freund aprioristischer Begründungen ist“, auch nicht vor den Karren einer
aprioristischen Begründung hermeneutischer Präsumtionen spannen. Wer den-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 127
noch versucht, letzteres zu tun, sollte bedenken, daß er damit Quine ein inkonsi-
stentes Meinungssystem zuschreibt und damit gegen eben jene hermeneutische
Präsumtion verstößt, deren apriorische Geltung er nachzuweisen sucht.
Der nächste Versuch, die Konstitutivitätsthese methodologisch zu begrün-
den, bezieht sich auf Donald Davidson:

„So hat Davidson in selbstbewußteren Momenten behauptet, die einzig gangbare Me-
thode zur Entwicklung von Interpretationstheorien sei das von ihm skizzierte Verfah-
ren der radikalen Interpretation. [...] Man sieht wohl schon, wie diese Ansicht als
Ausgangspunkt einer Rechtfertigung des „principle of charity“ verwendet werden
kann: Die Methode der radikalen Interpretation ist die einzig gangbare Methode zur
Entwicklung von Interpretationstheorien. Dieses Verfahren schreibt notwendig eine
durchgängige Anwendung des Nachsichtsprinzips vor, d.h.: ohne Anwendung des
Prinzips gelangen wir nicht zu einer brauchbaren Interpretationstheorie. Was die ein-
zig gangbare Methode vorschreibt, ist methodologisch notwendig. Also ist die An-
wendung des „principle of charity“ methodologisch notwendig. Was methodologisch
notwendig ist, ist offenbar gerechtfertigt. Mithin ist das Nachsichtsprinzip gerechtfer-
tigt“ (Scholz 1999: 203).

Abgesehen davon, daß diese Argumentation nur scheinbar schlüssig ist, da


nicht alles, was methodologisch notwendig ist, dadurch auch epistemisch ge-
rechtfertigt sein muß, steht natürlich die erste Prämisse in Frage. Warum sollte
die Methode der radikalen Interpretation die einzig gangbare Methode sein?
Entsprechend gesteht auch Scholz zu: „daß die Methode der radikalen Interpre-
tation den ausgezeichneten Status hat, den ihr Davidson in der obenzitierten
Stelle zuschreibt, ist alles andere als evident. Eine Reihe von Autoren haben In-
terpretationsmethoden beschrieben, die von Davidsons Vorgehensweise mehr
oder weniger stark abweichen, aber deshalb nicht klarerweise untauglich sein
müssen. Wieder andere Philosophen haben sogar in Frage gestellt, ob radikale
Interpretation, wie Davidson sie beschreibt, überhaupt möglich ist“ (ebd.).
Da die erste Prämisse der oben angeführten Argumentation Scholz nicht
überzeugt, versucht er, eine verbesserte und überzeugendere Begründung vorzu-
schlagen:

„Ein Versuch, eine solche artikuliertere und dadurch überzeugendere Begründung zu


liefern, sähe folgendermaßen aus: Die Methode der radikalen Interpretation ist die
einzig gangbare Methode zur Entwicklung von Interpretationstheorien. Im Rahmen
der Methode der radikalen Interpretation muß in jedem Falle von Sätzen über Bedin-
gungen des Fürwahrhaltens zu Sätzen über Wahrheitsbedingungen übergegangen
werden. Nur ein Nachsichtsprinzip (in der Form einer Wahrheitspräsumtion) ermög-
licht diesen Übergang. Also ist das alethische Nachsichtsprinzip methodologisch
notwendig. Was methodologisch notwendig ist, ist gerechtfertigt. Mithin ist das
alethische Nachsichtsprinzip gerechtfertigt“ (Scholz 1999: 204).

Diese Argumentation ist insofern präziser, als sie angibt, an welcher Stelle
im Rahmen der Methode der radikalen Interpretation das Nachsichtsprinzip me-
128 Dritter Teil
thodologisch notwendig sein soll, und zwar beim Übergang von Sätzen über
Bedingungen des Fürwahrhaltens zu Sätzen über Wahrheitsbedingungen. Doch
sie beseitigt nicht den zentralen, auch von Scholz eingestandenen Mangel, in der
ersten Prämisse etwas höchst Zweifelhaftes vorauszusetzen: daß die Methode
der radikalen Interpretation die einzig gangbare Methode sei. Zudem bleibt das
bereits erwähnte Problem bestehen, daß aus der methodologischen Notwendig-
keit keine epistemische Rechtfertigung folgt. Selbst wenn wir zugeben, die radi-
kale Interpretation sei die einzig gangbare Methode, und sie erfordere die An-
wendung des Nachsichtsprinzips, so ist damit keine einzige Anwendung des
Nachsichtsprinzips epistemisch gerechtfertigt. In jedem einzelnen Fall können
wir uns bei der Wahrheitsunterstellung irren. Das einzige, was man sagen kann
– die Wahrheit der Prämissen der obigen Argumentation vorausgesetzt –, ist,
daß wir keine andere Wahl hatten, sofern wir denn überhaupt verstehen wollten.
Aus dieser (hypothetisch angenommenen) Alternativlosigkeit einer Praxis des
Verstehens eine epistemische Rechtfertigung derselben abzuleiten, erscheint
höchst abenteuerlich. Ist aber mit „Rechtfertigung“ keine epistemische Berech-
tigung gemeint, sondern eine pragmatische, löst sich das angestrebte Argument
für die Konstitutivitätsthese wiederum in Luft auf.

3.3.4.2.2 Begründungen aus dem Holismus der Interpretation

Auch Scholz scheint die bislang angeführten Begründungen der Konstitutivitäts-


these nicht für ausreichend zu halten, so daß er in einem zweiten Anlauf Be-
gründungen aus dem Holismus der Interpretation anführt und hierbei erneut als
erstes auf Quine Bezug nimmt. Quines Holismus der Überprüfung empirischer
Theorien, der insbesondere durch seinen Aufsatz über die beiden Dogmen des
Empirismus populär wurde, besagt bekanntlich, daß durch einen Widerstreit un-
serer Theorie(n) mit der Erfahrung nicht festgelegt wird, welche Sätze innerhalb
der Theorie – respektive: welche Theorien innerhalb unseres gesamten Systems
von Theorien – widerlegt worden sind und revidiert werden müssen (vgl. Quine
1953). Davidson habe Quines Holismus der Theorieprüfung auf den Bereich der
bei einem Sprecher zu identifizierenden und zu interpretierenden Überzeugun-
gen übertragen und die „These von der Unentwirrbarkeit von Bedeutungen und
Überzeugungen, oder allgemeiner: propositionalen Einstellungen“ aufgestellt,
mit dem „Ziel einer [...] Bedeutungstheorie für eine gesamte Sprache“, die „un-
trennbar verbunden [sei] mit einer Theorie über die Meinungen der Sprecher
dieser Sprache“ (Scholz 1999: 207 f.). Scholz sieht in diesem Holismus der In-
terpretation eine mögliche Begründung der Konstitutivitätsthese:

„Vor diesem Hintergrund können wir jetzt eine Begründung aus dem Holismus der
Interpretation skizzieren: Jede Theorie der Interpretation muß den Äußerungen Be-
deutungen zuweisen und den Sprechern propositionale Einstellungen, insbesondere
Meinungen und Wünsche, zuschreiben. Die Bedeutungszuweisungen und die Einstel-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 129
lungszuschreibungen sind wechselseitig voneinander abhängig. Jede Theorie der In-
terpretation muß das Problem dieser wechselseitigen Abhängigkeit lösen. Das Nach-
sichtsprinzip liefert nun gerade die Lösung: Die Spielräume für Meinungszuschrei-
bungen werden eingeschränkt, während festgelegt wird, wie die Äußerungen zu in-
terpretieren sind. Da das Charity-Prinzip die Lösung für ein Problem liefert, mit dem
jede Interpretationstheorie fertigwerden muß, ist seine Anwendung gerechtfertigt, ja
sogar notwendig“ (Scholz 1999: 209).

Nun wäre es erneut angebracht zu klären, in welchem Sinn hier von „not-
wendig“ und „gerechtfertigt“ die Rede ist, und ob daraus überhaupt etwas für
die Konstitutivitätsthese folgt, die ja eine apriorische Geltung der hermeneuti-
schen Präsumtionen behauptet. Der erste und naheliegendste Einwand gegen die
von Scholz skizzierte Begründung aus dem Holismus der Interpretation besteht
jedoch darin, daß jedes beliebige Verstehensprinzip die Aufgabe erfüllt, „Spiel-
räume für Meinungszuschreibungen“ einzuschränken und festzulegen, „wie die
Äußerungen zu interpretieren sind“. Scholz selbst zitiert Colin McGinn, der
pointiert darauf hingewiesen hat, daß ein „‚principle of uncharity’ eine ebenso-
gute Lösung des Problems der wechselseitigen Abhängigkeit von Bedeutungs-
zuweisungen und Einstellungszuschreibungen ermöglicht“ (Scholz 1999: 210).
Natürlich ging es McGinn nicht darum, ein solches Prinzip übelwollender Inter-
pretation tatsächlich aufzustellen oder das principle of charity für unbrauchbar
zu erklären.84 Vielmehr beschäftigt er sich mit der Frage „what status such a
principle enjoys“ (McGinn 1977: 521), und er kritisiert den Anspruch, durch ein
transzendentales Argument zu begründen „that most of what others say and be-
lieve is going to be true“ (McGinn 1977: 522).
Daß Falschheitspräsumtionen tatsächlich ebensogut wie Wahrheitspräsum-
tionen dazu geeignet sind, Spielräume für Meinungszuschreibungen einzu-
schränken, scheint Scholz jedoch zu bezweifeln:

„Nun genügt die pauschale und unspezifische Annahme, die Überzeugungen des
Sprechers seien falsch, sicher nicht. Es gibt einfach viel zu viele Möglichkeiten, wie
die Überzeugungen falsch sein könnten. Wissen wir, daß jemand wahre Meinungen
über eine bestimmte Sache hat, dann können wir gut eingrenzen, welche Meinungen
dies sind, soweit wir selbst im Besitz der Wahrheit sind. Wissen wir dagegen, daß je-
mand falsche Meinungen über etwas hat, dann haben wir noch nicht die geringste
Ahnung, welche Meinungen dies sein könnten“ (Scholz 1999: 210, meine Hervorhe-
bung).

Es ist ganz richtig, daß wir wüßten, welche Meinungen jemand hat, wenn
feststünde, daß die Meinungen, die er hat, wahr sind, und wir zugleich „im Be-
sitz der Wahrheit“ wären. Bedauerlich ist nur, daß wir weder im Besitz der

84
Obwohl McGinn nicht die Absicht hatte, ernsthaft ein „principle of uncharity“ einzu-
führen, sollte man die Möglichkeit der Verwendung allgemeiner Falschheitspräsumtionen
beim Verstehen und Interpretieren nicht vorschnell negieren.
130 Dritter Teil
Wahrheit sind noch wissen, daß die Meinungen, die jemand hat, wahr sind.
(Letzteres unterstellen wir bloß, wenn wir uns einer Wahrheitspräsumtion be-
dienen.) Und da wir dies nicht wissen, ist für die Praxis des Verstehens und In-
terpretierens ein unspezifisches Charity-Prinzip ebenso fragwürdig wie ein un-
spezifisches Uncharity-Prinzip. Wie in einem späteren Abschnitt näher ausge-
führt werden soll, verwenden wir beim Verstehen und Interpretieren sowohl
Wahrheits- als auch Falschheitsunterstellungen, die insofern allgemein sind, als
daß sie sich auf ganze Arten von Meinungen bzw. Zeugnissen beziehen können,
aber zugleich stets spezifisch sind, insofern sie nicht beliebige wahre oder fal-
sche Meinungen unterstellen, sondern nur erklärbar falsche und erklärbar wahre
Meinungen. Ein Beispiel für die von Henderson vorgeschlagene Unterordnung
der hermeneutischen Präsumtionen unter das Prinzip der Erklärbarkeit (vgl.
Henderson 1993 u. Henderson 2003) mag bereits in diesem Diskussionszusam-
menhang hilfreich sein: Nehmen wir an, wir wüßten von einem Menschen
nichts anderes, als daß er ein Angehöriger eines bestimmten (fremden) Volkes
ist, von dem bekannt ist, daß es sich gegen Fremdeinflüsse abschottet. Wir ge-
hen also davon aus, daß ein Angehöriger dieses Volkes über unsere eigene Kul-
tur, einschließlich unserer Technik, den Wissenschaften, Künsten und Lebens-
gewohnheiten, entweder keine oder aber falsche Vorstellungen hat. Dagegen
werden wir erwarten, daß dieser Mensch über Phänomene seiner eigenen Le-
benswelt gut unterrichtet ist. Wir arbeiten also zugleich mit allgemeinen
Wahrheits- als auch mit Falschheitspräsumtionen gegenüber Zeugnissen be-
stimmter Art. Diese Präsumtionen sind insofern spezifisch, als sie sich aus-
schließlich auf erklärbar wahre und erklärbar falsche Meinungen beziehen: Daß
sich der Angehörige der fremden Kultur in bezug auf bestimmte Erkenntnisge-
genstände systematisch irrt und in bezug auf andere nicht, ergibt sich aus unse-
rem Hintergrundwissen und unseren theoretischen Vorannahmen, welche jedoch
fallibel sind. Sollten wir jemals mit einem Angehörigen dieser Kultur zusam-
mentreffen, werden wir derartige Wahrheits- und Falschheitspräsumtionen beim
Verstehen und Interpretieren seiner Äußerungen verwenden, möglicherweise
aber auch feststellen, daß sie weiter präzisiert und modifiziert werden müssen
oder sogar einfach falsch waren.

3.3.4.2.3 Begründungen unter Berufung auf einen


Wahrheitshintergrund

Der im weiteren Verlauf von Scholz ausgearbeitete Grundgedanke der soge-


nannten „Begründungen unter Berufung auf einen Wahrheitshintergrund“ lautet,
daß nur derjenige überhaupt eine Meinung haben kann, der eine Vielzahl wahrer
Meinungen besitzt. Die Grobstruktur des Argumentes läßt sich folgendermaßen
angeben:
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 131
„Meinungen sind durch ihre Inhalte gekennzeichnet. D.h.: Etwas ist nur dann eine
Meinung, wenn es einen festgelegten Inhalt hat. Der Inhalt einer Meinung wird durch
ihren Platz in einem weitläufigen Muster von mit ihr zusammenhängenden wahren
Meinungen festgelegt. Also kann nur, wer eine große Menge wahrer Meinungen hat,
überhaupt eine Meinung haben. – Dies gilt natürlich insbesondere auch für falsche
Meinungen: Nur wer eine große Menge wahrer Meinungen hat, kann demnach eine
falsche Meinung haben“ (Scholz 1999: 211).

Es überrascht nun doch, daß Scholz ein solches Argument gegen die Mög-
lichkeit überwiegend falscher Meinungen innerhalb eines Meinungssystems an-
führt, obwohl er gegen Dennetts These von der evolutionären Notwendigkeit
bereits scharfsinnige Argumente ins Feld geführt hat, die auch das nun vorge-
brachte Argument obsolet erscheinen lassen: Wenn es in weiten Bereichen unse-
res Meinungsspektrums (für unser Überleben) ausreichen soll, daß wir „passen-
de“ Meinungen besitzen, die häufig jedoch nicht „stimmen“, d.h. falsch sind,
läßt sich auch die Möglichkeit überwiegend falscher Meinungen in Betracht zie-
hen. Und solange die innerhalb eines Meinungssystems verwendeten Begriffe
sich auf eindeutig zuzuordnende Gegenstände beziehen, scheint zunächst auch
kein Problem darin zu bestehen, Personen falsche Meinungen zuzuschreiben,
auch wenn es überwiegend falsche sein sollten.85
Die bei Scholz vorliegende Fassung der These geht zurück auf Aufsätze Do-
nald Davidsons aus den 80er Jahren, insbesondere auf „Thought and Talk“: Es
könne, so Davidson, zwar nicht angenommen werden „that speakers never have
false beliefs“ (Davidson 1984/1985: 168), aber die meisten Meinungen müßten
als wahr gelten:

„We can, however, take it as given that most beliefs are correct. The reason for this is
that a belief is identified by its location in a pattern of beliefs; it is this pattern that de-
termines the subject matter of the belief, what the belief is about. Before some object
in, or aspect of, the world can become part of the subject matter of a belief (true of
false) there must be endless true beliefs about the subject matter. False beliefs tend to
undermine the identification of the subject matter; to undermine, therefore, the valid-

85
Die Probleme, die sich aus der Vagheit der postulierten These von der Wahrheit „der
meisten“ unserer Überzeugungen ergeben, habe ich in der Auseinandersetzung mit Quin-
ton („Most testimony must be reliable“) bereits ausgeführt. Trotz der großen Ähnlichkeit
der transzendentalen These Quintons (und Coadys) und der hier diskutierten, gibt es einen
beträchtlichen Unterschied, der damit zusammenhängt, daß es sich um unterschiedliche
Erkenntnisgegenstände handelt, deren überwiegende Wahrheit jeweils behauptet wird: im
einen Fall um Zeugnisse, im anderen um Meinungen. Dies macht durchaus einen relevan-
ten Unterschied, der bei der Kritik an der jeweiligen transzendentalen These wichtig sein
kann. Im Zusammenhang der These von der Wahrheit der meisten Meinungen (beliefs)
wird unter „Meinung“ etwas verstanden, was völlig unbewußt und implizit bleiben kann
und von dem noch nicht einmal gesprochen werden muß. Ein Zeugnis (testimony) im
Sinne einer assertorischen Sprechhandlung muß hingegen zumindest sprachlich artikuliert
werden.
132 Dritter Teil
ity of a description of the belief as being about that subject. And so, in turn, false be-
liefs undermine the claim that a connected belief is false” (Davidson 1984/1985:
168).

Wie ist es nun gemeint, daß wir einen Erkenntnisgegenstand nicht (oder je-
denfalls schlechter) identifizieren können, wenn wir falsche Meinungen über ihn
besitzen? – Davidson selbst verdeutlicht dies, indem er fragt, woher wir wissen,
daß einige unserer Vorfahren die Erde für eine Scheibe gehalten haben und da-
mit wirklich diese unsere Erde gemeint haben. Er gibt darauf die Antwort:

„Well, this earth of ours is part of the solar system, a system partly identified by the
fact that it is a gaggle of large, cool, solid bodies circling around a very large, hot star.
If someone believes none of this about the earth, is it certain that it is the earth that he
is thinking about?” (ebd.).

In der von Davidson präsentierten Form ist das transzendentale Argument


zugunsten der Wahrheit der meisten Meinungen offenkundig unhaltbar: Die Be-
zugnahme auf eine bestimmte kosmologische Theorie, die mit der neuzeitlichen
Physik übereinstimmt, kann nicht das Kriterium dafür sein, daß jemand von die-
ser unserer Erde spricht. McGinn hat – wie Scholz referiert – den naheliegenden
Einwand geäußert, daß auch eine von der neuzeitlichen Kosmologie völlig ab-
weichende Meinung über Sterne als eine (falsche) Meinung über Sterne verstan-
den werden könne.
Von Davidson ausgehend, aber unter Berücksichtigung der Kritik McGinns,
formuliert Scholz nun ein verbessertes Argument, das die Wahrheit der meisten
unserer Meinungen als Bedingung der Möglichkeit herausstellen soll, überhaupt
(wahre oder falsche) Meinungen zu besitzen:

„Wir müssen McGinn natürlich darin recht geben, daß Menschen irrige Meinungen
über Sterne hatten und etliche vergleichbare irrige Meinungen zu allen Zeiten gehegt
haben und noch hegen. Ein Verzeichnis menschlicher Irrtümer und Narrheiten müßte
zweifellos einen beträchtlichen Umfang haben. Man kann Menschen somit oft mit
Recht falsche, sogar eklatant falsche, Meinungen zuschreiben. Bevor wir voreilige
Schlüsse aus dieser Betrachtung ziehen, sollten wir uns aber fragen, aus welchem
Grund wir so zuversichtlich sind, daß die Alten beispielsweise die genannte irrige
Auffassung von den Sternen hatten, d.h., daß sich ihre Meinung auf die Sterne bezog.
Aus welchem Grunde glauben wir in dem von McGinn geschilderten Fall, daß die
Meinungen der Alten und unsere Meinungen sich auf dasselbe beziehen, daß wir so-
mit divergierende Ansichten über dieselbe Sache haben? Nun, ich denke, weil wir in
zahlreichen grundlegenden Punkten, auch was die Sterne angeht, mit den Alten über-
einstimmen. Dazu gehören so unspektakuläre Meinungen wie die, daß Sterne leuch-
ten, daß sie am Nachthimmel zu sehen sind, daß sie manchmal von Wolken verdeckt
werden, daß es sehr viele von ihnen gibt, daß sie weit von uns entfernt sind, daß eini-
ge von ihnen heller sind als andere, und manches weitere von dieser Art“ (Scholz:
214 f.).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 133
Diese Argumentation86 beruht auf der realistischen Prämisse, daß unsere
Theorien abhängig sind von einer Fülle an Hintergrundwissen, das in der Regel
implizit bleibt. Durch diese realistische Prämisse kommt der modifizierten
transzendentalen Argumentation eine gewisse Anfangsplausibilität zu. In der Tat
kann man annehmen, daß der heutige Physiker mit dem mittelalterlichen Bauern
in vielen Alltagswahrnehmungen des Sternenhimmels übereinstimmt, die sich
als Bestandteil des Hintergrundwissens deuten lassen, und diese selbstverständ-
liche Übereinstimmung in den Sinneswahrnehmungen unterstellen wir übli-
cherweise, wenn wir über einen intersubjektiv wahrnehmbaren Gegenstand der
realen Welt sprechen. Aber es ist bereits fraglich, ob es sich bei den von Scholz
exemplarisch angeführten Sinneswahrnehmungen überhaupt um Meinungen
handelt. Sind wir bereit, den Begriff der Meinung auch auf völlig unreflektierte
und unbewußte Wahrnehmungen (bzw. Erinnerungen an Wahrnehmungen) an-
zuwenden? Eine solche Begriffsverwendung stimmt zumindest nicht überein
mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch, nach dem jemand etwas nur dann
„meint“, wenn er auch weiß, daß er es meint. Neben der notwendigen Bedin-
gung der Bewußtheit wird üblicherweise als weitere notwendige Bedingung an-
genommen, daß etwas zumindest in irgendeiner Form verbalisiert sein muß, um
eine „Meinung“ zu sein, was auf die von Scholz erwähnten Sinneseindrücke üb-
licherweise nicht zutrifft. Aber auch in diesem Fall würde man bloße Beschrei-
bungen von Sinneseindrücken noch nicht als „Meinungen“ bezeichnen.
Doch selbst dann, wenn wir die angeführten Sinneswahrnehmungen als
„Meinungen“ bezeichneten, können wir gar nicht wissen, ob diese „Meinungen“
über alle Zeiten hinweg geteilt werden. Wir gehen einfach davon aus, daß sich
Menschen aller Zeiten auf Sterne beziehen, wenn sie von „Sternen“ sprechen,
ohne eigens zu prüfen (und in der Regel ohne prüfen zu können), ob sie ähnliche
Sinneswahrnehmungen beim Betrachten dieser Gegenstände der realen Welt
hatten. Abgesehen davon ist es vielleicht ratsam, einmal mehr darauf hinzuwei-
sen, daß die Übereinstimmung von „Meinungen“, selbst wenn diese auf direkter
Sinneswahrnehmung beruhen, kein Wahrheitskriterium darstellt. – Wir können
also nicht wissen, ob die Menschen aller Zeiten in den meisten „grundlegenden
Punkten“87 wahre Meinungen hatten.

86
Am Rande sei erwähnt, daß diese im Kontext der analytischen Philosophie angesiedelte
transzendentale Argumentation nahezu identisch ist mit der These Gadamers, das Verste-
hen sei immer auch ein Einverständnis, da selbst ein Divergieren von Meinungen über
einen Gegenstand getragen sei von einem grundlegenderen Konsens über diesen Gegen-
stand. Auch Autoren sprachanalytischer Provenienz haben diese These aufgegriffen. So
könnten wir, wie Künne ausführt, zwar über Sokrates (begrenzt) anderer Meinung sein,
aber um diese historische Person überhaupt als Sokrates zu identifizieren, müßten wir in
den wesentlichen Punkten übereinstimmen (vgl. Künne 2003: 64).
87
Daß es sich bei den wahrnehmungsbezogenen und impliziten „Meinungen“ tatsächlich
um „grundlegende Punkte“ handelt, ist natürlich ebenfalls fraglich, da üblicherweise vor
allem der theoretischen Interpretation der Sinneswahrnehmungen, die von dem Akt der
Wahrnehmung nicht völlig zu trennen ist, grundlegende Bedeutung zugeschrieben wird.
134 Dritter Teil
Müssen wir dies, was wir nicht wissen, nun aber unterstellen, um anderen
Menschen überhaupt Meinungen zuzuschreiben? – Die Beantwortung dieser
Frage hängt wiederum ganz von der Verwendung des Modalverbs „müssen“ ab
und führt uns zurück zu der Ausgangsfrage, ob es sich bei den hermeneutischen
Präsumtionen lediglich um instrumentell notwendige Mittel des Verstehens oder
um apriorisch notwendige Bedingungen handelt. Die Berufung auf einen „Hin-
tergrund überwiegend wahrer Meinungen“ als Bedingung der Möglichkeit der
Identifikation von (wahren oder falschen) Meinungen konnte bislang kein unab-
hängiges Argument für die apriorische Auffassung der hermeneutischen Prä-
sumtionen beibringen. Vor allem gibt es keinerlei Argument dafür, daß die
wahrnehmungsbezogenen Alltagsmeinungen, die hier den „Hintergrund“ abge-
ben, tatsächlich von allen geteilt werden, ebensowenig, daß sie wahr sind. Falls
es also „notwendig“ ist, das ausnahmslose Vorhandensein und die Wahrheit sol-
cher Hintergrundannahmen zu unterstellen, dann geht es hierbei lediglich um ein
instrumentell notwendiges Mittel des Verstehens.
Scholz erweckt im folgenden den Eindruck, es komme Davidson (und ihm)
hauptsächlich „auf Tendenzaussagen der folgenden Art an: Je größer der Hin-
tergrund wahrer Meinungen ist, desto konturierter treten die Irrtümer einer Per-
son hervor; je kleiner er wird, desto unsicherer und unklarer werden unsere Zu-
schreibungen“ (Scholz: 216). Diese These ist deutlich schwächer als die zuvor
besprochene transzendentale Behauptung, die Wahrheit der meisten Meinungen
innerhalb eines Meinungssystems sei eine Bedingung der Möglichkeit, über-
haupt eine (wahre oder falsche) Meinung zu identifizieren. In der abgeschwäch-
ten These wird nur noch behauptet, daß ein möglichst hoher Anteil wahrer Mei-
nungen die Zuschreibung von Meinungen begünstigt (bzw. sicherer und klarer
macht). Während für die starke transzendentale These, die ja eigentlich in die-
sem Abschnitt als besonders gewichtige konstitutive Bedingung des Verstehens
dargestellt werden sollte, bislang stichhaltige Argumente fehlten, reicht die ab-
geschwächte These nicht aus, um mit ihr einen transzendentalen Anspruch zu
verbinden.
Im folgenden beruft sich Scholz auf den Aufsatz „General Beliefs and the
Principle of Charity“ (1982) von Bruce Vermazen mit dem Ziel, doch noch ein
sprachphilosophisches Argument für die Auffassung von hermeneutischen Prä-
sumtionen als begriffskonstitutive Bedingungen des Verstehens unter Berufung
auf einen Wahrheitshintergrund von Meinungen zu erhalten. Vermazen möchte
gegen McGinn die These verteidigen, daß Charity notwendig ist: „In this paper I
propose and defend the thesis that charity is necessary for interpretation“ (Ver-
mazen 1982: 111 f.). Hierbei spielt zum einen die Unterscheidung zwischen re-
lationalen und notionalen Meinungen eine Rolle, zum anderen eine an Putnam
angelehnte Konzeption der Bedeutung von Begriffen, beides im Kontext der
„radikalen Interpretation“ Donald Davidsons. In dem Gesamtprojekt der radika-
len Interpretation, so Vermazen und Scholz, „kommen nicht nur die auf Wahr-
nehmungskontakt beruhenden relationalen Meinungen vor, auf die sich McGinn
kapriziert. Grundlegend für die Interpretation der Ausdrücke der fremden Spra-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 135
che ist vielmehr auch die Zuschreibung allgemeiner Meinungen“ (Scholz 1999:
217). Und diese allgemeinen notionalen Meinungen, „soweit an ihnen beharrlich
festgehalten wird, betrachten wir als die Meinungen, die maßgeblich zu der
Festlegung der Bedeutung der Ausdrücke beitragen, die in ihnen vorkommen“
(ebd.). In einem Exkurs über Bedeutungstheorien hebt Scholz unter Berufung
auf Wittgenstein und Putnam hervor, daß sich in der Regel weder – wie von der
traditionellen Bedeutungstheorie postuliert – „die analytisch notwendigen und
hinreichenden Bedingungen für die Zugehörigkeit zu der Klasse der unter den
Begriff fallenden Gegenstände angeben“ (ebd.) lassen, noch die Bedeutung von
Wörtern identisch ist mit den Geisteszuständen von Sprechern (vgl. Scholz
1999: 218).

„Allgemeine Meinungen kommen an mehreren Stellen ins Spiel. Zunächst und vor
allem sind die Meinungen zu nennen, welche die mit den jeweiligen Begriffswörtern
verknüpften Stereotypen bilden. Wer beispielsweise das Wort ‚Tiger’ gelernt hat und
infolgedessen jetzt beherrscht, der hat eine ganze Reihe von Fähigkeiten erworben. Er
kann etwa syntaktisch wohlgeformte Sätze bilden, in denen das Wort ‚Tiger’ vor-
kommt. [...] Darüber hinaus hat er aber eine Reihe von Meinungen über Tiger erwor-
ben. Er glaubt etwa, daß Tiger gestreifte Raubkatzen sind, daß ausgewachsene Exem-
plare deutlich größer und deutlich gefährlicher als Hauskatzen sind und ähnliches
mehr. Mit anderen Worten: Der Schüler hat eine minimale Laientheorie über Tiger
erworben. Solche Laientheorien nennt Putnam ‚Stereotypen’. Ein Stereotyp bildet
nach Putnam eine Komponente der Bedeutung eines generellen Terminus“ (Scholz
1999: 218 f.).

Stereotypen können zwar auch falsch sein, „dennoch [müssen] die meisten
unserer Stereotypen und in der Regel auch die meisten der das jeweilige Stereo-
typ konstituierenden Meinungen korrekt sein [...], wenn uns die Beherrschung
der entsprechenden Begriffe zugeschrieben werden soll und genuine Verständi-
gung über Dinge in der Welt möglich sein soll“ (Scholz 1999: 219). Man muß
also, laut Putnam, schon eine Menge über Tiger wissen, um das Wort „Tiger“
korrekt zu gebrauchen:

„In this view someone who knows what ‚tiger’ means [...] is required to know that
stereotypical tigers are striped. More precisely, there is one stereotype of tigers (he
may have others) which is required by the linguistic community as such; he is re-
quired to have this stereotype, and to know (implicitly) that it is obligatory. This
stereotype must include the feature of stripes if his acquisition is to count as success-
ful“ (Putam 1975: 250).

Die Meinungen wiederum, welche die Stereotypen ausmachen, müssen „all-


gemeine Meinungen sein, da sie die Charakteristika von Arten oder von typi-
schen oder idealisierten Mitgliedern von Arten betreffen. Es sind Meinungen
wie ‚Tiger sind gestreifte Großkatzen’, ‚Zitronen sind Früchte mit gelber Schale,
die sehr sauer schmecken’ und ähnliche. Solche allgemeine Meinungen sind no-
136 Dritter Teil
tionale Meinungen; sie werden nicht auf der Grundlage eines beobachteten epi-
stemischen Kontaktes mit ‚allgemeinen Dingen’ zugeschrieben. Vielmehr han-
delt es sich um notionale allgemeine Überzeugungen“ (Scholz 220). Weiterhin
gebe es so etwas wie „sprachliche Arbeitsteilung“, in deren Rahmen allgemeine
notionale Meinungen gebildet werden, welche Art von Autoritäten in „unklaren
oder strittigen Fällen die Extension der Termini bestimmen“ (ebd.). Beispiels-
weise weisen wir ganz allgemein Chemikern, Juwelieren und ähnlichen Exper-
tengruppen die Zuständigkeit zu, die Extension des Begriffes „Gold“ zu
bestimmen, ohne hierbei an einzelne Personen zu denken. Wir besitzen also, so
Scholz, auch allgemeine notionale Meinungen im Hinblick auf Autoritäten, wel-
che die Extension von Begriffen verbindlich festlegen.

„Fassen wir zusammen: Um überhaupt Meinungen über etwas zu haben, müssen wir
über einen Hintergrund wahrer Meinungen verfügen, nämlich mindestens (a) über die
allgemeinen notionalen Meinungen, welche die mit den Begriffswörtern verknüpften
Stereotype verkörpern, und des weiteren (b) über die notionalen Meinungen, die an-
zeigen, welche Gruppe von Sprechern im Rahmen der sprachlichen Arbeitsteilung die
Extension des Ausdrucks bestimmt“ (Scholz: 220).

Liegt hiermit ein gültiges Argument für die hermeneutische Wahrheitsprä-


sumtion vor? Dieses Argument, sofern eines vorliegt, wäre natürlich äußerst
voraussetzungsvoll: Es wurde entwickelt im Rahmen der Bedeutungstheorie
Putnams und Donald Davidsons Konzeption der radikalen Interpretation und
hängt dementsprechend unter anderem von der Akzeptanz dieser theoretischen
Ansätze ab. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den genannten Theorien
würde zu weit führen, ich möchte daher nur auf die Aspekte eingehen, die für
die Frage der Rechtfertigung des Charity-Prinzips eine Rolle spielen. Der ganze
immense Argumentationsaufwand wurde mit dem Ziel unternommen, die mit
dem principle of charity verbundene Wahrheitspräsumtion unter Berufung auf
einen Wahrheitshintergrund zu rechtfertigen. Doch selbst wenn wir uns die
durchaus anfechtbare Auffassung zu eigen machen, daß ein Sprecher – um
überhaupt Meinungen zu haben – über einen immensen Hintergrund wahrer
Meinungen verfügen muß, ist damit für die Wahrheitspräsumtion des Charity-
Prinzips nichts gewonnen. Weder folgt die Wahrheitspräsumtion des Charity-
Prinzips logisch aus den genannten Überlegungen noch können diese als Argu-
ment für die wohlwollende Interpretation dienen. Dies wird schnell deutlich,
wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Art von Meinungen es ist, deren Wahr-
heit – bis auf den Nachweis des Gegenteils – zu unterstellen das Prinzip der
wohlwollenden Interpretation fordert: Es geht üblicherweise um die Wahrheit
von Meinungen, die ein Sprecher oder der Autor eines Textes explizit äußert –
und dies sind in der Regel keine „notionalen Meinungen“.88 Bei manchen Ver-

88
Manchmal bedeutet Interpretieren zwar auch, die nicht explizit geäußerten Gedanken
zu erschließen. Die sogenannte Tiefenhermeneutik beispielsweise beschäftigt sich haupt-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 137
tretern des Prinzips der wohlwollenden Interpretation finden sich zwar Formu-
lierungen des Charity-Prinzips, die sich auf die Bedeutung von Begriffen bezie-
hen, etwa bei Meier, der fordert, bei der Interpretation eines Textes von jenen
Begriffsbedeutungen auszugehen, die mit der Annahme der Vollkommenheit
des Autors am besten übereinstimmen. Insofern bedeutet wohlwollende Inter-
pretation zweifellos auch die Unterstellung semantischer Kompetenz. Doch so-
fern nicht bloß ganz unspezifisch von hermeneutischer Billigkeit, Wohlwollen
oder Charity die Rede ist, sondern von der Wahrheitspräsumtion im engeren
Sinne, handelt es sich üblicherweise um die Unterstellung der Wahrheit explizit
geäußerter Meinungen. Dies gilt im besonderen für die Formulierungen des
Nachsichtsprinzips bei Donald Davidson und für Scholzens eigene Theorie der
hermeneutischen Präsumtionen89, die die Diskussionsgrundlage dieses Kapitels
bildet. Es gilt weiterhin für die Wahrheitspräsumtion gegenüber dem Zeugnis
anderer als eigenständiger Erkenntnisquelle, so wie es im Zusammenhang der
Sozialen Erkenntnistheorie aufgefaßt wird.90 Und es gilt ebenso für Wahrheits-
unterstellungen im Kontext der alltäglichen Verstehens- und Interpretations-
praxis. In allen diesen Bereichen des Verstehens und Interpretierens bezieht sich
die Wahrheitspräsumtion auf das tatsächlich Geäußerte und nicht auf das be-
griffliche „Hintergrundwissen“. Wenn wir in der Zeitung von einem behaupte-
ten politischen Ereignis lesen, etwa von einem angeblichen Rücktritt des Bun-
deskanzlers, dann stellen wir uns nicht die Frage, ob der Autor des Artikels das
Wort „Bundeskanzler“ richtig gebraucht und allerhand wahre notionale Mei-
nungen mit dem Wort „Bundeskanzler“ verknüpft, beispielsweise, daß ein Bun-
deskanzler ein Mensch ist (und alles, was dies impliziert), weiterhin ein Politiker
(und ebenfalls alles, was dies impliziert), ein Bürger der Bundesrepublik
Deutschland mit aktivem und passivem Wahlrecht und schließlich sogar die re-
levante „notionale Meinung“91, daß der „Bundeskanzler“ der mit Richtlinien-

sächlich mit nicht-explizit geäußerten Inhalten. Hierbei geht es allerdings um bewußte


oder unbewußte Motive, Absichten u.ä., nicht darum, ob „notionale Meinungen“ wahr
sind.
89
Scholz bietet keine eigene Formulierung der Wahrheitspräsumtion, sondern orientiert
sich an Davidson: „In zwei der häufigsten Fassungen fordert dieses Prinzip vom Interpre-
ten, zu unterstellen, daß die Umstände, unter denen die zu verstehende Person Sätze für
wahr hält, im großen und ganzen Umstände sind, unter denen diese Sätze tatsächlich wahr
sind (Unterstellung von Wahrheit im großen und ganzen), sowie insbesondere zu un-
terstellen, daß die Sätze, die jemand für wahr hält, im allgemeinen in sich und untereinan-
der konsistent sind (Konsistenzunterstellung)“ (Scholz 1999: 160).
90
Es kann zwar auch Zeugnisse über „notionale Meinungen“ anderer Menschen geben,
beispielsweise in Form eines Berichtes eines vergleichenden Sprachforschers, doch ein
solches Zeugnis wäre selbst natürlich keine „notionale Meinung“, sondern wäre eine Be-
schreibung.
91
Nach der traditionellen Auffassung von Begriffsdefinitionen, die Scholz im Anschluß
an Putnam für überwunden erachtet, sind „notionale Meinungen“ natürlich keine Mei-
nungen, sondern entweder Bestandteile der Definition (und damit analytisch) oder Ele-
138 Dritter Teil
kompetenz ausgestattete Regierungschef der BRD ist. Dies alles interessiert uns
nicht, wenn wir den Artikel lesen, obwohl es wahr ist, und wir als wohlwollende
Interpreten tatsächlich auch unterstellen, daß der Autor des Artikels es weiß. Die
mit dem principle of charity verbundene hermeneutische Wahrheitspräsumtion
bezieht sich üblicherweise eben nicht auf die Wahrheit der „notionalen Meinun-
gen“, sondern auf die Wahrheit der von einem Sprecher oder Autor explizit vor-
gebrachten Behauptungen. Daß der Sprecher neben den potentiell wahren Sät-
zen, die er tatsächlich äußert, möglicherweise noch eine unendliche Vielfalt von
– allerdings nicht geäußerten – wahren Meinungen besitzt, die mit den von ihm
korrekt verwendeten Begriffen zusammenhängen, kümmert denjenigen nicht,
der sich mit der Wahrheit der geäußerten Sätze beschäftigt. Deshalb ist der
Hinweis auf einen Hintergrund wahrer notionaler Meinungen nicht geeignet, die
mit dem Charity-Prinzip verbundene Wahrheitspräsumtion zu begründen.
Neben dieser zentralen Kritik gibt es noch weitere wichtige Kritikpunkte an
der oben dargelegten Argumentation: Allgemeine notionale Meinungen, in der
Form, in der sie von Scholz in die Diskussion eingebracht werden, sind eine
sprachphilosophische Fiktion. Sie sind weder allgemein verbreitet noch im ei-
gentlichen Sinn „Meinungen“.
Von einer allgemeinen notionalen Meinung wird erwartet, daß alle oder zu-
mindest die meisten Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sie teilen. Sollte dies
nicht der Fall sein, so sei Kommunikation unmöglich, denn die Sprachbenutzer,
denen die erwarteten notionalen Meinungen fehlen, verfügten nicht über die er-
forderliche „semantische Kompetenz“. Wer einen bestimmten Begriff korrekt
gelernt habe, besitze hingegen zwangsläufig ein Stereotyp dieses Begriffes, das
diejenigen notionalen Meinungen enthalte, die den Begriff ausmachen. – Diese
sprachphilosophische Auffassung ist jedoch illusionär; bei dem „kompetenten
Sprecher“, der im Hinblick auf die von ihm verwendeten Begriffe auch nur über
die Mehrzahl der relevanten „notionalen Meinungen“ verfügt, dürfte es sich um
eine seltene Ausnahme handeln. In welchem Ausmaß „notionale Meinungen“ in
einer Sprachgemeinschaft de facto verbreitet sind, ist eine Frage, die mit Hilfe
von empirischen Untersuchungen zu klären ist. Es spricht vieles dafür, daß
sprachliche Verständigung mit einem weit geringeren Ausmaß an individueller
semantischer Kompetenz sowie an interpersonellen Übereinstimmungen in den
„notionalen Meinungen“ funktioniert. Niemand trägt, wenn er spricht und dabei
syntaktisch und semantisch korrekte Sätze bildet, ein Lexikon von „notionalen
Meinungen“ mit sich herum, in dem auch nur eine Mehrzahl der relevanten

mente, die für die Bestimmung des Begriffes nicht relevant und daher in diesem Zusam-
menhang zu vernachlässigen sind. Wenn die relevanten „notionalen Meinungen“ jedoch
analytische Urteile sind, ist ihre Wahrheit trivial und keine Aussage über die Welt; das
gesamte „Argument unter Berufung auf den Wahrheitshintergrund“ erweist sich dann
schon vom Ansatz her als völlig haltlos. Die Redeweise von „notionalen Meinungen“ ist
überhaupt erst sinnvoll, wenn man die Unmöglichkeit der Abgrenzung von analytischen
und synthetischen Urteilen behauptet (vgl. Quine 1953 sowie Scholz 1999: 223).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 139
„Meinungen“ enthalten sind, die die Bedeutung des Begriffs ausmachen. Umge-
kehrt ist es sogar so, daß sprachliche Kommunikation auch dann noch funktio-
niert, wenn die Beteiligten über unzureichende oder sogar zum Teil falsche „no-
tionale Meinungen“ verfügen. Wenn jemand einen Satz äußert, in dem von dem
gegenwärtigen „Bundeskanzler“ die Rede ist, wird dieser Satz von den Zuhörern
auch dann noch verstanden, wenn weder der Sprecher noch die Zuhörer wirklich
wissen, was der Begriff „Bundeskanzler“ bedeutet: Sie können allesamt der irri-
gen Meinung sein, ein „Bundeskanzler“ sei das Staatsoberhaupt der Bundesre-
publik Deutschland. Dennoch werden sie problemlos verstehen, daß mit der
Äußerung über den gegenwärtigen Bundeskanzler (im Jahr 2004) Gerhard
Schröder gemeint ist. Man muß also keineswegs als Bedingung der Möglichkeit
sprachlicher Verständigung von kompetenten Sprechern ausgehen, die über die
meisten relevanten „notionalen Meinungen“ verfügen. Daß Sprecher diese für
relevant erachteten „notionalen Meinungen“ nicht besitzen, kann nun aber zwei-
erlei bedeuten:
(1.) Das in „notionalen Meinungen“ enthaltene Wissen ist bei den jeweiligen
Sprechern schlicht nicht vorhanden.
(2.) Die dem kompetenten Sprecher unterstellten „notionalen Meinungen“
sind nicht in einer Form mental repräsentiert, die als „Meinung“ bezeichnet
werden kann, beispielsweise dann, wenn dem Sprecher ein Wissen zugeschrie-
ben wird, das ihm nicht bewußt ist oder das er nicht sprachlich reproduzieren
kann (implizites Wissen).
Es dürfte die Regel sein, daß Sprecher, die sprachliche Ausdrücke verwen-
den, lediglich über vage Vorstellungen (in Form von Assoziationen oder visuel-
len Eindrücken) von der Bedeutung der verwendeten Wörter verfügen, ohne daß
man sie deshalb als „semantisch inkompetent“ bezeichnen könnte. Notionale
Meinungen in der von Scholz exemplarisch erwähnten quasi-lexikalischen Form
(„Tiger sind gestreifte Raubkatzen“) sind bei vielen Sprechern zumindest in kei-
ner als „Meinung“ zu bezeichnenden Form mental repräsentiert, unter Um-
ständen sogar gar nicht vorhanden. So kennen viele Sprachbenutzer nicht den
Unterschied zwischen Tigern, Löwen, Leoparden, Pumas, Geparden usw. und
sind dennoch in der Lage, diese Wörter in vielen sprachlichen Kontexten korrekt
zu verwenden. Dies liegt daran, daß es bei der Verwendung der sprachlichen
Ausdrücke vielfach nicht darauf ankommt, den zoologischen Unterschied zwi-
schen den unterschiedlichen Raubkatzenarten zu kennen. Für das Verständnis
vieler Verwendungsweisen dieser Wörter ist es unter Umständen eine ausrei-
chende semantische Kompetenz, wenn man weiß, daß es sich um ein gefährli-
ches Tier handeln soll. Ein Großwildjäger benötigt dagegen zweifellos eine de-
tailliertere Theorie darüber, was ein Tiger ist. Es ist anzunehmen, daß er ausge-
prägtere und andere notionale Meinungen über Tiger hat als ein Schriftsteller,
der das Wort „Tiger“ in einem Gedicht metaphorisch verwendet, oder ein philo-
sophischer Autor, dem eine Lexikon-Definition von „Tiger“ ausreicht, um eine
„gestreifte Raubkatze“ als Beispiel für „notionale Meinungen“ zu verwenden.
Selbstverständlich muß es in irgendeiner Form ein gemeinsames Wissen um die
140 Dritter Teil
Bedeutung eines Wortes geben, sonst könnte wechselseitige Verständigung
nicht stattfinden. Doch in welchem Ausmaß und in welcher Form ein solches
Wissen bei den realen Sprechern einer Sprachgemeinschaft mental repräsentiert
ist, ist eine Frage, die durch empirische Untersuchungen zu klären wäre. Hierbei
könnte sich allerdings herausstellen, daß die Übereinstimmung in den mentalen
Repräsentationen von Begriffen viel geringer ist als erwartet und darüber hinaus
in einer Form vorliegt, die schwerlich als „Meinung“ bezeichnet werden kann.92
Die soeben vorgelegte Kritik an den Begründungen des Charity-Prinzips un-
ter Berufung auf einen „Wahrheitshintergrund“ betrifft ebenso eine weitere Ar-
gumentation Donald Davidsons anhand eines Beispiels, das Scholz für auf-
schlußreich hält (vgl. Scholz 1999: 223 f.): Wenn jemand glaubt, eine Maus hin-
ter einem Sessel verschwinden zu sehen, könne sich dieser Mensch zwar in die-
ser singulären Meinung irren, andererseits könne man in diesem Fall nur dann
von einer falschen Meinung sprechen, wenn der Sprecher zugleich einen „back-
ground of true beliefs“ (Davidson 1991a: 193) besitze. Bei diesen wahren Mei-
nungen handelt es sich erneut um die bereits erwähnten Stereotypen, also um
„allgemeine Meinungen, die im großen und ganzen wahr sind“. Wer dies be-
streite, wolle bestreiten, „daß ich wüßte, was Mäuse, Sessel und Ereignisse des
Verschwindens sind“ (Scholz 1999: 224). Und wer einem Sprecher letzteres ab-
streiten wolle, habe keine Grundlage mehr, bei ihm überhaupt eine (falsche)
Meinung über eine hinter dem Sessel verschwundene Maus festzustellen. Des-
halb könnten nicht alle unsere Meinungen über die Welt falsch sein: „Because
of the holistic character of empirical belief, then, it is impossible that all our be-
liefs about the world are false“ (Davidson 1991a: 194).
Als erstes muß hierzu erneut gesagt werden, daß diese Argumentation, auch
wenn sie gültig wäre, nicht die Wahrheitspräsumtion des Charity-Prinzips stützt,
da sich diese vorrangig auf die explizit geäußerten Sätze und nicht auf das be-
griffliche Hintergrundwissen bezieht. Wahrheitsunterstellung bedeutet in dem
erwähnten Beispiel, daß der Interpret bzw. Zuhörer dem Sprecher – bis auf den
Nachweis des Gegenteils – glaubt, daß dieser eine Maus hinter dem Sessel hat
verschwinden sehen. Sofern es keinen Grund für die Annahme einer Sinnestäu-
schung gibt, wird der wohlwollende Interpret bzw. Zuhörer außerdem vermuten,
daß tatsächlich eine Maus hinter dem Sessel verschwunden ist, d.h. daß der auf-
richtigen Schilderung einer Wahrnehmung ein reales Ereignis zugrunde lag. Die

92
Es ist natürlich zu erwarten, daß ein Verfechter der oben dargestellten Sprachtheorie
wenig beeindruckt sein wird von empirischen Ergebnissen, die die allgemeine Verbrei-
tung „notionaler Meinungen“ im realen Kommunikationsprozeß in Frage stellen – etwa
weil er seine Theorie als eine „rationale Rekonstruktion“ des Sprachprozesses verstanden
wissen will und nicht als Beschreibung tatsächlicher mentaler Abläufe oder Zustände. In
diesem Fall hätte der Begriff der „notionalen Meinung“ keinerlei Bezug auf die tatsächli-
chen Meinungen der Sprecher einer Sprachgemeinschaft und damit auch keine Relevanz
für eine Beschreibung oder Erklärung des realen Kommunikationsprozesses. Er hätte sich
somit als sprachphilosophische Fiktion herausgestellt.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 141
Wahrheitspräsumtion innerhalb der wohlwollenden Interpretation bezieht sich
nicht darauf, daß der Sprecher in etwa weiß, was Mäuse und Sessel sind und
was unter dem Verschwinden eines Gegenstandes zu verstehen ist. Sicherlich
wird der wohlwollende Interpret ebenfalls so wohlwollend sein, dem Sprecher
zumindest dieses Minimum an semantischer Kompetenz zuzuschreiben, doch
dies ist mit der Wahrheitsunterstellung beim Verstehen und Interpretieren nicht
gemeint. Sollte jedoch ein Verfechter des Argumentes vom Wahrheitshinter-
grund als Reaktion auf diese Kritik erklären, er meine mit der Wahrheitspräsum-
tion des Charity-Prinzips eben doch auch die „notionalen Meinungen“ des Spre-
chers, würde dies zu einer Trivialisierung des Prinzips der wohlwollenden Inter-
pretation führen, da sich dadurch der Blick von der wichtigen Frage der Wahr-
heit von Aussagen auf die vergleichsweise triviale Annahme verschiebt, ein
Sprecher wisse, was Mäuse und Tiger sind. Diese Trivialisierung der Wahr-
heitsunterstellung wäre an sich belanglos, wenn nicht die Tendenz bestünde, aus
der Tatsache vorhandener (minimaler) semantischer Kompetenz ein Argument
für die Wahrheit der tatsächlich geäußerten Meinungen machen zu wollen. –
Neben diesem zentralen kritischen Argument gilt auch für das Donald David-
sonsche ‚Beispiel mit der Maus’ die angeführte Kritik an der sprachphilosophi-
schen Fiktion allgemeiner notionaler Meinungen.

3.3.4.2.4 Begründungen unter Berufung auf einen Rationalitäts-


hintergrund: die Begriffe der Meinung, der Handlung und
der Person

Nach seiner Rekonstruktion der Argumente, die sich auf den Wahrheitshinter-
grund bezogen, wendet sich Scholz nun der „Familie von Argumentationsskiz-
zen [zu], in denen der Begriff der Rationalität im Mittelpunkt steht“ (Scholz
1999: 227). Auch hierbei liefert Davidson die Grundidee, daß die Annahme der
Rationalität eines Sprechers – im Sinne der Konsistenz und Kohärenz seiner
Meinungen – notwendig ist, um ihm überhaupt „Meinungen“, „Wünsche“, „In-
tentionen“ oder „Handlungen“ zuzuschreiben (vgl. Davidson 1980: 237). Reprä-
sentativ für eine Vielzahl von propositionalen Einstellungen können wir uns der
Argumentation widmen, die für den Begriff der „Meinung“ angeboten wird:

„Meinungen sind durch ihre Inhalte gekennzeichnet. Etwas ist nur dann eine Mei-
nung, wenn es einen bestimmten Inhalt hat. Falsche Meinungen sind natürlich auch
Meinungen. (Etwas ist also auch nur dann eine falsche Meinung, wenn es einen be-
stimmten Inhalt hat.) Der Inhalt einer Meinung ist durch ihren Platz in einem weitläu-
figen Muster von Meinungen und anderen Einstellungen und deren Inhalten festge-
legt. Propositionale Einstellungen einschließlich ihrer Inhalte bilden derlei Muster
aufgrund von logischen und anderen Begründungsbeziehungen, die zwischen ihnen
bestehen. Nur ein Wesen, das im großen und ganzen rational ist, bildet die erforderli-
142 Dritter Teil
chen Begründungsbeziehungen aus. Folglich kann nur ein Wesen, das im großen und
ganzen rational ist, überhaupt eine falsche Meinung haben“ (Scholz 1999: 227 f.).

Da dies „nur noch selten bestritten“ werde, geht Scholz sogleich dazu über,
die Frage zu diskutieren, „wieviel Rationalität vorausgesetzt bzw. unterstellt
werden muß“ (Scholz 1999: 228). – Es besteht jedoch nicht die geringste Not-
wendigkeit, sich überhaupt auf ein apriorisches Argument zugunsten der Ratio-
nalität von Sprechern einzulassen. Ich möchte daher versuchen, obige Argumen-
tation durch ein Gegenbeispiel zu widerlegen, das den Vorzug aufweist, nicht
einmal ein Gedankenexperiment zu sein, sondern auf empirisch nachprüfbaren
Tatsachenbehauptungen zu beruhen:
Die Fähigkeit, die Konsistenz und Kohärenz von Meinungen zu überprüfen,
indem man Beziehungen zwischen den Meinungen feststellt – also das, was in
der zitierten Argumentation bei Davidson und Scholz als „Rationalität“ bezeich-
net wird –, hat bestimmte neurophysiologische Voraussetzungen, beispielsweise
hängt sie ab von einem mehr oder weniger funktionstüchtigen Kurzzeitgedächt-
nis. Dies hat begreiflicherweise damit zu tun, daß jeder Gedanke im Bewußt-
sein, dem eine Meinung entspricht, erinnert werden muß, will man ihn später
mit einem anderen Gedanken in Beziehung setzen. Nun gibt es bestimmte
Krankheiten, durch die das Kurzzeitgedächtnis so stark organisch geschädigt
wird, daß ein solches In-Beziehung-Setzen von Gedanken unmöglich gemacht
wird, jedoch ohne daß die Person ihre übrigen kognitiven Fähigkeiten verlieren
muß. Beispielsweise kann sie weiterhin lesen, jedoch gelangt sie bei der Lektüre
unter Umständen nicht über den ersten Satz hinaus, weil sie sofort vergißt, was
sie gelesen hat und wieder von vorn beginnt. Da sie jedoch auch vergessen hat,
daß sie den Satz beim letzten Mal vergessen hat, wird sie sich der Vergeblich-
keit ihrer Anstrengungen nicht bewußt, und daher kann sich diese Prozedur in
einer Endlosschleife über längere Zeit wiederholen.93
Wenn man das Argument unter Berufung auf einen Rationalitätshintergrund
zugrunde legt, mit dem die Rationalitätspräsumtion des Charity-Prinzips aprio-
risch begründet werden soll, stellen sich vor allem drei Fragen: Hat eine solche
Person mit schwerwiegenden Störungen des Kurzzeitgedächtnisses Meinungen?
Kann eine solche Person handeln? Ist eine solche Person überhaupt eine Person?
Gemäß der zitierten Argumentation kann diese Person keine Meinungen be-
sitzen, denn sie verfügt nicht über die Fähigkeit, die Konsistenz oder Kohärenz
von Meinungen zu prüfen, da sie aufgrund der Gedächtnisstörung keine Mei-
nungen miteinander in Beziehung setzen kann. – Diese Schlußfolgerung ist na-
türlich absurd, da eine solche Person zwar nicht mehr zusammenhängend argu-
mentieren kann, jedoch auf Fragen ihre Meinungen äußert. Da das Langzeitge-

93
Das mag für jemand unglaubwürdig klingen, der einen solchen Vorgang noch nicht
erlebt hat. Ich wurde allerdings vor Jahren Zeuge solcher Vorkommnisse und habe die
Patientin, von der ich schreibe, gut gekannt.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 143
dächtnis im Falle der Person in unserem Beispiel weitgehend intakt geblieben
ist, besitzt sie nach wie vor alle Meinungen, die sie auch bisher gehabt hat.
Kann eine solche Person handeln? – Nach Scholz „überträgt sich“ die Ar-
gumentation im Hinblick auf propositionale Einstellungen, wie Meinungen, „auf
alle Begriffe, in die der Begriff der propositionalen Einstellung eingeht. Dazu
gehören insbesondere die Begriffe der Handlung, der bedeutungsvollen Äuße-
rung und der Person“ (Scholz 1999: 234). Er kommt zu dem Schluß, „nur ein
Verhalten eines Wesens, welches im großen und ganzen rational [sei], kann eine
Handlung sein“ (Scholz 1999: 234 f.). Wenn man jedoch unter „Rationalität“
wiederum die Fähigkeit versteht, Meinungen im Hinblick auf ihre Konsistenz
und Kohärenz in Beziehung zu setzen, ergibt sich die Konklusion, daß die Per-
son unseres Beispiels nicht handeln kann – auch dies eine absurde Schlußfolge-
rung, da das absichtsvolle Verhalten dieser Person sich nicht wesentlich von
dem absichtsvollen Verhalten anderer Personen unterscheidet. Die Tatsache, daß
der erkrankten Person keine bewußte Kontrolle von Meinungen hinsichtlich ih-
rer Konsistenz und Kohärenz möglich ist, scheint das Verhalten nicht notwendig
zu beeinflussen: Die erkrankte Person „handelt“ unter vergleichbaren Umstän-
den ähnlich oder genau so, wie sie vor ihrer Erkrankung gehandelt hat, und es
gibt keinen vernünftigen Grund, dieses Verhalten nun nicht mehr als Handeln zu
bezeichnen.
Ist eine solche Person überhaupt eine Person? – Wie zu erwarten war, soll es
auch hier darum gehen, die Rationalitätspräsumtion als „konstitutiv für die An-
wendung des Personbegriffs“ (Scholz: 236) nachzuweisen. Doch da mit der Zu-
schreibung des Personen-Status’ „rechtliche und moralische Erwägungen im
Spiel“ sind, sei der „Interpret in besonders starkem Maße verpflichtet, rationale
Muster in den Handlungen und Einstellungen seines Gegenüber zu finden“
(Scholz 1999: 238). Dieses Zugeständnis nützt allerdings der Person in unserem
Beispiel nichts: Da ihr bereits der Besitz von Meinungen und die Fähigkeit zu
handeln abgesprochen worden sind, können ihre Verhaltensweisen so kohärent
sein wie auch immer – den Personen-Status wird sie in der absurden Konse-
quenz der transzendentalen Argumentation zugunsten der Rationalitäts-
präsumtion des Charity-Prinzips doch verlieren.
Der Verfechter dieser Argumentation wird womöglich diese dreifache ab-
surde Konsequenz scheuen und sein Argument ad hoc modifizieren, etwa indem
er behauptet, der betreffende Mensch müsse irgendwann einmal Rationalität im
Sinne von Konsistenz- und Kohärenzprüfungsfähigkeit besessen haben, um
Meinungen und die Befähigung zum Handeln erworben zu haben und deshalb
als Person bezeichnet werden zu können. Dadurch daß ein Mensch im späteren
Leben vorübergehend oder dauerhaft seine „Rationalität“ verliere, sei nicht not-
wendig ein Verlust der Meinungen, der Fähigkeit zum Handeln und des Person-
Seins verbunden. Vielleicht wählt der Anhänger transzendentaler Argumente
auch eine andere Strategie und paßt seine Definition von „Rationalität“ so an,
daß er der Widerlegung durch Gegenbeispiele vorläufig entgeht. Auf die Viel-
zahl möglicher ad-hoc-Modifikationen der Argumentation kann und will ich
144 Dritter Teil
hier nicht eingehen. Mein Beispiel sollte lediglich zeigen, daß transzendentale
Argumente trotz ihrer teilweise erheblichen Plausibilität äußerst zweifelhaft
bleiben. Das einzige, was ein Philosoph sagen kann, der Rationalität als Bedin-
gung der Möglichkeit von Meinungen, Handlungen und des Person-Seins letzt-
begründen will, ist, daß irgendeine Form von Rationalität auf irgendeine Art
und Weise eine Voraussetzung darstellt. Das von mir angeführte Beispiel sollte
zeigen, wie schnell man sich irren kann, wenn man mehr als diese inhaltsleere
These a priori behaupten möchte. Deshalb wäre es ratsam, auf solche transzen-
dentalen Argumentationsversuche ganz zu verzichten und die Klärung der Vor-
aussetzungen bestimmter menschlicher Fähigkeiten (etwa der Fähigkeit, Mei-
nungen hervorzubringen und zu handeln) oder Dispositionen (etwa der Disposi-
tionen, von denen angenommen wird, daß sie das Person-Sein ausmachen) als
Aufgabe der empirischen Wissenschaften zu betrachten.

3.3.5 Besitzen hermeneutische Präsumtionen apriorische


Geltung?

Wenn nun abschließend und zusammenfassend noch einmal die Frage aufge-
griffen wird, ob hermeneutischen Präsumtionen apriorische Geltung zukommt,
müssen wir zunächst betonen, daß mit dieser Frage kein sogenanntes „geneti-
sches“ bzw. zeitliches a priori (vgl. Popper 1987: 127) gemeint ist. Daß die An-
wendung von Präsumtionen beim Verstehen und Interpretieren im zeitlichen
Sinn jeglicher empirischen Beurteilung der Interpretationsergebnisse vorangeht
und daß weiterhin die Interpretationsprinzipien selbst keine empirischen Hypo-
thesen sind (wenngleich sie mit empirischen Gesetzesannahmen zusammenhän-
gen), hatten wir am Anfang der Diskussion bereits eingeräumt. Bestritten wer-
den sollte lediglich die apriorische Geltung der hermeneutischen Präsumtionen.
Bei der These der Notwendigkeit von Präsumtionen beim Verstehen und Inter-
pretieren mußten wir mehrere Bedeutungen von „Notwendigkeit“ unterschei-
den: Es ist zwar in vielen Fällen der Verstehens- und Interpretationspraxis (in-
strumentell) notwendig, Wahrheit und Rationalität zu unterstellen. Eine stärkere
Notwendigkeitsbehauptung erwies sich als unbegründet.
In einem eigenen Abschnitt nimmt Scholz abschließend zu verschiedenen
Streitfragen Stellung. Insbesondere die Streitfrage „empirisch oder a priori?“,
welche „den empirischen Charakter der allgemeinen Interpretationsprinzipien“
betreffe, ist in unserem Zusammenhang relevant:

„Eine erste Frage betrifft den empirischen Charakter der allgemeinen Interpretations-
prinzipien und der mit ihnen verknüpften Methodologie. Läuft die Unterstellung von
Vollkommenheiten wie Rationalität, Konsistenz etc. nicht auf einen sonderbaren
Apriori-Optimismus hinaus? Darauf ist folgendes zu antworten: Die Präsumtions-
methodologie insgesamt ist, wie wir sahen, konstitutiv für die Praxis des Verstehens
und der Verständigung sowie für die gesamte intentionale Einstellung. Die Unterstel-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 145
lung von Rationalität ist sogar konstitutiv für die Anwendung von für diese Praxis
zentralen Begriffen wie „Meinung“, „Wunsch“, „Handlung“ und „Person“. Gleich-
wohl handelt es sich, wie wir ebenfalls sehen konnten, keineswegs um eine empirie-
resistente Methodologie“ (Scholz 1999: 239).

Der Erfahrungsbezug von Theorien sei aber eine „vertracktere Angelegen-


heit [...], als frühere Wissenschaftsphilosophen [...] angenommen hatten“ (ebd.).
„Entscheidend für den empirischen Charakter ist und bleibt, daß die vorgeschla-
genen Interpretationen an der Erfahrung scheitern können. Auch jede einzelne
Präsumtion bleibt offen für eine Korrektur oder sogar Widerlegung durch empi-
rische Erkenntnisse; es kann sich in jedem Einzelfall herausstellen, daß der prä-
sumierte Sachverhalt nicht besteht. Die allgemeinen Interpretationsprinzipien
sind, wie wir immer wieder betont haben, Präsumtionsregeln mit widerleglichen
Präsumtionen“ (ebd.).
In der Tat vertritt Scholz nicht die Position, daß durch die Anwendung der
als notwendig angesehenen Verstehensprinzipien apriorisch gültige Interpretati-
onsergebnisse entstehen. Wie er aber selbst eingangs erwähnt, betrifft die rele-
vante Streitfrage den „empirischen Charakter der allgemeinen Interpretations-
prinzipien“. Inwiefern ist die Geltung dieser methodologischen Prinzipien selbst
empirisch begründet oder a priori? Dies bezieht sich nicht auf die Frage des Er-
fahrungsbezuges von Theorien, die Scholz statt dessen aufgreift, doch es muß
natürlich zugestanden werden, daß das Problem des Erfahrungsbezuges von me-
thodologischen Prinzipien ebenfalls eine „komplizierte Angelegenheit“ ist – ja
sogar möglicherweise eine noch kompliziertere als die des Erfahrungsbezuges
von Theorien. Methodologische Regeln selbst sind zwar offenkundig nicht di-
rekt empirisch prüfbar, doch sie beruhen vielfach auf empirisch prüfbaren Ge-
setzesannahmen. Gerade wer in der Tradition der klassischen Hermeneutik eine
Kunstlehre des Verstehens und Interpretierens anstrebt, geht davon aus, daß die
Verstehensprinzipien mehr oder weniger geeignete Mittel sind, um den Zweck
des richtigen Verstehens zu erreichen. Ob und inwieweit sie dazu geeignete Mit-
tel sind, bedarf des Prüfsteins der Erfahrung und läßt sich nicht a priori festset-
zen. Daß sich aufgrund vergangener Erfahrung Erwartungen etwa im Hinblick
auf die Wahrhaftigkeit und Rationalität anderer Menschen ausbilden, die als all-
tagspsychologische Theorien das Verstehen und Interpretieren, das Beurteilen
und Handeln bestimmen, hatten wir in Anlehnung an Hume bereits festgestellt –
ebenso, daß die jeweiligen Verstehensprinzipien dadurch noch nicht empirisch
gerechtfertigt sind.
Prinzipien, die zunächst sakrosankt erscheinen, können sich bei kritischer
Prüfung als problematisch erweisen. Eine Immunisierung solcher Prinzipien un-
ter Verweis auf ihre Notwendigkeit (im stärkeren Sinn) würde eine mögliche
Verbesserung der bestehenden Praxis des Verstehens und Interpretierens ver-
hindern. Ein konsequenter Fallibilismus bezieht sich daher nicht allein auf die
von Scholz zugestandene Fehlbarkeit der Interpretationsergebnisse und der je-
weiligen Präsumtionen, sondern ebenso auf die Fehlbarkeit der Interpretations-
146 Dritter Teil
prinzipien bzw. der grundlegenden Präsumtionsregeln. Es ist zwar kein logi-
scher Widerspruch, zugleich die apriorische Geltung der Interpretationsprinzipi-
en und die Fehlbarkeit der Interpretationsergebnisse und der einzelnen Präsum-
tionen zu behaupten. Doch warum für die Interpretationsprinzipien mit Hilfe der
Konstitutivitäts-Thesen überhaupt ein gesonderter Status angestrebt wird, der sie
der Kritik und der Weiterentwicklung entzieht, bleibt unklar.

3.4 Die Grenzen von Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen

3.4.1 Falschheits- und Irrationalitätsannahmen beim Umgang mit


Zeugnissen sowie die Möglichkeit der Urteilsenthaltung

Allgemeine Falschheitsannahmen, das heißt: die generelle Unterstellung der


Unglaubwürdigkeit gegenüber einer bestimmten Art von Zeugnissen, sind in der
von Scholz vorgestellten Theorie hermeneutischer Präsumtionen nicht vorgese-
hen. Zu einer Falschheits- oder Irrationalitätsannahme gelangt man nach Scholz
immer erst dann, wenn man mit der grundlegenden Wahrheits- und Rationali-
tätsunterstellung nicht mehr weiter kommt. Es könne also im eigentlichen Sinn
keine Falschheits- und Irrationalitätspräsumtion geben, weil die Annahme der
Falschheit des Gesagten bzw. der Irrationalität des Autors allenfalls das Ergeb-
nis einer (nicht erfolgreichen) Anwendung der Wahrheits- und Rationalitätsprä-
sumtion sei. Versuchen wir tatsächlich beim Verstehen und Interpretieren so
lange daran festzuhalten, daß der Autor bzw. Sprecher rational ist und die Wahr-
heit sagt, bis wir damit widerlegt sind und nicht mehr anders können, als diese
Präsumtionen aufzugeben? Für eine Falschheits- und Irrationalitätspräsumtion
als eigenständige methodologische Prinzipien bliebe demnach kein Platz.
Demgegenüber möchte ich folgende Thesen aufstellen:
(1.) Bei der Beurteilung von Zeugnissen und Zeugen machen wir häufi-
gen Gebrauch von allgemeinen Falschheitsannahmen gegenüber bestimm-
ten Arten von Zeugnissen sowie Irrationalitätsannahmen gegenüber be-
stimmten Arten von Zeugen.
(2.) Beim Verstehen von Zeugnissen und Zeugen verwenden wir unter
bestimmten Umständen auch Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen.
Eine ausschließliche Verwendung von Wahrheits- und Rationalitätsprä-
sumtionen beim Umgang mit Zeugnissen entspricht weder der gängigen
Praxis des Verstehens noch ist sie rational zu rechtfertigen.
(3.) In vielen Fällen benutzt ein Interpret weder Wahrheits- und Ratio-
nalitäts- noch Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen als Mittel des
Verstehens: Entweder hält er sich mit seinem Urteil zurück oder die ver-
wendeten Präsumtionen tragen nichts zum Verstehen bei, sind also keine
hermeneutischen Präsumtionen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 147
3.4.1.1 Falschheits- und Irrationalitätsannahmen
bei der Beurteilung

Daß bei der Beurteilung von Zeugnissen und Zeugen häufig allgemeine Falsch-
heits- und Irrationalitätsannahmen eine wichtige Rolle spielen, wird sogleich
deutlich, wenn wir uns nur die eigene alltägliche Praxis des rationalen Umgangs
mit Zeugnissen vergegenwärtigen. Ein gutes Beispiel für die Ausbildung allge-
meiner Falschheitsannahmen gegenüber bestimmten Arten von Zeugnissen ist
der Umgang mit sogenannten hoaxes. Ein hoax ist eine Falschmeldung, die über
eMail verbreitet wird und den Empfänger unter Vortäuschung falscher Tatsa-
chen zu einer Handlung motivieren soll.94 Arglistigerweise beruht die Wirksam-
keit dieser hoaxes darin, die Leichtgläubigkeit vieler Menschen auszunutzen,
oftmals aber auch deren Ängste oder sogar ihre Hilfsbereitschaft. Es gibt hoa-
xes, die vor angeblichen Viren warnen und zur Vorsicht raten, aber selbst einen
Virus in Dateianhängen enthalten. Manche fordern den Computerbenutzer dazu
auf, im Betriebssystem seines Rechners nach einer vermeintlich schädlichen Da-
tei zu suchen und sie zu löschen. Wer so gutgläubig ist, dieser Aufforderung zu
folgen, macht damit allerdings sein Betriebssystem unbrauchbar. Perfide sind
auch fingierte Hilfeappelle, beispielsweise die Suche nach einem Knochenmark-
spender für ein angeblich todkrankes Kind. Üblicherweise enthält der hoax die
Bitte, diese eMail an möglichst viele Bekannte weiterzuversenden. Solche hoa-
xes finden dann als Kettenbriefe weite Verbreitung. – Woher kann man nun im
konkreten Fall wissen, ob eine eMail ein hoax ist oder ein ernsthafter Hilfeappell
bzw. eine Warnung? Da der Aufwand für eine Recherche in jedem einzelnen
Fall viel zu groß wäre, bleibt dem Computernutzer nichts anderes übrig, als bei
der Beurteilung dieser eMails Präsumtionen zu verwenden. Doch welche Prä-
sumtionen sollten dies vernünftigerweise sein? – Sicherlich gibt es viele leicht-
gläubige Menschen, die bei jedem neuen hoax immer wieder mit einer Wahr-
heitsunterstellung reagieren, dementsprechend handeln und damit sich selbst
und anderen Verdruß bereiten. Andere wiederum tendieren zu generellem Miß-
trauen und löschen undifferenziert jede eMail, die ihnen irgendwie verdächtig
erscheint, ohne beurteilen zu können, ob es ein hoax ist oder nicht. Viele sind
aber in der Lage, nach einmaliger Bekanntschaft mit einem hoax eine Falsch-
heitspräsumtion auszubilden, die sich auf diese Klasse von Zeugnissen bezieht.
Diese Praxis des Umgangs mit Zeugnissen scheint mir rational zu sein. Der ent-
scheidende Aspekt hierbei besteht darin, daß sich der Urteilende aktiv-hypo-
thesenbildend verhält und aufgrund seiner einmaligen Erfahrung mit einem hoax
eine Regel entwickelt, die sich auf ähnliche Fälle bezieht, die zusammen eine
Art von Zeugnissen bilden. Vergleichen wir diese Ausbildung einer allgemeinen

94
Vgl. beispielsweise den Hoax-Info Service der TU Berlin, unter der Internet-Adresse:
http://www.tu-berlin.de/www/software/hoax.shtml.
148 Dritter Teil
Falschheitspräsumtion gegenüber hoaxes mit Scholzens Präsumtionsregel (Test-
Präs-R), die lautete:

„(Test-Präs-R) Gegeben, dass ein Sprecher S (bei der Gelegenheit O) eine verständli-
che assertorische Äußerung U (über das Thema T) vollzogen hat, mit der er sich auf
die Wahrheit von p festlegt, gehe solange davon aus, daß p wahr ist, bis Du Gründe
zu der Annahme hast, daß eine Annullierungsbedingung erfüllt ist. (Es gibt i.w. zwei
Annullierungsbedingungen: (i) Anhaltspunkte dafür, daß der Sprecher (bei der Gele-
genheit O) nicht aufrichtig gewesen ist, und (ii) Anhaltspunkte dafür, daß der Spre-
cher (in bezug auf das fragliche Thema T) nicht kompetent ist.)“ (Scholz 2002, un-
veröffentlicht).

Der rationale Umgang mit hoaxes besteht offenbar gerade nicht darin, immer
von neuem Wahrheit zu unterstellen, bis sich dann in jedem einzelnen Fall aus-
reichende Gründe für das Vorliegen der Annullierungsbedingungen ergeben ha-
ben. Ein solches Vorgehen wäre offensichtlich unpraktikabel. Bei jeder neuen
eMail müßten wir nach Anhaltspunkten suchen, ob der Absender aufrichtig und
kompetent war, doch dies ist aufwendig und häufig aussichtslos, da wir über den
Absender nichts wissen. Statt dessen vermuten wir aufgrund bestimmter Eigen-
arten, daß auch die neue eMail zur Klasse der hoaxes gehört und schließen de-
duktiv, daß diese eMail unglaubwürdig ist, da dies für alle hoaxes gilt. Es wird
bei der Beurteilung dieses Zeugnisses also nicht mit einer Wahrheitsunterstel-
lung begonnen, die man nach Kenntnis von Annullierungsbedingungen korri-
giert, sondern sogleich von einer Falschheitspräsumtion ausgegangen.
Darauf könnte man einwenden, daß in solchen Fällen die Annullierungsbe-
dingungen für die Wahrheitspräsumtion nichts anderes sind als diese Eigenarten
des Zeugnisses, die den kritischen Computernutzer veranlassen, die eMail als
hoax zu identifizieren. Doch dies wäre nur ein verbaler Trick, die Wahrheitsprä-
sumtionsregel für Zeugnisse (Test-Präs-R) gegen Kritik zu immunisieren, denn
die erwähnten Besonderheiten des Zeugnisses, die es als hoax ausweisen, sind –
isoliert betrachtet – häufig nicht ausreichend, um das einzelne Zeugnis un-
glaubwürdig zu machen. Niemand würde ein Zeugnis allein deshalb für un-
glaubwürdig halten, weil es einen Hilfeaufruf für ein krankes Kind enthält. Da
der kritische Computernutzer allerdings aufgrund vorgängiger Erfahrung die
Theorie gebildet hat, daß solche Elemente (Hilfeaufruf, Kettenbrief, Bitte um
Weiterverbreitung etc.) auf einen hoax schließen lassen, wird er direkt mit einer
Falschheitspräsumtion gegenüber einer solchen eMail reagieren und von dieser
Meinung erst abrücken, wenn es gegenteilige Indizien gibt. Ohne eine solche
(rudimentäre) Theorie über hoaxes wären die genannten Elemente für die Beur-
teilung der Wahrheit des Zeugnisses irrelevant.
Es werden also beim Umgang mit Zeugnissen – neben der Verwendung von
Wahrheitsunterstellungen – ebenso Falschheitspräsumtionen angewendet, und
zwar aus demselben pragmatischen Grund, der auch für den Gebrauch von
Wahrheitspräsumtionen spricht: Es ist einfacher, zeitsparender oder sogar auf-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 149
grund von Restriktionen in einer Entscheidungssituation unverzichtbar, be-
stimmte Arten von Zeugnissen einheitlich als zuverlässig oder eben als unzuver-
lässig zu beurteilen, statt die betreffenden Zeugnisse in jedem einzelnen Fall zu
überprüfen. Wenn wir ein Zeugnis beurteilen müssen, gehen wir keineswegs
immer so vor, daß wir es zunächst für wahr halten und nur unter bestimmten
Annullierungsbedingungen von dieser Wahrheitspräsumtion abrücken. Statt
dessen ist der Interpretationsprozeß von Anfang an bereits insofern theoriegelei-
tet, als man jedes Zeugnis als Fall einer Klasse von Zeugnissen auffaßt. Der In-
terpret kann nicht umhin, jedes neue Zeugnis mit bereits bekannten Zeugnissen
zu vergleichen, die ihm in relevanter Hinsicht ähnlich sind. Haben sich die be-
reits bekannten Zeugnisse dieser Art aber als unzuverlässig herausgestellt, wird
man auch dem in relevanter Hinsicht ähnlichen neuen Zeugnis nicht vertrauen.95
Vor diesem Hintergrund ließe sich allenfalls eine abgeschwächte These der
„Vorrangigkeit“ von Wahrheitspräsumtionen behaupten, die entweder auf einen
lediglich zeitlichen Primat abhebt oder eine größere Häufigkeit der Anwendung
von Wahrheitspräsumtionen beim Umgang mit Zeugnissen postuliert. „Zeitli-
cher Vorrang“ könnte heißen, daß Menschen dazu neigen, beim ersten Kontakt
mit Zeugnissen neuer Art mit einer Wahrheitspräsumtion zu reagieren. Auch der
kritische Umgang mit hoaxes entstehe erst, nachdem das anfängliche Vertrauen
in ein Zeugnis dieser Art enttäuscht worden sei. Eine größere Häufigkeit der
Anwendung von Wahrheitspräsumtionen im Vergleich mit Falschheitspräsum-
tionen würde bedeuten, daß wir bei den meisten Arten von Zeugnissen zur Un-
terstellung von Wahrheit tendierten. – Bei beiden Vorrangigkeitsbehauptungen
handelt es sich um Hypothesen, die so konkretisiert werden sollten, daß sie em-
pirischer Prüfung zugänglich sind. Da sie mit der von mir vertretenen These der
Möglichkeit und Nützlichkeit von Falschheitspräsumtionen ohne weiteres ver-
einbar sind, möchte ich an dieser Stelle nicht weiter auf sie eingehen.

3.4.1.2 Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen


beim Verstehen

Bislang hatte ich versucht, die These zu belegen, daß Falschheitsunterstellungen


bei der Beurteilung von bestimmten Arten von Zeugnissen angebracht sind. Im
folgenden möchte ich darüber hinausgehen und die Möglichkeit von Falsch-
heitspräsumtionen beim Verstehen von Zeugnissen und Irrationalitätspräsumtio-

95
Ebenso wie es Falschheitsunterstellungen für bestimmte Arten von Zeugnisse gibt, exi-
stieren auch Irrationalitätsunterstellungen für bestimmte Arten von Zeugen (vgl. Hume
1748/1993: 137). Allerdings gibt es keine einfache Entsprechung zwischen Falschheit
von Zeugnissen und Irrationalität von Zeugen. Ein falsches Zeugnis stammt nicht not-
wendig von einem irrationalen Zeugen. Es gibt auch Fälle, bei denen jemand ein falsches
Zeugnis ablegt, um damit bestimmte Ziele zu verwirklichen. Solche Falschaussagen wä-
ren dann ein zweckrationales Handeln.
150 Dritter Teil
nen beim Verstehen von Zeugen behaupten. Diese neue These bezieht sich dar-
auf, daß Falschheits- und Irrationalitätsannahmen auch hermeneutische Präsum-
tionen im strengen Sinn sein können, d.h. Mittel des Verstehens von Zeugnissen
und Zeugen. Diese Unterscheidung zwischen Präsumtionen als Mittel zum
Zwecke der Beurteilung und hermeneutischen Präsumtionen im engeren Sinn
als Mittel zum Zwecke des Verstehens von Zeugnissen fehlt in Scholzens Theo-
rie der Präsumtionen. Die Unterscheidung ist aber höchst relevant, da wir viel-
fach Zeugnisse verstehen können (im Sinne der Feststellung, was mit ihnen ge-
meint ist), ohne ihre Wahrheit bzw. Falschheit zu unterstellen, aber unter Um-
ständen dennoch Präsumtionen verwenden, um diese Zeugnisse als glaubwürdig
oder unglaubwürdig zu beurteilen.
Ein mögliches Mißverständnis gilt es hierbei zu vermeiden: Es ist nicht mei-
ne Absicht, das principle of charity durch ein principle of uncharity zu ersetzen.
Niemand möchte das Prinzip einer generell wohlwollenden Interpretation durch
ein Prinzip durchgängig böswilliger Interpretation – eine Hermeneutik des Ver-
trauens durch eine Hermeneutik des Mißtrauens – ablösen.
Allerdings ist die Frage, ob es überhaupt ein principle of uncharity geben
könnte, zumindest von einigem theoretischem Interesse. In dem Abschnitt
3.3.4.2.2 hatten wir bereits das Problem der Unbestimmtheit von Falschheitsun-
terstellungen diskutiert: Falls ein principle of uncharity dazu dienen soll, Aussa-
gen eines Sprechers überhaupt erst zu verstehen, ergibt sich das Problem der
Unbestimmtheit unspezifischer Falschheitsunterstellungen: Eine Falschheitsun-
terstellung legt die Meinung des Autors/Sprechers noch nicht fest, denn es gibt
unendlich viele falsche Meinungen. Wenn wir also annehmen, der Autor vertre-
te eine falsche Meinung, wissen wir noch nicht, welche das ist. Wir können da-
her allein mit Hilfe eines unspezifischen principle of uncharity die Meinung ei-
nes Sprechers nicht identifizieren. Die Frage ist aber, ob ein unspezifisches prin-
ciple of charity eine bessere Alternative ist. Natürlich erscheint aus logischen
Gründen die Meinungszuweisung eindeutiger: Wenn wir annehmen, der Autor
vertrete eine wahre Meinung, wissen wir theoretisch, welche das ist, und zwar
unter der Bedingung, daß wir selbst wissen, welche Meinung wahr ist. Für den
Vertreter einer kritischen Erkenntnistheorie, die nicht davon ausgeht, daß das
Erkenntnissubjekt im Besitz der Wahrheit ist, führt diese Auskunft nicht wirk-
lich weiter. Unspezifische Wahrheits- und Falschheitsunterstellungen scheinen
also gleichermaßen unbrauchbar zu sein.
In Kombination mit weiteren Annahmen und Theorien könnte sogar ein
principle of uncharity, das in reiner Form niemand vertritt, das Verstehen und
Interpretieren anleiten. Das ist nicht ganz so absurd, wie es zunächst klingt. Es
gibt de facto Beispiele für eine Verstehens- und Interpretationspraxis, die dem
principle of uncharity zumindest nahe kommt, und zwar bei manchen Vertretern
der Psychoanalyse. Eine wichtige Kritik an der psychoanalytischen Theorie und
Praxis besteht darin, daß sie im Endeffekt dazu führe, den Analysanden zu pa-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 151
thologisieren.96 Der Analysand mag sagen, was er will: Alles kann ihm ausge-
legt werden als Ausdruck einer unproduktiven psychischen Orientierung. Dies
impliziert eine starke Irrationalitätsunterstellung bestimmter Art. Zugleich wird
das, was der Analysand beispielsweise über seine Motive aussagt, üblicherweise
als unglaubwürdig und interpretationsbedürftig aufgefaßt. Darin kann man eine
starke Falschheitspräsumtion sehen.97
Durch die von Freud in seiner Arbeit über Traumdeutung eingeführte Unter-
scheidung zwischen manifesten und latenten Inhalten (vgl. Freud 1900/1999:
140; 169) wurde ein ‚tiefenhermeneutisches’ Erkenntnisprogramm ins Leben
gerufen, das es letztlich erlaubt, jede menschliche Lebensäußerung auf unbe-
wußte (irrationale) Triebregungen zurückzuführen. War es anfangs vor allem
der manifeste Trauminhalt – die bildhaften und sprachlichen Elemente des rea-
len Traumes –, der interpretatorisch entschlüsselt werden sollte, um den ver-
drängten Ursprung zu enthüllen, entdeckte die Psychoanalyse bald weitere Tä-
tigkeitsfelder. Inzwischen sind es menschliche Zeugnisse beliebiger Art, die tie-
fenpsychologisch dechiffriert werden, wobei der Erkenntnisanspruch darin be-
steht, durch diese Methode ein richtiges bzw. ‚tieferes’ Verstehen dieser Le-
bensäußerungen herbeizuführen. Das psychoanalytische Verständnis der Le-
bensäußerungen – zumal wenn es sich um mündliche oder schriftliche Äuße-
rungen handelt – unterscheidet sich üblicherweise erheblich von dem Selbstver-
ständnis des Urhebers dieser Texte. Es wird unterstellt, daß er den latenten Sinn
seiner Äußerungen, der allein durch das psychoanalytische Interpretationsver-
fahren ermittelt werden kann, gar nicht kennt; ferner, daß der latente Sinn, auf
den es beim Verstehen ankomme, mit einer unbewußten Triebregung zu tun ha-
be. Damit liegt eine zweifache Unterstellung von Irrationalität vor: zum einen
das völlige Unvermögen der Menschen, den ‚eigentlichen’ Sinn ihrer Rede (und
ihres Handelns) selbsttätig zu entschlüsseln, zum anderen der Rekurs auf irratio-
nale Strebungen des jeweiligen Urhebers von Rede und Text bei der Ermittlung
des latenten Sinngehaltes.98 Das Selbstverständnis des Redenden und Handeln-
den wird hierbei stets als ein falsches oder zumindest defizitäres aufgefaßt,
ebenso jede Form von Fremdverstehen, das sich nicht der psychoanalytischen
Methode bedient. Insofern das Selbstverständnis des Redenden und Handelnden
sowie das nicht-psychoanalytische Fremdverstehen für die Psychoanalyse ein
falsches Verständnis ist, kann gesagt werden, daß sie mit einer universellen

96
Vgl. beispielsweise den Aufsatz von Wolf-Dieter Herbert, in dem ausführliche Beispie-
le psychoanalytischen Pathologisierens gegeben und kritisch untersucht werden (Herbert
1996).
97
Der Psychoanalytiker selbst dürfte die Formulierung vorziehen, daß der latente Sinnge-
halt hinter dem manifesten Sinngehalt aufgedeckt werden soll.
98
Selbstverständlich vertreten nicht alle Tiefenpsychologen die Irrationalitätsunterstel-
lung so radikal wie die orthodoxe Psychoanalyse. In verschiedenen tiefenpsychologischen
Schulen, etwa bei C.G. Jung, gilt das Unbewußte eher als eine Art höhere Vernunft, die es
zu entdecken gilt.
152 Dritter Teil
Falschheitspräsumtion operiert, die prinzipiell jede noch so geringfügige Hand-
lung oder Äußerung unter den Verdacht stellt, etwas ganz anderes zu bedeuten,
als sie zu bedeuten scheint.99
Es scheint also nicht unmöglich zu sein, ein principle of uncharity beim Ver-
stehen und Interpretieren zu verwenden, allerdings nur in Verbindung mit weite-
ren Theorien (z.B. der psychoanalytischen Charaktertheorie), die es erlauben,
eine bestimmte Meinung bzw. psychische Disposition beim Analysanden zu
identifizieren.100
Da ich, wie gesagt, nicht die Absicht habe, ein Prinzip übelwollender Inter-
pretation aufzustellen, möchte ich mich nicht weiter mit der Frage beschäftigen,
ob ein principle of uncharity theoretisch möglich ist oder nicht. Mir geht es
vielmehr um die Grenzen des Charity-Prinzips und um die Frage, ob es neben
den Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen auch Falschheits- und Irrationali-
tätspräsumtionen als Mittel des Verstehens geben kann. Diese Falschheits- und
Irrationalitätspräsumtionen, die in der Alltagspraxis des Verstehens eine Rolle
spielen, sollen die wohlwollende Interpretation nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Während bei der psychoanalytischen Interpretationsmethode oftmals umfassen-
de Irrationalitätsunterstellungen beim Verstehen des Sprechers sowie weitge-
hende Falschheitspräsumtionen beim Verstehen des Gesagten zur Anwendung
kommen, werden in der Alltagspraxis rationaler Interpretation Falschheits- und
Irrationalitätspräsumtionen immer nur unter ganz bestimmten Bedingungen ein-
gesetzt.101
Das Beispiel der Psychoanalyse gibt eine gewisse Anfangs-Plausibilität, daß
Irrationalitäts- und Falschheitsunterstellungen unter Umständen hermeneutische
Präsumtionen im engeren Sinne, d.h. Mittel des Verstehens, sein können. Um
dies jedoch genauer nachweisen zu können, muß das Wort „Verstehen“ unter-
sucht und in seine unterschiedlichen Bedeutungen ausdifferenziert werden. Der
Ausdruck „Verstehen“ – ebenso wie das Wort „Interpretieren“ (vgl. Bühler
1999) – ist durch eine ausgeprägte Mehrdeutigkeit gekennzeichnet (vgl. Strube
2003), die den Sprachgebrauch so uneinheitlich macht, daß man Zweifel daran

99
Im alltäglichen Sprachgebrauch verankert ist bereits der sogenannte Freudsche Ver-
sprecher. Wenn jemand auf die Frage, was er von Frauenemanzipation hält, antwortet:
„Ich bin sehr für Emanzipation und den ganzen ... Mist wäre jetzt das falsche Wort“, dann
legt der Widerspruch zwischen dem zustimmenden Inhalt der Äußerung und der abwer-
tenden Wortassoziation den Schluß nahe, daß der bewußt geäußerte Inhalt nicht ernstzu-
nehmen ist (vgl. Böhm/Hoock 1998: 79).
100
Weiterhin muß man einschränken, daß selbst die gewagtesten psychoanalytischen
Deutungen nicht systematisch die Wahrheit einfacher Beobachtungsaussagen negieren.
Wenn der Analysand über banale Alltagshandlungen berichtet, mag sich daran die Phan-
tasie des Analytikers entzünden. Die Wahrheit der Beobachtungssätze wird er aber nicht
durchweg leugnen.
101
Es wird beim alltäglichen Verstehen und Interpretieren auch nicht angenommen, daß
den Zeugnissen ein geheimer Sinn innewohnt, der erkannt werden muß, damit das Zeug-
nis ‚richtig’ verstanden wird.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 153
haben kann, ob ein gemeinsamer Bedeutungskern angesichts dieser unterschied-
lichen Verwendungsweisen überhaupt identifiziert werden kann. Strube unter-
scheidet die sieben folgenden Bedeutungen: „einen Satz verstehen“ (Strube
2003: 82), „den Satz in seinem Zusammenhang verstehen“ (Strube 2003: 83),
„den in einer bestimmten Situation geäußerten Satz verstehen“ (Strube 2003:
84), „die Äußerung als diesen oder jenen Akt eines bestimmten Sprechers ver-
stehen“ (Strube 2003: 85), „die Äußerung verstehen als Ausdruck eines be-
stimmten psychischen Zustands“ (Strube 2003: 86), „den tieferen Sinn eines
Satzes verstehen“ (Strube 2003: 87) und „sich in der Sache mit jemandem ver-
stehen“ (Strube 2003: 88).
Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung, ob Falschheits- und Irrationa-
litätsunterstellungen, deren Gebrauch beim alltäglichen Umgang mit Zeugnissen
bereits nachgewiesen wurde, auch hermeneutische Präsumtionen im engeren
Sinn sein können, scheint in erster Linie der Unterschied zwischen dem seman-
tischen Verstehen dessen, was mit einer Äußerung gemeint ist und dem Perso-
nenverstehen, bei dem psychische Zustände, etwa Beweggründe und Motive des
Sprechens und Handelns eine Rolle spielen, relevant zu sein. Werden also
Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen verwendet, um eine Äußerung se-
mantisch zu verstehen? Solche Fälle, wenn es sie gibt, scheinen einen Verstoß
gegen Grices Lehre von den konversationalen Implikaturen darzustellen. Erin-
nern wir uns an die Diskussion im Abschnitt 3.3.2: Dort habe ich anhand eines
Beispiels die scheinbare Unhintergehbarkeit der Kooperativitätspräsumtion kri-
tisiert und zu zeigen versucht, daß unter bestimmten Umständen beim Verstehen
dessen, was mit einer Äußerung gemeint ist, von der entgegengesetzten Präsum-
tion der Nicht-Kooperation des Sprechers ausgegangen wird. Ebenso scheint es
Fälle zu geben, in denen der Verstehende von vornherein davon ausgeht, daß es
sich bei der Gesprächssituation um keinen „rationalen Dialog“ bzw. beim Spre-
cher um keinen „rationalen Dialogpartner“ handelt. Die Unterstellung, daß der
Sprecher in bestimmter Hinsicht irrational ist oder aus anderen Gründen falsch
informiert, geht offenbar üblicherweise einher mit der Präsumtion der Nicht-
Kooperativität. In Streitgesprächen, seien sie nun wissenschaftlicher oder priva-
ter Natur, kommt es häufiger zu Nicht-Kooperativitätspräsumtionen, d.h. zu der
Hypothese, daß der Meinungsgegner nicht kooperiert und nicht an gemeinsamer
Wahrheitsfindung interessiert ist. In solchen Fällen geschieht es leicht, daß sich
die Streitenden wechselseitig Irrationalität (in bestimmter Hinsicht) unterstellen
und davon ausgehen, daß der jeweils andere in den zur Diskussion stehenden
Fragen falsch informiert. Solche partiellen Irrationalitäts- und Falschheitsprä-
sumtionen werden dann bereits beim Verstehen dessen angewendet, was mit
einer Äußerung gemeint ist. Eine andere Frage ist, ob solche Irrationalitäts- und
Falschheitspräsumtionen beim semantischen Verstehen tatsächlich geeignete
Mittel des Verstehens sind. Bekanntermaßen scheint es in solchen Fällen, die
wohl jeder aus eigener Erfahrung kennt, zu gehäuften Mißverständnissen zu
kommen – zumindest fühlt sich jeder mißverstanden, dessen Äußerungen mit
Falschheitspräsumtionen und dessen Person mit (partiellen) Irrationalitätsprä-
154 Dritter Teil
sumtionen konfrontiert werden. Insofern erhalten die Präsumtionen der Koope-
rativität, Rationalität und Wahrheit einen bevorzugten Status in pragmatischer
Hinsicht: Wer an einer Fortsetzung eines Dialoges interessiert ist, tut in der Re-
gel gut daran, dem Gesprächspartner Kooperativität, Rationalität und zumindest
ein Interesse an der Wahrheitssuche zu unterstellen, selbst wenn er insgeheim
anderer Meinung ist. Diese So-tun-als-ob-Unterstellungen sind aber strengge-
nommen keine hermeneutischen Präsumtionen mehr, sondern sprachpragmati-
sche Fiktionen. Obwohl also für das Aufrechterhalten von Dialogen und damit
für die Praxis der Kommunikation die Unterstellung von Kooperativität, Ratio-
nalität und eines gemeinsamen Interesses an Wahrheit in gewisser Hinsicht tat-
sächlich grundlegend ist, wird damit die Berechtigung von Nicht-Kooperati-
vitätsannahmen, Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen beim Verstehen
von Äußerungen in bestimmten Fällen nicht ausgeschlossen. Die Fiktion der
Kooperativität und Rationalität kann einhergehen mit einer hermeneutischen
Präsumtion der Nicht-Kooperativität und Irrationalität: Dies scheint ein gar nicht
seltener Fall zu sein, wenn man etwa an Gesprächsrunden denkt, in denen ein-
zelne Teilnehmer, die notorisch Unsinniges von sich geben und deren Ge-
sprächsbeiträge man von vornherein entsprechend auffaßt, dennoch so behandelt
werden, als ob sie kooperative und rationale Gesprächspartner wären, die etwas
Relevantes zum Thema beitrügen.
Verbreiteter als auf der Ebene des semantischen Verstehens scheinen Falsch-
heits- und Irrationalitätsunterstellungen als Mittel des Personenverstehens zu
sein. Dies hängt zum einen damit zusammen, daß psychoanalytische Denkfigu-
ren inzwischen weit in die sozialwissenschaftliche, aber auch in die alltägliche
Praxis des Personenverstehens vorgedrungen sind – unabhängig davon, wie man
dies bewerten mag. Zum anderen sind „tiefenhermeneutische“ Interpretationen
von Äußerungen und Handlungen, in denen zwischen dem Selbstbild einer Per-
son – ihren vorgeblichen Intentionen, Motiven, Charaktereigenschaften etc. –
und ihren tatsächlichen Eigenschaften unterschieden wird, viel älter als die Psy-
choanalyse und offenbar von jeher mit dem alltagspsychologischen Verstehen
von Personen verbunden. Da das Phänomen der Täuschung und Selbsttäuschung
gerade im Hinblick auf Motive und Persönlichkeitsmerkmale weit verbreitet ist,
wäre es auch überraschend, wenn sich nicht auch im alltäglichen Umgang Stra-
tegien herausgebildet hätten, solche Täuschungen aufzudecken. Bekannt ist bei-
spielsweise die Tatsache, daß man Personen, die auffallend häufig beteuern, et-
was getan (oder nicht getan) zu haben oder eine bestimmte Eigenschaft zu besit-
zen (oder nicht zu besitzen) in der Regel nicht glaubt – anscheinend deshalb,
weil die besondere Betonung des angeblichen Sachverhalts eine Unsicherheit
des Sprechers in eben diesem Punkt offenbart. In diesem Fall kommt eine her-
meneutische Falschheitspräsumtion beim Verstehen der betreffenden Person zur
Anwendung. Das Phänomen der Selbsttäuschung macht die Anwendung von
Irrationalitätspräsumtionen nötig, will man die sich selbst täuschende Person
richtig verstehen. Da solche Selbsttäuschungen auch nicht erst seit Freuds „Ent-
deckung“ des Unbewußten bekannt sind und man auch früher bereits wußte, daß
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 155
Menschen, die besonders ehrenwerte Motive zu verfolgen wähnen, damit häufig
eigennützige Strebungen vor sich selbst und anderen rechtfertigen, kann man
eine lange Tradition der Anwendung von Irrationalitätspräsumtionen beim all-
täglichen Personenverstehen annehmen. Eine Praxis des Personenverstehens, in
der die weite Verbreitung von Täuschung und Selbsttäuschung im Hinblick auf
Motive des Handelns nicht berücksichtigt würde, wäre ausgesprochen ineffi-
zient und ungeeignet.
Natürlich sind auch Irrationalitäts- und Falschheitspräsumtionen fallibel.
Wenn jemand, um beim oben erwähnten Beispiel zu bleiben, in auffallender
Weise beteuert, etwas getan (oder nicht getan) zu haben, stellt dies zunächst eine
präsumtionserzeugende Tatsache dar, die üblicherweise zu einer Falschheitsun-
terstellung führt. Implizit wird damit ein kausaler Zusammenhang angenommen
zwischen dem merkwürdigen Verhalten des Betreffenden und einer Täu-
schungsabsicht. Da es aber auch andere Gründe für das außergewöhnliche Ver-
halten des Betreffenden geben kann, die mit einer Täuschungsabsicht nichts zu
tun haben, ist die Falschheitspräsumtion eine fehlbare Hypothese.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Versuch, die Praxis des Verste-
hens und Interpretierens in einer Weise zu beschreiben, in der Falschheits- und
Irrationalitätsunterstellungen nicht vorkommen, dieser Praxis nicht gerecht wird.
Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen sind nicht nur bei der Beurteilung
von Zeugnissen und Zeugen relevant, sondern spielen in vielen Fällen auch
beim Verstehen eine Rolle. Die Anwendung der Rationalitäts-, Wahrheits- und
Kooperativitätspräsumtion hingegen ist nur scheinbar unhintergehbar, da wir in
vielen Fällen an ihnen als sozial nützlichen Fiktionen festhalten, obwohl wir fak-
tisch von anderen Annahmen ausgehen.

3.4.1.3 Über Urteilsenthaltung und das Verstehen von Äußerungen


ohne Präsumtionen

In der bisherigen Diskussion wurden Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen


einerseits sowie Falschheits- und Irrationalitätspräsumtionen andererseits einan-
der antithetisch gegenübergestellt und damit womöglich der Eindruck vermittelt,
man habe beim Umgang mit Zeugnissen keine andere Wahl als zwischen diesen
beiden radikalen Alternativen. Entweder, so schien es, müsse man sich für die
Unterstellung von Wahrheit und Rationalität entscheiden oder für das Gegenteil.
Offenbar jedoch gibt es beim Umgang mit Zeugnissen noch eine dritte Mög-
lichkeit: die Urteilsenthaltung. Dies betrifft zunächst einmal die Frage der Not-
wendigkeit eines bewertenden Umgangs mit einem Zeugnis, unter der Voraus-
setzung, daß wir es verstanden haben. Es besteht nicht der geringste Grund, ein
Zeugnis, das wir verstanden haben, überhaupt als wahr oder falsch zu beurteilen.
Dasselbe gilt für die Glaubwürdigkeit und Rationalität des Zeugen; auch bei die-
ser Frage können wir uns des Urteils enthalten oder uns noch nicht einmal diese
156 Dritter Teil
Frage stellen, etwa weil die Frage nach der Wahrheit des Zeugnisses und der
Rationalität des Zeugen für uns schlicht irrelevant ist. Dies kann beliebige
Zeugnisse betreffen: Wer sich beispielsweise für wissenschaftliche und weltan-
schauliche Fragen nicht interessiert, kann der Auseinandersetzung zwischen
Evolutionstheoretikern und Kreationisten gleichgültig gegenüberstehen. Diesel-
be Person, die sich für Wissenschaft nicht interessiert, wird aber zu einem fun-
dierten Urteil über die Qualität medizinischer Therapien kommen wollen, wenn
sie selbst oder ein Familienangehöriger erkrankt ist.
Gibt es diese Möglichkeit der Urteilsenthaltung auch beim Verstehen von
Zeugnissen? – Scholz hatte, ausgehend von Grices Theorie rationaler Dialoge,
überzeugend dafür argumentiert, daß die Wahrheits- und Rationalitätspräsumti-
on bei bestimmten metaphorischen, ironischen, aber auch wörtlichen Äußerun-
gen instrumentell notwendig ist für ein richtiges Verstehen dieser Äußerungen.
Die sich daran anschließenden stärkeren „Konstitutivitätsthesen“ habe ich aus-
führlich kritisiert und außerdem nachzuweisen versucht, daß in bestimmten Fäl-
len Falschheits- und Irrationalitätsunterstellungen hermeneutische Präsumtionen
sind. Jedoch ist bislang nicht genügend berücksichtigt worden, daß in vielen Fäl-
len keine Präsumtionen dieser Art verwendet werden müssen, um die betreffen-
de Äußerung zu verstehen. Inwieweit wir faktisch Präsumtionen beim Umgang
mit Zeugnissen verwenden, ist ein Problem empirisch-psychologischer For-
schung, doch die (instrumentelle) Notwendigkeit der Anwendung von Präsum-
tionen als Mittel des Verstehens betrifft nicht alle Arten von Äußerungen. Wenn
jemand in einem naturwissenschaftlichen Lexikon den Satz liest: „Die Lichtge-
schwindigkeit ist unabhängig vom Bewegungszustand des als Bezugssystem
benutzten Inertialsystems immer gleich groß“ (Paturi 1997: 370), wird er diesen
Satz nur dann verstehen, wenn er über genügend Hintergrundwissen verfügt,
d.h. mit der Relativitätstheorie vertraut ist und weiß, was mit einem „Inertialsy-
stem“ gemeint ist. Ob er diesen Satz versteht, hängt von diesem Hintergrund-
wissen ab, nicht aber davon, ob er den Satz für wahr oder den Autor des Satzes
für rational hält, oder ob er an die Relativitätstheorie glaubt. Er könnte sich ohne
weiteres des Urteils enthalten. Häufig dürfte derjenige, der einen solchen Satz
versteht, durchaus eine feste Meinung darüber besitzen, ob dieser Satz wahr ist.
Doch auch wenn er die Wahrheit des Satzes und die Rationalität des Autors an-
nehmen sollte, handelt es sich hierbei offenkundig um keine hermeneutischen
Präsumtionen, da diese Annahmen nichts zum Verständnis des Satzes beitragen.
Neben dem Vorhandensein von hermeneutischen Falschheits- und Irrationa-
litätspräsumtionen schränken demnach noch zwei weitere Faktoren den Gel-
tungsbereich von Wahrheits- und Rationalitätspräsumtionen ein: die Möglich-
keit der Urteilsenthaltung sowie die Möglichkeit, bestimmte Arten von Äuße-
rungen ohne Zuhilfenahme von Präsumtionen zu verstehen.
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 157
3.4.2 Grenzen wohlwollender Interpretation und das
Prinzip der Erklärbarkeit

3.4.2.1 Bühler über Grenzen der Charity-Prinzipien

Axel Bühler hat bereits 1988 in dem Aufsatz „On limitations of principles of
charity“ die These vertreten, daß „Charity“ im Sinn von Wahrheits- und Konsi-
stenzunterstellung in bestimmten Anwendungsbereichen erfolgreich ist, in ande-
ren aber nicht. Demgemäß gelte es, diese Anwendungsbereiche zu identi-
fizieren: „Areas are specified where these principles might be successfull and
demarcated against those where we should expect the principles to give wrong
results“ (Bühler 1988: 1). Uneingeschränkte Charity-Prinzipien, die nicht nach
erfolgversprechenden und weniger erfolgversprechenden Anwendungsbereichen
differenzieren, müßten demgegenüber zurückgewiesen werden.
Da die durchgängige Unterstellung der Wahrheit und Konsistenz von Mei-
nungssystemen in der Praxis nicht durchführbar ist, sei es notwendig, die An-
wendung von Wahrheits- und Konsistenzannahmen auf bestimmte Bereiche ein-
zuschränken. Weiterhin müsse geklärt werden, in welchen Bereichen falsche
oder inkonsistente Meinungen unterstellt werden können: „In which cases are
we allowed to attribute false belief? When should we assume that people have
inconsistent opinions?” (Bühler 1988: 7). Die Reichweite von Charity-Prinzipi-
en sei geringer als von vielen Autoren bisher angenommen wurde. Insbesondere
müßten die Kontexte spezifiziert werden, in denen Charity-Prinzipien ange-
wandt und jene, in denen sie nicht angewandt werden können (vgl. Bühler 1988:
9).
Bühler geht in seiner Arbeit zu den Grenzen wohlwollender Interpretation
also über die triviale Feststellung faktisch vorhandener falscher und inkonsisten-
ter Meinungen hinaus. Seine Forderung besteht darin, das Vorhandensein von
wahren und konsistenten Meinungen in bestimmten Bereichen und falschen so-
wie inkonsistenten Meinungen in anderen Bereichen zu erklären. Eine solche
Erklärung könnte beispielsweise folgendermaßen aussehen (vgl. Bühler 1988:
10 f.):
1. Menschen neigen dazu, Inkonsistenzen in ihren Meinungssystemen zu mini-
mieren, wenn sie kognitive Dissonanz empfinden.
2. Menschen empfinden nur dann kognitive Dissonanz, wenn sie die Widersprü-
che in ihrem Meinungssystem überhaupt wahrnehmen.
3. In Gesellschaften ohne Schriftkultur werden Widersprüche weniger häufig
wahrgenommen als in Gesellschaften mit Schriftkultur.
4. Daher können wir erwarten, daß Inkonsistenzen in Meinungssystemen in Ge-
sellschaften ohne Schriftkultur häufiger verbreitet sind, als in Gesellschaften mit
Schriftkultur.
Bühler operiert also sowohl mit Wahrheits- und Konsistenzpräsumtionen als
auch mit Falschheits- und Inkonsistenzunterstellungen. Insgesamt sollten wir
158 Dritter Teil
wahre und konsistente Meinungen in solchen Bereichen annehmen, in denen ihr
Vorhandensein erklärt werden kann. Er formuliert auch einige spezifische Prä-
sumtionsregeln, etwa die Wahrheitspräsumtionsregel „Ascribe true beliefs to
others when the belief content concerns the everyday physical environment!“
(Bühler 1988: 16) sowie die Konsistenzpräsumtionsregel „Describe the thinking
of others as consistent when there is reason to suppose that contradictions are
likely to be perceived!“ (ebd.). Besonders interessant ist in unserem Diskussi-
onszusammenhang aber die Tatsache, daß bereits bei Bühler ausdrücklich eine
Falschheitspräsumtionsregel erwähnt wird:

„Assume that others have wrong beliefs when (a) the belief content concerns parts of
reality beyond everyday physical and social environment and (b) the beliefs have not
come about in a competitive process!” (Bühler 1988: 16)

Zugleich formuliert er die folgende Inkonsistenzpräsumtionsregel:

„Ascribe inconsistencies to others when the perception of eventual contradictions is


unlikely!“ (ebd.)

Ein dergestalt auf bestimmte Anwendungsbereiche eingeschränktes Charity-


Prinzip komme Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit nahe, jedoch sei das Prin-
zip der Erklärbarkeit von größerer Allgemeinheit (vgl. Bühler 1988: 18). Expli-
zit begreift Bühler seine Arbeit über die Grenzen wohlwollender Interpretation
als eine Anwendung des Prinzips der Erklärbarkeit: “this paper can be conside-
red an application of this principle“ (ebd.).

3.4.2.2 Hendersons Prinzip der Erklärbarkeit

Bühlers Arbeit über die Grenzen wohlwollender Interpretation steht in Zusam-


menhang mit David K. Hendersons Arbeiten über das „Prinzip der Erklärbar-
keit“. Henderson hat sein „Prinzip der Erklärbarkeit“ sowohl in dem Aufsatz
„Das Prinzip des Wohlwollens und das Problem der Irrationalität“ (vgl. Hender-
son 2003) als auch in dem Buch „Interpretation and Explanation in the Human
Sciences“ (vgl. Henderson 1993) dargestellt.
Sein Erkenntnisgegenstand ist das sich aus dem Prinzip des Wohlwollens
ergebende Problem der Irrationalität: Das Prinzip des Wohlwollens scheint die
Unterstellung von Irrationalität methodologisch auszuschließen, obwohl diese
empirisch häufig vorkommt:

„So aufgefaßt, schließt das Prinzip des Wohlwollens die Möglichkeit irrationaler
Überzeugungen und Verhaltensweisen aus (oder zieht alle solche Zuschreibungen in
Zweifel), und dies trotz reichlicher Belege für ihr ziemlich häufiges Vorkommen. Be-
sonders beunruhigend ist dabei, daß Irrationalität nicht so sehr aus empirischen, son-
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 159
dern aus rein methodologischen Gründen ausgeschlossen wird (oder gegen sie ge-
sprochen wird)“ (Henderson 2003: 234).

Das Problem der Irrationalität entstehe deswegen, weil die Grenzen und Ein-
schränkungen des Wohlwollens-Prinzips nicht richtig eingeschätzt würden (vgl.
Henderson 2003: 236).102 Bezogen auf das vielfach diskutierte Beispiel der Er-
stellung von Handbüchern zur Übersetzung einer fremden Sprache, müsse zwi-
schen vorläufigen Übersetzungshandbücher zur ersten Annäherung an eine
fremde Alltagssprache und verbesserten Übersetzungshandbücher unterschieden
werden (vgl. ebd.). Henderson kritisiert die herkömmliche Ansicht, wonach das
Prinzip des Wohlwollens den Übersetzer „in allen Phasen einer Arbeit ein-
schränkt“ (Henderson 2003: 237) und behauptet statt dessen, das Prinzip des
Wohlwollens schränke den Übersetzer in der frühen Phase ein, insofern den
Sprechern der Quellsprache in der frühen Übersetzungsphase keine offensichtli-
chen Widersprüche zugeschrieben werden, allerdings sei das Wohlwollensprin-
zip in den späteren Phasen nicht mehr in vergleichbarem Maße anwendbar:

„Bei der Erstellung von verbesserten Übersetzungshandbüchern schreibt uns das


Wohlwollensprinzip nicht vor, Zuschreibungen offensichtlicher Widersprüche zu
Sprechern der Quellsprache zu vermeiden. Bei der verbesserten Übersetzung hinge-
gen kontrolliert das bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen maßgebliche Inter-
esse an der Zuschreibung erklärbarer Überzeugungen und Handlungen unsere Erklä-
rungsversuche, die Zuschreibungen offensichtlicher Widersprüche einschließen, und
leitet solche Erklärungsversuche an“ (Henderson 2003: 238).

Dem Wohlwollensprinzip komme also eine vorbereitende Funktion bei der


Erstellung von Übersetzungshandbüchern zu, es spiele „a largely preparatory
role“ (Henderson 1993: 51). Hendersons Argumentationsziel besteht also nicht
darin, Prinzipien des Wohlwollens generell zurückzuweisen, sondern bisher
vorgeschlagene Formulierungen zu verbessern und auf die Grenzen wohlwol-
lender Interpretation hinzuweisen. Darüber hinaus möchte er zeigen, daß das
Prinzip des Wohlwollens „unter ein grundlegenderes Prinzip subsumiert werden
kann“, unter das „Prinzip der Erklärbarkeit“. Dieses Prinzip der Erklärbarkeit
erlaube es uns, unter bestimmten Umständen Personen Irrationalität zuzuschrei-
ben. Wie lautet das Prinzip der Erklärbarkeit? Henderson gibt folgende Formu-
lierung des Prinzips:

„Übersetze so, daß Du die Erklärbarkeit der Überzeugungen und Handlungen, die
Personen zugeschrieben werden, maximierst!“ (Henderson 2003: 236)

102
Auch David Papineau kommt in seinem Buch „Reality and Representation“ zu einer
ähnlichen Einschätzung: „The principle of charity seems to commit us to the conclusion
that every human utterance is true. But surely people do sometimes say false things.
There must be something wrong with an approach to interpretation which rules out this
perfectly normal possibility a priori” (Papineau 1987: 33).
160 Dritter Teil
Das Prinzip des Wohlwollens könne als ein Sonderfall des Prinzips der
Erklärbarkeit aufgefaßt werden (vgl. Henderson 2003: 248 u. Henderson 1993:
56). Allerdings führt Henderson nur das „gewichtete Wohlwollensprinzip“103
auf das Prinzip der Erklärbarkeit zurück: „Das Wohlwollensprinzip sollte in den
Fällen das größte Gewicht haben, wenn wir damit rechnen können, daß die
Sprecher der Quellsprache zumeist recht haben. Zuschreibungen von Irrtümern
sprechen dann am stärksten gegen ein Übersetzungshandbuch, wenn es sich um
eine Art von unwahrscheinlichen Irrtümern handelt. Andererseits sollte das
Wohlwollensprinzip in den Fällen das geringste Gewicht haben, in denen Irrtü-
mer zu erwarten sind“ (Henderson 2003: 249). Es sollte möglich sein, die zuge-
schriebenen Irrtümer unter Rückgriff auf empirisches Wissen zu erklären (vgl.
ebd.).
Wie ist es zu verstehen, daß das Prinzip des Wohlwollens auf das Prinzip der
Erklärbarkeit zurückgeführt werden kann? Henderson begründet dies damit, daß
sich wohlwollende Interpretation in der Anfangsphase der Erstellung eines
Übersetzungshandbuchs aus der Absicht ergibt, zu Erklärungen zu kommen:

„Das Prinzip der Erklärbarkeit erfordert in den frühen Stadien der Erstellung eines
Übersetzungshandbuchs die Anwendung des Wohlwollensprinzips. In dieser Situati-
on fehlt dem Forscher oft Information, die für die Erklärung von Urteilen, seien sie
nun zutreffend oder irrtümlich, ausreicht. Dementsprechend leitet das Erklärbarkeits-
prinzip den Forscher an, in solchen Kontexten so zu übersetzen, daß sich die beste
Aussicht ergibt, zu Erklärungen zu kommen. Um dies zu tun beginnt der Forscher mit
bestimmten Arten von Sätzen, wie etwa Beobachtungssätzen, von denen wir mit gu-
ten Gründen annehmen können, daß sie, wenn Quellsprachler sie äußern, zutreffend
sind. In solchen elementaren Fällen, in denen Irrtümer sich nur sehr schwer, zutref-
fende Urteile aber ganz leicht erklären lassen, wird der Forscher sich bemühen, den
Sprechern zutreffende Überzeugungen zuzuschreiben. Er wird auch Irrtumszuschrei-
bungen auf solche Arten von Äußerung und solche Arten von Situation konzentrie-
ren, bei denen wir Irrtümer am leichtesten erklären konnten und bei denen wir die
meisten Irrtümer erwarten. Das gewichtete Wohlwollensprinzip ist also eine Version
des Prinzips der Erklärbarkeit“ (Henderson 2003: 251 f.).

Fassen wir zusammen: David Henderson will zeigen, daß das Prinzip des
Wohlwollens „unter ein grundlegenderes Prinzip subsumiert werden kann“, un-
ter das „Prinzip der Erklärbarkeit“. Seine Formulierung des Prinzips der Erklär-
barkeit nimmt Bezug auf die Erstellung eines Übersetzungshandbuchs. Sie for-
dert vom Übersetzer, so zu übersetzen, daß er die Erklärbarkeit der Überzeu-

103
Folgt ein Übersetzer dem sog. gewichteten Wohlwollensprinzip, „dann wird er die
Sprecher der Quellsprache so deuten, daß sie in den Fällen normalerweise richtig liegen,
in denen aus empirischen Gründen richtiges Urteilen und Schlußfolgern am wahrschein-
lichsten ist. Insgesamt werden auch Irrtumszuschreibungen auf Fälle beschränkt sein, in
denen richtiges Urteilen unwahrscheinlich ist, in denen wir wenig Grund haben, mit rich-
tigem Urteilen und Schlußfolgern zu rechnen, eher guten Grund haben, Irrtümer zu
erwarten“ (Henderson 2003: 248).
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 161
gungen und Handlungen, die Personen zugeschrieben werden, maximiert. Die-
ses Prinzip der Erklärbarkeit erlaube es uns in bestimmten Situationen, Personen
Irrationalität zuzuschreiben.
Es erscheint also möglich, das Wohlwollensprinzip auf das Prinzip der Er-
klärbarkeit zu reduzieren. Das Wohlwollensprinzip wird demnach zu einem
Spezialfall des Prinzips der Erklärbarkeit: „The principle of charity is a derivati-
ve principle, not a fundamental methodological constraint“ (Henderson 1993:
60). Um das Wohlwollensprinzip auf das Prinzip der Erklärbarkeit zurückzufüh-
ren, muß es allerdings durch unser Wissen über die Wahrscheinlichkeit des
Vorhandenseins wahrer und konsistenter oder falscher bzw. inkonsistenter Mei-
nungen gewichtet werden.
Hat nun der Umgang mit Zeugnissen, der dem „principle of explicability“
entspricht, noch etwas mit der Theorie der Präsumtionen zu tun? – Die Frage
läßt sich bejahen, denn es ist möglich, eine entsprechende Präsumtionsformel
sowie eine Präsumtionsregel zu formulieren, die sich auf das „principle of expli-
cability“ beziehen. Die Präsumtionsformel könnte lauten:
(Präs-F): Es gibt eine Präsumtion, ein bestimmtes Zeugnis für wahr (bzw.
falsch) zu halten, wenn die Wahrheit (oder Falschheit) dieses Zeugnisses er-
klärbar ist, zumindest aber besser erklärbar als die Annahme des entgegenge-
setzten Wahrheitswertes.
Dieser Präsumtionsformel könnte die folgende Präsumtionsregel entspre-
chen:
(Präs-R): Gehe von der Wahrheit des Zeugnisses aus, wenn das Vorhandensein
einer wahren Meinung besser erklärbar ist als das Vorhandensein einer fal-
schen Meinung (vice versa).
Unbestritten gibt es viele Fälle, in denen wir unterstellen müssen, daß ein
Sprecher uns relevante und aufrichtige Auskünfte geben möchte, wenn wir ihn
überhaupt verstehen wollen. In anderen Fällen ist jedoch auch die Anwendung
von Falschheitspräsumtionen sinnvoll: bei bestimmten Arten von natürlichen
Zeugnissen bzw. bei bestimmten Zeugen werden wir die Falschheitsvermutung
anwenden, einfach deshalb, weil die Falschheit des Zeugnisses oder die Unauf-
richtigkeit des Zeugen besser erklärbar ist. Wir werden z.B. geneigt sein, eine
starke Falschheitspräsumtion gegenüber Wunderberichten anzuwenden, da die
Falschheit dieser Berichte leichter erklärt werden kann. Der umgekehrte Fall,
also die Wahrheit der Wunderberichte, wäre dagegen mit den bestehenden Ge-
setzmäßigkeiten der realen Welt nicht zu vereinbaren, also unerklärlich. David
Hume hat bekanntlich in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand
eine einfache psychologische Erklärung von Wunderberichten gegeben, die eine
Falschheitspräsumtion nahelegt:

„Wird nämlich etwas völlig Widersinniges und Wunderbares aufgestellt, so nimmt


[der menschliche Geist] eine solche Tatsache gerade wegen des Umstands um so wil-
liger an, der ihr alles Gewicht entziehen sollte. Die Affekte der Überraschung und des
Staunens, die ein Wunder hervorruft, sind eine angenehme Erregung, und dies be-
162 Dritter Teil
wirkt eine fühlbare Hinneigung zum Glauben an jene Ereignisse, von denen sie
stammen. [...] Verbindet sich aber noch der religiöse Geist mit der Wunderliebe, dann
hat aller gesunde Verstand ein Ende und menschliches Zeugnis verliert unter diesen
Umständen jeden Anspruch auf Gültigkeit“ (Hume 1748/1993: 137).

Wir lernen also von Hume, daß wir bei bestimmten Arten von Zeugnissen
oder bestimmten Arten von Zeugen Falschheit und Irrationalität unterstellen
können und zweitens, daß wir dies nur dann tun dürfen, wenn die Falschheit des
Zeugnisses bzw. die Irrationalität des Zeugen besser erklärt werden kann als die
Annahme des Gegenteils.

3.4.3 Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik

In den kritischen Auseinandersetzungen der vorangegangenen Kapitel dieser


Arbeit sind bereits bestimmte allgemeine methodologische Annahmen über
Hermeneutik implizit zum Tragen gekommen. Diese allgemeinen methodologi-
schen Grundsätze sollen in dem vorliegenden Abschnitt systematisch zusam-
mengefaßt werden. In Anlehnung an Hans Albert möchte ich diesen methodolo-
gischen Ansatz als „naturalistische Hermeneutik“ bezeichnen. Es ist vor allem
das Verdienst Hans Alberts, in kritischer Auseinandersetzung mit der philoso-
phischen Hermeneutik Martin Heideggers und Hans-Georg Gadamers, eine na-
turalistische Behandlung der Verstehensproblematik gefordert zu haben (vgl.
Albert 1994 u. Albert 1998: 5). Eine solche Hermeneutik, die sich als Teil des
naturalistischen Erkenntnisprogramms begreift und insbesondere der kritisch-
rationalen Wissenschaftstheorie verpflichtet ist, kann an die Tradition der klassi-
schen Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. Scholz 1999: 35 ff.) an-
knüpfen. Sie teilt insbesondere das Selbstverständnis der klassischen Hermeneu-
tik, die sich als eine Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens begriff (vgl. Böhm,
Holweg, Hoock 1999). Das Verstehen selbst wird hierbei nicht als eine – im
Vergleich mit naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisweisen – ganz
andere Art der Erkenntnis aufgefaßt. Vielmehr kann es, ebenso wie naturwissen-
schaftliche Phänomene, mit Hilfe empirisch prüfbarer Gesetzeshypothesen er-
klärt werden (vgl. Albert 1994: 100 ff.). Neben der Erklärung des Verstehens
kommt es auf die Ermittlung von Regeln an, die das Verstehen selbst adäquat
anleiten und zu einer „Technologie der Deutung“ (vgl. Albert 1994: 95 ff.)
beitragen.
Eine naturalistische Hermeneutik104 beinhaltet folgende Thesen:

104
Albert faßt den Naturalismus, über die hier erwähnten Thesen hinaus, auch ontolo-
gisch auf als eine metaphysische Position, die beispielsweise religiöse Wirklichkeitsauf-
fassungen ausschließt (vgl. Albert 1998: 4). Es erscheint mir allerdings nicht ratsam, die
naturalistische Metaphysik und die hier behandelten methodologischen Grundsätze einer
naturalistischen Verstehenslehre begrifflich zu konfundieren. Man kann ohne weiteres die
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 163
(1) Das „Verstehen“ ist ein Prozeß, der – ebenso wie Phänomene aus dem
Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften – mit Hilfe allgemeiner Gesetzes-
annahmen erklärt werden kann. Allerdings handelt es sich keineswegs um einen
einheitlichen Erkenntnisgegenstand. Hinter den schillernden Begriffen des Ver-
stehens und Interpretierens verbergen sich eine Anzahl unterschiedlicher Er-
kenntnisleistungen (vgl. Bühler 1999 sowie Stegmüller 1996). Es besteht indes
keine Veranlassung, die mit dem Wort „Verstehen“ gemeinten verschiedenen
Vorgänge von der Möglichkeit nomologischer Erklärungen auszuschließen.
Vielmehr kann in dieser Hinsicht eine grundlegende Einheit der wissenschaftli-
chen Methode postuliert werden (vgl. Bühler 1987).
(2) Sowohl die Interpretationsergebnisse als auch die Prinzipien des Verste-
hens und Interpretierens sind fehlbar. Der Anspruch einer apriorischen Geltung
der Prinzipien des Verstehens und Interpretierens ist ebensowenig mit einem
konsequenten Fallibilismus zu vereinbaren wie die Suche nach letztbegründeten
und sicheren Interpretationsergebnissen. Die Fehlbarkeit des Verstehens und
Interpretierens ist aber nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit: Sowohl die Prin-
zipien des Verstehens und Interpretierens als auch die Interpretationsergebnisse
können überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Methodologische Prin-
zipien lassen sich überprüfen, indem kontrolliert wird, ob sie tatsächlich geeig-
nete Mittel für den jeweiligen Erkenntniszweck sind. Vor allem ist die Möglich-
keit einer Verbesserung der bestehenden Prinzipien des Verstehens und Interpre-
tierens nicht a priori auszuschließen. Interpretationsergebnisse sind als Hypothe-
sen aufzufassen, die anhand bestimmter Regeln gebildet und überprüft werden.
(3) „Principles of charity“ sind nicht die einzigen methodologischen Regeln,
die beim Verstehen und Interpretieren von Bedeutung sind. Der Anwendungsbe-
reich von Charity-Prinzipien ist begrenzt. Auch Falschheits-, Inkonsistenz- und
Irrationalitätspräsumtionen spielen beim Verstehen und Interpretieren eine Rol-
le. Hinzu kommen spezifische Regeln für die Bildung und Prüfung interpretati-
ver Hypothesen, die jeweils von konkreten Anwendungsbereichen abhängen
und in den jeweiligen interpretativen Einzelwissenschaften ihren Platz haben.105
Das Regelwerk, welches das Verstehen anleitet, kann als eine Technologie der
Deutung (vgl. Albert 1994: 95 ff.) aufgefaßt werden. Mit einer Technologie der
Deutung ist nun aber kein automatisiertes Verfahren der Hypothesenbildung und
-prüfung gemeint, das dem Interpreten gleichsam einen Algorithmus an die
Hand gibt. Vielmehr bedarf auch die Kunstlehre regelgeleiteten Verstehens, wie
es die klassische Hermeneutik des 17. und 18. Jahrhunderts bereits erkannte,
sowohl der schöpferischen Phantasie (ingenium) als auch der kritischen Urteils-

methodologischen Regeln annehmen, ohne sich damit auf eine ontologische Position zu
verpflichten.
105
Eine allgemeine Hermeneutik als philosophische Disziplin kann diese einzelwissen-
schaftlichen Regeln des Verstehens und Interpretierens weder formulieren noch im Detail
überprüfen, wohl aber bestimmte methodologische Kriterien offerieren, anhand derer die-
se Regeln von Vertretern der jeweiligen Fächer gebildet und geprüft werden können.
164 Dritter Teil
kraft (iudicium) des Interpreten bzw. der Gemeinschaft von Interpreten (vgl.
Gadenne 1984: 10 ff.). Die methodologischen Regeln, die beim Verstehen und
Interpretieren zur Anwendung kommen, sind ihrerseits fallibel. Sie beruhen auf
empirisch prüfbaren Gesetzesannahmen, die allerdings in der Praxis des Verste-
hens und Interpretierens meistens implizit bleiben und somit zum nomologi-
schen Hintergrundwissen gehören.
(4) Interpretative Hypothesen besitzen gegenüber naturwissenschaftlichen
Hypothesen keinen epistemologischen Sonderstatus: Sie unterliegen ebenso dem
Objektivitätskriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit. Die Prüfung etwa
von ‚tiefenhermeneutischen’ Deutungen orientiert sich an geeigneten Interpreta-
tionsregeln, die auf einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen beobachtba-
ren Indizien (Verhalten und sprachlichen Äußerungen) und den zugrunde lie-
genden Meinungen, Einstellungen und Motiven des Sprechers verweisen (vgl.
Böhm/Hoock 1998: 72 ff. sowie Böhm 2001: 123 f.).
(5) Bei der Ermittlung von Regeln des Verstehens und Interpretierens kann
auf die kommunikative Alltagspraxis zurückgegriffen werden. Auch die Lern-
und Entwicklungspsychologie ist von Belang. Neuere Studien machen deutlich:
Spracherwerb und Sprachverstehen verlaufen als Prozeß des kritischen Hypo-
thesentestens. Die zwischenmenschliche Praxis der Kommunikation und des
Verstehens von Handlungen erscheint im Verhältnis zu den bislang entstande-
nen Interpretationsmethodologien der Geistes- und Sozialwissenschaften als
weit entwickelt und leistungsfähig. Statt nun – wie neben Popper im Rahmen
seiner „Situationslogik“ auch diverse Vertreter der behavioristischen sowie der
kognitiven Psychologie gefordert haben – (alltags)psychologische Handlungser-
klärungen zu eliminieren, wäre es ratsam, den umgekehrten Weg einzuschlagen
und sich daran zu orientieren, wie gelungenes Verstehen faktisch stattfindet.
Dies schließt die Verwendung alltagspsychologischer Begriffe beim Personen-
verstehen ein.106 Diese Ausrichtung an realen Verstehensprozessen kommt einer
naturalistischen Hermeneutik sehr entgegen: Sie kann von einer Beschreibung
realer Verstehensprozesse ausgehen, ohne jedoch dem Fehlschluß anheimzufal-
len, aus dem faktischen Verhalten methodologische Regeln rechtfertigen zu
wollen. Auch die Regeln, nach denen gelungenes Verstehen stattfindet, sind
nicht sakrosankt und können unter Umständen weiterentwickelt werden. Den-
noch erlaubt die Analyse erfolgreichen Verstehens wichtige Hinweise auf die zu
entwickelnde Technologie der Deutung.
Besonders interessant sind vor diesem Hintergrund neuere Ergebnisse der
Lern- und Entwicklungspsychologie. Wie erfolgt der Spracherwerb und das
Sprachverstehen im Kindesalter? – Bislang schien es sich hierbei um einen Vor-
gang (passiver) Nachahmung, um ein bloßes Assoziieren von Wörtern mit Ge-
genständen und um eine Art induktiven Lernens durch Wiederholung und Gene-
ralisierung zu handeln. In ihrem Buch „The scientist in the crib“ brechen A.
Gopnik, A. N. Meltzoff und P. K. Kuhl mit diesen überkommenen Vorstellun-

106
Zur Frage der Unverzichtbarkeit der Alltagspsychologie vgl. Scholz 1999b: 80 ff..
Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen 165
gen: „While philosophers, psychologists, and parents were so sure they knew
how babies started to speak, no one consulted the babies themselves until around
the 1970s” (Gopnik u.a. 1999: 112).
Was ergibt sich nun „by looking in the crib“? – Kinder erweisen sich, so die
zentrale Aussage der Autoren, als kritische und aktive Hypothesentester und
Wahrheitssucher, die hierbei über „powerful programs for interpreting the
world“ verfügen, diese Programme aber selbsttätig verbessern können (vgl.
Gopnik u.a. 1999: 171 f.).
Spracherwerb und gelungenes Verstehen haben weitgehende Ähnlichkeit
mit dem, was schon Popper als Grundprinzip des wissenschaftlichen Lernens
und Forschens im Gegensatz zur induktivistischen Lerntheorie („Lernen durch
Wiederholung“) herausgestellt hat (vgl. Popper/Lorenz 1988: 23 f.): das Wagnis
riskanter Hypothesen und die Fehlerkorrektur nach dem Grundsatz von „Ver-
such und Irrtum“. Sind Kinder also kritische Rationalisten? – Man mag das an-
nehmen, ohne daran allzu große Erwartungen zu knüpfen: Kinder sind zwar kri-
tische Hypothesentester, doch das entsprechende biologische Programm scheint
sich im Erwachsenenalter allmählich zu erschöpfen. Diese bedauerliche Tatsa-
che bietet jedoch zugleich den wichtigsten Daseinsgrund des kritischen Rationa-
lismus, der eben jene kritische Haltung fordert und der Tendenz zum Dogma-
tismus entgegenwirkt.
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ZUSAMMENFASSENDE SCHLUßBEMERKUNG

In dieser Arbeit wurden bestimmte erkenntnistheoretische Probleme aus dem


Umfeld der Sozialen Erkenntnistheorie und Hermeneutik untersucht und an-
schließend aus den Ergebnissen der kritischen Diskussion dieser Problemstel-
lungen methodologische Konsequenzen gezogen. Das erkenntnistheoretische In-
teresse richtete sich zunächst auf Objekte des Verstehens, die in der Sozialen
Erkenntnistheorie als „Zeugnisse anderer“ bezeichnet werden: Ist die Überliefe-
rung in Form mündlicher Rede und Text eine eigenständige Quelle der Erkennt-
nis – vergleichbar mit der menschlichen Wahrnehmung?
Die Frage nach der Eigenständigkeit bzw. Nicht-Reduzierbarkeit von Zeug-
nissen als Erkenntnisquelle mußte aufgeteilt werden in die Tatsachenfragen, ob
das faktisch vorhandene Wissen der Erkenntnissubjekte zu einem Teil auf Zeug-
nisse anderer zurückgeht, und ob dies unter Umständen beim Erwerb von Wis-
sen sogar unvermeidlich ist, sowie das Rechtfertigungsproblem, ob die Herkunft
einer Meinung aus der Quelle der Überlieferung bereits als epistemische Recht-
fertigung dieser Meinung gelten kann. Im Verlauf der kritischen Untersuchung
wurden die Tatsachenfragen bejaht: Das Zeugnis anderer ist eine eigenständige
und unersetzbare Erkenntnisquelle im Hinblick auf den alltagspraktischen Er-
werb von Wissen. Keine andere Erkenntnisquelle kann die Überlieferung in ih-
rem praktischen Nutzen für den Wissenserwerb ablösen. Doch die Herkunft un-
seres Wissens sagt nicht ohne weiteres etwas aus über seine Rechtfertigung, und
damit stellt sich das Problem, inwiefern mit dem Ursprung einer Meinung aus
der Quelle der Überlieferung ein Urteil über ihre Zuverlässigkeit bzw. Wahrheit
verbunden ist. Bei der Untersuchung dieses Problems wurden unterschiedliche
Argumente sozialer Erkenntnistheoretiker, die nahelegen, daß die Herkunft einer
Meinung aus der Quelle der Überlieferung bereits eine epistemische Rechtferti-
gung dieser Meinung darstellt, kritisiert und zurückgewiesen. Demgegenüber
erscheint eine pragmatische Rechtfertigung des Fürwahrhaltens von Zeugnissen
– d.h. eine Wahrheitspräsumtion beim praktischen Umgang mit Zeugnissen –
zumindest als plausibel. Aus der Perspektive kritisch-rationaler Erkenntnistheo-
rie, insbesondere ausgehend von Veröffentlichungen Karl Poppers über die
Quellen des Wissens, ergab sich eine neue Sicht auf die epistemische Rechtfer-
tigung von Zeugnissen. Aufgrund der generellen Rechtfertigungs-Skepsis Pop-
pers kam es zu einer Veränderung der Problemsituation: Zeugnisse lassen sich
ebensowenig epistemisch rechtfertigen wie andere vermeintlich sichere Quellen
des Wissens. Sie wären demnach anderen Erkenntnisquellen gleichberechtigt,
ohne dadurch jedoch als gerechtfertigte wahre Meinungen ausgezeichnet zu
sein. Diese skeptisch anmutende Lösung beruht auf Poppers Konzeption des so-
genannten Vermutungswissens und seinem damit verknüpften Anspruch, das
Induktionsproblem gelöst zu haben, doch dies wird in der gegenwärtigen Dis-
kussion auch von kritischen Rationalisten kontrovers diskutiert. Während bei
dem Erwerb von Wissen durchaus alle Erkenntnisquellen zunächst als gleichbe-
rechtigt auftreten können, erscheint es bei der Prüfung von Tatsachenbehaup-
168 Zusammenfassung
tungen angebracht, einen methodologischen Primat der Erfahrung anzunehmen.
Darunter ist jedoch nicht eine Form von Reduktionismus im Sinne der Sozialen
Erkenntnistheorie zu verstehen, sondern „Erfahrung“ im Sinne der erfahrungs-
wissenschaftlichen Methode, zu der neben den Sinneserfahrungen der an Prü-
fungen beteiligten Personen institutionelle Regelungen sowie formal-logische
Aspekte gehören. Erforderlich ist die prinzipielle Prüfbarkeit bei Aussagen, die
einen Anspruch erheben, über die Wirklichkeit zu informieren. Sofern es sich
beim Prüfungsgegenstand um eine Aussage über die Erfahrungswelt handelt,
müssen auch die Prüfsätze Aussagen über beobachtbare Sachverhalte sein. Da
die kritisch-rationale Erkenntnistheorie von vornherein nicht von isolierten Indi-
viduen als Erkenntnissubjekten ausgeht, sondern von der scientific community,
ihren Institutionen und ihrer „Verfassung“, läuft eine Kritik, wie sie von dem
sozialen Erkenntnistheoretiker Coady gegen die „individualistische Erkenntnis-
theorie“ und den „empiristischen Reduktionismus“ geübt wurde, ins Leere. Es
zeigt sich, daß der kritische Rationalismus bei der Frage nach dem Zeugnis an-
derer als Erkenntnisquelle eine eigenständige und beachtenswerte Position ver-
tritt. Diese Position kann im Zusammenhang mit der Debatte über das Zeugnis
anderer als „nicht-reduktiver Empirismus“ bezeichnet werden. Dieser methodo-
logisch orientierte Empirismus wurde zwar zunächst als wissenschaftstheoreti-
sche Position vorgebracht, bezieht sich aber ebenso auf alltägliche Zeugnisse,
sofern sie Behauptungen über reale Sachverhalte sind.
Im zweiten Teil der Arbeit wurde die Frage verfolgt, welchen Beitrag Karl
Popper zur Theorie des Verstehens geleistet hat. Die von ihm im Verlauf mehre-
rer Jahrzehnte – von den 40er bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts –
konzipierte „Situationslogik“ soll die Hermeneutik, von Popper verstanden im
Sinne subjektiven Nachvollzugs und Nachempfindens, durch ein Verfahren er-
setzen, das die „Situation“ des Handelnden objektiv rekonstruiert. Poppers Er-
kenntnisanspruch bestand darin, mit dieser Situationslogik eine Konzeption des
„objektiven Verstehens“ für die Sozial- und Geisteswissenschaften entwickelt
zu haben. Der chronologische Überblick über Poppers Arbeiten zur Situations-
logik macht deutlich, daß es in Wirklichkeit drei verschiedene und zum Teil wi-
dersprüchliche Konzeptionen sind, die Popper als „Situationslogik“ bezeichnet.
In der ersten Konzeption aus den Jahren 1944 und 1945 wird die Kritik des Psy-
chologismus, der soziale Gesetzmäßigkeiten auf die menschliche Natur zurück-
führen wolle, für Popper zum Ausgangspunkt der Suche nach einer objektiven
Handlungstheorie, welche die unbeabsichtigten Folgen des menschlichen Han-
delns einbezieht. Einer „Logik der Situation“, d.h. der Möglichkeit, Handlungen
aufgrund der äußeren Situation des Handelnden zu erklären, kommt hierbei eine
wichtige Bedeutung zu, ohne aber psychologische Erklärungen völlig ersetzen
zu können. Poppers Beispiele verweisen auf äußere Rahmenbedingungen des
Handelnden, die wenig Spielraum für subjektive Entscheidungen lassen, so daß
das jeweilige Handeln weniger durch persönliche Motive und psychische Dispo-
sitionen des Handelnden erklärt werden kann, als vielmehr durch die äußeren
Umstände. „Situationslogik“ ist also in dieser ersten Konzeption Poppers eine
Zusammenfassung 169
metaphorische Umschreibung für sogenannte Sachzwänge. Ein solcher Verweis
auf die Bedeutung von situativen Rahmenbedingungen für die Erklärung
menschlichen Handelns erscheint unproblematisch, begründet jedoch nicht Pop-
pers Erkenntnisanspruch, mit der „Situationslogik“ die Hermeneutik ersetzt zu
haben. Man kann jedoch anhand der zur selben Zeit (1944/45) entstandenen
Ausführungen zur sogenannten „Nullmethode der Konstruktion von Modellen
rationalen Handelns“ erkennen, daß es Popper von Anfang an um mehr ging, als
lediglich die Relevanz situativer Faktoren bei der Erklärung des Handelns zu
betonen. Inspiriert von Modellen der Wirtschaftswissenschaft soll auch bei sozi-
alwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Handelns vollkommene Ratio-
nalität des Handelnden unterstellt und anschließend die Abweichungen des tat-
sächlichen Verhaltens vom Modellverhalten gemessen werden. Hierbei bleibt
aber offen, welchen Zielen eine solche Modellkonstruktion dienen soll. Eine Er-
klärung und Prognose in der Form, wie sie Popper in seiner Logik der For-
schung beschrieben hat, kann mit Hilfe der „Nullmethode“ nicht erreicht wer-
den. Auch der erkenntnistheoretische Status der Rationalitätsunterstellung im
Rahmen der „Nullmethode“ bleibt ungeklärt.
In späteren Arbeiten Poppers aus den 60er Jahren wird die Unterstellung
idealer Rationalität in eine veränderte Konzeption der Situationslogik integriert;
psychische Faktoren sollen beim Verstehen und Erklären des Handelns nun völ-
lig eliminiert werden. Die Situation des Handelnden müsse soweit analysiert
werden, daß die Handlung allein aus der Situation heraus erklärbar werde. Dies
soll dadurch gelingen, daß auch psychische Dispositionen, wie Wünsche und
Motive, als Elemente der Situation behandelt werden, indem man sie als „objek-
tive Ziele“ auffaßt. Das Problem, daß die tatsächlichen Ziele eines Menschen
nur durch den Rückgriff auf dessen reale Motive ermittelt werden können,
möchte Popper durch die Anwendung eines Rationalitätsprinzips lösen. Da sei-
ner Meinung nach Hypothesen über psychische Dispositionen des Handelnden
nicht geprüft werden können, soll beim Verstehen und Erklären des Handelns
ganz auf sie verzichtet werden; statt dessen ergebe sich die Kenntnis der Hand-
lungsziele durch die Analyse der Situation und der Unterstellung idealer Ratio-
nalität des Handelnden. Hierbei verwendet Popper einen gegenüber der ersten
Konzeption der Situationslogik veränderten und erheblich erweiterten Situati-
ons-Begriff, der sämtliche handlungsrelevante Faktoren als Elemente der „Situa-
tion“ einbezieht. Dies hat zur Folge, daß situationslogische Aussagen, in denen
ein bestimmtes Verhalten als „situationsgerecht“ bezeichnet wird, niemals an
der Erfahrung scheitern können, da stets bestimmte Ziele unterstellt werden
können, die eine Handlung als zweckrational erscheinen lassen. Der Verzicht
Poppers auf jede empirische Ermittlung der realen Handlungsmotive führt in der
Konsequenz zu einer Immunisierung situationslogischer Analysen gegen Kritik
sowie zu Aussagen ohne Informationsgehalt, die keine prüfbaren Hypothesen
darstellen und auch nicht zur Erklärung und zum Verstehen menschlichen Han-
delns verwendet werden können.
170 Zusammenfassung
Das im Zusammenhang mit der zweiten Konzeption der Situationslogik
verwendete Rationalitätsprinzip wird von Popper nur unzureichend und höchst
widersprüchlich analysiert. Er bezeichnet es als ein nahezu leeres Prinzip, das
zugleich falsch, aber dennoch für das Verstehen und Erklären von Handlungen
unverzichtbar sei. Eine nähere Untersuchung der von Popper verwendeten Bei-
spiele macht deutlich, daß sein eigener Eindruck von der Falschheit des Rationa-
litätsprinzips auf der Mehrdeutigkeit des Situationsbegriffs beruht und ein Miß-
verständnis ist. Demgegenüber erweist sich das von Popper verwendete Rationa-
litätsprinzip, in Verbindung mit der zweiten Konzeption der Situationslogik, tat-
sächlich als inhaltsleer und als ungeeignet zur Erklärung des Handelns.
In der dritten Konzeption der Situationslogik ergänzt Popper in seinem
Spätwerk seine Theorie objektiven Verstehens durch zusätzliche ontologische
Thesen. Gegenstände des Verstehens sollen keine Bewußtseinszustände (Welt-
2-Zustände) sein, sondern Elemente von „Welt-3-Problemsituationen“. Durch
diese Erweiterung der Situationslogik mit seiner Ontologie der drei Welten er-
reicht Popper allerdings keine Verbesserung der Prüfbarkeit und des Informati-
onsgehalts situationslogischer Analysen, sondern belastet die situationslogische
Methode zusätzlich mit fragwürdigen metaphysischen Annahmen über eine
Welt objektiven Geistes. Insgesamt muß Poppers Erkenntnisanspruch, die Her-
meneutik durch eine Situationslogik abgelöst zu haben, aus den genannten
Gründen zurückgewiesen werden. Entgegen dem propagierten Ziel, jegliche
psychologische Erforschung von handlungsleitenden Motiven überflüssig zu
machen, kann man jedoch in Poppers eigener Interpretationspraxis feststellen,
daß er sich vielfach der herkömmlichen Methode bedient, empirisch-
psychologische Hypothesen über Absichten und Motive von Handelnden aufzu-
stellen und ihr Handeln mit Hilfe dieser Hypothesen zu erklären und zu verste-
hen.
In dem dritten Teil der Arbeit wurden Fragestellungen der beiden ersten Tei-
le neu aufgegriffen und systematisch untersucht: Inwiefern sind Rationalitäts-
und Wahrheitspräsumtionen notwendig für das Verstehen und Interpretieren von
Zeugnissen? Ein kurzer historischer Überblick über das Prinzip wohlwollender
Interpretation zeigte eine lange Tradition der Anwendung von Rationalitäts- und
Wahrheitsunterstellungen als Prinzipien des Verstehens und Interpretierens. Im
Anschluß daran bestand der argumentative Schwerpunkt des dritten Teils in der
Darstellung und kritischen Prüfung der von Oliver Scholz entwickelten Theorie
der Präsumtionen, die einen wichtigen Versuch darstellt, den epistemologischen
Status der Prinzipien des Verstehens zu klären. Hierbei stand die Frage im Mit-
telpunkt, ob und in welchem Sinne Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen
beim Umgang mit Zeugnissen im allgemeinen und beim Verstehen von Zeug-
nissen im besonderen „notwendig“ sind. Im Anschluß an die detaillierte Gliede-
rung dieser Problemstellung bei Scholz wurden die einzelnen Notwendigkeits-
behauptungen erläutert und kritisch untersucht. Als zentrales Resultat der Unter-
suchung kann man festhalten, daß Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen in
der Tat unter bestimmten Bedingungen ein unentbehrliches Mittel des Verste-
Zusammenfassung 171
hens darstellen. Allerdings ist auch diese schwächste aller Notwendigkeitsbe-
hauptungen (instrumentelle Notwendigkeit) wiederum einzuschränken, da in
manchen Kommunikationssituationen oder bei Zeugnissen besonderer Art auch
von entgegengesetzten Präsumtionen ausgegangen werden kann. Eine von
vornherein festgelegte Hierarchie von Verstehensprinzipien, bei denen die Un-
terstellungen der Rationalität und Kooperativität des Sprechers und der Wahr-
heit des Gesagten ohne Bezugnahme auf die Gesprächssituation sowie auf die
Art der in Frage stehenden Zeugnisse an oberster Stelle stehen, scheint nicht zu
existieren. Statt dessen richtet sich der Gebrauch von Präsumtionen bei der Be-
urteilung sowie beim Verstehen von Zeugnissen nach den Erwartungen des Ver-
stehenden. Diese Erwartungen entstehen aufgrund von bisherigen Erfahrungen
in ähnlichen Kommunikationssituationen und leiten als rudimentäre und implizi-
te Theorien die Bildung von interpretativen Hypothesen an. Insofern kann es
bestimmte Kommunikationssituationen sowie Arten von Zeugnissen geben, bei
denen der Verstehende Gebrauch macht von Irrationalitäts- und Falschheitsprä-
sumtionen. Es zeigen sich somit Grenzen wohlwollender Interpretation. Es wur-
de versucht, diese Grenzen unter Bezugnahme auf Arbeiten Bühlers und Hen-
dersons genauer zu bestimmen.
Die Untersuchung, ob Rationalitäts- und Wahrheitspräsumtionen noch in
einem stärkeren Sinne notwendig sind denn als unentbehrliche Mittel für das
Verstehen bestimmter Arten von Zeugnissen unter bestimmten Kommunikati-
onssituationen, kam zu einem negativen Befund: Die behandelten Thesen, die
den genannten Prinzipien eine apriorische Geltung zuweisen oder sie als
„konstitutive Bedingungen“ des Verstehens auffassen, erscheinen als unbe-
gründet. Nicht nur die Interpretationsergebnisse, sondern ebenfalls die Prin-
zipien des Verstehens und Interpretieren sind fehlbar und gegebenenfalls durch
bessere Problemlösungen zu ersetzen. Die geforderte Bereitschaft, auch Prin-
zipien des Verstehens dahingehend zu prüfen, ob sie geeignete Mittel für den
jeweiligen Erkenntniszweck darstellen und sie gegebenenfalls durch geeignetere
Prinzipien zu ersetzen, stellt eine zentrale methodologische Konsequenz der
erkenntnistheoretischen Untersuchung dar. Im Anschluß an Hans Albert wurden
zuletzt Grundzüge einer naturalistischen Hermeneutik skizziert. Abgesehen von
dem konsequenten Fallibilismus, der sich auch auf die Prinzipien des Verstehens
erstreckt, erscheint die Hermeneutik im Rahmen des naturalistischen
Erkenntnisprogramms als eine technologische Disziplin mit Regeln, die auf
empirisch prüfbaren Gesetzesannahmen beruhen.
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PERSONENREGISTER

Abälard, P. 96 Ebeling, G. 101


Albert, H. 2, 43, 45, 48, 75 f., 93, Eichel, H. 64
162 f., 171 Einstein, A. 58
Albert, M. 5, 48 f. Erasmus v. Rotterdam 38
Alexander, W. 97, 100 f. Ernesti, J.A. 101
Aristoteles 37, 83, 94 f. Esser, H. 55
Ast, F. 101
Augustinus, A. 95 f., 106 Feyerabend, P.K. 48 f.
Austin, J.L. 17 FØllesdal, D. 57
Freud, S. 79, 151 f., 154
Bacon, F. 37 f., 58, 83 Fricker, E. 23-26, 31
Bartley, W.W. 43 Fuller, S. 1
Baumgarten, A.G. 90 Funk, R. 68
Bernheim, E. 7
Böhm, J.M. 68, 152, 162, 164 Gadamer, H.-G. 6, 60, 97, 101 f.,
Bühler, A. 53, 93, 97 f., 100, 102, 105-107, 133, 162
152, 157 f., 163, 171 Galilei, G. 78-80, 82, 87
Gadenne, V. 43 f., 51, 164
Caesar, G.I. 81 Gatzemeier, M. 94, 96
Caligula (G.I.C. Germanicus) 81 Goldman, A.I. 1
Carr, L.J. 68 Gopnik, A. 164 f.
Cataldi Madonna, L. 97 f. Grice, H.P. 90, 112-114, 153, 156
Catull, G.V. 81 Grundmann, Th. 41 f., 44
Chakrabarti, A. 20, 35
Cicero, M.T. 81 Hayek, F.A. v. 63
Clauberg, J. 97 Hegel, G.W.F. 73, 83, 86
Coady, C.A.J. 1, 6-8, 13-21, 23- Heidegger, M. 102, 105 f., 162
25, 27 f., 33-35, 38, 116, 131, 168 Henderson, D.K. 93, 130, 158-
Collingwood, R.G. 60, 81 f. 161, 171
Cusanus, N. 38 Heraklit 37, 83-86
Herbert, W.-D. 151
Dannhauer, J.C. 97 Hesiod 95
Davidson, D. 6, 27, 90, 107-109, Holweg, H. 107, 162
122, 127 f., 131 f., 134, 136 f., Homer 95
140-142 Hoock, C. 68, 88, 152, 162, 164
Demokrit 38, 83 Hübener, W. 101
Dennett, D. 57, 131 Hume, D. 7-11, 13-16, 19 f., 23,
Descartes, R. 37 25, 31, 33, 43 f., 53, 116, 124,
Dilthey, W. 59 f., 80, 97, 101-105 145, 149, 161 f.
186 Personenregister
Insole, Ch.J. 22 f., 26, 41, 52 Quine, W.V.O. 90, 107-109, 123,
125-128, 138
Jung, C.G. 151 Quinton, A. 6, 27 f., 30, 131

Karl I. „d. Große“ 70-72 Ranke, L. v. 83


Kepler, J. 82 Reid, Th. 7 f., 11-13, 32, 58, 112
Keuth, H. 64, 66, 68, 77 Russell, B. 38
Kitcher, P. 1
König, E. 95 Sober, E. 118 f.
Koppe, F. 95 Sokrates 38, 133
Kuhl, P.K. 164 Spohn, W. 44-47
Künne, W. 133
Schleiermacher, F. 97, 101-106
Levinson, S.C. 90, 112 Schmid, M. 73-75
Lévy-Bruhl, L. 107, 126 Scholz, O.R. 1-3, 6, 21, 25-27,
Locke, J. 2, 38 90 f., 93, 95 f., 100-103, 107-114,
Loewenich, W 96. 117-146, 148, 150, 156, 162, 164,
Lorenz, K. 165 170
Luther, M. 96 Schröder, G. 139
Schurz, G. 44
Mackie, J.L. 8 Schuster, Th. 18
Marschak, J. 63
Marx, K. 61 Sargant Florence, P. 63
McGinn, C. 129, 132, 134 Stegmüller, W. 163
Meier, G.F. 50, 90, 98-100, 103, Stich, S.P. 118
137 Strube, W. 152 f.
Meltzoff, A.N. 164
Menger, C. 63 Thomas von Aquin 95
Mill, J.S. 38, 68 Thomasius, C. 98
Miller, D. 43 Tolstoi, L. 63
Montaigne, M. de 38
Musgrave, A. 43 f., 50-52 Vanberg, V. 74
Vasek, Th. 121
Oevermann, U. 87-89 Veraart, A. 96
Vermazen, B. 134
Papineau, D. 159 Voltaire (F.M. Arouet) 38
Parmenides 37, 83, 85
Paturi, F.R. 156 Wach, J. 101
Pépin, J. 94 Wilson, N.L. 107 f.
Platon 83, 85 f. Wimmer, R. 96
Popper, K.R. 2 f., 7, 36-45, 47 f., Wolf, F.A. 101
50 f., 55-91, 93, 104, 124 f., 144, Wittgenstein, L. 135
164-170
Putnam, H. 134-137 Xenophanes 38
SACHREGISTER

Allegorese 95 Deutung 13 f., 29, 64, 85, 89, 94-


Allegorie (allegorisch) 95 f. 96, 98-100, 104, 115 f., 151 f.,
Apriorismus (a priori) 1-3, 6, 14, 162-164
31, 50, 55, 67, 74, 90 f., 118, 122 - Technologie d. 162-164
f., 125-127, 129, 134, 142, 144- Disposition (d. menschl. Natur) 9
146, 159, 163, 171 f., 12, 14, 16, 23, 25, 29, 44, 70-
Augenzeugenschaft (Augenzeuge) 73, 77, 81, 88 f., 104, 121, 124 f.,
9, 18-20 144, 152, 168 f.
Dogmatismus 45, 79 f., 96, 165
Bedingung
- konstitutiv 27, 30, 91, 119 f., empirisch 9 f., 12, 14-16, 21, 23-
122, 126, 134, 171 26, 31 f., 42, 49 f., 52, 57, 59, 66
- begriffskonstitutiv 122, 134 f., 69-71, 73-75, 77 f., 80, 82, 88
- praxiskonstitutiv 119-122, 144 f., 91, 93, 108, 115, 121, 124-126,
Begründung (s. Rechtfertigung) 128, 138, 140, 142, 144 f., 149,
Begründungstrilemma (Münchhau- 156, 158, 160, 162, 164, 169-171
sentr.) 45 Empirismus 1, 5, 26, 37, 51-53,
Beobachtung (beobachtbar) 9, 14- 124, 128, 168
16, 18 f., 28, 30-35, 37-40, 51, 59, - methodologischer 52
66 f., 77, 124, 136, 152, 160, 164, - nicht-reduktiver 51-53, 168
168 epistemisch (s.a. Rechtfertigung)
Bestätigung 9, 14, 16, 23, 42-44 5, 7, 18, 20, 26, 31-33, 35 f., 41 f.,
Bevorzugung (v. Hypothesen, 44-47, 50, 52 f., 124, 127 f., 136,
Theorien usw.) 42 f., 45 167
Bewährung 42-45, 52 Epistemologie (s.a. Status) 2
Bewährungsproblematik 43 Erfahrung (s. Sinneserfahrung)
Bezeugen 17-19, 34 - als Methode 51
- gemeinschaftliche (common ex-
Charity (principle of charity) 3, 6, perience) 14 f.
14, 17, 60, 90, 107-109, 122, 125, - individuelle 14, 53
127, 129 f., 134, 136-138, 140- - Primat d. 8, 51, 53, 168
143, 150, 152, 157-159, 161, 163 Erfahrungswissenschaft 26, 168
Common-Sense (gesunder Men- Erkenntnis (s. Wissen)
schenverstand) 8, 11, 13, 22, 24 Erkenntnisanspruch 40, 53, 55, 80,
f., 33, 44, 52 f. 106, 151, 168-170
Common-Sense-Philosophie 8, 11, Erkenntnisfortschritt 26, 44, 46,
13 53, 102, 123
Erkenntnisgrund (s. Grund)
Deduktion (deduktiv) 2, 44-47, 51, Erkenntnispraxis 8-10, 36, 50, 53,
57, 69, 75, 82, 148 68, 110
188 Sachregister

Erkenntnisquelle (s. Quelle) Gehalt (e. Satzes) 59, 71 f., 89 f.,


Erkenntnistheorie (erkenntnistheo- 95, 118, 120, 123, 125, 151, 169 f.
retisch) 1-3, 5-8, 11, 20 f., 24 f., Gehaltserweiterung (gehaltserwei-
28, 32 f., 35-42, 44-48, 50-53, 67, ternd) 125
69, 93, 109, 112, 124, 137, 150, Geltung 1, 3, 5, 9, 13, 16, 23, 26,
167-169, 171 50, 52, 67, 74, 91, 95 f., 126 f.,
- kritisch-rationale 1-3, 7, 48, 55, 129, 144-146, 156, 163, 171
69, 77, 167 f. Gesellschaft 47, 55, 60-65, 68-70,
- Soziale 1 f., 5-8, 21, 24-28, 33, 75, 83 f., 88, 157
36 f., 39, 41 f., 44, 46-53, 93, 112, Gesetz (Gesetzmäßigkeit, Geset-
137, 167 f. zeshypothese, gesetzmäßig) 10,
Erkenntnisziel 21, 32, 53, 100, 110 30, 50, 58, 62, 67, 69, 73, 75, 77,
Erklärbarkeit (Prinzip d.) 130, 85, 103, 108, 117, 144, 161-164,
157-161 168, 171
Erklären 57, 62-64, 66, 70, 73, 75, Gewißheit 41, 99
77, 79, 85 f., 97, 157, 160, 168- Glaube 6, 8 f., 13, 16, 19 f., 24, 30-
170 32, 35, 37, 39 f., 43, 46, 51-53, 85,
Erklärung 2, 53, 57, 60, 62-67, 69- 96, 111 f., 162
76, 78, 82-86, 97, 118 f., 140, 157, Glaubwürdigkeit 8, 10, 13 f., 16,
159-164, 168-170 19, 23, 111, 146, 148, 150 f., 155
Evolutionstheorie Grenzen (d. wohlwollenden
(evolutionstheoretisch) 118 f., Interpretation) 157-162
156 Grund
Fallibilismus (s.a. Fehlbarkeit) 2, - Erkenntnisgrund 9, 18, 20, 33
41 f., 44, 90 f., 110, 130, 145, 155, - Realgrund (s.a. Motiv) 9, 33
163 f., 171 Grundproblem (s. Problem)
Falschheit 33, 74, 118, 146, 149 f.,
161 f., 170 Handeln 33, 49, 55, 57 f., 62-82,
Falschheitspräsumtion 11, 16, 25, 85, 87-90, 98, 100, 107, 119, 142-
53, 93, 117, 125, 129 f., 146-158, 145, 147, 149, 151, 153, 155, 168-
161, 163, 171 170
Falsifizierbarkeit (Falsifikation) 2, Handlung 1, 5, 17, 21, 28, 43, 48,
42, 45, 48 f. 55-58, 61-65, 67, 70-82, 88-94,
Fehlbarkeit (fehlbar) 2, 9, 15, 38, 104 f., 110, 122, 131, 141, 143-
42, 89 f., 110, 145 f., 155, 163, 145, 147, 152, 154, 159, 161, 164,
171 168-170
Forschung 2, 47, 49, 51, 59, 66, Hermeneutik 1-3, 6 f., 53-56, 59 f.,
68, 73 f., 80, 87, 121, 156, 169 f. 76, 80-83, 87-90, 93, 97 f., 100-
Forschungsprogramm 49 107, 109 f., 136, 145, 150, 162-
Fürwahrhalten 6, 18, 32, 43, 50, 171
53, 127 f., 167 - Einfühlungs- 60, 76, 80-82
Gedächtnis 6, 9, 142
Sachregister 189
- naturalistische 3, 93, 162, 164, Meinung
171 - notionale 134-140
- objektive (s.a. objektives Verste- Metaphysik (metaphysisch) 58,
hen) 87 f. 71, 73, 77, 99, 162, 170
Hintergrundwissen 77, 130, 133, Methode 1 f., 48, 51, 53, 56 f., 59-
137, 140, 156, 164 61, 63-69, 71-74, 76-87, 90, 95,
Holismus 128 f., 140 100, 102 f., 105 f., 121 f., 127 f.,
Hörensagen 18 f. 151 f., 162 f., 168-170
Methodologie 7, 47-49, 53, 88, 97,
Induktion (induktiv) 27, 30, 42-45, 144 f., 164
59, 123-125, 164 f., 167 - methodologische Regel 5, 47-52,
Institution (institutionell) 5, 24, 36, 59, 79, 145, 163 f.
47-52, 62, 70 f., 88 f., 168 Motiv 9, 33, 70-73, 75, 77, 79, 82
Interpretation 3, 6 f., 14, 25, 33, f., 87, 95, 110, 137, 147, 151, 153-
38, 48, 50, 55-59, 61, 63, 78, 82 f., 155, 164, 168-170
85-112, 120, 122, 124, 127-129,
133 f., 136 f., 141, 144-146, 149- Nachvollzug 59, 80-82, 87, 93,
152, 154, 157-160, 163 f., 170 f. 104, 168
Interpretationsmethodologie 7, 95, Naturalismus (naturalistisch) 3, 8,
127, 152, 164 31, 53, 93, 123, 126, 162, 164,
Interpretationspraxis 78, 82, 86, 171
89, 137, 144, 150, 170 Notwendigkeit (notwendig) 2 f., 9,
Interpretationsprinzipien (Prinzipi- 23, 30-33, 43, 53, 58 f., 63 f., 75,
en d. Interpretation) 1-3, 33, 60, 81 f., 89-91, 93, 109 f., 112 f.,
89-100, 106-110, 120, 122, 125, 115-121, 123, 126-129, 131, 134
127-130, 136-138, 140-146, 150, f., 141, 144 f., 155-157, 170 f.
152, 157-161, 163, 170 f. - instrumentell 30, 32 f., 53, 63 f.,
Irrationalität 117, 126, 146, 158 f., 89-91, 112 f., 116 f., 119-121,
161 f. 126, 134, 144, 156, 171
Irrationalitätspräsumtion (- - methodologisch 123, 127 f.
annahme, -unterstellung) 93, 125 - naturgesetzlich/evolutionär 117
f., 146 f., 149 f., 151-156, 162 f., f., 131
171 Nullmethode 63-69, 86, 169

Kritischer Rationalismus (kritisch- Objektivität (objektiv) 32, 38, 44,


rational) 1-3, 7, 47 f., 51, 53, 55, 46-48, 55, 60-65, 69-72, 76-78,
69, 77, 123 f., 167 f. 80-83, 86-91, 164, 168-170
Kunstlehre (d. Verstehens) 1, 97, Ontologie 57-59, 61, 76-78, 83,
100-106, 145, 162 f. 87, 105 f., 162 f., 170
- d. drei Welten (s.a. Welt) 61, 76-
Logik (s.a. Situationslogik) 2 f., 78, 170
47, 51, 60, 64, 66 f., 69 f., 78, 97
190 Sachregister

Person (Personenverstehen) 119, - Zweckrationalität (zweckrational)


122, 125, 141-145, 153-156, 164 58, 93, 98 f., 113, 149, 169
pragmatisch (s.a. Rechtfertigung) Rationalitätspräsumtion (-annahme,
9, 32 f., 46, 50, 53, 124, 128, 148, -unterstellung) 3, 66 f., 69, 80,
154, 167 89-91, 93, 107 f., 110, 113 f., 119,
presumptive right 7, 20, 22 121 f., 142 f., 146, 152, 155 f.,
Prinzip der wohlwollenden Inter- 169
pretation (principle of charity) 3, Rationalitätsprinzip 2 f., 33, 46,
6, 14, 17, 60, 90, 94, 96, 98, 107- 52, 55, 65, 67, 69 f., 72-75, 79-82,
109, 122, 125, 127, 129 f., 134, 89-93, 169 f.
136 f., 140-143, 150, 152, 157- Realgrund (s. Grund)
161, 163 Recht, präsumtives 7, 31, 35
Problem Rechtfertigung 2, 5-7, 10, 13-16,
- Grundprobleme d. Sozialen Er- 18, 20, 22, 24 f., 31-33, 36, 40-47,
kenntnistheorie 5, 33, 36, 41 f., 50, 52 f., 55, 72, 79, 87, 90, 119,
44 127 f., 136, 167
- d. Rechtfertigung 5, 24, 43, 167 Rechtfertigungsgrund 13 f., 18, 79
- Tatsachenproblem 5 Rechtfertigungszirkel 15 f.
Problemsituation 7, 76-80, 83, Reduktion 7 f., 13-18, 22-24, 26,
167, 170 39, 52, 61
Prognose 57, 66, 69, 121, 169 Reduktionismus 7, 13-16, 21, 23
Prüfbarkeit 26, 32, 42, 50, 71, 77, f., 26, 38, 41, 51-53, 61-63, 68,
85, 91, 164, 168, 170 116, 168
Prüfsatz 51, 168 Reduktionismusthese 7, 13, 38
Prüfung (Hypothesenprüfung) 2, 7,
9, 12, 21, 26, 31-33, 36, 40, 42 f., Sinneserfahrung (Wahrnehmung)
50-53, 57, 70, 77, 79, 93, 104, 6, 8 f., 11-13, 15, 38, 51 f., 90,
122, 126, 128, 143, 145, 149, 163 111 f., 133 f., 140, 167 f.
f., Situation 15, 17, 27-29, 34 f., 39,
167 f., 170 43, 60-83, 88, 90, 105, 110, 116,
153, 160 f., 168-171
Quelle (d. Erkenntnis, d. Wissens) Situationsbegriff 69-75, 81, 88,
1 f., 5-7, 13, 15 f., 19-22, 28, 35- 170
41, 45, 50-53, 55, 112, 137, 167 f. Situationslogik 2 f., 55, 57, 60 f.,
63-65, 67-78, 80-82, 86 f., 89 f.,
Rationalismus 1 f., 5, 7, 36-39, 41, 93, 164, 168-170
43, 45, 47-53, 75, 90, 165, 168 Skepsis (Skeptizismus, skeptisch)
Rationalität (rational) 2 f., 33, 42 2, 7, 13, 21, 36, 41-44, 52, 119,
f., 55, 58, 65-67, 69 f., 72-75, 79- 167
82, 89-91, 93, 98 f., 107-119, Soziale Erkenntnistheorie 5, 21,
121 f., 125 f., 141-147, 149-156, 33, 36, 47
158 f., 161-163, 169-171 Soziologie 1, 47 f., 60-62, 68
Sachregister 191
- Autonomie d. 61 126, 128-130, 133 f., 137, 144-
Sprache 11 f., 19 f., 23, 27, 31, 34, 146, 149-156, 160-170
108, 120, 125 f., 128, 159 f., 164 - objektives 55, 60, 69 f., 72, 76 f.,
f. 80-82, 86, 168, 170
Sprachphilosophie 107, 134, 138, Verstehenskonzeption 2, 56 f., 60,
140 f. 77, 90
sprachpragmatisch 29 f., 154 Verstehensprinzipien (s.
Sprechakt 18 Interpretationsprinzipien)
Sprechakttheorie 17 Vertrauen 6, 9 f., 14 f., 23-25, 27,
Sprechhandlung 31-34, 44, 49 f., 53, 56, 116,
- assertorische 1, 17, 21, 28, 131 149 f.
Status
- epistemologischer 1 f., 7 f., 12, Wahrhaftigkeit 9, 14, 16, 33, 98,
21, 50, 78, 90 f., 93, 164, 170 145
Wahrheit 2 f., 6, 9 f., 14, 16 f., 20
Tatsache 5, 9, 15, 19 f., 25, 32, 34 f., 25, 27, 29-33, 37 f., 40 f., 44,
f., 40 f., 47, 53, 78, 85, 90, 104, 46 f., 53, 55, 72, 74, 90 f., 93, 95
111, 116, 141-143, 147, 154 f., f., 99, 106-114, 116-119, 121 f.,
158, 161, 165 f. 127-134, 136-138, 140 f., 144,
Tatsachenproblem (s. Problem) 146-150, 152-158, 161, 165 f.,
Technologie 170 f.
- d. Deutung (s.a. Deutung) 162- Wahrheitshintergrund 130, 134,
164 136, 138, 140 f.
- d. Prüfung v. Zeugnissen 10 Wahrheitspräsumtion (-annahme,
- d. Verstehens 100 -unterstellung) 2 f., 6, 14, 16, 25,
Testimony (s. Zeugnis anderer) 27, 33, 41, 50, 53, 91, 93, 95, 106-
Transzendental 6, 22, 27, 30 f., 33, 113, 119, 121 f., 127-130, 136-
35, 41, 106, 110, 120, 129, 131- 138, 140 f., 146-150, 152, 155-
134, 143 f. 158, 161-167, 170 f.
Transzendenz der Darstellung 51 Wahrheitspräsumtionsregel 148,
158
Unzuverlässigkeit 10 f., 28, 31, 34, Wahrnehmung (s. Sinneserfah-
36, 53, 116, 149 rung)
Urteilsenthaltung 36, 146, 155 f. Welt 34, 51, 61, 76-78, 80, 83, 85,
87 f., 119, 133, 138, 140, 161,
Vermutungswissen (s. Wissen als 168, 170
Vermutungswissen) - Drei-Welten-Theorie 61, 76-78,
Vernunft (vernünftig) 6, 9, 40, 43 80, 83, 87, 170
f., 51 f., 85, 96-98, 100, 108, 143, Wissen
147, 151 - als gerechtfertigte wahre Meinung
Verstehen 1-3, 6 f., 11, 16, 23, 27, 24, 41, 52
30, 34, 51, 55-61, 63 f., 66 f., 69- - als Vermutungswissen 7, 41 f.,
72, 75-82, 86 f., 89-94, 96-98, 44, 50, 167
100-107, 109-112, 114-117, 119- Wissensbegriff 6, 23 f., 41 f., 52
192 Sachregister

Wissenschaft Wissenssoziologie 1, 47
- Geistes- 1, 55-59, 61, 68, 78, 88, Wunder 8-11, 161 f.
164, 168 Zeugnis (Zeugnis anderer, Testi-
- Natur- 55-59, 65 f., 69, 95, 124, mony) 1-3, 5-41, 44, 46 f., 50-53,
156, 162-164 55, 58, 93 f., 109, 111 f., 116, 130
- Sozial- 55, 60-62, 65-70, 74, 76, f., 137, 146-153, 155 f., 161 f.,
78, 88, 154, 159, 164, 168 f. 167 f., 170 f
- Verfassung d. 5, 47-49, 168 - formales 17 f.
Wissenschaftstheorie (s.a. Erkennt- - natürliches 18-20, 58, 111, 161
nistheorie, Epistemologie) 1 f., Zeugnis-Nihilismus (Zeugnis-
7 f., 32, 39 f., 47 f., 50, 53, 55, 59, Skeptizismus) 52
69, 75, 77, 162, 168 Zuverlässigkeit 6, 9-12, 27 f., 31,
33, 45 f., 167

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