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Werner Obrecht
Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Departement Soziale Arbeit
2.2 Ontologische, erkenntnistheoretische und methodologische Ergänzungen des Wissenschaftsbegriffs des Wissenschaftlichen Realismus .... 3
2.2.1 Ontologische Begriffe und Hypothesen .................................................................................................................................................................................. 3
2.2.1.1 Ontologische Begriffe ...................................................................................................................................................................................................... 3
2.2.1.1.1 Ausgangspunkt: ‚Fakten’ als Komponenten der Definition des Ausdrucks ‚Disziplin’ (D2).............................................................. 3
2.2.1.1.2 Dinge........................................................................................................................................................................................................................ 3
2.2.1.1.3 Eigenschaften ......................................................................................................................................................................................................... 3
2.2.1.1.4 Zustand, Zustandsänderung (Fakten).............................................................................................................................................................. 4
2.2.1.1.5 Gesetzmässigkeiten .............................................................................................................................................................................................. 4
2.2.1.1.6 Systeme ................................................................................................................................................................................................................... 4
2.2.1.2 Elementare ontologische Hypothesen ......................................................................................................................................................................... 5
2.2.2 Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Begriffe: Beschreibungen, Erklärungen, Prognose, Theorien ............................................................. 5
2.2.2.1 Erkennen, Bewerten und Handeln als Kernfunktion der zentralnervösen Steuerungssysteme menschlicher Individuen ..................... 5
2.2.2.2 Definitionen: Theorie, Erklärung, Beschreibung, Prognose .................................................................................................................................... 6
2.2.2.3 Beschreibungen und Prognosen.................................................................................................................................................................................... 7
2.2.3 Die Wissenschaftliche Methode, die Werte und das Ethos der Wissenschaften............................................................................................................ 7
2.2.3.1 Die Wissenschaftliche Methode .................................................................................................................................................................................... 7
2.2.3.2 Die Werte und das Ethos der Wissenschaften ........................................................................................................................................................... 7
2.3 Sozialwissenschaften............................................................................................................................................................................................................................. 8
2.3.1 Die Entwicklung der Sozialwissenschaften und die drei Gegenbewegungen gegen ihren Status als erklärende Faktenwissenschaften........ 8
2.3.1.1 Die Entwicklung der Sozialwissenschaften....................................................................................................................................................................... 8
2.3.1.2 Die drei grossen Gegenbewegungen .................................................................................................................................................................................. 8
2.3.1.3 Zur Kritk von Antirealismen und Antinaturalismen ...................................................................................................................................................... 9
2.3.2 Mechanismisches Erklären in den Sozialwissenschaften .................................................................................................................................................. 10
2.3.2.1 Erklären in den Sozialwissenschaften........................................................................................................................................................................ 10
2.3.2.2 Soziale Systeme und menschliche Individuen ......................................................................................................................................................... 11
2.3.2.3 Gesellschaft geht durch die „Köpfe“ von Individuen und anderer Arten von Mechanismen ..................................................................... 11
2.3.2.4 Verstehen und Erklären ................................................................................................................................................................................................ 12
2.3.2.5 Systemismus in der Soziologie .................................................................................................................................................................................... 13
3 HANDLUNGSWISSENSCHAFTEN......................................................................................................................... 14
3.1 Handlungswissenschaften ................................................................................................................................................................................................................. 14
3.1.1 Handlungswissenschaften als Theorie und Methode der Nutzung von Technologien............................................................................................. 14
3.1.2 Der Begriff des Handelns, die deskriptive und normative Handlungstheorie und Alltags- und professionelles Handeln .............................. 15
3.1.2.1 Handlungen....................................................................................................................................................................................................................... 15
3.1.2.2 Alltagshandeln................................................................................................................................................................................................................... 15
3.1.2.3 Professionelles Handeln .................................................................................................................................................................................................... 15
3.1.3 Ontologische und wissenschaftstheoretische Voraussetzungen eines Begriffes wirksamer (professioneller) Handlungen ............................. 15
4 ANHANG
1
Verfasst zuhanden des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit im Oktober 2007
DEUTSCHE GESELLSCHAFT FÜR SOZIALE ARBEIT
Was ist Wissenschaft?
damit aller Ambitionen auf einen Beitrag zum Ver- senschaftlicher Disziplinen, zu einer Kurzdefinition
von W bzw. einer D genutzt werden:
ständnis der Welt, sei der Physis, des Bios, der Psyche,
D3. Disziplin mit Bezug auf Ziele und Mittel: Wissen-
der Gesellschaft oder der Geschichte begibt, hin zu schaft ist die Untersuchung von Fakten im Hinblick
einem ontologischen, erkenntnistheoretischen und auf deren Beschreibung, Erklärung und Prognose (=
methodologischen Naturalismus und systemistischen Ziele) mit den Mitteln der Wissenschaftlichen Metho-
de =Mittel).
Materialismus (Kanitscheider, 2007; Kanitscheider &
Wetz, 1998; Sukopp, 2006). In Folge dessen fühlt sich Diese Definition enthält – wie alle Definitionen – im
die zeitgenössische Philosophie über die Analyse Definiens eine Reihe von Begriffen, die naturgemäss
hinaus auch synthetischen Funktionen verpflichtet ihrerseits nach einer Definition verlangen, was nur
und gibt damit den Status als eine über den Wissen- möglich ist im Kontext einer systematisch entwickel-
schaften stehende erste Disziplin zugunsten einer ten Theorie. Was folgt sind Klärungen der Bedeutung
Form der systematischen Kooperation auf gleicher der ontologischen (2.2.1), erkenntnistheoretischen
Ebene auf .2 (2.2.2) und methodologischen Begriffe (2.2.3) inner-
Gemäss dem ontologischen Naturalismus besteht die halb des Definienses, soweit sie auf knappem Raum
Welt aus konkreten Dingen und gibt es keine körper- möglich sind.
losen („immateriellen“) Dinge, die mit der Welt der
2.2 Ontologische, erkenntnistheoretische
konkreten Dinge in dieser jener Form interagieren, und methodologische Ergänzungen des
weil solche Interaktionen nach wie vor nicht definiert Wissenschaftsbegriffs des Wissenschaft-
sind und nicht definierbar scheinen; nach dem erkennt- lichen Realismus
nistheoretischen Naturalismus ist Erkenntnistheorie 2.2.1 Ontologische Begriffe und Hypothesen
überwiegend oder vollständig Thema der Evolutions- 2.2.1.1 Ontologische Begriffe
biologie und der affektiven und kognitiven Neuro- 2.2.1.1.1 Ausgangspunkt: ‚Fakten’ als Komponenten
wissenschaften; nach dem axiologischen Naturalismus der Definition des Ausdrucks ‚Disziplin’
sind Werte keine ideellen Dinge ausserhalb menschli- (D2)
cher Organismen und nach dem methodologischen Fakten sind Zustände und Zustandsänderungen kon-
Naturalismus stützt sich die Philosophie bei der Bear- kreter Dinge, d.h. von Objekten einer bestimmten Art
submergente und resultante, ii) intrinsische und rela- und ihrem Verhalten erzeugen, sowie, was die sozia-
tionale, iii) primäre und sekundäre, vi) qualitative len Systeme betrifft, in einer gewissen Streuung im
und quantitative, v) essentielle und akzidentielle etc. Verhalten. Diese entsteht durch idiosynkratische Va-
2.2.1.1.4 Zustand, Zustandsänderung (Fakten) riationen und Fluktuationen in Situationsdeutungen,,
Der Zustand eines Dinges entspricht der Konstellation die sich erstens gegenseitig weitgehend aufheben und
seiner Eigenschaften zu einem Zeitpunkt t0. Eine Zu- zweitens ihrerseits teils nicht beliebig sind, da sie auf
standsänderung ist das Gesamt der Veränderungen die (gesetzmässigen) motivationalen Mechanismen
der Eigenschaften des Dinges innerhalb eines Inter- Bezug nehmen, die das eigene Verhalten in bestimmte
valls t1-t0. Richtungen drängen und deshalb von diesen nicht
kausal oder stochastisch. Gesetzmässigkeiten sind Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist ein konkretes Sys-
zwar Regularitäten, aber lange nicht jede Regularität tem s charakterisiert durch seine Zusammensetzung,
Alle Dinge verhalten sich gesetzmässig. Entsprechend Zusammensetzung: Die Zusammensetzung von s ist das Ge-
samt seiner Komponenten:
gibt es Gesetzmässigkeiten auch in und zwischen Beispiele: Die Atome eines Kristalls, die Biomoleküle einer Zelle, die
sozialen Systemen, auch wenn soziale Gesetzmässig- Zellen eines Organs im Besonderen die plastischen Neuronen des
Gehirns, die Mitglieder einer Familie, die Belegschaft einer Organisa-
keiten praktisch immer stochastisch und diffuser sind tion; die Bevölkerung eines Nationalstaates.
als jene in natürlichen Systemen. Umwelt: Die Umwelt von s ist das Gesamt der Dinge, mit
denen die Komponenten des Systems Beziehungen unterhal-
Wie die Regularitäten in natürlichen Systemen auch, ten. Im Unterschied dazu ist die Umgebung eines Systems die
sind soziale Gesetzmässigkeiten das Ergebnis von Ver- Komplementmenge der Zusammensetzung eines Systems,
d.h. der Rest der Welt.
haltenstendenzen der Komponenten solcher Systeme
Struktur: Die Struktur von s ist die Gesamtheit von Bindun-
in Abhängigkeit von variablen äusseren Bedingungen. gen unter den Teilen des Systems wie auch zwischen diesen
und Dingen in dessen Umgebung. Die erstere bildet die
Der Unterschied zwischen den Gesetzmässigkeiten in
interne, die letztere die externe Struktur des Systems.
physikalischen, biologischen, psychischen und sozia-
len Systemen liegt lediglich in den Mechanismen, 5
Bunge formuliert diesen Zusammenhang so: „Die Quelle
welche die regulären Tendenzen im Aufbau der Dinge sozialer Regularitäten ist diese: Wenn alle Mitglieder einer
sozialen Gruppe ungefähr die selben Bedürfnisse und Wün-
sche haben und ähnlichen Zwängen und sozialen Kräften
4
So gibt es (häufige) Kovariationen (wie die vom österrei- ausgesetzt sind, heben sich individuelle Idiosynkrasien auf,
chisch-amerikanischen Methodologen Paul Lazarsfeld be- so dass die Gruppeneigenschaften und Muster erscheinen.
richtete und berühmt gewordene Kovariation zwischen dem Stinchcombe (Stinchcombe, 1968) hat eine korrekte Analogie
Zeitpunkt lokal brütender Störche und der lokalen Geburts- zwischen solchen Gruppen und einem Durchgang von Mes-
rate, die gelegentlich beobachtet wurde), die nicht das (direk- sungen einer Grösse gezogen: Der zufällige Messfehler (Idio-
te) Ergebnis gesetzmässiger Prozesse sind; methodologisch synkrasien) ist dabei umgekehrt proportional zur Quadrat-
ein Thema multivariater und anderer komplexer Verfahren wurzel der Zahl der Beobachtungen (Gruppenmitglied-
der Analyse von Daten. schaft)“ (Bunge, 1998).
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 5
vertrat; (3) die Entwicklung einer systemistischen 2.2.3 Die Wissenschaftliche Methode, die
Werte und das Ethos der Wissenschaften
Mehrebenenontologie mit dem Begriff des konkreten
Systems im Kernbereich (beides Bunge zwischen 1955 2.2.3.1 Die Wissenschaftliche Methode
und 1989) und (4) die Entwicklung des Begriffes des Eine Methode ist ein System von Regeln zur Bearbei-
mechanismischen Erklärens (Bunge ab 1955, zusam- tung eines kognitiven oder praktischen Problems und
men mit einer zunehmender Zahl von weiteren Philo- die Wissenschaftliche Methode, nicht zu verwechseln
sophen). Der Begriff der Zweiniveaus- oder Erklä- mit irgendwelchen spezifischen Verfahren der Physik
rungs- oder mechanismischen oder translucid-box oder der Biologie, ist eine Methode der Bearbeitung
Theorie kann wiefolgt definiert werden: kognitiver Probleme irgendwelcher Art, die sich in
ihrer zeitgemässen Form und komprimiert auf die
b) Erklärungstheorien: (auch: Translucid-Box- oder me-
chanismische oder Mehrniveautheorien): Erklärungs- Aufzählung ihrer elementarsten Operationen als eine
theorien sind Theorien, die gesetzmässige Bezie- Abfolge von Schritten folgendermassen zusammen-
hungen zwischen den Eigenschaften eines Systems
durch die (gesetzmässigen) Interaktion seiner fassen lässt:
Komponenten unter gegebenen Bedingungen er- Übersicht über einen Bereich des Wissens ➞Wahl
klären, d.h. durch seine Mechanismen (vgl. oben) eines Problems aus dem Bereich ➞ Problemformu-
lierung oder Reformulierung ➞Anwendung oder
Anders gesagt: mechanismische Theorien erklären, Erfindung eines Approaches zur Bearbeitung des
indem sie die inneren Prozesse einer bestimmten Art Problems ➞Lösungsvorschlag (Hypothese, Theo-
rie, experimenteller Design, Messinstrument etc. ➞
von Systemen ins Spiel bringen, die für Eigenschaft Überprüfung des Lösungsvorschlags ➞ Evaluati-
oder die in einer Einniveautheorie beschriebenen on des Lösungsvorschlags im Lichte sowohl des
gesetzmässigen Beziehungen verantwortlich sind, d.h. Tests als auch des Hintergrundwissens ➞ Revision
oder Repetition irgendeines der vorangegangenen
diese hervorbringen. Eine mechanismische oder erklä- Schritte ➞ Einschätzung der Folgen für das Hin-
rende Theorie sagt damit nicht nur etwas darüber aus, tergrundwissen ➞ Schlussevaluation (bis zu einem
neuen Hinweis). (Bunge 2003: 180.)
was geschieht, sondern wie und damit weshalb es
geschieht. Diese Methode der Bearbeitung kognitiver Probleme
Die Operation des Erklärens kann, ausgehend von ist auch auf philosophische Probleme anwendbar
einer Gesetzmässigkeit oder Regelmässigkeit auf dem (Bunge, 1973). (Für eine ausführlichere Darstellung
Niveau Sx über die Erklärung durch Einbezug von vgl. den Anhang.)
Systemen des Niveaus Sx-1 iterativ fortfahren bis
2.2.3.2 Die Werte und das Ethos der Wissenschaf-
jenem ontologischen Niveau, dessen Komponenten ten
elementar sind. Basiswissenschaften sind – im Unterschied zu ange-
wandten Wissenschaften und Technologie – in dem
2.2.2.3 Beschreibungen und Prognosen
Sinne wertfrei, als sie keine Werturteile über ihre
a) Beschreibungen: Wissenschaftliche Beschreibungen
Untersuchungsgegenstände fällen (Bunge & Mahner,
sind Aussagen über Fakten in Termini von Theorien
2004). D.h. sie orientieren sich an keinem externen,
(Abduktion); die Fakten können dabei in der näheren
sehr wohl aber an einem internen Wertsystem. Das
oder ferneren Vergangenheit oder in der Gegenwart
System der internen Werte, die Endoaxiologie, einer
liegen. Kurz: Beschreibungen beziehen sich immer auf
wissenschaftlichen Disziplin, ist vor allem durch das
partikulare (singuläre) Dinge, involvieren aber Theo-
Ethos der freien Suche (namentlich frei von Bezügen
rien. b) Prognosen: Prognosen sind Beschreibungen der
auf inner- und ausserwissenschaftliche Autoritäten)
Zustände von Dingen zu einem zukünftigen Zeit-
nach wahrer Erkenntnis gekennzeichnet und schliesst
punkt, so wie sie, ausgehend von deren Zustand in
dabei ein:
der Gegenwart und theoretisch zu erwartenden Ent-
wicklung, erwartet werden können. • Logische Werte wie innere und äussere Widerspruchs-
freiheit und Zirkelfreiheit;
• Semantische Werte wie Bestimmtheit von Bedeutungen
und somit Klarheit sowie maximale Wahrheit oder
Übereinstimmung von Aussagen mit Sachverhalten
(Korrespondenztheorie der Wahrheit);
• Methodologische Werte wie die Erklärungskraft von
Theorien sowie die Überprüfbarkeit ("Falsifizierbar-
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 8
Falle Kants, der Neurowissenschaften im Falle der legungen seitens der durch die Geisteswissenschaften
Hermeneuten und der Phänomenologie und der Lo- attackierten nomologischen Wissenschaften können
gik und Wissenschaftstheorie im Falle der Konstrukti- durch viele weitere ergänzt werden.
visten-Relativisten. Die nichtklassische Physik zeigt, b) Zum postulierten spezifischen Methodischen Zugang:
dass Kants transzendentale Kategorienlehre, ein Neben diesen empirischen und logischen Widerle-
Kernbereich seiner Erkenntnistheorie, falsch war gungen von theoretischen Annahmen der hermeneu-
(Vollmer, 1986) und die Analyse seiner „kopernikani- tischen Geisteswissenschaften gibt es einen zweiten
schen Revolution“ in Form seiner Erkenntnistheorie Bereich von Widerlegungen. Er betrifft den Anspruch
macht deutlich, dass sie faktisch eine Konterrevoluti- der Geisteswissenschaften auf einen den nomologi-
on war: Kant kombinierte bei diesem ersten und schen Wissenschaften überlegenen methodischen
bedeutenden Syntheseversuch des Rationalismus und Zugang zum Bereich sozialer Systeme bzw. – in
Empirismus deren beide problematischen Hälfen, den geisteswisssenschaftlicher Terminologie – zur der
Apriorismus und den Phänomenalismus – statt den „geschichtlich-gesellschaftlichen“ Welt (Vico, Droy-
(rationalistischen) Kritizismus und den Realismus. sen, Dilthey) und die ihm zugrunde liegenden explizi-
Die Neurowissenschaften zeigten, dass der ontologi- ten und impliziten Annahmen über menschliche Indi-
sche Dualismus und der Antinaturalismus der Her- viduen und soziale Gebilde. Abgesehen vom Vorwurf
meneutik und der Phänomenologie selbst in diesem des Psychologismus und Historismus und dem Feh-
Bereich unhaltbar sind: psychische Prozesse sind len eines klaren Begriffes des Verstehens, haben hier
Prozesse in Subsystemen von Biosystemen und damit schon früh Analysen darauf hingewiesen, dass weder
gesetzmässig, so dass man sie erklären kann (vgl. Dilthey ein intelligibles Verfahren des Verstehens,
auch den Abschnitt über soziale Systeme). Und die noch Husserl ein praktikables Verfahren der phäno-
Logik schliesslich ist das Mittel, um den Selbstwider- menologischen Reduktion oder Heidegger/Gadamer
spruch der neuen Wissenschaftssoziologen aufzude- ein Verfahren der Analyse des Textes, für den sie die
cken, die glauben, mit wissenschaftlichen Mitteln Welt (und nicht nur Texte im engen Sinne) hielten,
gezeigt zu haben, dass die Wissenschaften nichts vorgelegt haben. Alle drei Unternehmen sind in Be-
Wahres zu erkennen vermögen (Brown 2001: 142f)). zug auf ihr Ziel, eine eigenständige Gruppe von Geis-
Wohl am spektakulärsten ist allerdings die empirische teswissenschaften zu begründen, auf der ganzen Linie
Widerlegung der Kernannahme Diltheys, wonach das gescheitert (Albert, 1994; Kraft, 1957 [1932]). Der
Erleben und im Besonderen der empathische Nach- Grund dafür liegt auf der Hand: er liegt im Fehlen
vollzug des Erlebens Dritter der genuine Gegenstand erklärender Theorien emotio-kognitiver Prozesse, auf
und die Methode der verstehensorientierten Geistes- deren Grundlage die gesuchten Methoden hätten
wissenschaften als Sozialwissenschaften seien, die entwickelt werden können. (Vgl. die Kapitel über
deren Autonomie gegenüber den erklärungsorientier- Handlungswissenschaften und die Soziale Arbeit).
ten Naturwissenschaften begründe. So ist es mit der Der dritte Bereich der Kritik ist methodologisch und
Entdeckung der Existenz so genannter „Spiegelneu- konstruktiv, indem gezeigt werden kann, dass das
ronen“ Mitte der 90er Jahre gelungen (Mantzavinos, möglich ist, was die Erfinder der Geisteswissenschaf-
2006; Rizzolatti, Fogassi, & Gallese, 2007), den neuro- ten ausschlossen und wofür sie ohne Erfolg eine Al-
nalen Mechanismen dessen aufzudecken, was wir ternative suchten. Dies ist das Thema des nächsten
(mit Dilthey aber auch mit modernern Forscherinnen Kapitels.
und Forscher wie Doris Bishof-Köhler oder Rizzolatti
und seinen Mitarbeitern) als Mitgefühl erleben und 2.3.2 Mechanismisches Erklären in den Sozi-
alwissenschaften
als Empathie bezeichnen. Diese Beispiele von Wider-
2.3.2.1 Erklären in den Sozialwissenschaften
die renommierte Physik betrafen, zur wohl gewichtigsten Mechanismisches Erklären ist immer möglich, wo es
Stütze antirealistischer Argumentationen innerhalb postmo-
dernen „Diskurses“ in den Geisteswissenschaften (Sokal & konkrete Systeme gibt (vgl. 2.2.2.1) und die Gegens-
Bricmont, 1999) und den Sozialwissenschaften des 20. Jahr- tände der Sozialwissenschaften sind konkrete Syste-
hunderts geworden und nicht zuletzt auch des sozialen
Konstruktionismus der antirealistischen „Neuen Wissen- me, nämlich (human)soziale Systeme (und nicht Indi-
schaftssoziologie“ (B. Heintz, 1993).
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 11
viduen wie in all den Varianten des Individualismus) anderen Quellen wie den biologischen Bedürfnissen
mit Individuen (und nicht Rollen, Handlungen oder von Individuen wird. So haben menschliche Individu-
Kommunikationen, wie in allen Formen des Holis- en, wie die anderen höheren Primaten auch, z.B. A-
mus) als Komponenten. Sowohl menschliche Individuen versionen gegen einen tiefen sozialen Rang oder ge-
wie auch menschliche Sozialsysteme sind konkrete Systeme gen (institutionalisierten wie informellen) ungleichen
je einer besonderen Art. Deshalb kann sowohl menschliches Tausch oder vermeiden strukturelle Isolation, was
Verhalten als auch das Verhalten sozialer Systeme erklärt jene, die solchen Bedingungen ausgesetzt sind, veran-
werden. Dazu braucht es nicht mehr als eine Beschrei- lasst, ihre Position innerhalb des System (oder dessen
bung einer emergenten Eigenschaft eines solchen Struktur oder beides) zu verändern zu versuchen (P.
Systems (die auch eine Gesetzmässigkeit sein kann) Heintz, 1968)
und einen Mechanismus, der verstehen lässt, welchem b) Menschliche Individuen sind sozial lebende Lebewe-
inneren Prozess (unter bestimmten äusseren Bedin- sen einer besonderen Art, nämlich neugierige, aktive,
gungen) diese Eigenschaft bzw. diese Gesetzmässig- beziehungs- und mitgliedschaftsorientierte, lern-,
keit ihr Auftreten verdankt. So ist z.B. die vertikale sprach- und selbstwissensfähige Biosysteme, die in
Differenzierung sozialer Systeme eine (unbeabsichtig- soziale Systeme hineingeboren werden und lebens-
te) Folge der Konkurrenz von Individuen um knappte lang eingebunden sind - teils in gegebenen (wie ver-
Güter der Befriedigung biologischer, psychischer und wandtschaftliche Verhältnisse), teils in frei gewählten
nicht zuletzt sozialer Bedürfnisse und Konflikt. Sub- sozialen Systemen. Von Zeiten des Schlafes abgesehen
kulturelle Differenzierungen sind alternative Formen sind sie jederzeit damit beschäftigt, sich mit Hilfe
der Anpassung an Bedürfnisspannungen als Folge der eines im Rahmen ihrer Lerngeschichte erworbenen
vertikalen, d.h. der Statusdifferenzierung. kognitiven Codes (oft ungenau auch: Deutungsmus-
Dieser Begriff des Erklärens verlangt nach einer etwas ter) ein ikonisches und begriffliches) Bild ihrer selbst
ausführlicheren Erhellung des Begriffes eines sozialen in ihrer natürlichen und sozialen Umgebung zu ma-
Systems, nachdem Gesellschaften oder allgemein chen (Selbst) und anhand dieses Bildes ihre auf die
Soziale Systeme konkrete Systeme und keine An- Befriedigung ihrer biologischen, psychischen und
sammlungen von Individuen sind. sozialen Bedürfnisse zielenden Handlungen zu planen
oder – im Falle spontanen Handelns – auch nur zu
2.3.2.2 Soziale Systeme und menschliche Indivi-
duen steuern, durch die sie subjektiv relevante Dinge der
a) Soziale Systeme: Ein soziales System ist ein konkretes Welt (einschliesslich ihrer selbst) in einer gewünsch-
(materielles) System mit einer vertikal und funktional ten Art (Ziele) zu verändern trachten15.
und in eventuell weiteren Hinsichten mehr oder we-
2.3.2.3 Gesellschaft geht durch die „Köpfe“ von
niger differenzierten sozialen Struktur, das a) aus Individuen und anderer Arten von Mecha-
menschlichen Individuen und ihren allfälligen Arte- nismen
fakten wie Werkzeuge, Maschinen, Haustiere und Gesellschaft geht m.a.W., wie Soziologen immer ge-
Dokumenten gebildet wird, b) in und gegebenenfalls
15
aus einer physikalisch-biologischen Umwelt existiert Bedürfnisse oder besser Bedürfnisspannungen sind biolo-
gische Mechanismen, deren Funktion im Falle der biologi-
und das c) durch die Handlungen seiner Mitglieder schen Bedürfnisse die Aufrechterhaltung des Organismus als
geschaffen, in Gang gehalten, verändert oder zerstört ganzer ist, im Falle der psychischen Bedürfnisse die Leis-
tungsfähigkeit des Gehirns als Steuerungsorgan der anderen
wird. Die sich über diese Phasen der Entstehung und Organe und des nach aussen gerichteten Verhaltens und im
Falle der sozialen Bedürfnisse die Beziehungen des Subjekts
Konsolidierung und des Wandels und Zerfalls verän- zu anderen Menschen und zu sozialen Mitgliedschaftssys-
dernde Struktur solcher Systeme grenzt dabei einer- temen. Bedürfnisspannungen brauchen nicht bewusst zu
sein und wenn sie es sind, sind sie im Lichte des verfügbaren
seits den Handlungsspielraum der Akteure in Abhän- kognitiven Codes des Individuums und seiner Werte, d.h.
gigkeit des Ortes ein, den sie innerhalb ihrer Struktur mit den Mitteln von Kultur interpretiert und damit keine
Bedürfnisse mehr, sondern Wünsche oder Begehren. Die
innehaben. Auf der anderen Seite stimuliert eine sozi- erfolgreiche Befriedigung von Bedürfnissen ist entsprechend
keine fakultative Angelegenheit, denn sie unterminiert lang-
ale Struktur das Verhalten der Akteure aufgrund ihrer
fristig die biologische und biopsychische Gesundheit der
sozialen Bedürfnisse, wodurch sie, einmal geschaffen, Betroffenen und damit ihre Arbeits-, Liebes- und allgemein
Beziehungsfähigkeit und damit – falls sie nachhaltig und in
zu einer eigenständigen Quelle ihrer Dynamik neben breiter Form auftritt, den Bestand sozialer Systeme.
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 12
wusst haben, „durch die Köpfe der Individuen“, d.h. 2.3.2.4 Verstehen und Erklären
sie involviert in allen ihren dynamischen Phasen emo- Es trifft m.a.W. in keiner Weise zu, dass wir – wie
tio-kognitive Prozesse von Individuen (wobei sich Vico sagte und Droysen oder Dilthey meinten – die
deren Vorstellungen über die sozialen Systeme, deren geschichtlich-gesellschaftliche Welt verstehen, wäh-
Mitglieder sie sind, im Verlaufe der genannten Phasen rend uns die Natur fremd ist. Wir wissen heute mehr
verändern). Diese in zahlreichen Varianten verbreitete über die Natur, einschliesslich unserer Nervensysteme
Sicht muss allerdings spezifiziert werden: und der Funktionen, die sie erbringen, als über Ge-
sellschaft und Psychen und nicht umgekehrt. Und
Erstens handelt es sich dabei nicht um ideelle Prozes-
se, noch ist gar irgendein Text involviert, es sei denn das, was wir von psychischen Prozesse wie z.B. Emp-
als äusserer Anlass von Gedanken im Rahmen von finden, Aufmerksamkeit, Affekten wie Trieben, Emo-
schriftkundigen Gesellschaften. Vielmehr handelt es
sich um konkrete Prozesse in konkreten Biosystemen, tionen, Gefühle und moralischen Empfindungen,
die Komponenten konkreter Systeme sind. Gedächtnis, Lernen ,Wahrnehmung, Begriffsbildung
Zweitens ist Gesellschaft (sind soziale Systeme) insbe- Denken, Absicht (Wille) und Selbstbewusstsein ver-
sondere nicht identisch mit dem, was ein oder viele stehen, verdanken wir nicht unserem Sinnverstehen
Individuen denken – denn soziale Systeme sind kon-
krete Dinge. Sie sind auch nicht eine ausschliessliche sondern faktenwissenschaftlichen Forschungen und
Folge von oder die Summe dessen, was Individuen theoretischen Einsichten.
denken und mit ihren Handlungen wollen, sondern
Dass wir in den Sozialwissenschaften nicht auf das
die unbeabsichtigten und emergenten strukturellen
Folgen der Handlungen aller Komponenten sowie Verstehen von Zielen (Absichten) von Akteuren ver-
von über die physikalisch-biologische und die soziale zichten können, geht zurück auf Max Weber. Und
Umwelt (Exostruktur) wirkenden Ereignissen. Dies
gilt sogar für geplante und gesteuerte Systeme wie dass wir in diesem Zusammenhang sprachliche Äus-
Organisationen. serungen verstehen müssten, weiss jeder, der einmal
Drittens besteht Gesellschaft, auch wenn sie durch die ein offenes Interview geführt oder einen Fragebogen
Köpfe von Individuen geht, nicht aus entkörperlichten zur Erfassung (Beschreibung) und soziologischen
Ideen wie Normen, Deutungsmustern (Oevemann),
ideellen Prozessen wie Kommunikationen (Luhmann) Erklärung von Bildern und Codes, Problemen und
oder gar Texten (Geertz u.a,). Sie wird vielmehr durch Wünschen, Zielen und Plänen von Akteuren sozialer
die Produkte emotio-kognitiver Prozesse zusammen-
gehalten, die konkrete Vorgänge in Gehirnen und Systeme entwickelt hat. Die Entstehung von Motiven
keine Texte o.ä. sind. (Zielen) und die Erzeugung sprachlicher Äusserungen
Viertens erschöpft sich auch das, was in den Köpfen werden aber erhellt durch die Neuro- und die Sozial-
handlungswirksam ist, nicht in begrifflichen mentalen wissenschaften und nicht durch eine geisteswissen-
Prozessen, sondern besteht darüber hinaus einerseits
aus Wahrnehmungen oder ikonischen Bildern. Diese schaftliche Hermeneutik. Und spätestens auf der
sind, neben Ideen und Affekten, der Stoff, mit dem Grundlage solcher Kenntnisse wird es möglich sein,
sich das begriffliche Denken beschäftigt und sie ver-
eine befriedigende naturalistische Methode des Verste-
mögen auch ohne begriffliche Ideen Handlungen
auszulösen. Andererseits sind biologische, psychische hens zu entwickeln (Mantzavinos, 2006).
und soziale Bedürfnisspannungen und durch sie aus- Was im Besonderen das inhaltliche Verstehen sprach-
gelöste Affekte handlungswirksam – ein bis heute
weitgehend ignoriertes Thema (Obrecht, 2007). licher Äusserungen im Rahmen von Sozialforschung
(und darüber hinaus) betrifft, so besteht es darin, dass
Fünftens sind Akteure auf der Basis von Alltagswissen
in der Regel weder in der Lage zu verstehen, was wir Hypothesen darüber bilden, was ein Interaktions-
innerhalb ihrer selbst (oder anderer Individuen) ge- partner weiss, denkt, uns oder Dritten mitteilt oder
schieht und insbesondere nicht, was Ideen sind, wel-
che Arten von Ideen es gibt und wie Ideen unter- durch nicht sprachliche Handlungen beabsichtig oder
schiedlicher Art untereinander und mit Affekten gewusst hat, dachte oder mitteilen oder machen woll-
(Triebe, Emotionen, Gefühle, moralische Empfindun-
gen) wechselwirken. Aufgrund des begrenzten All- te. Die Entwicklung und Nutzung solcher Hypothesen
tagsverständnisses ist es ihnen auch und erst recht kann dabei von verschiedenen Arten von Indikator-
nicht möglich zu verstehen, wie Ideen Handlungen zu hypothesen Gebrauch machen und durch eine Vielfalt
erzeugen vermögen, wie sie wirken und welche Fol-
gen sie für die Dynamik sozialer Systeme haben. We- von beobachtbaren Aspekten des sprachlichen und
gen ihrer Ablehnung naturalistischer Erklärungen sonstigen Verhaltens gestützt (oder in Frage gestellt)
und ihrem Insistieren auf Verstehen haben die her-
meneutischen Geisteswissenschaften kaum etwas zum werden. Kurz, Verstehen verlangt nicht, dass wir die
Verständnis dieser Prozesse beigetragen. Wissenschaftliche Methode verlassen (Bunge, 2003a).
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 13
2.3.2.5 Systemismus in der Soziologie (...) der Glaube an numinose Wesenheiten personalen oder im-
personalen Charakters – Götter, Geister, Dämonen, Engel oder
Systemismus und mit ihm mechanismisches Erklären göttliche Mächte –, die bestimmte Eigenschaften und Wirkungs-
möglichkeiten haben und daher für das Schicksal der Menschen
hat in der Soziologie eine lange Zeit latenter Entwick- und damit auch für ihr Heil von Bedeutung sind, und (...) eine
damit verbundene Praxis der Mitglieder der betreffenden Grup-
lung und setzt sich gegenwärtig im Form des „For- pen, die geeignet ist, der Macht dieser Wesenheiten Rechnung zu
tragen und sie im Sinne des eigenen Heils zu beeinflussen, also
schungsprogramms des mechanismischen Erklärens“ einer Kultur, die durch eine Heilstechnologie geprägt ist.
(Schmid, 2006) gegen holistische und individualisti-
Religion und Wissenschaft schliessen sich, entgegen
sche Paradigmen durch, nachdem diese sich ein Jahr-
einer heute wieder populären und mitunter auch von
hundert lang als scheinbare Alternativen konkurren-
Wissenschaftern vertretenen These, logisch aus. So ist
ziert haben (Alexander, Giesen, Münch, & Smelser,
Wissenschaft z.B. ontologisch naturalistisch, d.h. sie
1987). Mechanismisches Erklären geht zurück auf die
ist mit der Annahme der Existenz übernatürlicher
Kritik R.K. Mertons am holistischen Strukturfunktio-
körperloser, jedoch auf den Gang der Welt Einfluss
nalismus Talcott Parsons in den 1950er Jahren
nehmende Entitäten und Kräfte aus verschiedenen
(Merton, 1957; Stinchcombe, 1975) und wurde seit den
Gründen nicht verträglich. Ein wichtiger Grund dafür
60er Jahren von Peter Heintz (CH), James Coleman,
ist, dass Supranaturalismus das Testen von wissen-
Thomas J. Fararo (USA), Raymond Boudon (FR),
schaftlichen Hypothesen logisch verunmöglicht, was
Siegwart Lindenberg und Reinhart Wippler (NL),
für Wissenschaft als ein auf empirische Prüfung an-
Peter Hedström und Richard Swedberg (S), Renate
gewiesenes Unternehmen das Ende bedeutet. Dass
Mayntz, Hartmut Esser (D) und anderen weiterentwi-
der logischen Unvereinbarkeit zum Trotz Wissen-
ckelt - wenn auch noch überwiegend auf der Grund-
schaft und Religion psychisch vereinbar sind, steht
lage von Rational- Choice-Modellen, d.h. nicht syste-
ausser Frage. Es genügt, die Frage der Vereinbarkeit
mistischer Modelle des Individuums (Schmid 2006).
subjektiv zu suspendieren. (Vgl. z.B. Bunge und Mah-
Dabei handelt es sich um ein dezidiert soziologisches
ner 2004: 199-232; Kanitscheider 2007: 56-97 und 176-
Programm, das auch die Möglichkeit makrosoziologi-
216.). Die logische Unverträglichkeit zwischen Wis-
scher Analysen neu begründet, nachdem der klassi-
senschaft und Religion schliesst aus, dass es eine
sche holistische Typ solcher Analysen in den letzten
christliche, moslemische, buddhistische oder hinduis-
Jahrzehnten zu Recht als auf nicht begründbaren
tische Wissenschaft gibt und dass die Möglichkeit
Annahmen beruhend kritisiert worden ist.
besteht, für jede Religion, von denen es ein paar Tau-
2.4 Abgrenzungen send gibt, eine eigene Wissenschaft zu entwickeln.
Die Angemessenheit eines Wissenschaftsbegriffs be- (Die Wissenschaften sind nur die Grundlage für Welt-
misst sich auch daran, wie klar er Wissenschaft von bilder, die Alternativen sind zu den religiösen, wie
anderen mentalen Aktivitäten und ihren Ergebnissen z.B. das evolutionär-humanistische) Ferner wären im
abzugrenzen vermag wie Philosophie, Technologie, umgekehrten Fall die Wissenschaften das Bindeglied
Alltagsdenken, Religion, Kunst, Ideologie etc. zwischen den verschiedenen Religionen, über das
Friede oder zumindest dogmatische Verträglichkeit
2.4.1 Philosophie zwischen ihnen gestiftet werden könnte.
Von Philosophie unterscheidet sich Wissenschaft in
der heutigen Sicht erstens im Grad der Allgemeinheit 2.4.3 Alltagsdenken
der Probleme, die sie untersucht (die Wissenschaften Gemeinsam sind dem Alltagsdenken und der Wissen-
untersuchen je spezifische Klassen von Fakten, wäh- schaft der erkenntnistheoretische Realismus, wobei
rend die Philosophie alle Fragen untersucht, die, weil derjenige des Alltagsdenkens naiv ist, indem er Phä-
sie deren Zuständigkeitsbereich überschreiten, nicht nomene oder anders gesagt sekundäre Eigenschaften
von einer Einzelwissenschaft allein behandelt werden mit den wirklichen Eigenschaften der Dinge verwech-
kann), sowie zweitens in den Kriterien, denen ihre selt. Die Wissenschaften dagegen wollen wissen, wie
Aussagen genügen müssen (logische und empirische). die „Dinge an sich sind“ und versuchen, sie in Termi-
ni ihrer primären Eigenschaften zu beschreiben, wobei
2.4.2 Religion sie Phänomene nicht etwa ignorieren, sondern für
Religion kann definiert werden als eine spezifische Klasse von (sekundären) Eigenschaf-
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 14
ten halten, mit deren Hilfe sie die wirklichen (primä- schaftlicher Gesetzmässigkeiten entwickelt worden
ren) Eigenschaften der Dinge einschliesslich ihrer sind und deren Wirkungsweise bekannt ist.
Gesetzmässigkeiten zu untersuchen suchen (vgl. dazu Die Nutzung von Technologien oder technologischer
die Rolle von Indikatoren im Rahmen der wissen- Regeln geschieht im Rahmen von (professionellen)
schaftlichen Methodologie) und deren Untersuchung Handlungen, die auf die Lösung praktischer Probleme
sie sich unter anderem zu einem ihrer Forschungsbe- gerichtet sind. Praktische Probleme sind Zustände
reiche machen (kognitive Neurowissenschaften, kog- von konkreten Dingen, die den gewünschten Zustän-
nitive Psychologie). Darüber hinaus unterscheiden den eines Akteurs nicht entsprechen und nicht durch
sich Alltagsdenken und Wissenschaft auch hinsicht- Routinehandlungen verändert werden können. Ein
lich aller anderen metatheoretischen Fragestellungen praktisches Problem ist m.a.W. kein Ding, sondern
und nicht zuletzt auch hinsichtlich ihrer Ziele (Lösen eine Relation zwischen einem selbstbewusst werten-
praktischer (physikalischer, biologischer, psychischer den Lebewesen und einem konkreten Ding, das auch
und sozialer Probleme) Probleme versus Lösen kogni- das wertende Lebewesen sein kann (biologische und
tiver Probleme aller Art) und Mittel (Erleben und psychische Probleme).
Erfahrung versus wissenschaftliche Methode). Handlungswissenschaften und im Besonderen Tech-
Schliesslich haben die Wissenschaften eine Theorie nologien behandeln dementsprechend alles auf der
ihrer selbst, die Wissenschaftstheorie, während das Welt in Beziehung zu den Bedürfnissen und Begehren
Alltagsdenken sich selber nicht einmal in Ansätzen von Menschen und entwickeln auf diese Weise Brü-
versteht, geschweige denn die Wissenschaften: diese cken zwischen dem Menschen und seiner natürlichen
sind durch und durch contraintuitiv. und sozialen Umwelt. Im Unterschied zu den Basis-
wissenschaften sind Technologien und Handlungs-
2.4.4 Technologie
wissenschaften anthropozentrisch, dies allerdings
Während basiswissenschaftliche Theorien Systeme ohne gleichzeitig am Alltagsdenken über Alltags-
von Aussagen über Gesetzmässigkeiten sind, sind die handlungen orientiert zu sein. Denn das Alltagsden-
technologischen Theorien der Handlungswissenschaf- ken kennt nur die Oberfläche von wahrnehmbaren
ten Systeme von Aussagen über wirksame theorieba- Dingen und diese nur in Form sekundärer Eigenschaf-
sierte Regeln. Beiden gemeinsam ist, dass sie den ten, während es nicht nur nichts von der Existenz
methodologischen Kriterien der Wissenschaft genü- konkreter transempirischer Dinge weiss – es imagi-
gen müssen. niert hinter den konkreten Dingen liegende und diese
beeinflussenden Dinge in Form immaterieller Dinge
3 Handlungswissenschaften und Kräfte, die durch magische und in Besonderen
3.1 Handlungswissenschaften religiöse Rituale (einschliesslich Beten) beeinflussbar
3.1.1 Handlungswissenschaften als Theorie und sind, vgl. das Stichwort Religion in 2.4 –, sondern
Methode der Nutzung von Technologien. auch die primären Eigenschaften der Struktur und
Notorisch als Residualkategorie behandelt, sind die Dynamik wahrnehmbarer Dinge nicht erfasst, vor
Angewandten Wissenschaften bis heute ein Stiefkind allem nicht die des denkenden Subjekts und seiner
der Philosophie der Wissenschaft geblieben und der Gedanken als Aktivitäten seines Gehirn und deren
Begriff entsprechend diffus. Handlungswissenschaf- Beziehungen zu den motorischen Aktivitäten. All-
ten, so wird hier postuliert, sind jene besondere Form tagsdenken ist deshalb nur von eng begrenztem Prob-
angewandter Wissenschaft, die sich über die Entwick- lemlösungsvermögen. Weil es im Besonderen auch
lung von technologischen Verfahren (wissenschafts- nichts über die Natur seiner selbst weiss, erschöpft es
basierten Methoden) hinaus auch mit deren Anwen- sich in Bezug auf Handeln in der Anwendung des
dung beschäftigen. Im Unterschied zu basiswissen- „intentionalen Vokabulars“ auf sich selbst, ein Cha-
schaftlichen Theorien, die Systeme von Hypothesen rakteristikum, das es mit dem geisteswissenschaftli-
sind (vgl. 2.2.2.2) sind Technologien Systeme von chen Denken über Handeln teilt16. Insofern diese sich
Regeln, die auf der Grundlage der Kenntnis wissen-
16
Vgl. Reckwitz (Reckwitz, 2000), der in der Durchsetzung
des intentionalen Vokabulars in den Sozialwissenschaften im
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 15
in der Kultivierung eines solchen Vokabulars erschöp- lungstheorie (AEHT), die ergänzt sein kann durch
fen, bleiben sie im Bereich des geisteswissenschaftli- spezielle deskriptive Handlungstheorien (SEHT), die
chen Weltbildes. Statt nach einem oberflächlichen und spezifische Formen von Handelns zum Thema haben
phänomenalen Verständnis verlangt professionelles wie etwa Handeln unter Druck (Wahl, 1991).
Handeln aber nach einem Verständnis von Handlun-
3.1.2.2 Alltagshandeln
gen als geplante Aktivitäten des Organismus, über die
Ein Grossteil der alltäglichen Handlungen sind Routi-
dieser andere Dinge (und auch sich selber) zu verän-
neoperationen, die über Wahrnehmung und affektive
dern vermag und im Besonderen verlangt professio-
(i.U. zu begrifflicher) Bewertung nur wenige empiri-
nelles Handeln nach der Kenntnis der Mechanismen,
sche Klassifikationsbegriffe sowie Fertigkeiten (erlern-
die Handlungen hervorrufen sowie über jene, über die
te neuromotorische „Programme“) involvieren. Im
sie wirken.
Unterschied dazu involviert hingegen bewusstes, d.h.
3.1.2 Der Begriff des Handelns, die deskriptive planvolles (Alltags)Handeln über Beschreiben, Erklä-
und normative Handlungstheorie und All- ren und Prognose hinaus mindestens eine Problemde-
tags- und professionelles Handeln
finitionen (auch: „Definitionen der Situation“) sowie
3.1.2.1 Handlungen
mehr oder weniger klare Ziele und Pläne, die ihrer-
a) Handlungen: In Termini der systemistischen Ontolo-
seits mindestens Verfahren im Sinne von Faustregeln
gie ist eine Handlung ein Akt einer besonderen Art17:
involvieren.
Ein Akt ist das, was ein Ding einem anderen tut; eine
3.1.2.3 Professionelles Handeln
menschliche Handlung das, was ein Individuum mehr
Im Unterschied zu den Formen alltäglichen Handelns
oder weniger bewusst einem anderen Dinge tut um es
ist professionelles Handeln notwendig an der methodi-
in dieser oder jener Hinsicht zu verändern. Entspre-
schen Bearbeitung (und Lösung) praktischer Probleme
chend ist eine soziale Handlung das, was ein Mensch
orientiert und stützt sich im Besonderen auf wissen-
einem anderen mit der Absicht tut, ihn zu verändern.
schaftsbasierte Methoden, d.h. Technologien. Über
b) Handlungstheorien: Handeln ist m.a.W. eine ab-
Beschreiben, Erklären und Prognose hinaus involviert
sichtsvolle und damit zielgerichtete, aber nicht unbe-
es deshalb alle emotio-kognitiven Operationen, die
dingt voll bewusst gesteuerte neuro-motorische Akti-
durch die Anwendung von solchen Methoden ver-
vität eines Individuums und damit Thema der allge-
langt sind: explizite Problemdefinitionen, Ziele, Me-
meinen Psychologie. Diese zielt auf eine allgemeine
thoden sowie Pläne auf der Basis der gewählten Me-
deskriptive, d.h. beschreibende und erklärende Hand-
thode(n) – alles in Termini von Zuständen und Zu-
standsänderungen von konkreten Dingen sowie die
Verlaufe des vergangenen Jahrhunderts den grossen Sieg der Operationen der Handlungsüberwachung und Hand-
kulturwissenschaftlichen Auffassung über alle „nicht sinn-
haften“ Zugänge sieht. Die Anerkennung der Bedeutung lungsevaluation. Die systematische Beschreibung
interner handlungsvorbereitender Prozesse endet damit dieser Operationen und ihrer logischen Beziehungen
m.a.W. bei einer sophistizierten Form des Alltagsdenkens.
Menschen haben in dieser Sicht Vorstellungen ihrer Körper- ist das Thema der Allgemeinen normativen (oder
lichkeit und von Wissen und Handlungsschemata wird präskriptiven) Handlungstheorie (Obrecht, 1996a,
gesagt, sie seien verkörpert. Ausserhalb der Sicht dieses
geisteswissenschaftlichen Zuganges liegt das Verständnis 2006).
von Menschen als Organismen, d.h. als konkrete Biosysteme,
von internen Prozessen als Gehirnfunktionen und Handlun-
3.1.3 Ontologische und wissenschaftstheoretische
gen als durch solche Funktionen motivierte und gesteuerte
Akte. Voraussetzungen eines Begriffes wirksamer
17
Versteht man Handlungen als absichtsvolle und geplante (professioneller) Handlungen
Akte, ist das Handlungsvermögen und sind damit Handlun-
gen, wie wir heute wissen, nicht auf den Menschen be-
Eine Orientierung an wissenschaftsbasierten Metho-
schränkt. So können Schimpansen und Bonobos kognitive den ist für Professionen im engen Sinne unerlässlich,
Probleme lösen und Oran- Utang sind in der Lage, bei ihrem
Gegenüber Absichten zu erkennen (Science, Bd. 312: 1402, weil von ihnen, namentlich im Falle eines öffentlichen
1360). Allgemein verfügen solche Tiere über eine „Theory of Auftrags, Rechenschaft nach der expliziten Darstel-
mind“, d.h. einen kognitiven Code, der es ihnen erlaubt,
Urteile über das Wissen von Mittieren zu fällen. Tiergesell- lung der genannten Operationen des professionellen
schaften werden entsprechend, wie menschliche auch, durch
Handelns sowie des Nachweises ihrer Wirksamkeit
kooperative Handlungen zusammengehalten, die durch
Affekte (Groomen) oder Interessen gesteuert sind (Ploog, verlangt wird.
1997).
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 16
Der Begriff der Wirksamkeit im Zusammenhang mit Komponenten, während die Problematik, die die Pro-
professionellen Verfahren setzt dabei in ihrem Aufbau fession bearbeitet, soziale Probleme sind, verstanden
und Verhalten gesetzmässige Dinge im Interventions- als praktische Probleme in Bezug auf ihre befriedi-
bereich aber auch in Form des Handelnden selbst gende Einbindung von Individuen in die sozialen
voraus. Diese Gesetzmässigkeiten betreffen im Beson- Systeme, deren freiwillige und unfreiwillige Mitglie-
deren Ereignisse erstens zwischen der Umwelt des der sie sind (Obrecht, 2007, In Vorbereitung-b). Da-
(Bio)Systems und dessen Sensoren, zweitens zwischen nach sind soziale Probleme bindungsbedingte konkre-
diesen und den corticalen Einstrahlungsgebieten, te Relationen zwischen Individuen und strukturellen
drittens innerhalb der reizverarbeitenden internen Eigenschaften der sozialen Systeme, deren Mitglieder
Prozesse, viertens zwischen diesen und den motori- sie sind (Beispiele: vertikale Differenzierung, struktu-
schen Operationen, fünftens zwischen diesen und den rell bedingter ungleicher Tausch, häufigkeitsbedingte
Objekten, auf deren Veränderung die Methoden bzw. geringe Interaktions- und Beziehungschancen Chan-
die Handlungen zielen, über die diese angewandt cen etc.). Diese konkreten Relationen können als (ech-
werden und schliesslich sechstens innerhalb der Objek- te) Stressoren wirken. Falls sie durch die Betroffenen
te und zwischen ihnen. nicht auf ein unproblematisches Niveau reduziert
Grundlegend für einen naturalistischen Handlungs- werden, können sie zu schwerwiegenden biologischen
begriff ist m.a.W., dass er sich nicht (wie noch immer und psychischen Beeinträchtigungen führen, die in
in verbreiteten (idealistischen) Lehren der Psychologie der Folge die sozialen Probleme des Individuums
und der Sozialwissenschaften zu finden) auf die Be- verschärfen und via die Formen seiner Anpassung
schreibung handlungsvorbereitender mentaler Prozesse auch die Struktur des Systems verändern (Geyer,
beschränkt – wobei, wie in diesen Theorien üblich, 2007). (Das Ausmass der Veränderung durch das
mentale Prozesse in einem körperlosen Medium statt- Verhalten eines Einzelnen ist von der Grösse des Sys-
finden (Mentalismus). Ferner involviert, was den tems abhängig).
wissenschaftstheoretischen Aspekt betrifft, der Begriff Kurz, soziale Probleme sind eine gemeinsame (relati-
des professionellen Handelns auf der Grundlage wis- onale) Eigenschaft von konkreten Individuen und
senschaftsbasierter Methoden den Begriff des mecha- sozialen Systemen und Soziale Arbeit ist eine Aktivi-
nismischen Erklärens: Eine Handlung ist erst im tät innerhalb sozialer Systeme, die auf die Bearbeitung
strengen Sinne professionell, wenn ihr Zustande- solcher Probleme gerichtet ist. Sozialarbeitswissen-
kommen und ihre Wirkungsweise verstanden wer- schaft ist eine angewandte Form systemistischer Sozi-
den, was ein Verständnis der Dynamik der Dinge im alwissenschaft, welche die Untersuchung der Natur
Interventionsbereich involviert. sozialer Probleme und die Entwicklung von Formen
ihrer Bearbeitung zum Ziel hat. Damit ist sie aus einer
3.2 Sozialarbeitswissenschaft und Soziale
wissenschaftsorientierten Sicht weder eine individua-
Arbeit
listische „Menschenwissenschaft“ wie in der Sicht des
3.2.1 Sozialarbeitswissenschaft als Handlungswis-
senschaft „hermeneutischen Zugangs“ (Engelke, 2003) noch
eine holistische begründete Lehre etwa auf der Basis
Sozialarbeitswissenschaft ist jene handlungswissen-
des luhmannistischen soziologistischen Kommunika-
schaftliche Disziplin, die das handlungswissenschaft-
tionismus.
liche Wissen entwickelt, das die Profession der Sozia-
len Arbeit zur Lösung jener spezifischen praktischen 3.2.2 Professionelle Soziale Arbeit und Interpro-
Probleme benötigt, auf deren Bearbeitung sie gerichtet fessionelle Kooperation
ist. (Obrecht, 1996b, 2001, 2006, In Vorbereitung-a; Professionell ist die Bearbeitung praktischer Probleme
Staub-Bernasconi, 1995, 2007) In der systemistischen dann, wenn sie systematisch ist, d.h. erstens auf der
Sicht der Sozialen Arbeit sind dabei deren Gegenstände Grundlage einer allgemeinen Handlungstheorie er-
menschliche Individuen – verstanden als Komponen- folgt, sich zweitens professioneller, d.h. wissen-
ten sozialer Systeme – und soziale Systeme, verstan- schaftsbasierter Methoden, die sie auf im Rahmen des
den als Systeme mit menschlichen Individuen als Problemlösungsverfahrens systematisch auswählt
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 17
und anschliessend anwendet (Obrecht, 1996b) und malen) kognitiven Struktur der KlientInnen verstanden
schliesslich drittens diese Probleme unter Beachtung werden kann, die, wie der Professionelle auch, als handelnde
moralischer Prinzipien bearbeitet (Staub-Bernasconi, Subjekte mit praktischen Problemen modelliert werden
2003). müssen. Im Rahmen des Problembearbeitungsprozesses
Da heute interdisziplinäre Kooperation in der Sozia- explizit gemacht, wird das Wissen des Klienten – im günsti-
len Arbeit (und anderen Professionen) der Normalfall gen Fall gemeinsam mit diesem analysier-, bewert- und
ist und unprofessionelle interprofessionelle Koopera- modifizierbar (Gregusch, 2008). Die Nutzung der W-Fragen
tion eine nicht professionelle Fallbearbeitung zur und Wissensformen der ANHT als Mittel der Beschreibung
Folge hat, verlangt Professionalität heute nach einer des im Hinblick auf ein zu bearbeitendes Handlungsproblem
professionellen Methode der Interprofessionellen Ko- relevanten Wissens von Klienten oder zur Rekonstruktion
operation, die ihrer Struktur nach wiederum der All- ihrer Handlungen kann dabei als hermeneutisches Verfahren
gemeinen Normativen Handlungstheorie folgt bezeichnet werden. Das Besondere an diesem Verfahren ist
(Obrecht, 2006). Eine Implikation dieser Regel ist, dass neben seiner Explizitheit, Klarheit und Systematik erstens,
sich Professionelle verständigen können müssen, was dass es sich nicht in vorbegrifflichen empathischem Nach-
über die geteilte Allgemeine Handlungstheorie hinaus vollziehen und damit intuitiven Erfassen von Handlungen
nach einer minimalen geteilten Wissensbasis verlangt. oder von mentalen Äusserungen, sondern dass es darauf
(ibid.) abzielt, die (begriffliche) Wissensstruktur des Gegenübers,
soweit sie durch das zu bearbeitende Handlungsproblem
3.2.3 Methoden der Sozialen Arbeit und die natu-
tangiert ist, zu beschreiben, erklären, bewerten, problemati-
ralistische Hermeneutik
sieren und gezielt und unter Nutzung technologischer Re-
Die für das Erreichen der Ziele der Sozialen Arbeit
geln (z.B. solche, die sich auf Mechanismen des Verstehens
relevanten Besonderheiten von Individuen sind (vgl.
und des Lernens beziehen) zu verändern (Gregusch 2008).
3.2.2.2), dass Individuen (1) sprach- und selbstbe-
Die zweite Besonderheit ist die, dass diese Wissensstruktur
wusstseinsfähige Systeme sind, die (2) durch eine
als Eigenschaft des kognitiven Systems von Menschen gese-
Reihe von Bedürfnissen gekennzeichnet sind, zu de-
hen wird, dessen zentrale Funktion einer praktische (prag-
nen nicht zuletzt soziale gehören wie das Bedürfnis
matische) ist, nämlich die der Orientierung und Handlungs-
nach (relativer) Autonomie, nach sozialen Beziehung,
steuerung im Hinblick auf die Lösung physikalischer, biolo-
nach sozialer Anerkennung und Austauschgerechtig-
gischer, psychischer und sozialer Probleme und drittens,
keit, um nur die wichtigsten zu nennen.
dass sich die Operationen des Verstehens in Termini der
Was soziale (und andere) Bedürfnisse betrifft, so gehören Begrifflichkeit formulieren lassen, mit der professionelle
nicht nur chronische Bedürfnisversagungen zu den zu bear- Handlungen beschrieben werden, zu denen mit dem Be-
beitenden Problemen. Die Respektierung sozialer Bedürfnis- schreiben, Erklären und Prognostiziern auch jene der Basis-
se ist vielmehr eine Bedingung, jenseits derer die Ziele der wissenschaften gehören, so dass damit auchder Ort be-
Sozialen Arbeit, da diese ohne die Kooperation der Klienten schrieben ist, wo wissenschaftliches Wissen mit Hilfe von
nicht möglich ist, unerreichbar bleiben. Die Berücksichtigung Professionellen auch in der Alltagspraxis genutzt werden
sozialer Bedürfnisse in der Sozialen Arbeit ist m.a.W. kein kann. Damit unterscheiden sich in dieser Sicht viertens
irrationaler Wunsch von „Gutmenschen“ sondern durch die Wissenschafter, Professionelle und Laien nur im Hinblick auf
Gesetzmässigkeiten, denen ihre Gegenstände unterliegen, den Typ des Wissens, mit dem sie operieren, während die
eine Notwendigkeit. Grundstruktur dieses Wissens für alle dieselbe, und damit
zumindest idealiter, echte Kommunikation möglich ist.
Was die Sprach- und Kommunikationsfähigkeit und das
damit zusammenhängende Selbstbewusstsein betrifft, Soziale Arbeit ist in der Sicht des Wissenschaftlichen
kommt in diesem Zusammenhang die Allgemeine Normati- Realismus mit anderen Worten eine Profession,, die in
ve Handlungstheorie zusätzlich als methodische Ressource systematischer Weise hermeneutische Operationen
ins Spiel, denn sie ist auch der Kern der Methode des Verste- nutzt, ohne dass sie dabei zurückgreifen muss auf die
hens. Dies, in dem sie nicht nur Mittel der Strukturierung geisteswissenschaftlichen hermeneutischen Lehren.
professioneller Handlungen auf der Grundlage einer Wert- Deren effektive Entwicklung in geisteswissenschaftli-
und Wissenstheorie ist, sondern auch als Modell der (maxi- cher Form erwies sich schon vor bald hundert Jahren
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 18
Es gibt m.a.W. nicht nur eine Einheit der Basiswissen- Dahms, H.-J. (1994). Der Positivismusstreit. Die Auseinanderset-
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Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 20
Anhang
A. Basiswissenschaften
I. Der Wissenschaftsbegriff des Wissenschaftlichen Realismus
II. Die Wissenschaftliche Methode
III. Werte und Qualitätskriterien der Wissenschaften
IV. Bemerkung zum Korrespondenzbegriff der Wahrheit:
B. Handlungswissenschaften
C. Sozialarbeitswissenschaft
A. Basiswissenschaften
w = <C, G, B, A, F, H, P, E, Z, M>
18
Ein n-Tupel ist eine geordnete Menge mit n Elementen (Anmerkung
W.O.)
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 23
12. Die Mitgliedschaft in jedem der letzten acht Koordinaten von w verändert
sich, und sei es nur langsam, als Resultat von Forschung in w und in ver-
wandten Bereichen.
Die ersten drei Koordinaten des 10-Tupels bilden den materiellen Rahmen
einer wissenschaftlichen Disziplin, während die letzten sieben den begriffli-
chen Rahmen bilden. (Letzterer entspricht einer der vielen Bedeutungen
von Kuhns vagem Begriff des Paradigmas.) Im Fall der ersten drei Koordi-
naten sprechen wir vom materiellen Rahmen, weil sowohl die Forscherge-
meinschaft als auch die sie beherbergende Gesellschaft konkrete Systeme
sind, und der Gegenstandsbereich B eine Menge materieller Dinge ist. (Wir
listen C und G hier explizit auf, damit wir nicht aus den Augen verlieren,
dass Erkenntnis keine eigenständige Existenz hat, sondern eine Aktivität
realer Personen in einem konkreten sozialen Umfeld darstellt.) Die übrigen
sieben Koordinaten hingegen umfassen begriffliche Objekte.
Schliesslich sagen wir, dass eine Disziplin, welche die obigen zwölf Bedin-
gungen nur partiell erfüllt, eine Protowissenschaft darstellt. Wenn diese in
ihrer Entwicklung auf die Entwicklung aller zwölf Bedingungen zusteuert,
können wir von einer emergierenden oder sich entwickelnden Wissenschaft
sprechen. Erfüllt eine Disziplin die obigen Bedingungen nicht, handelt es
sich um eine Nichtswissenschaft. Dabei ist das Adjektiv ‚nicht wissenschaft-
lich‘ keineswegs wertend gemeint, sondern beschreibend. Abwertend hin-
gegen ist das Adjektiv ‚pseudowissenschaftlich‘, das wir für Disziplinen
benutzen, die als wissenschaftlich verkauft werden, obwohl sie nicht wis-
senschaftlich sind. Man denke etwa an den „wissenschaftlichen“ Kreatio-
nismus (...).“ (Mahner und Bunge 2000: 181f.)
Hierzu zwei Bemerkungen
Erstens ist der hier formulierte Begriff einer Disziplin auf alle Wissenschaften
anwendbar. Die einzelnen Wissenschaften (Disziplinen) unterscheiden sich
danach lediglich in ihren sozialen Eigenschaften (Einbettung in die Gesell-
schaft und Struktur der Scientific Community), sowie und vor allem in ihrer
inhaltlichen Orientierung, wie sie in den Punkten 6-8 zum Ausdruck kommt.
Zweitens und insbesondere ist nach dieser Sicht die wissenschaftliche Methode
(Punkt 10) zur Untersuchung aller Arten von Systemen geeignet, d.h. auch von
(bio)psychischen und von sozialen Systemen. Damit widerspricht der Wissen-
schaftliche Realismus den Geisteswissenschaften, die behaupten, dass es
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 25
Eine Methode ist ein System von Regeln zur Lösung eines praktischen oder
kognitiven Problems. Die Wissenschaftliche Methode kann als Abfolge fol-
gender Operationen dargestellt werden (zitiert nach Mahner & Bunge 2000:
74f.):
1. Finde ein Problem, eine Fragestellung (z.B. eine Lücke in einem bestimmten
Wissensgebäude). Ist die Fragestellung unklar, gehe zum nächsten
Schritt über, anderenfalls gleich zu Schritt 3.
2. Formuliere die Fragestellung klar und eindeutig, wenn möglich in mathema-
tischer Form.
3. Suche nach Informationen, Methoden oder Instrumenten, die zur Beantwor-
tung der Fragestellung relevant sein können. D.h. prüfe, was schon be-
kannt ist, um zu sehen, ob es hilft, das Problem zu lösen.
4. Versuche, das Problem mit Hilfe der gesammelten Mittel zu lösen. Sollte die-
ser Versuch fehlschlagen, gehe zum nächsten Schritt über; wenn nicht,
weiter zu Schritt 6.
5. Erfinde neue Ideen (Hypothesen, Theorien oder Methoden), produziere
neue empirische Daten oder entwirf neue Experimente oder Artefakte,
mit deren Hilfe das Problem möglicherweise lösbar ist.
6. Beantworte die Fragestellung (exakt oder näherungsweise) mit Hilfe der
vorhandenen begrifflichen oder materiellen Mittel.
7. Leite Folgerungen aus der bisherigen Antwort ab; besteht die Antwort in
neuen Daten, untersuche, welche Konsequenzen sie für das bereits vor-
handene Wissen haben; besteht die Antwort in einem neuen Experiment
oder Artefakt, prüfe deren möglichen Gebrauch oder Mißbrauch.
8. Prüfe die vorgeschlagene Lösung. Ist die (provisorische) Lösung eine Hypo-
these oder Theorie, prüfe, ob die Vorhersagen tatsächlich eintreffen;
handelt es sich um neue Daten, versuche, sie durch alternative Metho-
den zureplizieren; handelt es sich um neue Methoden oder Artefakte,
teste, wie sie sich in der Praxis bewähren. Ist das Ergebnis unbefriedi-
gend, gehe zum nächsten Schritt, sonst zu Schritt 10.
9. Korrigiere die fehlerhafte Lösung, indem du das ganze Verfahren wie-
derholst oder indem du alternative Annahmen oder Methoden verwen-
dest.
10. Untersuche die Wirkung, die die Lösung auf das bestehende Hinter-
grundwissen hat, und formuliere neue Fragestellungen, die sich aus ihr
ergeben.
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 27
Die Überprüfung von der Wahrheit von Aussagen (Theorien) besteht so-
wohl im Testen ihrer internen und externen Widerspruchsfreiheit (oder lo-
gischen Konsistenz) als auch ihrer faktischen Wahrheit – die sich oft als nur
näherungsweise erweist19. Ein solcher Test mag begrifflich (logisch), empi-
risch oder beides sein. Kein Item – ausser solchen in Konventionen und ma-
thematischen Formeln – kann von empirischen Tests ausgenommen wer-
den. Noch gibt es überhaupt Wissenschaft ohne Tests – oder Wissenschaft
ohne Suche nach und Nutzung von Mustern.
19
Die klassische Wissenschaftsphilosophie kennt nur den zweiwertigen
Begriff von Wahrheit, während gezeigt werden kann, dass auch partielle
(nicht relative) Wahrheiten existieren (Bunge, 2003: 237ff.).
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 28
Zirkelfreiheit
Interne Konsistenz
Formale Wahrheit
(*Widerspruchsfreiheit)
Notwendige Externe Konsistenz
Eigenschaften
Prüfbarkeit
Empirische und
Erklärungswert
faktische Wahrheit
Testerfolg
Qualitätsdimension
en von erfahrungs- Allgemeinheit
wissenschaftlichen Tiefe
Empirische und
Theorien
faktische Wahrheit Genauigkeit
Prognosefähigkeit
Wünschbare
Eigenschaften Reproduzierbarkeit
Reproduzierbarkeit Fruchtbarkeit
und weitere
pragmatische Methodologische
Kriterien Einfachheit
Anschaulichkeit
1. Formale Wahrheit
Zirkelfreiheit
Eine Theorie darf keine Zirkeldefinitionen enthalten, keine zirkulären Ar-
gumente, Beweise, Begründungen, also keine vitiösen Zirkel.
Beispiel für ein zirkuläres Argument: Diese Theorie ist wahr. Woran erkennt man
das? Daran dass sie wissenschaftlich ist. Was sind wissenschaftliche Theorien? Das
sind Theorien, die wahr sind. Beachte, dass Zirkelschlüsse oft nicht so gut erkenn-
bar und häufig sind.
20
Ein Beispiel ist Niklas Luhmanns Systemtheorie, die besagt: "Soziale Systeme
(bestehen) aus Kommunikation (...) und aus nichts als Kommunikation (...). Kom-
munikationen produzieren dabei Kommunikationen durch sinnhafte Referenz auf
Kommunikationen" (Luhmann, 1987a: 113). "So wie die Selbstreproduktion sozia-
ler Systeme dadurch, dass Kommunikation Kommunikation auslöst, gleichsam
von selber läuft, wenn sie nicht schlicht aufhört,(...).“ (Luhmann, 1987b: 296)
Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit: Was ist Wissenschaft? 30
B. Handlungswissenschaften
C. Sozialarbeitswissenschaft
Die Struktur einer professionellen (rationalen) Handlung ist Thema der
Allgemeinen Handlungstheorie und kann in Form eines grafischen Modells
dargestellt werden.
Evaluation
Beschrei- Erklä- Prognose Bewer- Probleme Ziele Plan Hand-
bung rung tung Bild des ange- lung
Nicht integriertes bzw. integriertes Bewertetes Gegen- Bild der zu verän- strebten künftigen Bild künftiger
Vergangenheits- und Gegenwartsbild Zukunftsbild warts- & Zukunftsbild dernden Fakten Zustandes Handlungen
c)
Beschreibe die Erkläre die Prognostiziere Bewerte die Bestimme zu ver- Bestimme die zu Entwickle Bild Verändere
interessierenden Fakten und ihre zu erwartende prognostizierten ändernde proble- zu erzeugenden zukünftiger eige- Fakten
Fakten Beziehungen Fakten Fakten matische Fakten künftigen ner Handlungen
Fakten
Handlungs-
Wie2?
erfolg?
Was? Woher? Weshalb ? Wohin ? Was ist gut / was ist nicht gut? Woraufhin? Wie1? Womit?
(Mechanismen) int. Ress.:
Metho- Externe
Fertigkeiten
a) den Ressour-
cen d)
"Anlassproblem"
I. Situationsbeschreibung und -erklärung plus Prognose III. Bewertung & Problemdefinition III. Zielsetzung &Planung IV. Entscheidung V. Eva-
& Handlung luation
Legende: a) Anlassproblem, Handlungsphasen & handlungstheoretische "W-Fragen"; c) Handlungstheoretische Operationen des professionellen Handelns (Problemlösens);
b) innere Ressourcen des oder der Handelnden: Bilder, Codes, Werte; d) Bekannte und verfügbare ext. Ressourcen, einschliesslich der inneren u. äusseren
Ressourcen der Klient/innen bzw. Patient/innen
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Literatur
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