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JACQUE DERRIDA

24. JACQUES DERRIDA diese selbst in ihrer Struktur teilbar ist, wobei sie ganz und gar einzig, uner­
DIE· FOT OGRAFIE ALS KOPIE, ARCHIV UND SIGNATUR setzbar und mit sich selbst identisch bleibt. Die Struktur der Gegen wart
Im Gespräch mit Hubertus v. Amelunxen und Michael Wetzel (1992) muß sich teilen, damit - im Gegensatz zur verlorenen Gegenwart - das
Archiv bleibt und sich darauf wie auf einen nicht-reproduzierbaren Refe­
renten, einen unersetzbaren Ort bezieht.
A: Skiagraphie bedeutet Schattenschrift, die Abwesenheit des Referenten. Sie Ich weiß nicht, ob uns das in die spezifische Fragestellung der Fotografie
sprechen davon in Ihrem Werk Memoires d'aveugle1: Die Skiagraphie einführt und ob dieses allgemeine Gesetz nicht für jedes Archiv gilt, jeden­
scheint den Abdruck einer abwesenden Gegenwart vorwegzunehmen. Der falls für alle Phänomene von Unterschrift im weitesten Sinne. Es stimmt,
Erfinder des fotografischen Negativs, William Henry Fox Tal bot, hatte seine daß die Fotografie dieses Wunder als Technologie des Wunders ausführt,
Erfindung Skiagraphie oder »words of light« genannt. Er verfertigte 1837 das heißt, indem sie zu sehen gibt. Und natürlich besteht, wie man oft
ein fotografisches Klischee mit der Aufzeichnung des Alphabets, dem Ort bemerkt hat - Barthes hat darauf insistiert -, das, was das Spezifische des
und dem Datum, als ob er zeigen wollte, daß das ganze Alphabet ins Bild Fotogramms auszumachen scheint, in diesem offensichtlich irreduzierbaren
eintreten könne und die Fotografie das erste optische Medium sein würde, Anvisieren des Referenten und zwar in dem Maße, wie er nur einmal statt­
das in die Domäne der Schrift eintritt und die Schrift in das Wesen selbst gefunden hat. Die Fotografie scheint mit einem Wort zu sagen und sich dik­
des Bildes eintreten läßt. In Memoires d'aveugle sprechen Sie von der Skia­ tieren zu lassen: Dies hat stattgefunden und nur einmal stattgefunden. Dies
graphie, von der Schrift des Schattens als gleichzeitigem Gedächtnis, als ist die Reproduktion von dem, was nur einmal stattgefunden hat.
Gedächtnis der Gegenwart, als Teilung des Augenblicks. Aber woher Die Referenz bzw. der Referent scheint hier unauslöschlich. Man könnte
kommt dieses Gedächtnis des Augenblicks, dieses Archiv der Gegenwart? ihn nicht mehr einklammern. Das is.t es, was Barthes aus guten Gründen
D: Es handelt sich um die Frage des Gesich tspunk ts, und Sie berühren die sagt. Mir scheint, daß ich in dem kleinen Text, den ich Barthes gewidmet
Pointe der Schwierigkeit. Ist es möglich, anders zu denken als ausgehend habe, einen Vorbehalt diesem Gegenstand gegenüber offenlasse. Ich glaube
von einem Gesich tspunkt des Punktes? Aber ist es möglich, auch von einem zu verstehen, was Barthes meint, und was er vorbringt, scheint mir not­
Gesich tspunkt aus zu denken? Wie kann man sich ein unmittelbares Archiv wendig. Ich frage mich allein, was dabei für die Fotografie eigentümlich ist.
vorstellen, gewissermaßen eine Gegenwart, die aus ihrem eigenen Gedächt­ Jeder Originaleindruck teilt sich als Archiv und bewahrt seine Referenz, das
nis oder ihrer eigenen Reproduktion bestünde? In diesem Fall, der mehr Originalmanuskript eines Briefes oder eine Unterschrift zum Beispiel. Was
und etwas anderes als ein Fall ist, würde sich die Erfahrung selbst, die Erfah­ passiert in diesen letzten Fällen, wenn die Fotografie dieses Original repro­
rung von dem, was man Gegenwart nennt, als Selbstbewahrung herausbil­ duziert, ohne einen einzigartigen Moment der Welt zu sehen zu geben, zum
den, sicherlich aber auf eine Weise, bei der etwas verloren ginge und etwas Beispiel bei der Fotokopie dieser Originalunterschrift? Die Fotokopie ist
vom selben Ereignis sich bewahrte, vom Punk t des Ereignisses, von seiner doch eine Fotografie, nicht wahr?
Pointe. Es geht in der Tat um die Pointe und um die im höchsten Maße A: In der Tat zieht die Fotokopie wie die Fotografie die Konturen nach und
zugespitzte, pointierte Frage zu diesem Sujet. Denn im allgemeinen wird der reproduziert das Original auf dem Wege des Lichts. Aber während die Foto­
Augenblick als eine Pointe, als stigme, als Pu nkt [dt. im Original] konzi­ grafie den Raum fragmentiert und zur Ruine werden läßt, scheint die Foto­
piert, und die Pu nk tualität des Punktes wäre zunächst unteilbar. In der kopie das Original in der Verdoppelung zu bewahren. Jetzt bietet uns die
Situation nun, auf die wir angespielt haben, ginge es paradoxerweise um neue Technologie der Fotografie digitalisierte Kameras. Der Träger ist digi­
eine Erfahrung des Einzigartigen, des Nicht-Wiederholbaren, des Einma­ tal, und man hat eine Diskette mit 24 oder 50 und mehr Bildern; wie mit
ligen, das dennoch in dem Maße teilbar wäre, wie sich ein Archiv davon einem Tonband oder einem Videogerät kann man die Aufzeichnung löschen
gewissermaßen abhöbe: Ein Archiv bliebe, es überlebte, während dasjenige, oder auf einem Fernsehbildschirm zeigen. Es gibt kein Negativ mehr; die
wovon es Archiv ist, verschwunden ist - ein normales Phänomen, aber ohne für den Computer wohl lesbare Spur wird für das menschliche Auge
daß gleichwohl hier das Archiv einfach nur Kopie wäre, Re-Produktion unsichtbar, bis zu einem Punkt, wo das Referentielle in Frage gestellt wird.
oder Abdruck einer anderen Gegenwart. Vorausgesetzt, daß das Archiv Was wäre dann der zukünftige Status des Referenten in einer Bildproduk­
durch die Gegenwart selbst konstituiert wird, ist es also notwendig, daß tion, die in Richtung einer wiederholenden Entwertung wiese?

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D: Es geht vielleicht um den Namen »Fotografie« und seinen Bezug auf einen Hinsicht noch eine Aufzeichnung ohne produktive Einschreibung. Ist es
Begriff der Fotografie. Seinen Bezug auf eine vielleicht endliche Geschichte notwendig, daran zu erinnern, daß es in der Fotografie alle Arten von Initia­
dieses Begriffs, jedenfalls auf die Endlichkeit dieser Geschichte. Darauf tiven gibt: nicht allein die Wahl des Ausschnitts, sondern auch des Gesichts­
bezog sich meine Beunruhigung gerade. Verdient denn, ausgehend vom punkts, der Belichtung, der Blende, der Überbelichtung und der Unter­
Ereignis und der von Ihnen angesprochenen technischen Möglichkeit, das, belichtung etc. Diese Eingriffe waren vielleicht vom gleichen Typus wie
worüber wir verfügen, noch den Namen »Fotografie«? Gehört es zur glei­ heute diejenigen einer digitalen Verarbeitung. Auf jeden Fall, in dem Maße,
chen Ordnung wie das, was mit der vorhergehenden Technik möglich war wie sie das Bild produzierten und Bilder konstituierten, modifizierten sie
und mit einem Träger aus Papier? Wenn man auf diese Weise auslöschen die Referenz selbst, führten sie hierin Vielheit, Teilbarkeit, Ersetzbarkeit,
kann, wobei der Abdruck nicht länger von einem »Träger« [support] ge-1 Austauschbarkeit ein. (Das ist vielleicht der Ort eines Bruchs zwischen dem
ertragen [supporteeJ wird, auf jeden Fall vom Träger einer festen Substanz Fotografischen und einem gewissen Intuitionismus, einem gewissen Prinzi­
aus Papier, so bedeutet dies, daß man es nicht mehr mit einer Bildauf­ piellen der phänomenologischen Prinzipien. Und ich frage mich, wie man
zeichnung zu tun hat, obwohl man etwas aufzeichnet: Die Bildaufzeich nu ng in dieser Hinsicht die von Barthes empfundene Notwendigkeit interpretie­
würde untrennbar von einer Bildproduktio n und verlöre so die Referenz auf ren soll, Die helle Kammer im Zeichen einer Rückkehr zu einer - Sartri­
einen äußeren und einmaligen Referenten. Man hätte es - wie es vielleicht schen - Phänomenologie des Bildes und des Imaginären einzuschreiben?)
immer schon der Fall war, wenn man sich Rechenschaft darüber gibt - mit Rückblickend verpflichtet uns die digitale Verarbeitung des Bildes mehr
einer fotografischen Performativität zu tun, einer Sache, die einige in Auf­ denn je (denn wir hatten es dafür nicht nötig), die Referentialität oder die
ruhr bringen kann und die auf einzigartige Weise das Problem der Referenz unterstellte Passivität in bezug auf den Referenten vom Beginn der ersten
und der Wahrheit kompliziert, ohne es zu lösen. Einer Wahrheit, die - wie Epoche - wenn man so sagen kann - der Fotografie an neu zu denken, vor­
Augustinus gesagt hätte - zu machen wäre und nicht weniger zu entdecken, ausgesetzt, daß es eine, eine einzige gibt, denn seit dieser »ersten Epoche«
zu enthüllen, zu erklären, auszustellen, zu entwickeln wäre. Einige Filme­ gab es bereits technische und folglich strukturelle Differenzierungen. Die
macher, zum Beispiel Wim Wenders oder Greenaway, benutzen Techniken Frage der Epoche wie die der epoch ewäre neu zu betrachten . . .
der Bildproduktion, wo das wesentliche Material nicht einfach aus der Bild­ A: In der Fotografie bestimmte der Träger die Zeit, die Zeit der Pose; die Sen­
aufnahme besteht, obwohl es sie weiterhin gibt. Die Bildaufnahme weicht sibilität des Trägers war ein aktives Handlungselement für das Werden des
zurück vor der Bildproduktion mit irgendwelchem Material. Man mimt Bildes, das konstitutiv für die Zeit und für die werdende Vergangenheit des
unter diesen Umständen die Fotografie oder selbst die Kinematografie, fotografischen Bildes war.
wobei man das Grafische zu einer gewissen Vollendung führt, zu etwas, was D: Verweilen wir bei dieser Frage der Zeit. Eine Chronologie des Augenblicks,
einige als eine höhere Dignität erachten, weil es mehr Produzierendes und die Logik des punktuellen stigme beherrscht die barthesianische und übri­
»performativ« wird als Aufzeichnendes und »konstativ« oder »theorema­ gens geläufige Interpretation des unauslöschlichen Referenten, von dem, was
tisch« (eine Sache des Blicks und des Gesichtspunktes): Es produziert den nur einmal stattgefunden hat. Diese Einmaligkeit [dt. im Original] setzt jen­
Gesichtspunkt eher, als daß es sich darin niederläßt oder ihn einnimmt. Geht seits aller Analyse eine unauflösliche Einfachheit [simplicite indecomposa­
das nun aus dem hervor, was man einstmals Fotografie oder Kinematogra­ ble] einer Zeit des Augenblicks voraus: den A ugenblick [dt. im Original und
fie nannte, oder wird dadurch eine neue Kunst eingeführt, für die ein neuer frz.: clin d'ceil] der Aufnahme. Aber wenn das »eine einzige Mal«, wenn
Name erfunden werden sollte? Diese Frage kann für uns insofern interes­ das einzige, erste und letzte Mal der Aufnahme schon eine heterogene Zeit
sant werden, als sie dieser Novität Rechnung trägt, aber auch uns darüber einnimmt, setzt dies eine aufschiebende und unterschiedene Dauer voraus:
unterrichten kann, was die Struktur der alten Technik bereits war. Kann in irgendeinem Fragment von Sekunden kann das Licht changieren, man hat
man nicht sagen, daß es bereits in der Fotografie im klassischen Sinne eben­ es hier mit einer Teilbarkeit des ersten Mal zu tun. Die Referenz erweist
soviel Produktion wie Aufzeichnung von Bildern, Akt wie Blick, perfor­ sich als komplex, sie ist nicht einfach [simple], und innerhalb jener Zeit dort
matives Ereignis wie passive Archivierung gab? Der unverzichtbare Rekurs können sich Unter-Ereignisse bilden, Differenzierungen, mikrologische
auf einen bestimmten Typus von Träger (nichtelektronischer Natur: das Modifizierungen, die Anlaß geben zu möglichen Kompositionen, Dissozia­
Papier zum Beispiel) bedeutete nicht eine absolute Passivität in dieser tionen und Rekompositionen, zu »Trickaufnamen«, wenn Sie so wollen, zu

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Kunstgriffen, die definitiv mit dem vorausgesetzten phänomenologischen widerstreitbar markiert. Sie ist für uns auch eine Auflage, das Wesen der
Naturalismus brechen, der in der fotografischen Technik das Wunderwerk tech ne neu zu denken.
einer Technik sah, die sich selbst auslöscht, um uns die natürliche Reinheit W: Wir berühren hier nicht zuletzt die entscheidende Frage des Gedächtnisses.
[virginitel, die Zeit selbst, die unveränderbare und un-wiederholbare [in­ Ausgehend von der Fotografie läßt sich gleichermaßen zeigen, daß dieser
iterable ] Erfahrung einer vor-technischen Wahrnehmung zu geben (als hätte Aufzeichnungsakt kein nur passiver Akt ist, sondern aus einer Verarbeitung
es dergleichen vorher gegeben). Sobald man die Berechenbarkeit der Zeit in des Materials, einer Informationsverarbeitung hervorgeht. Die Beziehung
der Wahrnehmung als Aufnahme berücksichtigt, sobald man die Zeit nicht zwischen Fotografie und Psychoanalyse, von der Sie in Rech t auf Einsich t3
als eine Folge von irreduziblen und atomistischen Augenblicken betrachtet, sprechen, ist verdichtet in jener Metapher, jenem Paradigma Freuds, dem
sondern als eine mehr oder weniger berechenbare differentielle Dauer, eine Wunderblock, mit dem er gezeigt hat, daß man, um die Spur zu bewahren,
Dauer, die korrelativ zu einer Technik ist, kompliziert sich die Frage der sie erneuern muß. Damit haben wir das, was heute Informationsverarbei­
Referenz und folglich auch die Frage der Kunst, der Fotografie als tech ne. tung genannt wird, das heißt, daß man, um Informationen zu erhalten,
Denn eine Sache, die Barthes nahelegt, eine zumindest außerhalb seines Daten verarbeiten muß. Und dabei sehe ich in Ihrem Diskurs einen gewis­
reichhaltigen und bewegenden Diskurses über den Tod, das studium und sen Vorbehalt gegen Barthes' Ontologismus der fotografischen Aufnahme,
das punctum (den Punkt [le point], das Spießen [poindre] , das Packende zumindest wenn man die zeitliche Unterscheidung macht zwischen dem Akt
[le poignant] etc.), ist das Jenseits der Kunst: der Aufnahme und dem, was in der Fotografie Entwicklung heißt: Die
Welcher Art auch immer die Kunst des Fotografen sei, also sein Ein­ Kunst interveniert auch im Entwicklungsprozeß, gewissermaßen der Ver­
greifen, sein Stil, es gibt einen Punkt, an dem der fotografische Akt nicht arbeitung der Daten. Man hat es hier mit einer aufgeschobenen Zeit bzw.
ein künstlerischer Akt ist, ein Punkt, wo er passiv aufzeichnet. Und diese einer Zeit des Aufschubs zu tun, mit der sich die Frage der Intensität stellt
hervorstechende Passivität [passivite poigna nteJ stellte die Chance dieses und die von Entscheidungen: Man muß im Moment der Entwicklung ent­
Bezuges zum Tod dar, sie ergreift eine Realität, die da ist, die da gewesen scheiden, abgrenzen, ausschneiden. In bezug auf die Zeitlichkeit der Auf­
ist, in einem unauflöslichen Jetzt. Man muß mit einem Wort zwischen der nahme, der objektiven Referenz, gibt es hier das Eingreifen einer anderen
Kunst und dem Tod wählen. Oder noch anders zwischen einer mit der Tech­ Zeitlichkeit, eines gewissen Kontextes, eines Be-Deutens.
nik verbundenen Kunst einerseits und einer Kunst andererseits wählen, die D: Der Prozeß beginnt hier vor dem Prozeß. Was man im Englischen the
über Kunst und tech ne hinausginge, wobei sie deren authentische Bestim­ process nennt, die Entwicklung des fotografischen Negativs und der so »auf­
mung erfüllte, um die Wahrheit selbst zu bewerkstelligen (in einem Sinne, genommenen« Sicht, dieser process wird niemals darauf gewartet haben.
der dem nahe ist, was Heidegger darüber in Ursprung des Kunstwerkes ver­ Gewiß, man müßte diese ganze Frage einer zugleich passiven und aktiven
lauten läßt). Das wäre die Schönheit oder Erhabenheit der Fotografie, aber Auto-Affektion vom Gesichtspunkt der Zeit aus, vom Gesichtspunkt der
ihre fundamental nicht-künstlerische Qualität: Auf einen Schlag wäre man Zeit der Aufnahme aus neu aufarbeiten. Und hierfür müßte man sich ent­
einer im Grunde nicht beherrschbaren Erfahrung ausgeliefert, dem, was nur schlossen der großen Heidegger'schen Überlegung - im Fahrwasser und in
einmal stattfindet. Man wäre unter diesen Umständen passiv und expo­ interpretativer Wiederholung von Kant - gegenüber zumindest klarwerden.
niert/belichtet2, der Blick selbst wäre der exponierten/belichteten Sache Wir werden es nicht in einem Gespräch noch in einer Fotografie tun, so
exponiert, und zwar in der Zeit ohne Dichte einer Null-Zeit, in einer Belich­ gelehrt und so wenig in Klischees befangen sie auch wäre. Wenn die Tech­
tungszeit, die sich auf den Punkt der Augenblicklichkeit reduziert. Die nik vom Augenblick der Aufnahme und der Belichtungszeit an eingreift,
Kunst wäre selbst durch eine Nicht-Kunst bedingt, oder - was aufs gleiche dann gibt es keine reine Passivität mehr, gewiß, aber das besagt nicht ein­
hinausläuft - durch eine Hyper-Ästhetik, durch eine in gewisser Hinsicht fach, daß die Aktivität die Passivität zum Verschwinden bringt. Es handelt
unmittelbare und natürliche Wahrnehmung: eine unmittelbar reproduzierte, sich um eine andere Struktur, es handelt sich um eine Art von Akti-/Pas­
unmittelbar archivierte Wahrnehmung. sivität, wenn ich es so in einem Wort ausdrücken kann. Selbst wenn die
Aber wenn man annimmt, daß es eine Dauer gibt, daß diese Dauer durch Technik auf immer kompliziertere und differenziertere Weise eingreift, so
eine tech ne konstituiert wird, ist die Totalität des fotografischen Aktes wenn fährt sie fort, die Passivität auf eine gewisse Weise zu behandeln, mit ihr zu
nicht der Ordnung der techne zugehörig, so doch zumindest von ihr un- verfahren, mit ihr zu verhandeln. In der Öffnung für das Licht und für das

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vorausgesetzte Objekt macht die Fotografie nicht alles. (Die Frage der) Wenn die digitale Fotografie ohne »Untergrund« [subjectile ]4 uns erlaubt,
»Materie« bleibt, so viele Anführungszeichen man auch immer setzt, gerade rückblickend zu denken, was die Fotografie mit »Untergrund« hätte sein
als ein Rest, der sich nicht auf eine gegebene Substanz reduziert noch selbst können, so führt uns diese Reflexion über die zeitliche Auto-Affektion in
auf eine onto-logische Präsenz eines Präsent-Seienden, o n, oder eines Ob­ der Wahrnehmung (und es gibt ebenso Wahrnehmung der Zeit wie eine Zeit
jekts (als Vorhandenes [dt. im Original]), ob es nun das Objekt vor dem aller Wahrnehmung, sei es eines Bildes, des Sichtbaren und des Räumlichen)
Objektiv wäre (die fotografierte Sache) oder das Träger-Objekt des Ab­ gleichermaßen rückblickend dazu, das Gleiche von dem zu sagen, was uns
drucks, die Fotografie, die man in der Hand hält oder vor Augen und deren zunächst vor-technisch scheint, das heißt die Wahrnehmung; man kann nicht
Exemplare man vervielfältigen kann. mehr Wahrnehmung und Technik gegenüberstellen; es gibt keine Wahrneh­
W: Aber vielleicht muß man hier auf die Metapher der Bewaffnung zurückge­ mung vor der Möglichkeit der prothetischen Wiederholbarkeit [iterabilite];
hen, die Metapher einer Armierung der Sinne durch die Medien. In dieser und diese einfache Möglichkeit markiert im voraus die Wahrnehmung und
Metapher wird die technische Spontaneität als Verlängerung, als Prothese die Phänomenologie der Wahrnehmung. Es gibt bereits in der Wahrneh­
gedacht. Wenn man nun die neue Medientechnologie in der Ordnung die­ mung Verfahren der Auswahl, der Belichtungsdauer, des Filters, der Ent­
ser Prothetizität denkt, wie läßt sich dann eine Dialektik von Spontaneität wicklung; der psychische Apparat funktioniert auch wie ein fotografischer
und Passivität denken? Einschreibungs- und Archivierungsapparat. Erinnern wir uns an den Wu n­
D: In meinem analytischen Vorgehen widersprechen die Logik der Prothese derblock [dt. im Original] von Freud. Was ich darüber vor langer Zeit zu
und des ursprünglichen Supplements natürlich der geläufigen Auffassung sagen versucht habe, und zwar in bezug auf die Schrift, betraf genauso die
von der substitutiven Prothese. Fotografie.
W: Offensichtlich. Und deshalb muß man meiner Meinung nach die Beziehung Rückblickend, in diesem historisch-technischen Rückspiegel [retroviseur],
zwischen Aktivität und Passivität ausgehend von einer interzeptiven sollte man also die Analyse oder Beschreibung von dem, was der Technik
Medientechnik neu denken, das heißt einer Technik, die die Rolle eines angeblich vorhergegangen ist, oder dem, was man die fotografische Technik
nachträglichen Ursprungs der Differenz Aktivität/Passivität spielt und die nennt, wieder kompliziert machen. Man sollte unter diesen Umständen
Differenz produziert, indem sie reproduziert. entlang dieses Weges zurückgehen bis zur platonischen Skiagraphie und zu
A: Und wenn die techne der Fotografie uns gerade veranlaßt, diese klassische jeder Schrift des Schattens - vor der modernen, »Fotografie« genannten
Gegenüberstellung zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Gabe und Technik.
Empfang nicht zu machen? Was man als ein Spiel von Schatten und Licht beschreibt, ist schon eine
D: In einer Sprache, die zugleich diejenige der geläufigen Sprache und der Phi­ Schrift. Die Legende von Dibutade, die nichts als den Schatten ihres Gelieb­
losophie ist, werden »Passivität« und »Aktivität« einander gegenübergestellt. ten auf der Mauer sieht, zurückbehält, noch bevor dieses Verfahren selbst
Aber die Kantisch-Heidegger'sche (zweifellos auch Husserl'sche) Analyse, durch die Zeichnung dargestellt wird - ist es nicht bereits ein Spiel zwi­
auf die ich augenblicklich angespielt habe, betrifft eine Zeitlichkeit als reine schen Licht, Schatten und dem Archiv? Mit dieser Unterscheidung in der
auto-affektive Synthese, in der die Aktivität selbst Passivität ist. Diese Pro­ Natürlichkeit, das heißt dem Schatten im Licht, dem Schwarz-Weiß,
blematik ist unverzichtbar, selbst wenn man wenig mit ihr in den Kreisen erscheint so die erste technische Möglichkeit für die Wahrnehmung selbst.
vertraut ist, wo ein kompetenter Diskurs über die Fotografie geführt wird. Der Unterschied im Licht, der Belichtungsunterschied, wenn Sie so wollen,
Die Vermittlungen sind zahlreich, gewiß, schwierig und feinsinnig, aber die der nicht zwangsläufig der Unterschied zwischen Tag und Nacht ist, das ist
Verbindung mit der Besonderheit des Fotografischen kommt vielleicht bes­ vielleicht die erste Möglichkeit der Spur, des Archivs und von alledem, was
ser - wenn auch auf indirekte .Weise - in der Tatsache zum Ausdruck, daß darauf folgt: das Gedächtnis, die Techniken des Gedächtnisses, die Mne­
diese Vermittlung über die Auto-Affektion als Zeitlichkeit, über den Sche­ motechnik etc.
matismus der transzendentalen Einbildungskraft verläuft. Es geht um das W: Das ist ein guter Moment, um hier auf eine Passage aus der Erzählung Le
Bild, die Produktion des Phantastischen, um eine produktive Einbildungs­ chef-d'ceuvre inconnu [Das ungekannte Meisterwerk] von Balzac einzuge­
kraft in der Konstitution selbst der Zeit und in der ursprünglichen Zeit­ hen, wo innerhalb der Diskussion über die perfekteste Malerei die These
lichkeit. aufgestellt wird, daß es in der Natur keine Linie gäbe.5 Kann man sagen,

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daß die Linie einen Bruch darstellt, den Moment, wo die techne, die Tech­ wertet zugleich den Akt des Festhaltens. Wir haben es hier auch mit einer
nologie der Repräsentation erscheint? Art und Weise zu tun, die Frage des Todes anzugehen, denn es handelt sich
D: Die Frage der Linie führt uns wieder zurück zum Paradox der Zeit und der dabei gleichermaßen um ein Anhalten, einen Zug, der gleichermaßen den
Akti-/Passivität. Bei Aristoteles ist die Frage der Zeit verbunden mit der Kontakt zur Natur verliert, der verschwindet und sie als Entzug bestätigt.
Frage der gramme, was in diesem Fall zunächst die Linie bezeichnet. Über D: Ja, aber der Entzug- halten wir dieses Wort fest- bezeichnet zugleich das
die Differenz zwischen dem Licht und dem Schatten in der Natur, gewis­ Nach-Zeichen [re-marque] und das Verschwinden des Zugs: Die Markie­
sermaßen ihre Trennungslinie, würde Balzac sagen, daß es sich um keine rung ist hier entzogen. Die »große Kunst« dieses doppelten Entzuges -
Linie handelt. Die Linie taucht als solche auf, wenn der Zeichner zum Bei­ ebenso für die Fotografie wie für die Literatur, für die Malerei und für die
spiel mit seinem Stift einritzt oder einschreibt, selbst wenn er dabei einer Zeichnung - besteht darin, die Linie oder diesen Augenblick zu ergreifen,
natürlichen Linie folgt. Wenn Dibutade einer Linie folgt, ist sie aktiv, hand­ gewiß, aber beim Ergreifen ihn sich verlieren zu lassen, zu markieren, »daß
habt sie ein Instrument, eine Technik, aber ihre menschliche Aktivität das stattgefunden hat, verloren ist«, und daß alles, was man sieht, jetzt
besteht darin, sich passiv nach einer Linie zu richten, die bereits da ist. Und bewahrt und aufbewahrt sieht, das Verloren-Sein von dem ist, was sich ver­
folglich im Punkt, in der Bleistiftmine oder an der äußersten Spitze aus lieren muß, was anfänglich dem Verlust geweiht ist. Und die Signatur des
Metall oder Holz richtet sich die Aktivität nach einer Gegebenheit, sie Verlustes wäre markiert in dem, was bewahrt und nicht verliert, was (vor
schmiegt sich gewissermaßen der Passivität an, sie schmiegt sich dem Punkt dem) Verlust bewahrt. Man muß den Verlust als Verlust aufbewahren, wenn
an, wo sie passiv ist, sie folgt etwas, das im voraus gegeben ist. Ist es nun man so sagen kann. Das ist vielleicht die fotografische Emotion, das Ergrei­
aber die Linie, die gegeben ist? Das hängt davon ab, was man »Linie« nennt. fende, von dem Barthes spricht. Man bewahrt das Archiv von »etwas« (von
Aber die Möglichkeit der Differenz zwischen Licht und Schatten zieht eine jemandem wie von etwas), das einmal stattgefunden hat und das (oder der)
Linie, die ich darauf mit der Spitze meines Stiftes nach-ziehen kann. Wenn verloren ist, das man als solches bewahrt, als das Nicht-Bewahrte, eine Art
Dibutade Linien zieht, beginnt sie damit nachzuziehen. Und das Neu­ Kenotaph, mit einem Wort: ein leeres Grab. Aber gibt es Gräber, die nicht
zeichnen [remarque]6 des Nachziehens [retrace] ist zugleich aktiv und pas­ Kenotaphen sind? Und Fotografie ohne Kenosis?
siv. Aber die Möglichkeit dieser Wiederholung, diese Iterabilität markiert W: Das Präsent der Fotografie - im doppelten Wortsinne von Geschenk und
im voraus die Schwelle selbst der Wahrnehmung. Die Aktivität unterliegt Gegenwart/Präsenz- ist unter diesen Umständen immer ein falscher Schein.
einer gewissen Passivität. Letztlich ist diese Passivität aber nicht passiv hin­ Es ist das, was Rodin hatte sagen wollen, indem er feststellte, daß die Foto­
sichtlich irgendeiner Sache- dem Licht oder dem Schatten-, sondern hin­ grafie unfähig ist, die Linie in ihrem Entzug aufzunehmen, in ihrer Bewe­
sichtlich einer Differenz. Aktivität und Passivität berühren oder verzweigen gung oder ihrer Spannung. Umgekehrt hat er eine Art von choreografischer
sich entlang einer differentiellen Grenze. Es ist die Bewegung selbst der Schrift vorgeschlagen, die mit der statischen Linie der Momentaufnahmen
Spur: Sie [die Bewegung; A. d. Ü.] ist a priori fotografisch. Die Tatsache, bricht. Von daher versteht sich die Entgegensetzung zwischen Malerei und
daß sie nicht auf die Erfindung von dem gewartet hat, was wir seit mehr Skulptur als Medien einer intensiven, animierten Zeitlichkeit und der Foto­
als einem Jahrhundert Fotografie nennen, bedeutet nicht, daß diese Technik grafie, die vielleicht als chronologisches Medium mißverstanden wurde.
nicht ein irreduzierbares Ereignis und Wandeln ist. Aber man muß diese D: Man würde von einem anderen Archiv träumen: demjenigen der Mißver­
Irreduzierbarkeit auch vor dem Hintergrund dessen denken, was sie mög­ ständnisse, der Mißachtung und der Mißdeutungen. Es gibt jenen Text von
lich gemacht hat. Baudelaire, den Sie gewiß kennen, über Fotografie und Literatur. Fasziniert
W: Aber wenn man dieser historischen Linienführung folgt, kann man zugleich von der Fotografie, wollte er sie hinsichtlich der Malerei und Literatur
sagen, daß das Festhalten, das Festhalten IArretieren der Linie im Gegen­ abqualifizieren. Mir scheint, er glaubt nicht sehr an seine Darlegung, er ahnt
satz zur Natur steht. Wenn man zum Beispiel die Malerei Cezannes nimmt, eine irreduzible Neuheit, das Ereignis einer Kunst, die seine Rede über­
so sieht man in der Folge der Serien von Bildern zum gleichen T hema die bordet und die er im voraus beneidet ...
Anstrengung des Malers, die Linien festzuhalten, und zugleich wird er sich A: Mehr noch - wir denken hier nur Einschübe -, ich glaube, daß Baudelaire,
darüber klar, daß sie schon verschwinden. Der Satz Cezannes: »Man muß beunruhigt, die Fotografie fundamental durchdacht hat. Und er hat sie viel­
sich beeilen, alles fängt an zu verschwinden«, zeigt das Problem und ent- leicht als ein Falschgeld gedacht. Der Satz in Das falsche Geldstück, ein zen-

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traler Satz für das ganze Werk Baudelaires, wenn nicht für die Modernität: seine signierte Fotografie zu überreichen. Die »großen Männer« taten es,
»chercher midi a quatorze heures« (das Falsche zur falschen Zeit suchen I zum Beispiel Freud oder Heidegger. Gleich denen, die damit bedacht wur­
sich in unnötige Abwegigkeiten verstricken)l, scheint auf die Fotografie den, glaubten beide Seiten, daß dies das allerwertvollste Präsent, ein Sym­
abzuzielen. Baudelaire ist also gegen den Gebrauch, den man von der Foto­ bol ohnegleichen, ja sogar ein Bund wäre. Meistens handelte es sich um eine
grafie machte - die Industrie des Portraits -, aber indem er für ein Denken Kopf- oder Gesichtsaufnahme, ein signiertes Portrait für die Schüler oder
der Fotografie plädiert. Bewunderer. Heute stellt man sich eher Stars oder Glanzlichter der Bilder­
D: Er ist bereits gegen eine gewisse Ausbeutung - journalistischer oder ande­ oder Show-Welt vor, die ihre Fotografien signieren. Der Fall eines »Den­
rer Art - der Fotografie, aber er beginnt sich dem zu öffnen, was die Kunst kers« wäre selten und lächerlich.
der Fotografie sein könnte oder müßte und bereits ist. Ja, das gleicht sei­ A: Schopenhauer, der ein glühender Verehrer der Fotografie war, ließ sich häu­
ner »Position« gegenüber dem Falschgeld. In Das falsche Geldstück , an der fig auf Daguerreotypien oder Kalotypien ablichten. Einmal schickte er aus
Stelle, wo er den Erzähler sprechen läßt, sind die widersprüchlichsten Inter­ einer gewissen »Bösartigkeit« [dt. im Original] eine Fotografie an seinen
pretationen oder Spekulationen möglich, wie ich an anderer Stelle zu zei­ Freund Frauenstädter, die er nicht signiert hatte. Er wollte wissen, ob sein
gen versucht habe.8 Aber es gibt eine andere Stelle in Die heidnische Sch ule , fotografisches Portrait auch ohne Unterschrift ihn wiedergäbe.
wo Baudelaire eine analoge Szene berichtet: Ein Künstler brüstet sich damit, D: Das Auftauchen der: Unterschrift ist interessant. Was bewirkt eine Unter­
einem Armen Falschgeld zu geben. Es handelt sich nicht um eine Fiktion, schrift? Sie verwandelt gewissermaßen das fotografische Portrait in ein
sondern um einen von Baudelaire signierten Text, einen polemischen, vom Auto-Portrait (daher das supplementäre Risiko der narzißtischen Selbstge­
Autor verantworteten Text. Baudelaire spricht unter diesen Umständen ein fälligkeit: das Komische ist dabei niemals fern, ich meine das Lächerliche).
moralisches Urteil aus, er verdammt den Künstler, der es sich zur Ehre Es geht auch darum, einen Authentizitäts-Siegel darauf zu setzen: durch
gereichen läßt, den anderen mißbraucht zu haben, er ergreift Partei für das Überschreiben9 (Schrift auf Schrift - ein Name, der auf einer stummen Foto­
Authentische gegen das Scheinhafte [simulacre ]. Zugleich weiß er, daß die grafie an die gegenwärtige laute Stimme appelliert und performativ auf den
Literatur auch an der Zirkulation von Falschgeld teilhat, das heißt immer Geber verweist) zeichnet man nach [remarquer] , gibt man zu bemerken
von möglichem Falschgeld. Hinsichtlich der Fotografie findet man wahr­ [remarquer] , daß diese Fotografie rom Subjekt auf der Fotografie gegeben
scheinlich bei ihm die gleiche Unentschiedenheit oder die gleiche Parado­ wurde; der Wert besteht nicht darin, eine Fotografie von Freud zu besitzen
xie wieder: zwischen zwei Positionen, die eine mehr moralisierend zugun­ - man kann sie im Handel kaufen -, sondern in Besitz zu geraten eines Por­
sten des Authentischen und Ursprünglichen, die andere mehr pervers, denn traits, das sich anschauen läßt, aber auch Sie anschaut/angeht10 und eine
sie ahmt die erstere nach, wobei das Simulakrum immer auch Simulakrum Unterschrift von der Hand des Subjekts trägt. Sie authentifiziert nicht allein
des Authentischen ist. das Subjekt der Fotografie, sondern auch die Gabe und das Subjekt, das
W: Aber vielleicht ist das immer der Fall auf dem Schauplatz eines fotografi­ diese Sache empfängt, den Beschenkten, dessen Name sich ebenfalls am Fuße
schen Präsentes: Was bedeutet das, wenn man (sich) in der Fotografie gibt, des Kopfes geschrieben findet. Präsent ohnegleichen, absolute Seltenheit,
wenn man (sich) das Geschenk einer Fotografie seiner selbst macht? Man einmaliges Ereignis, unendliche und zugleich spottbillige Anhäufung eines
gibt sich, aber zugleich riskiert man nichts, denn man wahrt sich, man gibt unersetzlichen Fetischs im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit,
sich, indem man sich wahrt. Von einem- im Sinne Nietzsches - »morali­ von dem er gleichzeitig zeugt. Die Könige konnten nicht so viele gemalte
nen« Gesichtspunkt aus könnte man sagen, daß es sich um ein vorbehaltli­ Portraits widmen, sie konnten nicht die Widmungen von sich vervielfälti­
ches Risiko handelt, da man sich nicht selbst gibt, als ob die Fotografie eine gen (ich bin einer - übrigens umwerfenden - amerikanischen Sängerin
schützende Oberfläche (auf deutsch ein Bild-Schirm) zwischen dem einen begegnet, die ihr Foto in aller Geschwindigkeit widmete, indem sie zwi­
und dem anderen wäre. Aber zugleich gibt man sich mehr, gibt man sich schen zwei Vornamen, dem ihrigen und dem anderen, schrieb: »Love' ye« ).
total, ex-poniert man sich - im doppelten Sinne des Ausgesetztseins und Man kann überrascht sein, jemanden wie Heidegger, der sich so oft gegen
der Belichtung. die Reproduktionstechnik erhoben hat (die Schreibmaschine zum Beispiel
D: Ein Einschub: Es hat historisch eine kurze Periode gegeben (man müßte sie im Gegensatz zum Manuskript), dem Ritus der gewidmeten Fotografie
erzählerisch und soziologisch aufarbeiten), während der es geläufig war, Zugeständnisse machen zu sehen. Ein Originalmanuskript geben wäre etwas

290 291
JACQUES DERRIDA JACQUE DERRIDA

anderes: Es gibt davon nur ein Exemplar - jedenfalls im Prinzip und ver­ Worten Heideggers: des Gestells [dt. im Original] . Aber mit der Unterschrift
mutlich. Eine Fotografie verschenken ist wie eine Fotokopie geben, was sehr tut man so, als könnte man diesen Prozeß unterbrechen . . .
grob, zu grob wäre, wenn nicht die Unterschrift ihr ein wenig von ihrer D: . . . sublimieren . ..
Einzigartigkeit und ihrer unterstellten Authentizität zurückgäbe. Heidegger W: . . . aneignen, authentifizieren.
schreibt folgendes: »In der Zeit der ersten Herrschaft der Schreibmaschine D: Welchen Unterschied gibt es zwischen der Schenkung eines Buches - zum
galt noch ein mit der Maschine geschriebener Brief als Verletzung des Beispiel des gewidmeten Exemplars von Sein und Zeit - und derjenigen
Anstandes. Heute ist ein handgeschriebener Brief eine das eilige Lesen einer signierten Fotografie seiner selbst? Auf der Fotografie wird der Autor
störende und deshalb altmodische und unerwünschte Sache.«11 (Es ist eine selbst, wenn man so sagen kann, nicht allein repräsentiert (sein Kopf, seine
Geschichte der Höflichkeit: Jede Geschichte der Höflichkeit ist auch eine Augen, sein Mund), er unterschreibt auch mit seiner Hand. Das Buch reprä­
Geschichte der Technik und zunächst derjenigen Technik, in der die Ritua­ sentiert ihn nur als sein Produkt. Es ist kein unmittelbar sichtbares Double
lisierung besteht. Was man über die Höflichkeit sagen kann, gilt offen­ seiner selbst. Ich vermute auch, daß - als Gefangene eines gewissen sozia­
sichtlich auch für die Kultur im allgemeinen, um mit der Markierung und len und ästhetischen Akademismus - diese »großen Autoren« niemals eine
der Sprache zu beginnen). Ohne Unterschrift hätte die Gabe des fotografi­ weniger konventionelle Aufnahme von sich verschenkt haben, ein Ganz­
schen Portraits den gleichen Ton der Mißbilligung von seiten Heideggers körper-Foto oder die Fotografie eines (mehr fetischisierbaren) Teils des Kör­
verdient oder hervorrufen müssen . . . pers, eines Fußes, einer Hand, eine Rückenansicht. Sie verschenken ein Por­
W: Aber was ist anders mit der Unterschrift? trait, einen Kopf: den Mund, die Augen, das Gesicht, aber nicht den Rest.
D: Ja, sie ist berechtigterweise nicht reproduzierbar. Zumindest nicht technisch Sie verschenken ein originales Double, ein aufgrund der »authentischen«
(und weiter, denn Sie wissen, daß es komplizierter ist: eine gewisse Iterabi­ Unterschrift unter dem Kopf zum Original gewordenes Double. Die Vor­
lität konstituiert - wie ieh an anderer Stelle versucht habe zu zeigen - die aussetzung und Begründung des Rechts: Man wird zunächst nicht durch
Einmaligkeit selbst des Ereignisses der Unterschrift). Im Falle der signier­ seine Füße, sondern durch den Blick und den Mund identifiziert, durch das,
ten Fotografie, ist das Ereignis im Prinzip nicht reproduzierbar, es sollte was dem anderen zugewendet wird, von vorn [ en face] .
nur einmal stattfinden, und was diese Einzigartigkeit garantiert, ist nicht die W: Und von der Seite [en profil]. Auf jeden Fall kehrt in der Fotografie immer
Fotografie noch die Unterschrift, sondern der Name desjenigen, rdem sie wieder eine Art von Glauben wieder, ein visueller Glauben an das Dasein,
gewidmet ist. Es ist der Vertrag, der die beiden Namen verbindet. Das glei­ mit Heidegger gesprochen: an die Vorhandenheit [dt. im Original], das reine
ehe fotografische Portrait kann so viele Male wie man will signiert werden. »es gibt« .
Es trägt nur einmal den Namen desjenigen, der es empfängt. Der Ort die­ D: Heidegger würde vielleicht folgendes sagen: Wenn man ein Portrait ver­
ser Bestimmung, das ist der Siegel des Originals; und die wahre Unterschrift schenkt, ist das, was zunächst zählt, der Inhalt (was gezeigt wird, nicht der
der Gabe kommt also dem zu, der nichts tut als empfangen - oder als begeh­ Träger und all das, was reproduzierbar ist etc., sondern der einmalige Refe­
ren zu empfangen, mit einem Begehren, das den Unterzeichner bewegt, so rent, wenn man so sagen kann). Dieser »Inhalt« nun gehört nicht zur Ord­
narzißtisch diese Bewegung auch bleibt. nung der Vorhandenheit [dt. im Original] oder Zuhandenheit [dt. im Ori­
W: Man erkennt hierin eine starkes Engagement gegen die Massenideologie, die ginal] , es ist Dasein [dt. im Original] , es ist eine Existenz in der Form des
schon Baudelaire kritisiert hat. Entsprechend der berühmten T hese Benja­ Daseins, die da ist, die eine Welt hat, die in der Welt ist, in der Erschlos­
mins begann diese Ideologie mit der massenhaften Ausbeutung der Repro­ senheit [ dt. im Original] , die die Welt öffnet, »in der Wahrheit« oder in der
duktionsmittel: Es ist das Entstehen der Statistik, der großen Zahl, des Mit­ Wahrheit der Nicht-Wahrheit etc. Und man muß die Fotografie von dieser
telmäßigen. Heidegger spricht davon in seinem Ausdruck des »Man« : Was Erschlossenheit [dt. im Original] her denken, und sei es, daß man das von
man unter diesen Umständen auf der Fotografie sehen kann, ist nicht das Heidegger Gesagte problematisiert. Was man durch das Portrait hindurch
Ich, sondern das »Man« , das, was am Ich dem »Man« entspricht, das heißt sieht, jenseits des reproduzierten Doubles, ist das Dasein [dt. im Original].
das statistische Double des Ich. Es war der historische Augenblick der Ver­ Deshalb muß man, sollte man zwischen der Fotografie des Gesichts oder
fahren des Vergleichs, der Identifizierung (wie in den Verbrecher-Dateien der Hände (wo sich die am unmittelbarsten vom Dasein gezeichneten Züge
von Bertillon), der pathologischen, ethnologischen etc. Typologien; mit den versammeln, der Blick, die Rede, die Hand, die gibt oder grüßt etc.) von

292 293
JACQUES DERRIDA JACQUES DERRlDA

der Fotografie anderer Dinge Ulltcrscheiden. Es stimmt, daß, wenn ein sehen, daß sie sich nicht sehen können. Das ist wie die Erotik des Blicks,
Freund vorbeikommt und Ihnen �in Foto seines Schreibtisches gibt, und der gewechselte Blick - eine erotische Szene beginnt immer mit einem Blick­
wenn man darauf eine Tasse, einen Krug auf dem Tisch erkennt, er sagen wechsel, mit Blicken, die sich kreuzen und die sich an dem Punkt kreuzen,
würde: Vorsicht, »Krug « [dt in1 Original] , das ist nicht einfach nur ein mate­
.
wo jeder der Blicke sich nicht wiedererlangen kann, und folglich sich schon
rieller Gegenstand, der vorh anden [dt. im Original] ist, sondern er bestimmt gibt, entwaffnet ausliefert: Es ist ein Gestus, der in gewissen Situationen
sich ausgehend von der Gabe, dem Geschenk [dt im Original] . Ich kann
.
exponierter, mehr gebend und intensiver sein kann als das »Miteinander­
einem Freund ein Bild meines Hauses schenken, meines Büros und meines Schlafen«. Der Blick ist dabei nackt, zugleich nackt und sich nicht selbst
Tisches, selbst meiner Bücher, das jenen Wert von Gastfreundschaft hätte. sehend. Exponiert/belichtet, überexponiert/überbelichtet wie die Nacktheit.
Die Fotografie ist dennoch markiert durch all die Möglichkeiten des D aseins W: Wenn man nun eine andere sehr populäre Metapher nimmt: die Fotografie
[dt. im Original] . als Spur, als Spur des Gegenstandes selbst, nicht als Signatur im Sinne von
W: Was nun diesen Daseins-Effekt anbelangt, welche Rolle spielt dabei der Charakter, als Schrift, sondern als Abdruck des Körpers selbst, als abgelö­
Blick für das fotografische Portrait? stes Teil, so geht es auch um eine Liebesgabe. So wie man früher zum Bei­
D: Man denkt, daß das Portrait die Augen, das heißt den Blick einfängt, das spiel eine Haarlocke oder etwas anderes Körperliches gab, so gibt man sich
heißt unter anderem dasjenige, wofür es ein Objekt wie die Fotografie gibt. heute im Fotografischen als Partialobjekt.
Vom Blick wird angenommen, daß er dasjenige ist, was das Subjekt selbst D: Jede Fotografie ist mit Eintritt in das Spiel ein Fetisch, die unmittelbare
in seinem Leben nicht sehen kann. Wenn man sich in einem Spiegel betrach­ Möglichkeit einer Fetischisierung: an sich selbst, wenn man so sagen kann,
tet, sieht man sich entweder gesehen oder sehend, aber niemals beides als fotografische Sache (das Ding selbst ist ein Fetisch, daran muß man den­
zugleich. Im Prinzip glaubt man von der - kinematografischen oder foto­ ken) und bisweilen selbst in dem, was sie zeigt . . .
grafischen - Kamera, daß sie einen Blick aufspüren sollte, den die Augen, W: Aber ohne Risiko?
die sich betrachten, nicht sehen können. Ich werde gesehen, so wie Sie mich D: Das kommt drauf an. Man kann die Bedrohung immer neutralisieren, das
beim Sprechen sehen etc., von Ihnen gesehen oder fotografiert, aber mit Risiko abschwächen, aber das kann auch sehr riskant sein. Wenn jemand
einem Blick, den ich, gegenwärtig als Lebender, nicht sehen kann. Und wenn von Ihnen eine signierte Fotografie hat, ist das eine Verbindlichkeit.
ich folglich jemandem meinen Blick gebe, das fotografierte Double meines W: Ich muß an die Problematik des Zeugen denken. Was macht man mit Foto­
Blicks, gebe ich ihm etwas, womit ich sehe, aber das ich selbst nicht sehen grafien, zum Beispiel Fotos, die man heimlich aufgenommen hat wie in dem
kann. Es herrscht dort eine situative Heteronomie, ich gebe mich dem ande­ Film Blow up ? Man hat jemanden zum Beispiel in einer kompromittieren­
ren da, wo ich mich nicht mir selbst geben, mich gewissermaßen nicht den Situation überrascht und bedient sich der Fotos, um den anderen zu
sehend sehen kann; auch nicht mich schenkend sehen oder wissen kann. unterdrücken, um . . .
Das ist die Erfahrung der Gabe, dessen, was nicht zu mir zurückkehren D: . . . um ihn zu erpressen, sicher. Die Fotografie ist ein Pfand [gage] , das ver­
kann. Natürlich kann in dieser Gabe und in dieser Heteronomie eine unend­ pflichtet [eng age] , und zwar vor aller Unterschrift, in einem bestimmten
liehe Überbietung an Narzißmus nicht fehlen, auf jeden Fall kann sie nicht modernen Sinne von »black mail« - eine Post, die unter diesen Umständen
so, als Fehlendes theoretisch bestimmbar sein: Schau mich an, hier ist mein zu Recht ihren Namen und ihre Farbe trägt. Die juristischen Probleme sind
Bild, dies ist mein Leib etc. Aber zugleich gibt dieser Narzißmus in dem neu, komplex und beweglich: Wer hat das Recht, wen zu fotografieren? Wo?
Maße, wie das nicht zu ihm zurückkehrt, wie er sich verliert. Er verliert Unter welchen Umständen? Wo ist die Grenze zwischen Privatem und
sich, weil er einen Blick (als Zeichen) gibt, den er nicht sehen kann. An die­ Öffentlichem? Wer kann eine Fotografie besitzen, verkaufen, reproduzie­
sem Punkt ist der Narzißmus in gewisser Hinsicht unterbrochen oder zu ren, zerteilen, deformieren etc.? Diese Fragen erweitern sich und spitzen
einer unendlichen Überbietung verpflichtet, innerhalb derer man nicht mehr sich zu in dem Maße, wie der öffentliche Raum zugleich ausgedehnt und
zwischen dem Verzicht und der versprochenen Wiederaneignung unter­ neu strukturiert wird durch die Tele-Technologien der Kommunikation und
scheiden kann. Eine Fotografie geben kann eine schwerwiegende Geste sein: durch die Möglichkeit, das Bild mit beschleunigter Geschwindigkeit von
Ich gebe, als ob ich mich selbst gäbe, als ob ich bis zu meinem unmögli­ einem Kontinent zum anderen zu schicken. In Frankreich, glaube ich, hat
chen Narzißmus gäbe - Augen, die nicht sehen können, die sehen und die man nicht das Recht, jemanden auf der Straße, in seinem Auto oder in

294 295
JACQUES DERRIDA

seinem Haus ohne seine Einwilligung zu fotografieren. Aber man hat das 2 5 . JOHN TAGG
Recht, jemanden an einem öffentlichen Ort - zum Beispiel bei einem poli­ DER ZEICHENSTIFT DER GESCHICHTE ( 1 993)
tischen Treffen oder in einem Vortragssaal - zu fotografieren. Aber nicht
an allen öffentlichen Orten: ein Unterrichtsort, ein Universitätsseminar ist Die Realität unterliegt dieser Umkehrung:
ein öffentlicher Ort, dessen Publikum geschützt ist. Man hat im Prinzip sie war die vom Satz beschriebene Gege­
nicht das Recht, dort Aufnahmen oder Fotos ohne Genehmigung zu benheit und ist nun zum Archiv gewor­
machen. In Wirklichkeit ist es unmöglich, das Recht durchzusetzen. den, aus dem man die Belege und Beispiele
[. . . J schöpft, die die Beschreibung validieren.
Jean-Fran�ois Lyotard1

Anmerkungen des Übersetzers


I
Siehe Jacques Derrida, Memoires d 'aveugle. L'autoportrait et autres ruines, Ausstellungskatalog, Meine Überschrift verspricht etwas Zugespitztes, etwas, das scharf und klar auf
Paris 1 990; dt. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, aus dem Fran­
zösischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1 997.
einen Punkt kommt. Und zu Beginn hatte ich tatsächlich die Hoffnung, einen
2 Das französische Wort exposer heißt neben >>ausstellen«, >> exponieren«, fototechnisch auch >>belich­ Argumentationsgang herstellen zu können, der einer einzigen Linie folgen
ten « . würde. Ich hätte allerdings wissen müssen, daß ich bei direkter Verfolgung die­
3 Siehe Jacques Derrida, >> Lektüre«, in: Marie-Franc;oise Plissart und B enoit Peeters, Recht auf Ein­
ser Linie einem Gefälle ins Indirekte gar nicht entgehen konnte.
sicht, aus dem Französischen von Michael Wetzel, Graz/Wien 1 985.
4 Im Französischen subjectile, was in der Malerei die Trägerfläche (Mauer, Plakat, Leinwand) für ein
Der Weg führt zunächst durch Milwaukee, wo ich mich im März 1 992 am
Gemälde bezeichnet. Derrida hat diesen Begriff ausführlich in seiner Arbeit über Artaud analysiert: äußersten Rand einer Tagung über Visuelle Kultur: Film/Fotografie/Geschichte
>>Das Subjektil ent-sinnen«, in: Paule Thevenin und Jacques Derrida, Antonin Artaud. Zeichnun­ auf der Bühne wiederfand, an einem Punkt, an dem sich erwarten ließ, daß jeder
gen und Portraits, aus dem Französischen von Sirnon Werle, München 1 986.
5
im Auditorium ans Ende all dieses Redens denken würde, an dessen Endpunkt
Siehe Honore de Balzac, Das ungekannte Meisterwerk. Erzählungen, aus dem Französischen von
H . Jacob, Zürich 1 977, S. 1 1 3 . und an andere Ziele, die keine Stimme gefunden hatten, sondern unausgespro­
6 Das Verb remarquer hat im Französischen als Kompositum eine Doppeldeutigkeit, je nachdem man chen und vielleicht unartikuliert geblieben waren außer als ein Gefühl des
es in seiner Betonung des Präfix re- (wieder, erneut) als >>wieder-markieren« liest oder, zusam­
Schmerzes und der Frustration. Durch eine verführerische Addition von Begrif­
mengesetzt, als >> bemerken« .
7 Siehe Charles Baudelaire, >> Das falsche Geldstück«, in: ders., Werke, hrsg. und aus dem Französi­ fen hatte die Tagung den Eindruck erweckt, einen Weg zu entwerfen, der über
schen übertragen von Friedhelm Kemp . Bd. 8, München 1 985, S. 223. die aktuellen entmutigenden Debatten zur »Visuellen Kultur« hinausführte:
8 Siehe Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, aus dem Französischen von Andreas Knop und
nicht die Theorie, sondern die Geschichte sollte neben Fotografie und Film
Michael Wetze!, München 1 993.
9 Im Original surimprimant, was im Fotografischen auc h die >>Doppelbelichtung« und im Film das
gestellt werden, ein leuchtkräftiger Horizont, innerhalb dessen sich die For­
>> Überblenden« meint. schung aus ihrer Einsperrung in die klaustrophobischen internalisierten Räume
10 Das französische Wort regarder bedeutet >>schauen<<, aber transitiv auch >>angehen«, >>betreffen«. der theoretischen Diskussion befreien konnte. In diesem verschwenderischen
11 Siehe Martin Heidegger, >> Parmenides«, in: ders . , Gesamtausgabe I!. Abtlng. (Vorlesungen), B d . 54,
Licht fiel mir etwas ins Auge, was kaum mehr scheinen muß als winzige Pünkt­
Frankfurt/M. 1 982, S. 1 1 9.
chen: sicherlich recht markant, aber doch nicht ausdrücklich, stumm bleibend,
weil unhörbar, tief im Inneren der Konkurrenz akademischer Diskurse über das
Visuelle, über Kultur, Film, Fotografie und Geschichte, oder zumindest inner­
halb der Worte, die über ihr hingen. Was ich sah, waren zwei Punkte und zwei
Schrägstriche: unausgesprochene Markierungszeichen, die die Begriffe des
Tagungsthemas zusammenfügten, sie wie in einem Syllogismus miteinander ver­
banden und doch, mit einem Schlage, abteilten und damit den Titel in sich
zerteilten, womit sie die Spur einer tiefen Unsicherheit und einer unaufgelösten
Inkohärenz zurückließen.

296 297
Signatur und Archiv

Die philosophischen Schriften von Jacques Derrida (geb. 1 930) haben einen ent­
scheidenden Anteil an der Öffnung der Philosophie hin zum Bedeutungsbereich
der Literatur, der Kunst und der gestischen Phänomene des Alltags und der
Öffentlichkeit. Der in der Grammatologie (1967, dt. 1 974) eingeführte erwei­
terte Schriftbegriff hat in seiner europäischen und amerikanischen Rezeption zu
zahlreichen Untersuchungen geführt, die das Medium Fotografie jenseits eines
ästhetischen Kanons als eine Allegorie der Spur und des Ursprungs begreifen.
Fotografie zeichnet auf und löscht aus. Das Gespräch mit ]acques Derrida wurde
von mir gemeinsam mit Michael Wetzel, Literaturwissenschaftler und Über­
setzer, geführt. Gegenstand des Gesprächs ist das Verhältnis der Fotografie zur
Präsenz und ihr in der eigenen Technizität begründetes archivarisches Vermö­
gen der Aufzeichnung und zugleich der Schlichtung des Originals bzw. dessen,
was der fotografischen Aufnahme zeitlich vorgängig ist.
Dem Gespräch gleichsam gegenübergestellt ist ein Aufsatz des in Amerika
lehrenden englischen Kritikers und Historikers ]ahn Tagg (geb. 1 949), der seit
den siebziger Jahren in der Folge von Michel Foucault die ideologischen Bedin­
gungen für die Geschichtlichkeit der Fotografie und deren Konstruktionen von
Identität untersucht. Ausgehend von einer Publikation über Geschichte und
Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts, betrachtet Tagg die »Diskursbedingun­
gen«, unter denen die Fotografie als Zeugnis oder als Archiv der Geschichte zu
begreifen oder zu verwerfen ist.

279
. 10

H UB E RT U S v. AM E LU NXE N

T H E O R I E D E R F O T O G RAF I E IV

1 980 - 1 995

S C H I R M E R/M O S E L
INHALT

Vorwort 9
M OC -\ � .r. .._,• ._ll'
• i l e er.. 21"2 �:rurte
Hubertus v. Amelunxen,
Von der Theorie der Fotografie 1980 -1995 11
L. -.(c 1ent .o 2
22 f) ·l k : csr. L rg

Nach Roland Barthes

1 Victor Burgin
Beim Wiederlesen der Hellen Kammer. 1 982 24

Abbildung auf dem Schutzumschlag:


Lewis Baltz, Piazza Sigmund Freud, 1 989 (Ausschnitt) Apparatur und mise en abyme
© dieser Ausgabe 2000 b y Schirmer/Mosel, München
© der Texte bei den Autoren 2 Viiern Flusser
Für eine Philosophie der Fotografie. 1983, 1989 49
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche Arten der Vervielfältigung
oder der Wiedergabe dieses Werkes oder von Teilen hiervon - wie insbesondere 3 Craig Owens
der Nachdruck von Text oder Bildern, der Vortrag, die Aufführung und Fotografie en aby me. 1 978 64
die Vorfü hrung - sind nur im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zulässig.
Dies gilt auch für alle sonstigen Arten der Nutzung, wie z.B. die Übersetzung,
die Entnahme von Schaubildern, die Verfilmung und die Sendung.
Zuwiderhandlungen werden verfolgt. Kritik des Dokuments

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme


4 Viiern Flusser
Theorie der Fotografie I Hubertus v. A melunxen. - München: Schirmer/Mosel Fotografieren als Lebenseinstellung. 1989 84
4 . 1 980-1 995. - 2000
ISBN 3 - 8 8 8 1 4-729-8 5 Andreas Haus
Fotografie und Wirklichkeit. 1 982 89
Satz: Typograph, München
Druck und Bindung: Hofmann Druck, Augsburg 6 Reinhard Matz
Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie. 1 981 94
ISBN 3 - 8 8 8 1 4-729-8 7 Herbert Molderings
Eine Schirmer/Mosel Produktion
Argumente für eine konstruierende Fotografie. 1980 106

8 Andreas Müller-Pohle
Programminformation im Internet:
http://www.schirmer-mosel.de Visualismus. 1980 1 14

5
9 Allan Sekula 20 Douglas Crimp
Den Modernismus demontieren, das Dokumentarische neu erfinden. Die fotografische Aktivität der Postmoderne. 198 0 239
Bemerkungen zur Politik der Repräsentation. 1976, 1978 120
21 Douglas Crimp
10 Martha Rosler Die aneignende Aneignung. 1982 250
Bildsimulationen, C omputermanipulationen: einige Überlegungen.
22 Jean Baudrillard
198 8, 1995 129
Das perfekte Verbrechen. 1994 256

23 Rosalind Krauss
Wider den ästhetischen Kanon Eine Bemerkung über die Fotografie und das Simulakrale. 1984 260

11 Pino Bertelli
Fragment eines Diskurses über die Fotografie. 1982 172 Signatur und Archiv

12 Jean-Claude Lemagny 24 Jacques Derrida


Zur Situation der Fotografie. 1983 179 Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur.
13 J oachim Schmid Im Gespräch mit Hubertus v. Amelunxen und Michael Wetzel.
»Hohe« und »niedere« Fotografie. 1992 182 1992 280

25 John Tagg
Der Zeichenstift der Geschichte. 1993 297
Charakter und Werkzeug

14 Viiern Flusser
Repräsentation und Chronoskopie
Fotokritik 198 4 190
1 5 Zurück in die Zukunft 26 Massimo Cacciari
Fotografie in den 80er und 90er Jahren. Das »Fotografische« und das Problem der Repräsentation.
Eine Umfrage. 1989, 1990 194 Aus einem Gespräch mit Paolo C ostantini. 1987 324

16 Jean-Claude Lemagny 27 Paul Virilio


Wir brauchen Kritiker. 1984 199 Die Hindurch-Sichtbarkeit. 1989 330

17 Jochen Gerz
Die Dunkelkammer bin ich selbst. 1987 202 Film, N arration, Fetisch, Fantasma

28 Frieda Grafe
Ästhetik und Simulakrum
Bilder illustrieren. 1987 339

18 Peter Wollen 29 Christian Metz


Fotografie und Ästhetik. 1978 210 Foto, Fetisch. 198 5, 1990 345

19 Abigail Solomon-Godeau 30 Peter Wollen


Spielen in den Feldern des Bildes. 1982 223 Feuer und Eis. 1984 355

6 7
3 1 Victor Burgin VORWORT
Der perverse Raum. 1 99 1 361
32 Hollis Frampton
Erotische Prädikamente für die Kamera. 1 982 379
3 3 Denis Roche
Einzug der Maschinen. 1 978 386 Dieser Band ergänzt die drei von Wolfgang Kemp zwischen 1 979 und 1 983 her­
ausgegebenen Bände einer Anthologie zur T heorie der Fotografie (Band I:
1 839-1 9 1 2; Band II: 1 9 1 2-1 945; Band III: 1 945-1 980). Die im Vergleich kurze
Geschichte( n) Zeitspanne von etwa fünfzehn Jahren, die dieser Band umfaßt, könnte bei einer
Fülle von Texten, aus denen auszuwählen war, auf das gesteigerte Interesse deu­
3 4 Georges Didi-Huberman ten, das dem Medium Fotografie weit über die Fotokreise hinaus gewidmet
Jener, der das Verb »fotografieren« erfand . . . 1 990 398 wurde. In einer Zeit der rasant anwachsenden Bebilderung der Welt stellt sich
35 Timm Starl die Frage, ob nun die Wirklichkeit bebildert wird oder aber die Bilder sich an
Der Traum der Geschichte. 1 990 die Stelle der Wirklichkeit gesetzt haben.
405
Die Auswahl der Texte folgt den Kriterien, die auch die vorangegangenen
Bände bestimmt haben. Es wurden Texte aufgenommen, von denen der Her­
Nachweis der Texte ausgeber denkt, daß sie einen wesentlichen Beitrag zur T heorie der Fotografie
410
geleistet haben. Der gedankliche Ursprung kann hier in der Philosophie wie in
Sachregister der Psychoanalyse, in der Gesellschaftskritik wie in der Kunstkritik, ebenso
412
aber in der Literatur liegen. So folgt dieser Band der Überzeugung, daß die
Personenregister Fotografie in ihrer und in unserer Geschichte eine wesentliche Rolle in der Auf­
414
lösung tradierter Gattungsgrenzen eingenommen hat. Bestimmend für die Aus­
wahl war demnach nicht eine jeweils konkrete Bezugnahme auf überkommene
Theorien der Fotografie, sondern die Perspektive, von der aus das Medium in
der jeweiligen Disziplin gesehen wurde, und der Ort, der dem Denken der
Fotografie in der Gesellschaft zubestimmt schien. Weitere Beweggründe für die
Auswahl der vorliegenden Texte werden in der Einleitung erläutert.
Die Anordnung der Stimmen in dem Band folgt nicht einer zeitlichen Ord­
nung, sie ist vom Herausgeber bestimmt, in einem durchaus parteilichen Ver­
langen, den Leser an der Entwicklung verschiedener T heorien der Fotografie
teilhaben zu lassen, um eine neue zu formulieren. Die Folge der Texte unterstellt
demnach kein Fortschreiten eines Denkens, sondern möchte dem Leser die
unterschiedlichen Zugänge und Übersetzungen der Fotografie als Ausdruck der
Zeit, Fotografie als gesellschaftliche Reflexion zu begreifen, darlegen. Von den
anderen Bänden der Anthologie unterscheidet sich dieser durch die thematische,
mit Überschriften versehene Gruppierung von Texten, die nur mit wenigen
Sätzen eingeleitet werden.
In den letzten zwanzig Jahren sind mehrere Anthologien, Sammelbände,
Sonderausgaben von Zeitschriften und Kongreßakten zum T hema Fotografie

8 9

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