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WALTER KAUFMANN

NIETZSCHE ALS DER ERSTE GROSSE PSYCHOLOGE

Nietzsche sah sich als den ersten großen Psychologen, aber diese Seite
von Nietzsche ist weitgehend ignoriert worden, vor allem von den Philoso-
phen. Ich will versuchen zu zeigen, daß Nietzsche recht hatte — er war ein
großer Psychologe — und daß Nietzsche mißverstanden wird, wenn man das
übersieht. Selbstverständlich war er nicht nur Psychologe, sondern auch
Philosoph, Antichrist, Dichter, Musiker und ein faszinierender Mensch. Aber
seine Philosophie wird mißverstanden, solange man seine Psychologie, sein
Antichristentum und seine Selbstcharakterisierung als künstlerischen Sokrates
übersieht, wie z. B. in letzter Zeit noch Martin Heidegger.
Hier kann ich die Thematik „Nietzsche als großer Psychologe" nur
aufreißen und ins Licht rücken. Am besten hören wir zunächst Nietzsches
eigene Worte, in Ecce homo: „Wer war überhaupt vor mir unter den
Philosophen Psycholog . . . Es gab vor mir noch gar keine Psychologie. —
Hier der Erste zu sein, kann ein Fluch sein, es ist jedenfalls ein Schick-
sal . . ." (IV. 6). „— Daß aus meinen Schriften ein Psychologe redet, der nicht
seinesgleichen hat, das ist vielleicht die erste Einsicht, zu der ein guter Leser
gelangt . . ." (III. 5).
In den folgenden Zeilen versucht Nietzsche dann zu zeigen, daß er die
Psychologie von der Tyrannei der Moral befreit habe. Seine Leistung besteht
demnach nicht bloß aus einer Reihe von Einsichten und Entdeckungen,
sondern es handelt sich um einen ganz prinzipiellen Fortschritt. Was
Nietzsche bietet, ist eine neue Perspektive, eine ganze Gattung neuer Per-
spektiven. Was wir ihm verdanken, ist eine neue Empfindlichkeit, neue
Augen und neue Ohren. Theodor Reik, ein Schüler Freuds, nannte eines
seiner eigenen Bücher 1948 Listening with the Third Ear („Mit dem dritten
Ohr hören"). Nietzsche selbst nannte sich in seinem kurzen Vorwort zur
Götzendämmeriingj (60 Jahre vorher) einen, „der Ohren noch hinter den
Ohren hat", und einen „alten Psychologen".
In dieser Beziehung hat Nietzsche bis heute nicht seinesgleichen, bis auf
Freud; und seine Hauptvorgänger waren nicht Philosophen, sondern Dichter
und Schriftsteller, wie Dostoevskij, Goethe und Shakespeare. Die Philo-
sophen vor Nietzsche — und seit Nietzsche, Heidegger sehr miteinge-
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schlössen — haben weder sich selbst noch die Bücher von anderen mit Ohren
hinter den Ohren gelesen. /f
Vielleicht war Freud zu großzügig, als er, wie Jones im 2. Band seiner
Biographie berichtet (S. 344 der Originalausgabe), mehrmals von Nietzsche
sagte, er habe sich selber besser gekannt als irgendein anderer Mensch, der je
gelebt hätte oder wahrscheinlich je leben würde („he had a more penetrating
knowledge of himself thän any other man who ever lived or was ever likely to
live"). Ein ganz erstaunliches Kompliment! Man würde doch erwarten, daß
Freud meinte, die Psychoanalyse ermögliche Tiefen des Selbstverständnisses,
die ohne Psychoanalyse einfach nicht zugänglich waren. Und doch sagte
Freud, offenbar nach der Lektüre des Ecce homo, den die Berufsphilosophen
und Amateurpsychologen nie ernst nehmen wollten, Nietzsche habe sich
selbst besser gekannt als Freud und sein Kreis sich selbst kannten. Ob das
nun ganz richtig war oder nicht, von welchem anderen Philosophen hätte er
das* wohl behaupten können? Gewiß nicht von Kierkegaard oder Schopen-
hauer, Bentham oder Hume, von Kant und Hegel gar nicht zu reden.
Auch war es Nietzsche, der zuerst zeigte, wieviel für das Studium der
Religion gewonnen wird, wenn man dabei Ohren hinter den Ohren hat; und
Nietzsche zeigt uns auch, wie jeder Mensch — wir selbst sowohl als auch die
größten Berühmtheiten — Dimensionen hat, von denen man in früheren
Philosophien, oder auch in den Philosophien unserer Zeit, nicht einmal ge-
träumt hat. So war Nietzsche der erste große Psychologe.
Dennoch hat kaum eins der wesentlichen Bücher über Nietzsche auch
nur versucht, sich eingehend mit Nietzsches Psychologie auseinander-
zusetzen. Vor allem Klages' Buch von 1926 Nietzsches psychologische Er-
rungenschaften. Und das fand so wenig Beachtung, daß Thomas Mann es
merkwürdig fand, als ich in meinem Nietzsche-Buch 1950 Klages lobend
erwähnte. Nun liegt mein Nietzsche: Philosopher> Psychologist, Antichrist seit
1974 in einer 4. erweiterten Auflage vor, und die Nietzsche-Literatur in
Europa und Übersee ist in die Binsen geschossen, aber das Buch von Klages
und meins sind noch immer die einzigen, die sich eingehend mit Nietzsches
Psychologie befassen. Das ist doch eigentlich erstaunlich. Noch erstaunlicher
ist aber, daß niemand darüber staunt. Man untersucht jeden Zipfel von
Nietzsches Schriften und schreibt über Nietzsche und und Nietzsche und
y — aber nicht über seine Psychologie, auf die er selbst zentralen Wert legte.
Und auch über Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts (das Thema, das
man uns in unseren Einladungen zu dieser Konferenz gestellt hatte) schreibt
man nicht — also über Nietzsches Kritik des Nationalismus, des Sozialismus,
der Deutschen, der Arbeiter und von allem was Partei ist.
In drei viertel Stunden kann ich die Sünden von über 80 Jähren nicht
sühnen. In einem dreibändigen Werk mit dem Titel Discovering the Mind will
Nietzsche als der erste große Psychologe 263

ich aber im 2. Band Nietzsche und Heidegger ausführlich behandeln. (Im


l. Band Kant, Goethe und Hegel und im 3. Freud und Jung.) Hier kann ich nur
schnell fünf wesentliche Beiträge Nietzsches erwähnen und ganz kurz er-
läutern.
Das Wort „mind" ist nicht dasselbe wie „Geist". Im Deutschen gibt es
kein Wort, das Kants „Gemüt", Hegels „Geist" und Freuds „Seele"
gleichermaßen erfaßt. Und wo das Wort fehlt, fehlt auch der Begriff. Aber
die Frage läßt sich auch anders stellen: Wovon hat Kant versucht, uns eine
Anatomie zu geben? Wovon sind Vernunft, Verstand, Sinnlichkeit und
Urteilskraft angeblich Teile? Und was erforscht Nietzsche in seiner Psycho-
logie? Den Geist? Die Seele? Worum es hier geht, das ist auf alle Fälle
menschliches Selbstverständnis, und man braucht dabei keineswegs einen
cartesianischen Dualismus vorauszusetzen. Das wird klar, sobald wir
Nietzsches ersten wesentlichen Beitrag zur Psychologie betrachten. Dieser
Beitrag ist so kompliziert und hat so viele Ramifikationen, daß man glauben
könnte, er ließe sich nicht kurz fassen, aber Nietzsche selbst hat ihn einmal in
einer Parenthese in vier Worte gefaßt: „Bewußtsein ist eine Oberfläche"
(Ecce homOj II. 9). Das ist eine anti-cartesianische These, und Nietzsche hat
immer wieder auf vielfache Weise gezeigt, daß die Rolle des Bewußtseins in
unserem psychischen Leben überschätzt worden ist.
Dieser These widerspricht Nietzsche wohl nie. Dennoch ist das natürlich
kein Dogma, sondern eine Hypothese, die von allen seinen Gedankenexperi-
menten und Beobachtungen bestätigt wird.
Nietzsches prägnante Formulierung der Theorie der Verdrängung ist ein
gutes Beispiel. In einer Fußnote, die er in späteren Auflagen seiner Psycho-
pdthologie des Alltaglebens hinzufügte, hat Freud sie so zitiert: „keiner von
uns allen hat aber das Phänomen und seine psychische Begründung so er-
schöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche
. . . ,Das habe ich getan*, sagt mein Gedächtnis. ,Das kann ich nicht getan
haben* — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — gibt das
Gedächtnis nach."
Fünf Jahre bevor dieser Aphorismus (Nr. 68) in Jenseits von Gut und
Böse erschien, hatte Nietzsche einen Aphorismus in der Morgenröte ver-
öffentlicht, unter dem Titel Erleben und Erdichten. Statt den ganzen Apho-
rismus zu zitieren, darf ich vielleicht an eine kleine Geschichte erinnern. Ein
Verbrecher kommt ins Gefängnis, und die Zellen sind alle überfüllt. Er
kommt in eine, in der schon 30 Gefangene sitzen. Einer sagt „24" und alle
lachen. Dann sagt ein anderer „85", und wieder lachen alle. Er fragt: „Was
ist denn so komisch?" und man erklärt ihm: „Wir sind schön so lange
beisammen, wir kennen alle dieselben Witze. Da haben wir ihnen Nummern
gegeben und brauchen nun nicht immer wieder die Witze zu erzählen. — So
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dürfte es auch hier genügen, „Morgenröte 119" zu sagen und den Anfang
und ein paar Worte daraus in Erinnerung zu bringen. , f
„Wie weit einer seine Selbstkenntnis auch treiben mag, nichts kann doch
unvollständiger sein als das Bild der gesamten Triebe, die sein Wesen konsti-
tuieren. Kaum daß er die gröberen beim Namen nennen kann: ihre Zahl und
Stärke, ihre Ebbe und Flut, ihr Spiel und Widerspiel untereinander und vor
allem die Gesetze ihrer Ernährung bleiben ihm ganz unbekannt. . . . Viel-
leicht würde diese Grausamkeit des Zufalls noch greller in die Augen fallen,
wenn alle Triebe es so gründlich nehmen wollten wie der Hunger, der sich
nicht mit geträumter Speise zufrieden gibt; aber die meisten Triebe, nament-
lich die sogenannten moralischen, tun gerade dies, — wenn meine Vermutung
erlaubt ist, daß unsere Träume eben den Wert und Sinn haben, bis zu einem
gewissen Grade jenes zufällige Ausbleiben der ,Nahrüngf während des Tages
zu kompensieren. . . . Diese Erdichtungen . . . sind Interpretationen unserer
Nervenreize während des Schlafens, sehr freie, sehr willkürliche Interpreta-
tionen . . . Daß dieser Text, der im allgemeinen doch für eine Nacht wie für
die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden kommentiert wird, daß die
dichtende Vernunft [eine herrliche Prägung!] heute und gestern so verschie-
dene Ursachen für dieselben Nervenreize sich vorstellt: das hat darin seinen
Grund, daß der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er
gestern war, — ein anderer Trieb wollte sich befriedigen ..."
Nietzsche schlägt dann vor, „daß all unser sogenanntes Bewußtsein ein
mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen ungewußten, viel-
leicht unwißbaren, aber gefühlten Text ist"; und der Aphorismus endet:
„Was sind denn unsere Erlebnisse? Viel mehr das, was wir hineinlegen, als
das, was darin liegt! Oder muß es gar heißen: an sich liegt nichts darin?
Erleben ist ein Erdichten? —"
Freud hat oft vom Widerstand gegen die Psychoanalyse gesprochen. Wie
wir noch sehen werden, kommt der Begriff des Widerstandes in diesem Sinn
schon bei Nietzsche vor. Auch das gehört zu seiner Theorie, daß Bewußtsein
eine Oberfläche ist.
Der Widerstand gegen Nietzsches Psychologie ist ein hochinteressantes
und wichtiges Thema. Eine Form dieses Widerstandes ist ja bekannt. Man hat
Nietzsche als großartigen Stilisten dargestellt oder ihn höchstens als Apho-
risten gelten lassen, aber behauptet, daß den Aphorismen der Zusammenhang
und die Konsequenz abgingen. In Wirklichkeit ist der Aphorismus, aus dem
ich eben zitiert habe, über vier Seiten lang, und diese Themen werden in
Nietzsches späteren Werken weiter entwickelt.
Die zweite Form des Widerstandes ist aber, daß diejenigen, die dies
Thema bemerkt Haben, versucht haben, es mit der Behauptung abzutun,
Nietzsche sei eben ein Irrationalist gewesen. So wurde auch Klages' Buch
Nietzsche als der erste große Psychologe 265

damit abgetan, daß man darauf hinwies, daß Klages doch zugegebenermaßen
ein Irrationalist war — sogar so irrationalistisch, daß er Nietzsche als einen
Rationalisten kritisiert und ihn des Sokratismus beschuldigt hatte. Dabei hatte
Klages ganz richtig gesehen, daß Nietzsche nicht die Vernunft verworfen
hatte. Aber solche Schlagworte wie Rationalismus und Irrationalismus passen
auf Nietzsche so wenig wie auf Freud. Beide waren mit außergewöhnlicher
Vernunft begabt, ebenso wie alle Menschen, die sie besonders bewunderten,
aber beide meinten, daß man die Menschen und sich selbst nicht verstehen
kann, solange man die irrationalen Beweggründe unserer Handlungen und
Gedanken übersieht.
Um die Fehldeutungen Nietzsches als eines Apostels der Widervernunft
zu verstehen, muß man den Begriff des Widerstandes in Anspruch nehmen.
Dabei kann man natürlich auch, ohne das Wort „Widerstand" zu benutzen,
Nietzsches Aphorismus über Gedächtnis und Stolz variieren: Nietzsche hat
gezeigt, wie irrational wir sind. Das kann nicht wahr sein, sagt der Stolz
seiner Interpreten; es zeigt bloß, daß er ein Irrationalist war.
Es lohnt sich, die psychologische Deutung vieler Fehlinterpretationen
Nietzsches und das Motiv des Widerstandes noch etwas weiter zu entwickeln.
Nietzsches Formulierungen sind oft sehr provozierend und bringen dadurch
in vielen Lesern Verteidigungsmechanismen ins Spiel. Man fühlt sich beleidigt
und benimmt sich nicht rational. Aber man muß auch fragen, ob es nicht
irrational von Nietzsche war, so provokativ zu schreiben. Er erklärt seine Art
und Weise in der Genealogie der Moral (III. 19) in einem Abschnitt, in dem
er sich wieder mehrfach als Psychologen bezeichnet:
„Aber wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärtlinge noch
streicheln? Wozu unsrerseits ihrer Tartüfferie der Worte auch nur einen
Schritt breit nachgeben? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüffe-
rie der Tat, abgesehn davon, daß es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe
nämlich hat heute darin, wenn irgendworin, seinen guten Geschmack
(— andre mögen sagen: seine Rechtschaffenheit), daß er der schändlich ver-
moralisierten Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne
Urteilen über Mensch und Ding angeschleimt ist."
Ohne Zweifel empfand Nietzsche — wie auch Freud, der sich aus den
gleichen Gründen weigerte, „erotisch" zu sagen statt „sexuell" — eine tiefe
Feindseligkeit und Verachtung für manche Momente der modernen Zivilisa-
tion; und darauf reagieren natürlich viele Leser mit ähnlicher Feindseligkeit.
Wer sich beleidigt fühlt, will die Beleidigung gleich zurückerstatten, um
seinen Stolz zu retten.
Aber wir müssen auch Nietzsche selbst psychologisch verstehen, um
seine Art und Weise zu erklären. Er hatte ein seltenes Talent für prägnante
und scharfe Formulierungen. Im persönlichen Umgang war er schüchtern
266 Walter Kaufmann

und höflich, und seine Aggressivität fand Ausdruck in seinen Schriften und
fast nur da. Er fand ein ganz besonderes Vergnüge^, daran, Losungen und
Worte zu prägen, um die ihn Leute, die er verachtete, beneiden würden —
und dann diesen Prägungen einen Sinn zu geben, von dem oberflächliche
Leute nicht träumen würden. Das fand er witzig und amüsant. Das war eine
Spielart seiner spezifischen Bosheit.
Seine Umwertung begann mit seinen charakteristischsten Worten: Um-
wertung aller Werte, mit dem Hammer philosophieren, jenseits von Gut und
Böse und der Wille zur Macht sind Schulbeispiele. Alle haben einen brutalen
Klang, aber eine ganz andere esoterische Bedeutung. Die ersten beiden Schlag-
worte finden sich im Vorwort zur Götzendämmerung oder Wie man mit dem
Hammer philosophiert. Als er das Vorwort schrieb, hatte das Buch noch
einen anderen Untertitel: Müßiggang eines Psychologen. Erst auf Peter Gasts
Bitte hin machte er den Untertitel aggressiver. Aber hier muß ich das Vor-
wort zitieren:
„Eine Umwertung aller Werte, dies Fragezeichen so schwarz, so un-
geheuer, daß es Schatten auf den wirft, der es setzt — ein solches Schicksal
von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen
schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel
ist dazu recht, jeder ,Fallc ein Glücksfall. [Das ist natürlich eine Anspielung
auf den kürzlich erschienenen Fall Wagner.] Vor allem der Krieg. [In diesem
Sinn ist offenbar Polemik „Krieg."] . , . Eine andre Genesung, unter Umstän-
den mir noch erwünschter, ist Götzen aushorchen . . . Hier einmal mit dem
Hammer Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen
Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet — welches Entzücken für
einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat — für mich alten Psychologen
und Rattenfänger . . . Auch diese Schrift — der Titel verrät es — ist vor allem
eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müßiggang eines
Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden neue Götzen aus-
gehorcht? . . . Diese kleine Schrift ist eine große Kriegserklärung^ und was
das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es diesmal keine Zeitgötzen
[wie etwa Wagner], sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie
mit einer Stimmgabel gerührt wird ..."
Der Hammer ist so klein, daß er nicht einmal hohle Götzen zertrümmert,
sondern sie nur wie eine Stimmgabel anrührt und so herausfindet, daß sie
hohl sind. Das ist ein Schulbeispiel. Das Schlagwort klingt brutal, aber der
Zusammenhang zeigt, was wirklich gemeint ist. Nietzsche wertet die Worte
um. Und die Methode ist immer die gleiche. Der exoterische Sinn, der nicht
gemeint ist, ist brutal; der esoterische, der hier und da ganz klar formuliert
wird, ist subtil und bringt Witz, Intelligenz und Geist ins Spiel.
Nietzsche als der erste große Psychologe 267

Die Umdeutung der Bilder war ganz absichtlich und klar. „Aber die
Bilder, die Nietzsche dichterisch gewähren ließ, die kamen aus dem inneren
Schattenreich, in dem das, was der Mensch und Philosoph lang überwunden
hatte, noch weiterhin eine zeit- und fleischlose Existenz fortführte. Und in
den Assoziationen, die hier gegen Nietzsches eigenen, unmißverständlich von
ihm ausgedrückten Willen dennoch mitschwingen, erkennen wir das Gift der
Schlange, die er als Denker besiegt hatte. Und es hat trotz der schmetternden
Niederlage fürchterlich gewirkt. Er hat ihr den Kopf zertreten, aber sie hat
ihn in die Ferse gestochen."1
Soweit Nietzsches erster Beitrag: Bewußtsein ist eine Oberfläche. Nietz-
sches zweiter wesentlicher Beitrag zur Psychologie war seine Theorie des
Willens zur Macht.iHier hat der Widerstand1-gegen seine Psychologie vor allem
zwei Formen angenommen, außer den schon erwähnten. Flüchtige Leser und
Nichtleser haben dem Begriff den exoterischen, brutalen Sinn beigemessen,
den Nietzsche wiederholt abgelehnt hat, und haben immer wieder angenom-
men, es gäbe nur militärische und politische Macht. Als ich diese Fehldeutung
1950 eingehend widerlegt hatte, hat Martin Heidegger mit seiner Fehldeutung
des Willens zur Macht Schule gemacht, indem er Nietzsche als den letzten
großen Metaphysiker des Abendlandes dargestellt hat. Heideggers Wider-
stand gegen die Psychologie im allgemeinen und die Tiefenpsychologie im be-
sonderen ist hochinteressant und die Kehrseite seiner christlichen Krypto-
theologie. Freuds Wort über Nietzsche paßt wunderbar auf Heidegger, wenn
man es umkehrt: selten hat ein berühmter Philosoph sich selbst so schlecht
verstanden.
Heidegger stellt sich als einen kühnen Pionier dar, der weit über Nietz-
sche hinausgeht in ein bisher unbetretenes Land, Nietzsche soll der letzte
einer Reihe sein, die mit Platon beginnt, während Heidegger angeblich mit
Hilfe der Vorsokratiker die ganze abendländische Philosophie von Platon bis
Nietzsche hinter sich läßt. In Wirklichkeit übernimmt Heidegger Nietzsches
Bild der Philosophiegeschichte, ohne zu verstehen, daß für Nietzsche Plato
darum eine Unterbrechung ist, weil er sozusagen ein vorchristlicher Christ
war. Oder in Nietzsches eigenen Worten: „Christentum ist Platonismus für das
Volk" (Vorwort zu Jenseits). Nun ist es mit dem Christentum zuende, und
darum ist das Kapitel, das mit Plato anfing, zuende. Heidegger übernimmt
Nietzsches Bild, ohne dabei die Rolle des Christentums zu verstehen — und
versucht, von Nietzsche einen Weg in die christliche Gedankenwelt zurück-
zufinden. Er ist ein Erzreaktionär, ein Priester, der sich selbst nicht begreift
— und natürlich Nietzsche erst recht nicht.
1
Aus meinem Beitrag zur Jaspers-Festschrift, Offener Horizont, München 1953. Englisch,
etwas revidiert, unter dem Titel Philosophy versus Poetry in meinem Buch From Shakespeare
to Existentialism, Boston 1959, 2nd revised ed., Garden City, N. Y., 1960.
268 Walter Kaufmann

Übrigens hat der junge Heidegger noch gewußt, daß „Sein und Zeit" aus
der christlichen Theologie herkam, und damals kannte, er auch von Nietzsche
kaum etwas außer der damals populären 2. Unzeitgemäßen Betrachtung. Erst
später hat er angefangen, so viel von Nietzsche und den Vorsokratikern her-
zumachen, ohne je zu verstehen, worum es denn eigentlich den Vorsokra-
tikern oder Nietzsche ging. Aber .wenn man so vom Geist der Schwere
infiziert ist, wie Heidegger es war, und für Nietzsches leichte Füße, für seine
Kritik des Christentums und für seine Psychologie überhaupt kein Organ hat
und das alles ausklammert, dann wird die Nietzsche-Deutung natürlich zur
Parodie.
Mehr und mehr Leser Heideggers entdecken, daß seine vielbändigen
Deutungen von Philosophen und Dichtern immer viel mehr Licht auf den
Autor werfen als auf die, die er deutet. So ist es auch mit Nietzsche, dem er
sein umfangreichstes Werk gewidmet hat. Schon Heideggers Einstellung zur
Psychologie allein würde es zu einer Kuriosität machen. Der Priester, sagt
Nietzsche im Antichrist^ kennt nur eine Gefähr, die Wissenschaft — und vor
allem die Psychologie. Zudem geht Heideggers Verachtung jeglichen Zusam-
menhangs und seine Vorliebe für Kurzzitate, die er eigenwillig interpretiert,
so weit, daß sein zweibändiges Nietzsche-Werk schnell sehr langweilig wird.
Im Grunde ist Heideggers Methode in seinem Nietzsche die von Alfred
Baeumler, der die Nachworte zu Kröners Taschenausgaben von Nietzsches
Werken schrieb und dann von den Nazis auf einen Lehrstuhl an der Berliner
Universität berufen wurde. Baeumler hatte drei Prinzipien der Nietzsche-
exegese — und Heidegger übernahm alle drei.
l. Nietzsche hat gar nicht gemeint, was er in seinen Büchern sagt. Damit
wurde Baeumler mit einem Schlage Nietzsches Angriffe auf die Deutschen,
den Nationalismus, den Antisemitismus und all das los, was ihm und den
Nazis lieb war. 2. Die wahre Philosophie Nietzsches ist im Nachlaß zu
finden, vor allem im sogenannten Villen zur Macht. Natürlich finden sich
hier dieselben Angriffe, manchmal sogar noch ungehemmter. Darum
brauchte Baeumler das 3. Prinzip, das er nicht so offen betonte: Nietzsches
wahre Philosophie findet sich nur in den von Baeumler ausgewählten Exzerp-
ten.
All das ist so absurd, daß es niemand mehr ernst nimmt. Aber Heideg-
ger, dessen Nietzsche fast ganz in den Nazijahren geschrieben wurde, über-
nahm diese drei Prinzipien mit nur einer einzigen Qualifizierung: die wahre
Philosophie Nietzsches ist nur in Nachlaßexzerpten zu finden, die Heidegger
— und nicht Baeumler — ausgesucht hat.
So schreibt Heidegger tatsächlich am Anfang des ersten Bandes: „Die
eigentliche Philosophie bleibt als Nachlaß zurück" (S. 17), und zwei Seiten
später lobt er Baeumlers Nachwort zum Willen zur Macht, das beginnt: „Der
Nietzsche als der erste große Psychologe 269

Wille zur Macht ist das philosophische Hauptwerk Nietzsches." Außer


Baeumler lobt Heidegger nur noch eine andere Nietzsche-Interpretation, und
zwar die der Elisabeth Förster-Nietzsche, nur mit dem einen Vorbehalt, daß
„alles Biographische" seinem Wesen nach problematisch ist — und dann be-
hauptet er noch, was natürlich unwahr ist, es handle sich im Willen zur
Macht „zumeist" um „sorgfältig ausgearbeitete ,Aphorismen4" (S. 19).
Trotz all seinem Gerede von Offenheit und andenkendem Denken hat
sich Heidegger immer geweigert, das zu sehen oder zu hören, was in
Nietzsche einzigartig ist. Im 2. Band (S. 44) gesteht er denn auch, seine Me-
thode sei immer, ein paar Stücke aus dem Willen zur Macht auszuwählen.
Auch hier geht er vor wie ein Priester oder Pastor. (Das ist nicht dasselbe,
was man bei Nietzsche selbst findet. Nietzsche hat kein zweibändiges Werk
über Baudelaire geschrieben, und er hat sich nicht gelehrtenhaft gegeben.)
Ich behaupte natürlich nicht, daß sich in Nietzsche keinerlei Metaphysik
finden läßt. Aber ihn als den letzten großen Metaphysiker des Abendlandes
darzustellen, ist absurd und pervers. Was hätte Nietzsche selbst dazu gesagt?
Gewiß haben die Konzeptionen des Willens zur Macht und der ewigen
Wiederkunft auch eine metaphysische Komponente, aber Nietzsche sah sich
selbst vor allem als einen Psychologen und Anti-Metaphysiker. Ihn als Meta-
physiker darzustellen und seine Psychologie zu ignorieren ist eine weitere
Form des Widerstandes gegen Nietzsches Psychologie und eine Verdrehung.
Hier müssen ein paar wenige Hinweise genügen, in der Morgenröte (547)
sagt Nietzsche von den Metaphysikern: „Alles mit einem Schlage, mit einem
Worte zu lösen — das war der geheime Wunsch: . . . man zweifelte nicht,
daß es möglich sei, auch in der Erkenntnis nach Art des Alexander oder des
Kolumbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit einer Antwort zu
erledigen. . . . Der grenzenlose Ehrgeiz und Jubel, der ,Enträtseler der Welt*
zu sein, machte die Träume des Denkers aus: . . . zuletzt noch Schopen-
hauer ..."
In der Götzendämmerung ist das Kapitel Wie die wahre Welt endlich zur
Fabel wurde besondes relevant; außerdem noch das direkt vorangehende
Kapitel und Die vier großen Irrtümer — ein Kapitel, in dem ein ganzer Ab-
schnitt eine „psychologische Erklärung" bietet. Im fünften Buch der Fröh*-
lichen Wissenschaft nennt sich Nietzsche einen „Anti-Metaphysiker" (344),
und in der Genealogie (IIL24) zitiert er diesen Abschnitt. Immer wieder
betont er, er sei ein Psychologe, und seine Theorie des Willens zur Mächt ist
eindeutig vor allem eine psychologische Theorie. Ich zitiere hier bloß kurz
aus Jenseits (23):
„Die gesamte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurteilen und Be-
fürchtungen hängen geblieben: sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe
als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie
270 Walter Kaufmann

ich sie fasse — daran hat noch niemand in seinen Gedanken selbst gestreift
. . . Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewußten Widerständen
[!] im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat ,das Herz* gegen sich . . ."
Am Ende dieses Abschnitts spricht Nietzsche von der Psychologie als
„Herrin der Wissenschaften . . ., zu deren Dienste und Vorbereitung die
übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der
Weg zu den Grundproblemen."
Hätte ich dies nicht schon 1950 in meinem Nietzsche getan, so müßte ich
jetzt natürlich die psychologische Theorie des Willens zur Macht eingehend
erklären, zeigen, welche Rolle dabei die Sublimierung spielt und den Willen
zur Macht mit dem Lustprinzip vergleichen. Aber stattdessen kann ich hier
einfach auf die Kapitel 6 bis 9 verweisen.
Nietzsches dritter wesentlicher Beitrag zur Psychologie ist seine Anwen-
dung der Psychologie auf die Religionen und darüber hinaus auf Weltan-
schauungen. Er hat die Psychologie der Weltanschauungen geschaffen. Die
einzige Religion, mit der er sich wiederholt eingehend auseinander gesetzt
hat, war das Christentum; seine Psychologie des Judentums und des Buddhis-
mus sind relativ kurz, aber er hat auch versucht, den Antisemitismus, Natio-
nalismus, Sozialismus und andere Weltanschauungen psychologisch zu er-
fassen.
Diese Versuche sollten als Pionierarbeiten gewürdigt werden. Stattdessen
finden wir wieder den Widerstand. Gerade wie man seinem Vorschlag, daß
die Beweggründe unserer Handlungen, Gedanken und Gefühle nicht rational
seien, damit begegnete, daß man sagte, er sei ein Irrationalist, so entgegnete
man seiner Entdeckung des Ressentiments im Christentum damit, daß man
sagte, er sei ein Apostel des Hasses. Hatte man sich erst einmal davon über-
zeugt, so konnte man dann weiter behaupten, er habe das Christentum abge-
lehnt, weil es die Religion der Liebe sei. Auch Nicht-Christen, die sich nie
die Mühe gemacht haben, Nietzsche zu studieren — Bertrand Russell, zum
Beispiel — haben dies wiederholt.
In Wirklichkeit ist natürlich Nietzsches Theorie des Ressentiments ein
ganz wesentlicher Beitrag zum Verständnis des Menschen — und Nietzsches
Hauptbeispiel des Ressentiments war das Christentum. Seine Entwicklung
dieses Motivs läßt sich leicht durch seine späteren Schriften verfolgen und ist
ein Schulbeispiel seiner Umwertung aller Werte. In der Genealogie der Moral
und im Antichrist versucht er zu zeigen, daß die Werte des Christentums
nicht sind, was sie zu sein scheinen und wofür sie gelten, sondern daß sie
hohl sind und ein giftiges Ressentiment verbergen.
Über Einzelheiten kann man verschiedener Meinung sein — zum Bei-
spiel, ob dieser oder jener Christ wirklich von Ressentiment erfüllt war.
Umgekehrt kann man auch fragen, ob es plausibel ist zu behaupten, wie
Nietzsche als der erste große Psychologe 271

Nietzsche das tut, daß Jesus von Ressentiment ganz frei war und daß das
Ressentiment erst durch die Jünger und die Unterdrückten und Sklaven ins
Christentum hineingekommen ist. Aber die Konzeption des Ressentiment ist
und bleibt eine der wenigen großen Entdeckungen in der Geschichte der
Psychologie. Hier genügt es, auf die erste Abhandlung der Genealogie hinzu-
weisen (10):
„— Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressenti-
ment selbst schöpferisch wird und Werte gebiert: das Ressentiment solcher
Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur
durch eine imaginäre Rache schadlos halten ..."
Von Nietzsches anderen Beiträgen zur Psychologie der Religionen und
Weltanschauungen ist seine Psychologie des Glaubens ganz besonders beach-
tenswert. Das Thema wird in der Genealogie (III.24) eingeführt: „unser Miß-
trauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schließen, als man
ehedem schloß: nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in den
Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit, auf Un-
wahrscheinlichkeit, selbst des Geglaubten zu schließen."
Wie gewöhnlich, ist der ganze Abschnitt ungemein interessant, aber
dieser Ideenkreis wird erst im Antichrist voll entwickelt. Auch hier hat der
Widerstand gegen Nietzsches Psychologie seine üblichen Formen ange-
nommen, und außerdem hat man den Antichrist immer wieder als das Werk
eines Wahnsinnigen entwertet. Die, die dies Werk entwerteten — ob sie nun
die Frühschriften vorzogen oder den Willen zur Macht — sind damit Nietz-
sches Angriff ausgewichen.
Die Abschnitte 50 bis 55, insgesamt etwa 10 Seiten, sind die tiefschür-
fendste „Psychologie des ,Glaubens*, der , Gläubigen'", die es gibt. Diese
Abschnitte zeigen, wie verfehlt die meisten Interpretationen von Nietzsches
Erkenntnistheorie und seiner Kritik am Christentum sind.
„Man lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathu-
stra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Uberkraft des
Geistes beweist sich durch Skepsis. Menschen der Überzeugung kommen für
alles Grundsätzliche von Wert und Unwert gar nicht in Betracht. Über-
zeugungen sind Gefängnisse."
„Das Bedürfnis nach Glauben, nach irgendetwas Unbedingtem von Ja
und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein
Bedürfnis der Schwäche."
„Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage ,wahrc und ,unwahr*
überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre
sofort sein Untergang . . . die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie
Gründe hört . . ."
272 Walter Kaufmann

Diesen Zitaten aus dem Abschnitt 54 mögen noch ein paar aus 55 folgen:
„Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des ,Glau-
bens* . . . besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegen-
satz? — Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! — Eine jede
Überzeugung hat ihre Geschichte . . . sie wird Überzeugung, nachdem sie es
lange nicht ist, nachdem sie es noch länger-&* ist. Wie? könnte unter den
Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? . . . im Sohn
wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. — Ich nenne Lüge: etwas
nicht sehn wollen, das man sieht, etwas nicht 50 sehn wollen, wie man es
sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statthat, kommt nicht in
Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das
Belügen andrer ist relativ der Ausnahmefall. — Nun ist dies Nicht-sehn-
wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe
die erste Bedingung für alle, die Partei sind, in irgendwelchem Sinne: der
Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner . . . Ein Antisemit wird
dadurch durchaus nicht anständiger, daß er aus Grundsatz lügt."
Nietzsche hatte natürlich selbst Überzeugungen. Aber er hatte auch den
Mut, seine Überzeugungen kritisch zu untersuchen und in Frage zu stellen.
Von hier ist es nur ein kurzer Schritt zu Nietzsches viertem wesentlichen
Beitrag zur Psychologie. Viele Leute meinen, Erik Erikson habe die soge-
nannte psycho-history entdeckt oder gegründet. Aber warum er? Warum nicht
Freud, warum nicht Nietzsche?
Angeblich ist Eriksons Young Man Luther: A Study in Psychoanalysis
and History (1958) etwas ganz Neues. Aber der einzige Grund, den man
dafür angeben könnte, wäre daß dies Buch historisch weitaus besser fundiert
sei als Freuds Studien über Leonardo da Vinci und Dostoevskij. Aber dies
Lutherbuch ist sehr anfechtbar, und der wesentlichste Unterschied zwischen
Freud und Nietzsche einerseits und Erikson andererseits dürfte der sein, daß
Freud und Nietzsche radikal und bedrohlich sind, während Erikson erstaun-
lich sanft und liebenswert ist. Im Grunde finden wir die psycho-history
schon in Nietzsches drei kurzen Büchern über Wagner, in dem Abschnitt 68
der Morgenröte über Paulus, in der „Psychologie des Erlösers" im Antichrist
und an vielen anderen Stellen in Nietzsches Schriften — auch, zum Beispiel,
über Luther. Ich stimme keineswegs mit allen diesen Deutungen überein und
finde etwa Nietzsches Psychologie von Jesus gar nicht überzeugend. Warum
ist das dann trotzdem ein wesentlicher Beitrag? Weil seit Nietzsche und
Freud jede Studie eines Menschen, die Toten sehr mit einbegriffen, flach und
zweidimensional erscheint, wenn wir nicht in die Tiefe gehen und die besten
psychologischen Einsichten, die uns zur Verfügung stehen, ins Feld führen.
Aber wenn wir dabei nicht solide arbeiten und wesentliche Informationen
ignorieren, dann sind natürlich unsere Resultate nicht viel wert.
Nietzsche als der erste große Psychologe 273

Nietzsches Version der psycho-history ist nicht auf das Biographische


beschränkt. Es genügt auch nicht, seine Rekonstruktionen der Anfänge des
Christentums hinzuzufügen. Seine Hypothese über den Ursprung des
schlechten Gewissens ist ein wesentlicher Beitrag, der auch hierher gehört.
„An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen
Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens* zu einem ersten
vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen:. . . Alle Instinkte, welche sich nicht nach
außen entladen, wenden sich nach innen — dies ist das, was ich die
Verinnerlichung des Menschen nenne . . . Jene furchtbaren Bollwerke, mit
denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit
schützte — die Strafen gehören vor allem zu diesen Bollwerken —, brachten
zuwege, daß alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich
rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten. Die Feindschaft, die
Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der
Zerstörung — alles das gegen die Inhaber solcher Instinkte sich wendend: das
ist der Ursprung des schlechten Gewissens'" (Genealogie, II. 16).
In Das Unbehagen in der Kultur (1930) bietet Freud 43 Jahre später fast
die gleiche Theorie: „Die Aggression wird introjiziert, verinnerlicht, eigentlich
aber dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen ist, also gegen das eigene
Ich gewendet." Nietzsche hat nicht behauptet, daß die Aggression von daher
gekommen ist, und hat auch nicht erst spät im Leben entdeckt, wie Freud,
daß die Aggression eine unabhängige Triebanlage ist. Aber hier ist nicht der
Ort für einen eingehenden Vergleich.
Selbst in dem schon zitierten Abschnitt (16) sagt Nietzsche: „Fügen wir
sofort hinzu, daß andrerseits mit der Tatsache einer gegen sich selbst gekehrten,
gegen sich selbst Partei nehmenden Tierseele auf Erden etwas so Neues,
Tiefes, Unerjiörtes, Rätselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles
gegeben war, daß der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte." Und
Abschnitt 19 beginnt: „Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das
unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine
Krankheit ist."
Nietzsches fünfter wesentlicher Beitrag — der letzte, den ich erwähnen
will, — ist sehr kompliziert und schwer faßbar. Doch kann man ihn mit
einem Wort bezeichnen: Masken. Die zwei-ein-halb Registerbände der
Musarion-Ausgabe von Nietzsches Werken liefern nur vier Hinweise auf
Stellen, wo dies Wort vorkommt, und Schlechtas Nietzsche-Index liefert
sechs! Trotzdem kommt dies Wort natürlich schon in der Geburt der
Tragödie vor (in den Abschnitten 9, 10 und 12), und in der Fröhlichen
Wissenschaft2 und vor allem in Jenseits von Gut und Böse3 wird dieses Motiv
2
Vor allem 77, 80, 361 und 365.
3
Vor allem das Vorwort und 4, 5, 25, 30, 40/47, 204, 221, 225, 230, 270, 278 und 289.
274 Walter Kaufmann

reich entwickelt. Auch im Nachlaß finden sich viele interessante Stellen4,


doch sind die Bücher aufschlußreicher. ·r
Natürlich genügt es nicht, sich auf das Wort „Maske" zu versteifen.
„Schauspieler"5, „Rollen", „Rollen spielen"6 und manches andere Wort
gehören auch in diesen Begriffskreis. Ernst Behler hat in einem Artikel über
„Nietzsches Auffassung der Ironie" (in den Nietzsche-Studien 4, 1975) einen
der wenigen beachtenswerten Beiträge zu diesem Thema gemacht. Er hat vor-
geschlagen, daß Nietzsche vielleicht das Wort „Ironie" vermieden hat, weil es
romantisch-subjektive Assoziationen hat, und daß Nietzsche das klassische
Wort dissimulatio vorzog; auch daß Cicero den griechischer! Begriff der
Ironie ins Lateinische einführte — als dissimulatio. Auf alle Fälle gehört auch
das Wort „Verstellung", das bei Nietzsche oft vorkommt, zu diesem
Thema.
Damit wächst natürlich das Material so weit, daß es sinnlos wäre zu
versuchen, es noch schnell am Ende dieses Beitrags zu verarbeiten. Aber hier
liegt wieder ein Thema vor, das bei Nietzsche ganz zentral ist, aber bisher
nicht genügend gewürdigt worden ist. Immerhin lohnt es sich, darauf hinzu-
weisen, daß das Rollenspielen im Denken des 20. Jahrhunderts eine große
Rolle spielt. In der International Encyclopedia of the Social Sciences (1968,
volume 13) finden sich separate Artikel unter „Role Playing" über „Psycho-
logical Aspects" und „Sociological Aspects". Beide verfolgen dies Konzept
bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, ohne zu erwähnen,
daß Nietzsche diesen Begriff schon in der Fröhlichen Wissenschaft (356 und
361) entwickelt hat — und keineswegs nur da. Verglichen mit Nietzsches
Ausführungen über diesen Ideenkreis sind die meisten modernen Dis-
kussionen über Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Authentizität und In-
authentizität erstaunlich manichäisch und undifferenziert. Und die ideologie-
kritische Forderung des Demaskierens erscheint mit Nietzsche verglichen oft
recht naiv. Nur noch ein Zitat — eine Warnung: Jenseits 40 beginnt: „Alles,
was tief ist, liebt die Maske". Und es endet: „und gesetzt, er tvill es nicht, so
werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, daß es trotzdem dort
eine Maske von ihm gibt — und daß es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht
eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine
4
Allein im Willen zur Macht 68, 78, 132, 289, 377, 434, 944, 962, 985 und 988.
5
Fröhliche Wissenschaft 36, 99, 236, 301, 356, 361, 366, 368, 377; Jenseits 7, 9, 97, 205; Der
Fall Wagner 8, 9, 11, 12 und erste Nachschrift 1. Hier liefert das Register der Musarion-
Ausgabe auch noch viele Stellen in den anderen Büchern und im Nachlaß.
6
Fröhliche Wissenschaft 68, 71, 356 und 361. Siehe auch den 6. Abschnitt meiner Einleitung zu
meiner Übersetzung mit Kommentar. Übrigens habe ich mit Ausnahme von den Unzeit-
gemässen Betrachtungen, Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröte alle Bücher
Nietzsches ins Englische übersetzt, die meisten mit Kommentaren, in denen natürlich Einzel-
heiten berücksichtigt werden, die hier übergangen werden mußten.
Nietzsche als der erste große Psychologe 275

Maske, dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes,
jedes Schrittes, jedes Lebenszeichens, das er gibt."
Damit bin ich am Ende. Und ich schaue zurück. Als ich vorschlug, daß
ich über „Nietzsche als den ersten großen Psychologen" reden wollte, war
das einfach, weil ich an diesem Thema arbeitete; und ich meinte, wenn alle
anderen über Nietzsche als Kritiker seines Jahrhunderts sprächen, es vielleicht
nicht so schlimm sein würde, wenn ich das nicht täte. Jetzt scheint es mir
aber so, als sei Nietzsches Psychologie ein ganz wesentliches Moment seiner
Kritik seiner Zeit — und unserer Zeit. Man sollte Nietzsche nicht die Zähne
ziehen und ihn verharmlosen. Wenn man ihn als Protofaschisten darstellt,
dann tut man ihn damit ab, und dann bedroht er uns nicht mehr. Seine
Psychologie aber ist keine harmlose Angelegenheit, die sich leicht histori-
sieren und einordnen läßt. Sie stellt sowohl den Autor als auch uns alle in
Frage.
Diskussion

Heller: Ich möchte jetzt nicht auf unsere grundlegende Kontroverse


eingehen, Herr Kaufmann, sondern nur auf weitere Motive in Nietzsches
Denken hinweisen, die zum Freudschen Ansatz in sehr naher Beziehung
stehen; Freud selbst hat sie zum Teil nicht richtig anerkannt, obwohl ihm in
seiner Jugend durch Paneth schon sehr viel über Nietzsche vermittelt worden
war, nicht erst durch Lou Andreas-Salome —

Kaufmann: Durch Lou gar nicht. Sie hat sich geweigert, mit Freud über
Nietzsche zu sprechen. Ich kann mir sehr gut vorstellen* warum.

Heller: Entschuldigen Sie, aber was Lou gesagt hat, war nicht, daß sie
nicht über Nietzsche als Psychologen sprechen wollte, sondern nicht über
den Fall Nietzsche, über Nietzsches Krankheit. Darüber zu reden hat sie sich
auch gegenüber Zweig geweigert, der einen Nietzsche-Roman schreiben
wollte.
Ich möchte darauf hinweisen, in welchem Maße Nietzsche schon Freud
antizipiert hat. Erstens: Gewissen als Produkt des introjizierten Sadismus,
das weist auf Freuds Konzept des „Uber-Ich" hin; auch auf die Kritik am
Uber-Ich in Das Unbehagen in der Kultur. Zweitens: Nietzsches durch-
gehende Auffassung des manifesten Charakters und der manifesten Anschau-
ung als Maske, als Bilderschrift eines zugrunde liegenden „niederen"
Interesses, oder Triebes, findet sich wieder im Ansatz von Freuds Traum-
deutung. Sie haben ja auch gezeigt, Herr Kaufmann, daß das Verständnis des
Traumes als verschleierte Darstellung eines unbefriedigten Bedürfnisses von
Nietzsche antizipiert wird. Drittens: das Konzept der Sublimierung und die
Rolle der Sublimierung auch in unserem allzumenschlichen Tun und Lassen.
Viertens: Nietzsches durchgehende Einsicht, von der Geburt der Tragödie
an, in die Neurose, das heißt in den konfliktgeladenen, gehemmten, frag-
mentierten. Charakter des zivilisierten Menschen als Folge der — oder jedenfalls
unserer — Repression benötigenden Zivilisation und Kultur. Derlei steht in
der Tradition von Rousseau und der ihm Folgenden, aber es ist schon
durchaus derselbe Ansatz, der auch die Kulturkritik in Das Unbehagen in der
Kultur trägt. Fünftens: Die Auffassung des Menschen als ein biologisches
Wesen, als sublimierendes und repressierendes (Impulse , verdrängendes')
Wesen, bestimmt von triebhaften Interessen; eine Auffassung, die bei
Diskussion 277

Nietzsche durch Denkmotive Schopenhauers angeregt worden sein mag, aber


auch im Sinne von Freuds Psychologie durchgeführt wird.

Miller: Herr Kaufmann, Sie haben die These aufgestellt, Nietzsches


Psychologie des Glaubens sei beispiellos tiefschürfend und eigentlich maß-
gebend. Ich möchte dagegen provozierend fragen: Ist es Nietzsche gelungen,
das eigentliche Phänomen des Glaubens bzw. der Religion überhaupt nur in den
Blick zu bekommen? Ist es nicht vielmehr so, daß Nietzsche die Psycho-
pathologie des im paulinischen Sinne, also des kranken,
des religiös versündigten Menschen beschreibt, also eigentlich der große
Psychologe einer falschen Religiosität, einer epiphänomenalen oder Unheils-
Religiosität ist? Meine Frage an Sie ist: Glauben Sie denn, daß es Nietzsche
gelungen ist, das Phänomen des Glaubens schlechthin zu ergründen?

Kaufmann: Wenn Sie fragen, ob es der wirkliche religiöse Glaube ist,


den Nietzsche vor Augen hat, nun: bei Nietzsche läuft es darauf hinaus —
und das mag Ihnen nicht zusagen, Herr Miller —, zwischen religiösem
Glauben und anderen Arten des Glaubens keinen prinzipiellen Unterschied
2feu iriächen. Andere sind ihm darin gefolgt, z. B. Eric Hoffer, der in The True
Believer den Argumenten Nietzsches im Grunde kaum etwas hinzufügt,
und, sagen wir, Jean Paul Sartre. Nietzsche behauptet, daß die Psychologie
des Glaubens gewisse gemeinsame Züge aüfweist, ob es sich nun um
Religionen oder um Ideologien handelt. Wenn Sie mich fragen, ob ich das für
richtig halte, würde ich sagen: ja; und Sie würden wahrscheinlich sagen, daß
Sie es nicht für richtig halten. Auf alle Fälle, und darauf kam es mir bei
meinem Vortrag an, ist das einer der interessantesten Bestandteile von
Nietzsches Überlegungen, den man nicht ignorieren sollte.

Ulmer: Die letzten Worte Ihres Vortrags, Herr Kaufmann, mit denen Sie
die Bedeutung Nietzsches als Psychologen vor uns und für uns hingestellt
haben, haben mich mit Ihren Ausführungen zum Teil wieder versöhnt. Aber
ich muß doch etwas sehr Kritisches sagen. Die Art, wie Sie über Heidegger
und Baeumler gesprochen haben, war mir zu billig. Denn die sachliche
Leistung, die Heidegger — bei aller Einseitigkeit — erbracht hat, kann man
mit einem Wort wie Absurdität nicht abtun. Eine zweite kritische Bemer-
kung: Sie sagten, daß Nietzsche der erste Psychologe sei unter den
Philosophen; frühere Philosophen — Sie nannten Kant und Hegel — hätten
sich selbst nicht gekannt. Da möchte ich einerseits fragen, wie weit Nietzsche
sich in seiner Lebenskomplexität und in seiner Lebenssituation wirklich
gekannt und durchschaut hat, und umgekehrt sollten Sie doch sehen, daß
auch von anderen, früheren Philosophen sehr differenzierte psychologische
278 Walter Kaufmann

Reflexionen vorliegen, z. B. von Kant in der Anthropologie und von den


französischen Moralisten. Man kann hier doch nicht so sehr vereinfachen, wie
Sie das getan haben. Es lag überhaupt eine gewisse Aggressivität gegen die
ganze Philosophie in dem, was Sie gesagt haben.
Andrerseits haben Sie recht damit, daß Nietzsches psychologische
Arbeit — man kann auch anthropologische Reflexion sagen — nie richtig
gewürdigt worden ist; es ist sicher ein Desiderat, das aufzuarbeiten. Man muß
dabei allerdings bedenken, daß diese Psychologie von vornherein, bei allem
sich Einlassen auf die Breite des empirischen Feldes, unter einem bestimmten
Gesichtspunkt steht. Es ist die Frage > wie weit es Sache der Psychologie ist, alles
ihr Gegebene auf einen Grundtrieb zurückzuführen. In solchem Verfahren
kommt schon ein Stück Philosophie zum Vorschein. Während die Psycho-
logie mit einer Vielheit von Trieben und ihrer Komplexität arbeitet, herrscht
bei Nietzsche doch ganz eindeutig die Tendenz vor, letztlich alles auf die eine
Wurzel des „Willens zur Macht" zurückzuführen. Übrigens hat schon Klages
gesehen, daß Nietzsche alles auf den „Willen zur Macht" reduzierte, hat aber
auch darauf hingewiesen, daß diese Reduzierung in einem tiefen Wieder-
spruch zu den von Nietzsche aufgedeckten psychischen Gegebenheiten steht.

Djuric: Man kann doch, Herr Kaufmann, die Methode Heideggers nicht
auf die Baeumlers zurückführen! Heideggers Denkansätze lassen sich in
verschiedene Richtungen zurückverfolgen. Man kann auf Dilthey verweisen,
auf den Neukantianismus, auf Husserl und Scheler, auch auf Nietzsche —,
aber nicht auf Baeumler. Im übrigen sehe ich nicht, daß es überhaupt nötig
ist, die Antithese von Nietzsche als Psychologen und Nietzsche als Meta-
physiker zu konstruieren. Man kann vielleicht sagen, daß sich Nietzsche in
vielem, was er von sich selbst als einem Psychologen gesagt hat, geirrt hat.
Oder man kann seine „psychologischen Errungenschaften" so hoch ein-
schätzen, wie Sie das tun. Aber das Wesentliche seines Werkes liegt in seiner
Metaphysikkritik oder — wenn man so will — in seiner Umstülpung der
Metaphysik.

Berlinger: Herr Kaufmann, ich verstehe sehr gut, daß Sie in einem
Schwarz-Weiß-Entwurf scharf pointieren wollten und mußten. Aber die
Auseinandersetzung mit Heidegger — man braucht kein Heideggerianer sein,
um Herrn Ulmer zu folgen — schien mir doch zu sehr von außen heran-
getragen zu sein. Es ist andererseits gar nicht so abwegig, selbst dann, wenn
man sich die Auffassung von Herrn Djuric zu eigen macht, daß die Methode
Heideggers — so weit man beim späteren Heidegger von Methode sprechen
kann — nicht von Baeumler her begriffen werden kann, Heidegger in
gewissem Sinne mit Baeumler in Verbindung zu bringen. Man lese Baeumlers
Diskussion 279

große Einleitung zu Bachofens Mythos von Orient und Occident und


vergleiche sie mit dem seinsgeschichtlichen Denken Heideggers.

Bebler: Meine Frage hat nichts mit Nietzsche-Interpreten zu tun,


sondern bezieht sich direkt auf die Nietzsche-Exegese. Im Verlauf Ihrer
Darlegungen, Herr Kaufmann, bin ich wieder auf ein Problem gestoßen, das
schon im Zusammenhang des Vortrage von Herrn Miller auftauchte. Ich habe
meine diesbezügliche Frage aber aufgeschoben, weil ich glaubte, sie passe besser
in den Rahmen Ihres Themas. Sie kann an das zu Anfang Ihres Vortrags
angeführte Zitat von Freud anknüpfen, daß Nietzsche sich selbst vielleicht
besser gekannt hat, als irgendein anderer Philosoph, bzw. irgendein anderer
Mensch überhaupt. Und dieses Zitat kann sich sicherlich auf Äußerungen
Nietzsches berufen. Es kann sich auch auf einen Imperativ beziehen, den
Nietzsche zustimmend aufgenommen hat, nämlich den Imperativ „
", erkenne Dich selbst! Auf der anderen Seite finden wir aber in
Nietzsches Werk Stellen, in denen er es als absurd bezeichnet, daß ein
Instrument, wie das Erkennen, sich selbst erkennen soll. Er sieht die
Bemühung um die Selbsterkenntnis als Instinktschwächung an, als Perver-
sität. Man kann wohl sagen, daß hier zwei Imperative in Widerspruch
zueinander stehen, auf der einen Seite: Erkenne Dich selbst!, und auf der
anderen Seite: Erkenne Dich nicht selbst! Oder wie läßt sich Nietzsches
Formulierung „Selbstkenner, Selbsthenker!" erklären? Wie läßt sich der
von mir genannte Widerspruch in Nietzsches Sinne lösen? Ich sehe einen
ähnlichen Widerspruch zwischen dem Postulat der Maske einerseits und dem
Postulat der intellektuellen Redlichkeit andrerseits. Den kann ich mir
erklären. Aber die Dialektik von: Erkenne Dich selbst! und Erkenne Dich
nicht selbst, weil es Deinen Instinkt schwächen würde!, bleibt für mich ein
offenes Problem.

Kaufmann: Zunächst zu Herrn Heller. Tatsache ist, daß wir nicht


wissen, was Freud von Nietzsche gekannt hat. Man hat vermutet, Freud
könne vielleicht von Otto Rank eine ganze Menge über Nietzsche erfahren
haben. Aber ich habe erst vor kurzem in einem Antiquariat einen Brief von
Rank gefunden, in dem er mitteilt, wie wenig Freud von Nietzsche gewußt
habe, was mir freilich übertrieben ausgedrückt zu sein scheint.
Ich bin der letzte, Herr Ulmer, der behaupten wollte, daß Nietzsche sich
erschöpfend selbst gekannt hat. Ich habe dazu Freud zitiert, ohne dem Zitat
völlig zuzustimmen. Aber — und darauf bestehe ich allerdings — wieviel
besser hat Nietzsche sich gekannt als andere Philosophen, als Kant z. B. oder
Hegel, die überhaupt kein Problem in ihrer eigenen Psyche gesehen haben,
die gar nicht erst den Versuch machten sich zu fragen: warum habe ich ein
280 Walter Kaufmann

Bedürfnis, dies oder jenes zu glauben, es durch Argumente zu stützen und zu


rechtfertigen? Wenn ich also sage, daß Nietzsche sich besser gekannt hat, so
braucht das nicht einmal zu heißen, daß er sich besonders gut gekannt haben
muß. Es genügt, daß er hier ein Problem gesehen und sich darüber Gedanken
gemacht hat.
Wenn Sie sagen, daß Sie bei mir eine gewisse Animosität gegen die
Philosophie herausgehört haben, dann haben Sie nicht ganz unrecht. Das hat
sicherlich auch damit zu tun, daß ich selbst Fachphilösoph bin und das seit
langer Zeit. Der sachlich wichtige Punkt ist folgender: Nietzsche hat klärer
gesehen als irgendein Philosoph vor ihm und als viele nach ihm, daß etwas
ganz Partielles, Unvollständiges an der Philosophie ist, und daß man eine
andere, eine außerphilosöphische Perspektive braucht, um daS in den Blick
zu bekommen.
Sie fragen, Herr Behler, wie Nietzsche der Selbsterkenntnis gegenüber-
gestanden habe. Nun — er ist nicht zu einem Psychoanalytiker gegangen und
hat sich nicht auf die Couch gelegt; aber er ist ein Mensch gewesen, der
nachts nicht viel geschlafen hat, und der — ob er das nun wollte oder nicht —
in seiner Schlaflosigkeit viel über sich nachgedacht hat. In gewisser Weise war
das ein Fluch. Je mehr Nietzsche von sich selbst, von seinen Motiven und
Beweggründen ins* Auge bekam, desto schadhafter fand e'r es utld desto
schrecklicher und lähmender wirkte die Einsicht auf ihn. Ujld trotzdem
konnte er nicht damit aufhören. „Verbiete du dein Seidenwurtfi zu spinnen,/
wenn er sich schon dem Tode näher spinnt" (Goethe, Tasso).
Da sehe ich also keinen Widerspruch; die Selbsterkenntnis war Nietz-
sches Schicksal — ein Schicksal, das ihn zu tiefen Einsichten geführt hat und
das auf der anderen Seite ein „Kreuz" war.
Auf Heidegger will ich nur ganz kurz eingehen. Sie können mir ihm
gegenüber eine gewisse Respektlosigkeit vorwerfen: das ist eigentlich kein
Vorwurf, wenn man mit und über Nietzsche spricht. Die Frage ist, wie man
Heidegger sieht: Ist er ein großes Unheil? Oder muß man ihm, wenn auch
mit Abstrichen, für so manches dankbar sein? Bei einigen von Ihnen herrscht
offenbar die zweite Haltung vor, bei mir die erste. Ich bin ihm gar nicht
dankbar und sehe ihn tatsächlich in vielfacher Beziehung als ein großes
Unheil an. Für meine These, daß er mit Baeumler drei grundlegende
Prinzipien der Nietzsche-Interpretation teilt, ist es völlig irrelevant, was
Baeumler über Bachofen geschrieben hat und wo die Wurzeln von Heideg-
gers Methode liegen. Denn diese drei Prinzipien sind absurd; sie sind absurd,
wenn ein Nazi sie anwendet, und sie sind genauso absurd — zu diesem Wort
stehe ich —, wenn Heidegger sie anwendet. So hat ein Hermann Cphen, so
hat ein Paul Natorp, so haben die Neukantianer generell ihren Kant nicht
ausgelegt, mit einer derartigen Willkür. Ich will damit nicht sagen, daß mir die
Diskussion 281

Neukantianer besonders imponieren, aber deutlich machen, daß eine solche


Willkür noch nie dagewesen ist, daß man sagt, der Mann meine gar nicht, was
in seinen Büchern steht, sondern das, was im Nachlaß zu finden ist. Und aus
dem Nachlaß sucht man sich besondere Texte zusammen, die einem in seinen
Kram passen. Damit ist doch ein äußerster Tiefstand in der Geschichte der
Interpretation erreicht.

Biser: Was Sie, Herr Kaufmann, einleitend über die durch Nietzsche
gewonnene Sensibilität gesagt haben, hat mir außerordentlich imponiert, wie
auch vieles andere in Ihrem Vortrag. Dennoch möchte ich fragen, ob Ihre
überscharfe Polarisierung von Philosophie auf der einen und Psychologie auf
der anderen Seite im tiefer verstandenen Interesse Nietzsches liegt und ob Ihr
Plädoyer für den Psychologen nicht zugleich ein Bärendienst für Nietzsche
als ganzen gewesen ist. Es ist doch bezeichnend, daß Sie den Zaratbustra in
Ihrer ganzen Argumentation ausgeklammert haben. Mir ist der Zaratbustra
auch nicht sympathisch, — aber immerhin hat Nietzsche in diesem Werk ganz
bewußt eine Lehre vorgetragen, und Ecce bomo kommt in Form einer
ausdrücklichen Affirmation darauf zurück. Wenn man den Psychologen
gegen den Philosopheil ausspielt, wie es mir in Ihrem Referat der Fall zu sein
scheint, dann läuft man doch Gefahr, dem Psychologen gleichzeitig die
Prinzipien zu entziehen, aufgrund deren er überhaupt argumentieren kann.
Iri diesem Zusammenhang noch eine weitere Bemerkung: Sie haben den
Hammer als Stimmgabel identifizirt, vollkommen zurecht! Aber ich frage
inich, ob im weiteren Verlauf Ihres Referats nicht doch wieder aus der
Stimmgabel ein Hammer geworden ist, wenigstens in manchen Ausführungen.
Mein dritter Punkt betrifft die Christentumskritik, die ja unser perma-
nenter Kontroverspunkt ist. Ich nehme, um dies voranzuschicken, Nietzsche
durchaus als Christentums-Kritiker ernst — mein Buch trägt den Untertitel
„Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins", und ich nehme
davon nichts zurück. Ich könnte alles das einarbeiten, was Sie über Nietzsche
als Psychologen gesagt haben. Aber hinsichtlich Ihrer Kritik ist doch zu
beachten, daß es erstens das mit Platonismus — und zwar arbiträr mit
Platonismus — gleichgesetzte Christentum ist, das Nietzsche bei seiner
Polemik vor Augen hatte, und daß es sich dabei zweitens um das Christen-
tum seiner Zeit handelte, wie es ihm vom Elternhaus und von der Schule
vermittelt worden -war. Nietische ist hellsichtig genug gewesen, von diesem
institutionell überfrachteten und durch psychologische Fehlentwicklungen
belasteten Christentum die Gestalt seines Stifters auszunehmen und er hat
seine Kritik demgemäß bewußt nur gegen das seiner Meinung nach von
Paulus ideolögisierte Christentum gerichtet. Es ist bezeichnend, daß Jesus
von ihm nicht ebenso attackiert wurde, obwohl er natürlich auch die
282 Walter Kaufmann

„Praktik" Jesu keineswegs gutgeheißen hat. Aber hier besteht eine Differenz,
die in Ihrem Referat nicht zum Austrag gekommen ist.

Kaufmann: Daß Nietzsche Jesus von seiner Christentumskritik. aus-


nimmt, habe ich sogar erwähnt. Ich habe zwar gesagt, daß ich Nietzsche in
dieser Hinsicht wenig plausibel finde, aber ich habe eingeräumt, daß er Jesus
von jedem Ressentiment freispricht.
Eine schroffe Polarisierung von Philosophie und Psychologie war von
mir nicht intendiert. Sie läge nur dann in der Konsequenz meiner Ausfüh-
rungen, wenn Sie alle Philosophie mit Metaphysik gleichsetzen, was ich
natürlich nicht tue. Ich habe gesagt, daß ich es für verfehlt halte, Nietzsche
als den letzten großen Metaphysiker des Abendlandes zu sehen. Das ist
meiner Ansicht nach ein extremes Mißverständnis.
Aber es gibt natürlich viele andere Spielarten von Philosophie; und im
Blick darauf ist eine scharfe Trennung zwischen Philosophie und Psychologie
verfehlt. Was ich zeigen wollte, ist, daß Nietzsche etwas, was es schon bei
verschiedenen Philosophen vor ihm ansatzweise gegeben hat, in viel höherem
Maße entwickelt, eine Philosophie, die wesentlich Psychologie miteinschließt.
Begonnen haben wir unsere Tagung mit einer Erörterung von Nietzsches
Beziehung zu Schopenhauer, bei dem die Psychologie auch schon leine
wichtige Rolle spielt. Andererseits ist Nietzsche in vielerlei Hinsicht
überhaupt nicht Psychologe gewesen. Seine Art Psychologie ist eine sehr
philosophische Psychologie, ohne Frage.
Zur Nichtberücksichtigung des Zarathustra, die Herr Biser moniert hat.
Sie ist nicht deswegen erfolgt, weil ich Zarathustra nicht leiden könnte. Ich
hätte Partien dieses Werks gut in meine Argumentation mit einbeziehen
können, und einmal habe ich es auch getan, nämlich durch den Satz: „Man
lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein
Skeptiker.", mit dem Nietzsche im Antichrist einen Grundzug des Zara-
thustra hervorhebt. Das sehen manche von Ihnen wohl nicht so.,Solange man
das aber nicht sieht, versteht man nach meiner Auffassung Zarathustra nicht
richtig. Bei Nietzsche finden wir immer Masken, immer Skeptik, immer
Perspektiven.

Müller-Lauter: Ich weise darauf hin, daß wir bedauerlicher Weise aus
Zeitgründen die Rednerliste schließen müssen. Ich bitte die noch folgenden
Redner sich nach Möglichkeit kurz zu fassen. Herr Kaufmann erhält dann das
Schlußwort zu dieser Diskussion.

Maurer: Ich möchte eine systematische Überlegung einbringen. Man


könnte sagen, Nietzsches Psychologie sei das Hauptinstrument seiner
Diskussion 283

Ideologiekritik, wie bei Marx das Hauptinstrument der Ideologiekritik die


ökonomischen Analysen sind. Ideologie heißt dabei jede Theorie, die sich als
interesselose Erkenntnis und Selbsterkenntnis versteht: reiner Geist zu sein
beansprucht, der sich im Fall seiner Selbsterkenntnis unabhängig von allen
bedingenden Faktoren erkennen würde. Die traditionelle Hochform von
Ideologie ist die Ontologie, Metaphysik. Das Problem ist, daß man, um
Ideologiekritik treiben zu können, wieder eine positive Theorie einer Primär-
sphäre braucht, von der aus man die Ideologie entlarven kann. Nietzsche sieht,
daß seine Psychologie doch auf eine Art Ontologie oder Phänomenologie der
Seele hinauslaufen könnte, bzw. wenn sie das nicht tut, daß dann keine Basis
da ist, von der aus er kritisieren kann. Dazu scheinen mir die Überlegungen
in Herrn Millers Vortrag sehr wertvoll gewesen zu sein. Er hat darauf
hingewiesen, in welchen Zirkel Nietzsches Theorie gerät, in den Zirkel
nämlich von einer Pseudoursprünglichkeit und einer Pseudodämonisierung
der Selbstreflexion. Nietzsche selbst sieht, daß die theoretische Basis, auf der
er stehen könnte, sich in der Selbstreflexion immer wieder auflöst, daß also diese
Ideologiekritik sich selbst immer wieder die Basis entzieht. Damit könnte sie
statt befreiend lebensfeindlich wirken, statt lebensfördernd verkümmernd
und auflösend.

Gilman: Herr Kaufmann hat eine sehr einseitige Auffassung von Psycho-
logie. Er beginnt seine Geschichte der Psychologie als Teilgebiet innerhalb
der Philosophie mit Kant, was etwas kurzsichtig ist, da Descartes, Bayle,
Hobbes und Locke ignoriert werden, die Nietzsche alle bekannt waren. Aber
dies ist nicht der Hauptirrtum in Ihrem Verständnis von Psychologie, Herr
Kaufmann. Denn wenn Sie sich der Psychologie als einem unabhängigen Unter-
suchungsgebiet zuwenden, erwähnen Sie Freudy Reich ,und Erikson und argu-
mentieren damit historisch hinsichtlich Ihres Verständnisses von der philoso-
phischen Natur von .Psychologie, aber total ahistorisch, wenn es zum Gegen-
stand an sich kommt. Daß Nietzsche in der Tradition der Psychologie des 19.
Jahrhunderts steht, ist von den Standardgeschichten der dynamischen Psycholo-
gie, wie z. B. Ellenberger, anerkannt. Daß Nietzsche aber die zeitgenössischen
Werke auf diesem Gebiet kannte und ausgedehnt dann las, kann nicht genug
betont werden. Ein Beispiel muß genügen: Nietzsche las Löwenfelds Monogra-
phie über die Ursache von Kopfschmerzen. In dieser Monographie sind zwei
Bereiche, die der Spekulation angehören, und die immer wieder in Nietzsches
Werk auftauchen: 1. Die Rolle, die Höhe bei der Erleichterung von Streß-
zuständen spielt und 2. eine Beschreibung der Weer Mitchell Kur. Löwenfelds
Buch ist eine von vielen angewandten und theoretischen Studien der
Psychologie des 19. Jahrhunderts, die Nietzsche in ziemlicher Ausführlichkeit
las.
284 Walter Kaufmann

Müller-Lauter: Ich knüpfe an das Gespräch zwischen Behler und


Kaufmann über die Problematik der Selbsterkenntnis an. Nach Nietzsches
Auffassung führt die direkte Selbstbefragung des Subjekts durch das Subjekt
zur Selbsttäuschung, z. B. erfährt es sich dabei als substrathafte Einheit, die
es gar nicht ist. Demgegenüber kann die am Leib orientierte Selbstbeobach-
tung die Vielheit aufeinander bezogener Strebungen, Triebe, Affekte zutage
fördern; Einheit zeigt sich dabei nur als Zusammenspiel, als Organisation.
Das Bewußtsein, nur scheinbar Regent solchen „Gemeinwesens", ist für
Nietzsche „Organ" der Vielheit, ihr Instrument, vof allem für ihre
Beziehungen zu anderen organisierten Vielheiten. Um diese Funktion nach
außen ausüben zu können, muß das Bewußtsein nach innen, von der es
konstituierenden Vielheit, abgeschirmt werden, z. B. über den Kampf der Affekte
weitgehend in Unwissenheit gehalten werden. Wenn Nietzsche versucht,
diese Verdeckungen aufzuheben, der Spräche unserer ursprünglich interpre-
tierenden Affekte zuzuhören — wie immer das möglich sein kann —, so wird
er als „Selbstkenner" schon dadurch zum „Selbsthenker", daß er die nach j
seiner Auffassung eigentliche Funktion des Intellekts verkehrt.
Nietzsches Hinwendung zur Physiologie kann auch als Bemühung verstanden
werden, der existenziell zerstörerischen Selbsterfahrung eine gewissermaßen
objektivierende „Introversion" entgegenzusetzen. Im Unterlaufen natur-
wissenschaftlicher Ansätze seiner Zeit gelangt er dabei zu einer Physio-
psychologie, die er als Entwicklungslehre des „Willens zur Macht" versteht,
worauf Herr Kaufmann ja hingewiesen hat. Die Frage nach Nietzsches
Psychologie muß nach meiner Meinung die physiologischen Aspekte einbe-
ziehen. Auf ihr Fundament stößt man erst, wenn auf Nietzsches Lehre vom
Kampf der „Willen zur Macht" rekurriert wird.

Salaquarda: Sie wissen, Herr Kaufmann, daß ich über Heidegger nicht
einer Meinung mit Ihnen bin. Wenn zwei Positionen einander schroff
entgegen stehen, dann liegt immer die Frage nahe, ob vielleicht die Begriffe in
irgend einer Weise unterschiedlich gebraucht werden. Daß der Metaphysik-
begriff in der philosophischen Diskussion höchst verschiedenartige Bedeu-
tungen angenommen hat, ist unverkennbar. Ein Marxist versteht unter
,Metaphysikc etwas ganz anderes als ein Positivist oder ein Neukantianer
usw. Heidegger versteht nun etwas sehr Spezifisches unter ,Metaphysikc;
wenn er sagt, das Nietzsche „der letzte große Metaphysiker" ist, dann
versteht er jedenfalls etwas anderes darunter, als das, was Nietzsche selbst als
,Metaphysik* abgelehnt hat. Mehr kann ich wegen der Zeitbeschränkung jetzt
nicht dazu sagen, aber ich glaube, daß man an dieser Stelle die Diskussion
weiter vorantreiben könnte.
Diskussion 285

Kurz noch ein Zweites: Sie haben von der Vielschichtigkeit der Titel und
Termini bei Nietzsche gesprochen, von seiner „Umwertung der Wörter", wie
Sie es ausgedrückt haben. Ich stimme Ihnen zu, meine aber, daß Nietzsche
die ursprüngliche und sozusagen grobe Bedeutung keineswegs ganz aufgibt,
sie mindestens nicht in allen Fällen aufgibt. Keine Frage, daß Nietzsche auf
eine esoterische Bedeutung abzielt — in der Vorrede zu Götzen-Dämmerung
ist das ja ganz deutlich — , aber ich glaube nicht, daß er deswegen die grobe
Bedeutung, an die er zunächst anknüpft, völlig aufgibt. Ein offenkundiges
Beispiel dafür ist der Titel „Antichrist". Wenn Nietzsche sagt: Ich bin der
Antichrist, dann meint er zunächst ganz populär: ich bin ein Gegner des
Christentums. Zugleich meint er aber auch mehr und anderes; ich habe
versucht, das in einem Aufsatz herauszuarbeiten und ich glaube, man kann
das auch hinsichtlich anderer Titel und Wendungen Nietzsches machen.

Saß: Ich möchte auf die Metapher ,Maskec als Interpretationskategorie


eingehen, die zur Kritik des neunzehnten Jahrhunderts, soweit ich sehe, zum
ersten Mal im Gefolge Hegels benutzt worden ist: schon 1841 von Bruno
Bauer in: Die Posaune des jüngsten Gerichts wider Hegel, den Atheisten und
Antichristen und, noch viel bedeutuiigsvoUer, von Marx in seiner Disser-
tation, wo er die spätantike Philosophie — Epikuräer, Stoiker und Kyniker —
mit'Hilfe dieser Kategorie interpretiert. Diese drei Schulen sind für Marx die
Masken des esoterisch verborgenen Weltgeistes, Selbstbewußtseins, wie er
von der idealistischen Position her sagt, auf der er damals noch steht. Wir
finden hier zugleich aber schon die erste rudimentäre Gestalt der vom
Historischen Materialismus entwickelten kritischen Methode, aus philoso-
phischen Sätzen und philosophischen Systemen auf eine Esoterik zu rekur-
rieren, die hinter ihnen steht. Die Masken-Metapher kommt übrigens dann
auch in der Heiligen Familie vor. Was ihr Gebrauch durch die Jung-
Hegelianer besonders deutlich demonstriert, ist die fehlende epistemologische
Basis für eine Interpretation, die mit derartigen Metaphern arbeitet. Denn
wenn tatsächlich eine Esoterik und eine Exoterik gegeben sind und die
Esoterik sich als Arkaüdisziplin abgeschottet hat, dann ist es natürlich ein
untauglicher Versuch, von der Exoterik her in die Arkandisziplin hinein-
zugelangen.
Ich würde deswegen die Metapher der Maske als Interpretationskategorie
grundsätzlich ablehnen. Sofern es einzelwissenschaftliche Methoden gibt, die
Verborgenes oder Verstecktes interpretieren, beispielsweise die Psychologie,
so steht ihnen dafür auch anderes semantisches Material aus experimen-
tierenden Wissenschaften zur Verfügung, und das sollte man dann benutzen.
Der Gebrauch von Metaphern wie ,Maske* bleibt arbiträr. Er ist darüber
hinaus gefährlich. Das zeigt sich auch bei Nietzsche.
286 Walter Kaufmann

Montinari: Ich stimme Herrn Kaufmann in vielen Hinsichten zu und


möchte jetzt nur vier Randbemerkungen machen. Die erste: man kann gerade
an der unzulänglichen Interpretation Baeumlers die Bedeutung der Psycho-
logie bei Nietzsche deutlich machen. Baeumler versucht — das ist sogar ein
Hauptpunkt seiner Interpretation —, Nietzsche als Nicht-Psychologen hinzu-
stellen, was an den Texten von Nietzsche scheitert, die das Gegenteil sagen.
Zweitens: zur Theorie des Glaubens und der Überzeugungen möchte ich auf
den ganzen letzten Abschnitt von Menschliches, Allzumenschliches hinweisen,
der ja mit der wichtigen These beginnt, die Nietzsche in Antichrist
wiederholt: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als
Lügen". Drittens: Ecce homo gibt vielleicht die Lösung für den Wider-
spruch zwischen „Selbstkenner" und „Selbsthenker", von dem Herr Behler
gesprochen hat. Nietzsche sagt dort: „Abgerechnet nämlich, daß ich ein
decadent. bin, bin ich auch dessen Gegensatz". Da findet man die beiden
Aspekte verbunden. Viertens: eine kleine historische Notiz. Nietzsche hat
Freud „gekannt", und zwar hat er seinen Namen gelesen auf dem Titelblatt
der deutschen Version des neunten Bandes der Schriften von John Stuart Mill,
den Freud übersetzt und den Nietzsche ausführlich glossiert hat. Die gesamte
Übersetzung stand unter der Leitung von Theodor Gompertz und Freud hat
diesen Band betreut. Also zumindest den Namen Freud hat Nietzsche
gelesen.

Kaufmann: Zum Vorwurf des Ahistorischen. Der wurmt mich ein


bißchen, weil ich im Grunde sehr historisch denke, — mehr als die meisten
Philosophen, die ich in Amerika kenne. Aber es scheint mir eine große
Gefahr darin zu liegen, alle Kritik Nietzsches auf die Weise aufzulösen, daß
man fragt: wo hat jemand schon im frühen neunzehnten Jahrhundert, oder
bei den Griechen, oder sonstwo, schon etwas Ähnliches gesagt. Das Spiel
kann man spielen, das würde ich aber nicht ^historisch denken* nennen. Auf
alle Fälle habe ich mich im Rahmen meines Vortrags dem 'ganz bewußt
entgegengestellt; darin liegt nicht ein unhistorisches Denken.
Zur Bedeutung von ,Metaphysikc: Natürlich, Herr Salaquarda, kommt
es darauf an, was man darunter versteht. Aber die Frage ist vor allem, ob
Nietzsche eine Endfigur ist, die noch immer das gemacht hat, was die
Philosophen von jeher, von Plato angefangen, gemacht haben, oder ob
Nietzsche ein neuer Anfang ist, den Heidegger nicht gesehen hat, so daß
Heidegger, wenn man historisch denkt, selbst noch in einer vornietzsche-
schen Position stecken geblieben und keinesfalls zu einer nachnietzscheschen
vorgedrungen ist. Das läßt sich durch eine semantische Erörterung dessen,
was unter ,Metaphysikc gemeint sein kann, oder selbst durch eine philoso-
phische Erörterung, nicht ganz entscheiden.
Diskussion 287

Nun die Problematik der Masken, von der Herr Saß gesprochen hat.
Sein Votum kommt, glaube ich, auf etwas Ähnliches heraus, wie das von
Herrn Maurer zur Ideologiekritik. Das hat natürlich bei mir auch eine Rolle
gespielt, aber nicht die Hauptrolle. Für mich ist das Problem der Maske bei
Nietzsche viel schwieriger, eines der aflerschwierigsten Probleme. Wenn
Nietzsche von Masken spricht, dann gewöhnlich in dem Zusammenhang, daß
alles, was tief ist, eine Maske braucht, daß jeder tiefe Geist Masken braucht.
Ich glaube, das Wort ,Maskec dient vor allem zur Selbstinterpretation und zur
Warnung an Nietzsches Leser. Eine Warnung, die meinem Eindruck nach
selbst mancher Nietzsche-Leser hier im Raum nicht zur Genüge beherzigt. Es
handelt sich, wie ich am Ende meines Vortrags sagte, um ein sich selbst und
uns In-Frage-Stellen, das sich in Nietzsches Psychologie vollzieht. Es ist ein
alles In-Frage-Stellen, bei dem aber nicht herauskommt, daß Nietzsche keine
Überzeugungen und Positionen hätte — die hat er wohl — , aber daß er immer
wieder über sie hinausfragt. Mir kommt es darauf an herauszustellen, daß alle
Beiträge Nietzsches zur Psychologie, die ich erwähnt habe, äußerst proble-
matisch sind. Wir sollten diesen Problemen nicht einfach ausweichen,
sondern uns dem stellen, was Nietzsche sagt.
Was mich selbst betrifft, so möchte ich zum Schluß sagen, daß ich zum Teil
aus Temperament und zum Teil auch, weil ich nicht gern über die fünfund-
vierzig Minuten Redezeit hinausgehen wollte, alles sehr kurz, sehr scharf und
darum vielleicht in der Form ziemlich dogmatisch ausgedrückt habe. Aber es
ist Ihnen allen außerdem klar, daß ich bestimmte Überzeugungen habe. Ich
habe diese Überzeugungen manchmal sehr nackt hingestellt. Aber ich hoffe,
daß ich auch den Mut zum In-Frage-Stellen meiner Überzeugungen habe, daß
ich auch in Nietzsches Sinn sehr skeptisch bin.

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