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Der Dawkinswahn oder die Antwort der Mystik

Duell zwischen Wissenschaft und Religion?


(Copyright Gero Jenner 2008)

Gero Jenner

1
Die Situation 4
Religion 8
Grundlagen von Frieden und Gemeinsamkeit 13
Von der instrumentellen zur universalen Vernunft 14
Lingua universalis – Mystik als Menschheitssprache 21
Abkehr von anthropomorphen Vorstellungen 22
Abkehr von Herrschaft 27
Die Rolle des Einzelnen 30
Mystik 34
Irrationalismus? 38
Am Beispiel der Antimystik 40
Das mystische Innehalten 46
Hymnen an die Nutzlosigkeit 49
Vorstufen der mystischen Verschmelzung 54
Ist Mystik Religion? 59
Wissenschaft 68
Die Lückensucher 69
Jenseits der Ideologie 71
Der Durchbruch 72
Identische Verirrungen: Machtwissenschaft und Machtreligion 75
Kritische gegen Machtwissenschaft 77
Kritische Wissenschaft angesichts des Undenkbaren 78
Die dreifach verschachtelte Welt 79
Zwischen All und Atom 80
Zwischen Anfang und Ende 86
Mitten im Alltagsgeschehen 91
Das Neue 92
Materie und Bewusstsein 96
Real oder ideal? 98
Intelligent Design 102
Dawkins Wahn 112
Eine sixtinische Evolutionskapelle? 121
Der offene Horizont 123
Der Mystiker Einstein 126
Dimensionen des Einsseins 133
Mystik und Tod 154
Mystik und Moral - Jenseits von gut und böse? 158
Mystik und das Gute 162
Mystik und das Böse 167
Mystik gleich Selbstvergottung? 169
Wahr- und Unwahrheit der Religionen 172
Dawkins Heil und … 176
… das Heil des Mystikers 178
Bibliographie: 184

2
Personenverzeichnis 187
Anmerkungen 189

3
Die Situation
Das vorliegende Buch hätte im Haupttitel eigentlich »Duell zwischen Wissenschaft
und Religion« heißen sollen. Angesichts einer Renaissance der Religionen, die sich
nicht zuletzt in einem bedrohlichen Fundamentalismus und einem damit
einhergehenden Aufstand gegen Vernunft und Aufklärung bekundet, ist dies ein
brandaktuelles Thema. Dann erschien das Buch »Der Gotteswahn« des
renommierten englischen Biologen Richard Dawkins und wurde auf Anhieb ein
großer Erfolg weit über die Grenzen des Vereinigten Königreiches hinaus. Es bot
sich an, auf dieses zugleich geistreiche und in die Irre führende Buch Bezug zu
nehmen, und zwar in einer Form, die gleich im Titel keinen Zweifel an meinen
Einwänden lässt. Diese sind von so grundlegender Art, dass es mir richtig erscheint,
von einem »Dawkinswahn« zu sprechen, wobei das Denken Dawkins hier
stellvertretend für eine unter ideologisch voreingenommenen Wissenschaftlern –
und natürlich nur unter diesen - verbreitete Einstellung steht. Der Dawkinswahn ist
eben keinesfalls nur an einen bestimmten Autor und dessen spezielle Thesen
gebunden. Er steht paradigmatisch für eine bestimmte Geisteshaltung.
Die Thesen des englischen Wissenschaftlers lassen sich unter drei
Hauptüberschriften gruppieren. Er übt, erstens, vernichtende Kritik am Theismus,
also an der Vorstellung eines Gottes, der mehr oder weniger menschlich
(anthropomorph) gedacht wird. Zweitens, setzt er Religion mit Theismus gleich,
und, drittens, stellt er dem negativ bewerteten Weltbild der so verstandenen
Religion ein positives entgegen, das in seiner Sicht nicht nur die Absurditäten des
religiösen Weltbildes umgeht sondern eine unangreifbare, in sich befriedigende,
unserem Wissen gemäße Alternative bietet: Wissenschaft, wie er sie versteht und
begründet.
In diesem Buch akzeptiere ich mit Vorbehalten die erste These, die Kritik am
Theismus, wenn man ihr auch, wie ich am Ende der Arbeit zeigen werde,
mangelndes Verständnis für die Komplexität des Religiösen vorwerfen kann (vgl.
Kap. Wahr- und Unwahrheit der Religionen). Ich halte sie dennoch in ihrem Kern
für richtig und unwiderlegbar - eine Auffassung, die wohl auch von Dawkins
Lesern geteilt wird, denn es ist die Kritik am Theismus, die dem Buch eine so
große Breitenwirkung verschaffte. Anders steht es um die beiden folgenden Thesen.
Sie werden entweder gar nicht oder auf unzureichende und irreführende Weise
begründet. Der Gegensatz in der Qualität der Argumentation springt für mich so
sehr in die Augen, dass ich bei aller Bewunderung für den Scharfsinn des Autors
keine Hemmung davor empfand, auch bei ihm von einem Wahn zu sprechen, eben
dem »Dawkinswahn«. Der anerkannte Wissenschaftler argumentiert hier mit
sträflichem Leichtsinn. Geflissentlich übersieht er zum ersten, dass Theismus und
Religion niemals identisch waren, aber darüber hinaus entwirft er auch ein
verzerrtes Bild der wissenschaftlichen Weltsicht, die ja für ihn die unangreifbare
Basis bildet, von der aus er seine antireligiösen Vernichtungsfeldzüge unternimmt.
Damit meine ich das wissenschaftliche Credo, das er dem von ihm verworfenen
religiösen Weltbild entgegenstellt. Diese Vision ist so von Dogmen und

4
Denkverboten umstellt, dass man Dawkins dieselbe Blindheit vorwerfen muss, die
er mit solcher Brillanz bei seinen Gegnern beschreibt und verspottet.
Das Ergebnis dieses Duells ist daher durchaus paradox. Einerseits erscheint
mir die Vorstellung keineswegs abwegig zu sein, dass der englische Biologe
weniger mit der von ihm seit Jahren vertretenen These vom egoistischen Gen in die
Wissenschaftsgeschichte eingehen wird, als mit seinen negativen Ausführungen
zur Theologie. Es ist ja keineswegs selten, dass jemand nicht vorrangig in seinem
Spezialgebiet sondern als Außenseiter bekannt wird. Dafür gibt es einleuchtende
Gründe. Stellen wir uns einen Menschen vor, der sein Leben lang über Engel
forschte, einen Angelo-Logen also. Wenn er Bände darüber verfasste, wie viele
Engel Platz auf einer Stecknadelspitze finden, mit welcher Frequenz sie ihre Flügel
in dünner Gebirgsluft bewegen oder wie ihr Brustkorb gestaltet sein muss, um
zugleich für himmlische Gesänge und zur Verankerung von Flügeln zu taugen, so
könnte sich ein solcher Fachgelehrter durchaus den Anspruch auf den Nobelpreis
verdienen, weil er sich wie kein anderer als Spezialist mit der Sache befasst hat.
Tritt nun allerdings ein Außenseiter hervor, der für alle überzeugend den Nachweis
erbringt, dass Engel eine bloße Scheinexistenz in den Gehirnen einiger allzu
phantasievoller Menschen führen, so wird dieser andere zwar keinen Nobelpreis
erringen, aber man müsste in ihm zweifellos den größeren Angelologen erblicken,
weil er letztlich Wahrheit und menschliches Wissen viel entscheidender
vorangebracht hat als all jene zusammen, die ihre Gelehrsamkeit bändeweise an
Fiktionen verschwendet haben.
Wie gesagt, Dawkins gelingt es mit Scharfsinn und einem immer wieder
bezwingenden Witz den Wahn anderer bloßzustellen, seine Angriffe gegen ein
menschlich-allzumenschliches Gottesbildes sind durchaus überzeugend, nur bleibt
ihm dabei völlig verborgen, dass er selbst einem nicht weniger schwerwiegenden
Wahn unterliegt: dem Wahn einer Machtwissenschaft, die in deutlichem Gegensatz
zu der so ganz andersartigen Tradition kritischer Wissenschaft steht. Das
vorliegende Buch wird immer wieder den Anspruch des kritischen
Wissenschaftlers mit dem des Machtwissenschaftlers konfrontieren. Es wird die
Vorurteile, Fehlschlüsse und Kurzsichtigkeiten aufdecken, die der positiven Vision
Dawkins zugrunde liegen und ganz allgemein einer Machtwissenschaft, zu deren
typischen Vertretern er zählt.
Das ist der eine Brennpunkt dieses Buches. Der andere wird in der Kritik an
der leichtfertigen Gleichsetzung von Theismus und Religion bestehen. Den Fehler
einer solchen Gleichsetzung vermag nur zu begehen, wer den fundamentalen
Gegensatz übersieht, der sich zwischen kritischer Religion und Machtreligion
auftut. Die Mystik als Urform des religiösen Denkens und Erlebens ist kritische
Religion in ihrer ursprünglichsten Form und als solche eine Schwester der
kritischen Wissenschaft. Von Dawkins Attacke gegen die traditionelle Religion
wird sie nicht einmal berührt. Vorstellungen von einem menschlich-
allzumenschlichen Gott sind der Mystik fremd, ja, sie steht ihnen oft genauso
ablehnend gegenüber wie der kritische Wissenschaftler. Seit Anbeginn

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menschlicher Geschichte sind in der Mystik all jene Strömungen des Denkens
zusammengeflossen, die in vollem Einklang mit einer kritischen Wissenschaft
stehen – und dennoch zur gleichen Zeit weit hinaus über die Wissenschaft zielen,
da sie sich an den ganzen und nicht nur an den diskursiv denkenden Menschen
wenden. Nimmt man beide zusammen: Mystik und kritische Wissenschaft, so
bahnen sie den Weg zu einer herausfordernd neuen und doch schon in den
frühesten Texten der Mystik angelegten Wirklichkeitssicht.
Mit dem in Dawkins Gotteswahn beschworenen Duell ist der Kampf
zwischen Wissenschaft und Religion von Neuem entbrannt, kaum weniger heftig
als schon in der Frühaufklärung des 17. Jahrhunderts, als die sogenannten
»Freigeister« die schärfsten Waffen des Geistes gegen die Vertreter der Religionen
zückten – und umgekehrt die Vertreter der letzteren alles taten, um die
Wissenschaften als ein für das Heil des Menschen entbehrliches Unternehmen zu
relativieren. Heute sind es Richard Dawkins und seine Mitstreiter, die ein
Massenpublikum überall auf der Welt zwar nicht gerade begeistern - wen
begeistert es schon, dass wichtige Glaubensinhalte, jahrhundertealte Institutionen
einer vernichtenden Kritik bis hin zum Gespött ausgesetzt werden – die aber
dennoch viele Menschen faszinieren und überzeugen. Wäre Dawkins zu glauben,
dann gäbe es nur eine einzige Weltsicht, der wir heute noch trauen dürfen: die
wissenschaftliche. Die Religionen tragen, so seine Meinung, nichts zur
menschlichen Erkenntnis hinzu, was die Wissenschaften nicht ihrerseits viel besser
begründen könnten, sie tragen vielmehr sehr viel dazu bei, menschliches Denken
auf Irrwege zu lenken und in Unwahrheit zu ersticken. Die Entstehung des Lebens
und die Mechanik seiner Entwicklung einschließlich seines biologischen Sinns
(oder vielmehr das Fehlen jedes nachweisbaren Sinns), das seien Fragen, zu denen
die Wissenschaft - und wirklich nur sie - Abschließendes zu sagen vermöge. Wie
bekannt, gipfelt bei Dawkins die abschließende Erkenntnis in der Theorie vom
»egoistischen Gen«, das sich die eigene leibliche Hülle so wählt, dass es sich in
einer für den ewigen Kampf ums Überleben möglichst tauglichen Form möglichst
zahlreich fortpflanzen kann.
Dawkins Auffassungen über die Triebkräfte der Evolution sind auch unter
jenen umstritten, die sich bei ihren Auffassungen über das Leben strikt an den
Erkenntnissen der Wissenschaft orientieren. Kritiker Dawkins wie Joachim Bauer
halten sie geradezu für falsch. Doch das ändert nichts an dem besonderen Wert
seines Buches, das in erster Linie auf der schneidenden und sowohl argumentativ
wie im Stil brillant formulierten Kritik an der Religion beruht. Auch
Wissenschaftler, die seine Theorie vom egoistischen Gen mit Kopfschütteln
quittieren, können sich der Stringenz seiner Einwände gegen den üblichen
Gottesglauben und dessen Rechtfertigungen kaum verschließen. Die Faszination
des Buches liegt eben darin, dass es mit größter Offenheit sagt, was so viele
denken und so wenige – aus Opportunismus oder Bequemlichkeit – sich anders als
hinter vorgehaltener Hand auszusprechen getrauen.

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Dennoch wird man den großen Erfolg dieser Attacke kaum als Indiz für eine
neue Hinwendung zur Wissenschaft werten dürfen. Auch in westlichen Ländern ist
die Bereitschaft, Wissenschaft als Auskunftsorgan für die wesentlichen Fragen des
Lebens oder gar als Lebenshilfe anzuerkennen, seit dem fortschrittsgläubigen 19.
Jahrhundert kontinuierlich gesunken. Wenn es dazu noch eines Beweises bedarf,
so kann ihn jeder aus den schwindenden Studentenzahlen in den Ingenieursfächern
und den Naturwissenschaften ablesen. Ohne den Zustrom ausgebildeter Techniker
und Wissenschaftler aus Südostasien und Fernost würden beispielsweise die
Vereinigten Staaten ihre Stellung als führende Wirtschaftsmacht schon jetzt nicht
mehr aufrechterhalten können.
Dagegen beweisen Statistiken und der drohende »Clash of Civilizations«,
dass Religionen fast überall auf der Welt wieder im Vormarsch sind. In den
Ländern des Westens entspricht der abnehmenden Begeisterung für die
Wissenschaften schon seit Jahrzehnten eine deutlich zunehmende Hinwendung zu
Esoterik und Religion. Die beiden Erscheinungen ergänzen einander. Sie sind
Ausdruck ein und derselben Verunsicherung. Den Wissenschaftlern und ihrem an
Tatsachentreue und Beweisen geschulten Denken traut man immer noch
autoritative Äußerungen zu allen wichtigen Fragen zu, doch sind nur wenige davon
überzeugt, allein mit ihrer Hilfe zu einem befriedigenden Weltbild zu gelangen. So
wird man wohl auch mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen dürfen, dass sich
die wenigsten Leser des »Gotteswahns« häuslich in der Theorie vom egoistischen
Gen und der damit verbundenen sozialdarwinistischen Ideologie einrichten wollen.
Es ist eben nicht die positive Botschaft des Buches, die diesem einen so gewaltigen
Erfolg beschert, sondern die gekonnte Attacke gegen zu leichtfertige, zu schlecht
begründete, auch oft moralisch zweifelhafte Positionen der überlieferten
Religionen.
Aber ist Religion, oder sagen wir besser: die religiöse Weltsicht, mit einer
derartigen Attacke getroffen? Dawkins selbst scheint einen Augenblick lang daran
zu zweifeln, immerhin beginnt er sein Buch mit der Feststellung, dass seine Kritik
keineswegs gegen jene Art von Religiosität gerichtet sei, wie sie sich zum Beispiel
bei Einstein finde. Diese Rücksichtnahme auf die Überzeugungen eines seiner ganz
großen wissenschaftlichen Kollegen erweist sich allerdings schnell als ein bloßes
Lippenbekenntnis: Auf den ersten Seiten flüchtig zur Sprache gebracht, bleibt
dieser Vorbehalt dann im ganzen Rest der Arbeit vergessen. Hier aber liegt die
eigentliche Schwäche und irreführende Oberflächlichkeit der dawkinschen Arbeit.
Dort, wo die religiöse Denkungsart wirklich in die Tiefe geht, oder um in seinen
Begriffen, denen des Biologen, zu reden, dort wo sie sich sozusagen in ihrer
Stammzellenform manifestiert, vor aller Ausdifferenzierung in Dogmen und
historische Zufälligkeiten, dort eilt Dawkins gedankenlos an ihr vorbei. Er will
kritisieren - und tut dies brillant - aber er übersieht, dass er den Kern des religiösen
Denkens dabei nicht einmal im Vorübergehen gestreift hat. So bleibt sein
temperamentvoller Angriff eine gelungene Zerstörung, aber nichts, worauf man
aufbauen könnte. In diesem Buch möchte ich zeigen, dass der Blick in die Tiefe

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und ein darauf gründender Aufbau nur möglich sind, wenn man statt der von
Dawkins bezogenen Position der »Machtwissenschaft« die des kritischen
Wissenschaftlers bezieht und statt der Position der »Machtreligion«, die sich auf
Dogmen und historische Zufälle beruft, jene mystisch-kritische Sicht, die sich
ausdrücklich gegen alle Bevormundung zur Wehr setzt.
Die mystisch-kritische Sicht ist zur gleichen Zeit ganz aktuell und so alt wie
die Menschheit selbst. Sie ist nicht weniger als eine »philosophia perennis«, eine
»ewige Philosophie«, die sich mit den Erkenntnissen der kritischen Wissenschaft
nicht nur verträgt sondern vielmehr von ihnen getragen wird. Das werde ich
zusätzlich dadurch demonstrieren, dass ich in einer Serie von »Rückblicken«
Bezug auf die Vergangenheit nehme, also auf die Geschichte mystischen Denkens
von China über Indien und den Islam bis nach Europa. Am Ende bleibt uns die
Einsicht, dass die Gedanken der Mystik einen ganz anderen Gegensatz sichtbar
machen als das von Dawkins beschworene Duell zwischen Wissenschaft und
Religion. Schroff gegenüber stehen sich nur Machtwissenschaft auf der einen und
Machtreligion auf der anderen Seite. Hier kann es in der Tat nur unversöhnlichen
Kampf, nämlich dogmatisches Beharren auf den jeweils eigenen, eingefrorenen
Positionen geben.[1] Dagegen ist das Verhältnis von kritischer Religion (Mystik)
und kritischer Wissenschaft ein grundsätzlich anderes. Sie haben einander nichts
vorzuwerfen, vielmehr bestätigen und ergänzen sie sich. Bei großen
Wissenschaftlern wie Erwin Schrödinger, Albert Einstein – dem Mystiker wider
Willen - fällt daher auch beides zusammen. Diese neue Sicht auf die Geschichte
eines Duells, das eben so alt ist wie vordergründig, könnte den Boden für eine
Versöhnung bereiten.

Religion
Wir kommen ohne Religion auf die Welt, aber nicht irreligiös. Wir werden
geboren mit dem Staunen der Kinder.

Beginnen wir unsere Darstellung mit der nicht sonderlich erfreulichen, aber leider
nicht unrealistischen Vorstellung, dass die Menschheit von diesem Globus in naher
Zukunft verschwinden könnte. Die Vorstellung ist leider nicht von der Hand zu
weisen, dass uns das Schicksal der Dinosaurier mit noch größerer
Wahrscheinlichkeit als jene Urzeitbewohner befallen könnte. Schon die zweite
Hälfte des eben vergangenen Jahrhunderts war von derartigen Befürchtungen
geprägt. Genug Atombomben, Nervengifte, biologische Waffen und anderes
Vernichtungspotential liegen bis heute bereit, um den Menschen gleich mehrfach
vom Globus zu tilgen. Aber es sind nicht solche wenig erfreulichen Gedanken, mit
dem ich Dich, lieber Leser, gleich zu Beginn dieses Buches heimsuchen möchte,
sondern es geht mir darum, ein höchst aufschlussreiches Gedankenexperiment
anzustellen. Nehmen wir an, dass menschliches Leben tatsächlich weitgehend

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ausgelöscht wäre, so dass nur Du und ich und vielleicht noch ein paar andere
Menschen übrig blieben. Stellen wir uns weiterhin vor, dass alle Spuren der
Vergangenheit so weitgehend getilgt worden sind, dass uns als einziges
Überbleibsel der untergegangenen Kultur nur die gemeinsame Sprache blieb. Im
Übrigen sind wir so jung, dass selbst unser Wissen nicht über jene ersten Stufen
wissenschaftlichen Denkens hinausreicht, die uns eine bescheidene Schuldbildung
auf den Weg gab.
Meine Frage ist - und es ist eine Frage von weitreichender Bedeutung – was
wird dann für Dich und mich und die kleine Restgruppe anderer Menschen zur
Wahrheit zählen? Vom Christentum, vom Islam, vom Hinduismus kann keiner von
uns etwas wissen, so wenig wie ein Kind, das allein auf einer Insel heranwächst.
Wir befinden uns also auf einer Welt ohne Götter, ohne Katechismen und auch
ohne Autoritäten, die uns sagen, was wir zu tun und was wir zu lassen haben. Die
neue Menschheit, die wir repräsentieren, beginnt schlicht wieder dort, wo die alte
vor Jahrtausenden schon einmal begonnen hatte, am Nullpunkt nämlich. In
gewisser Weise erschafft jeder von uns wenigen Überlebenden die Welt nun ein
zweites Mal. Sie ist nicht so, wie die damaligen, aber nun verloren gegangenen
Offenbarungen und Lehrbücher sie haben wollen, sondern so wie Du und ich sie
jetzt sehen. Eine andere Welt kann es für uns unter derartigen Umständen nicht
geben.
Wir brauchen dieses Gedankenexperiment nur durchzuspielen, um uns der
beunruhigenden Fragen bewusst zu werden, die sich daraus ergeben. Die weitaus
beunruhigendste lautet: Was denn von der ganzen Vergangenheit mehrerer
Tausend Jahre mit all ihren Dogmen und vermeintlich unumstößlichen Wahrheiten
noch übrig bleibe, wenn das Ich sich - unvorbelastet durch die Vergangenheit – die
Welt ganz aus eigener Kraft von Neuem erschafft – seine Welt, eine, die ihm ganz
allein zugehört, weil niemand sie ihm verordnen konnte?
In gewisser Hinsicht brauchen wir über die Antwort nicht im Zweifel zu sein.
Ein bestimmter Teil deines und meines Wissens wird mit Sicherheit ganz genauso
entstehen, wie es schon damals entstehen musste, denn am Eigensinn der Natur,
sprich den Gesetzen der uns umgebenden Dinge, hat sich im Vergleich zu früher ja
nichts geändert. Wir werden diese Gesetze daher zum zweiten Mal finden, d. h. sie
»entdecken« und sie uns bei der praktischen Herrschaft über die Umwelt zunutze
machen. Stein um Stein werden wir so das Mosaik einer neuen Naturwissenschaft
von Neuem zusammensetzen. Diese Wissenschaft, die mit der Zeit immer mehr an
Umfang gewinnen wird, wird zwar aus den gesammelten Erfahrungen aller
einzelnen unserer Gruppe und später auch der nach uns folgenden Generationen
bestehen, aber jeder einzelne kann über wahr und falsch auf gleichberechtigte
Weise entscheiden. Behauptet einer von uns, der Mond hätte an gewissen Tagen
die Form einer Ellipse, so genügt es, dass ein anderer Beobachter diese
Behauptung als falsch widerlegt, damit wir alle sie aus der Menge der wahren
Behauptungen verbannen. Es steht also von vornherein fest, dass im Hinblick auf
dieses Wissen sich niemand von uns eine Autorität anmaßen kann oder darf, die

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ihn zum alleinigen Richter über Wahrheit und Unwahrheit setzt. Das Ich – deines,
meines und das jedes anderen - bleibt in der neuen Welt letzte und oberste Instanz.
Da wir genetisch dieselbe Ausstattung wie unsere vor kurzem ausgelöschten
Vorfahren besitzen und daher über die gleiche Intelligenz wie sie verfügen, da
zudem in der uns umgebenden Welt weiterhin die gleichen Gesetze gelten, so
dürfen wir damit rechnen, dass der ganze Umfang des einmal erworbenen, aber in
unserer Jugend schlagartig vernichteten Wissens, jenes Wissens, das vorher den
Namen »Wissenschaft« trug, nach und nach in unseren Köpfen von neuem
entstehen wird - vielleicht nicht in derselben Reihenfolge, denn unterschiedliche
Interessen lenken unsere Aufmerksamkeit vielleicht auf ganz andere Dinge, aber
das ändert nichts daran, dass diese von uns neu erschaffene Wissenschaft, solange
sie aus nachprüfbaren Aussagen besteht, die Wissenschaft der Vergangenheit
erneuern und schließlich an ihrem damals abgebrochenen Ende fortsetzen wird.
Das gilt für die Wissenschaft, doch gilt es auch für jenen zweiten Teil unseres
Wissens, der vielen noch als viel wertvoller erscheint und im Menschen viel tiefer
verankert ist? Ich spreche natürlich von der religiösen Sicht auf die Wirklichkeit.
Eine schnelle, vielleicht etwas vorschnelle Antwort vermag jeder darauf auf
Anhieb zu geben. Sollten sämtliche Bibliotheken dem Untergang zum Opfer
gefallen sein, dann werden weder ich noch du oder irgendein anderer Bewohner
dieser neu erstandenen Welt etwas von Jahwe, Christus oder anderen Gestalten der
Bibel wissen. Allah und sein Prophet Mohammed werden ebenso aus unserem
Gesichtskreis verschwunden sein wie Baal oder Isis, von Buddha wird keiner von
uns etwas wissen, ebenso wenig von Vishnu, Shiva oder Amaterasu no Omikami.
Wir werden natürlich auch nichts von den zehn Geboten des Moses wissen, keine
natürliche Abneigung gegen Schweinefleisch oder das Verzehren von Kühen
haben. Niemand von uns käme auf den Gedanken, den Sabbat zu ehren, einen von
uns für den Stellvertreter Gottes auf Erden zu halten oder Kreuze beim Anblick
erschreckender Vorfälle zu schlagen. Und anders als im Umgang mit dem
Eigensinn der uns umgebenden Dinge, also mit ihren Gesetzen, werden wir
keineswegs durch eigene Beobachtung oder eigenes Nachdenken diese Gestalten
und die ihnen zugeschriebenen Geschichten zum Leben erwecken. Während die
Wissenschaft uns irgendwann wieder begleiten wird, so wie uns auch die Natur
begleitet, die wir mit ihrer Hilfe beherrschen, wird die Religion, wie sie in den
Offenbarungstexten zuvor existierte, ebenso wie diese selbst aus unserem Leben
völlig verschwunden sein.
Aber dieses Schicksal wird sie nicht etwa deshalb ereilen, weil wir weniger
religiös motiviert sein werden als unsere Ahnen, denn in jedem überhaupt
denkbaren Sinne sind wir ihnen als Menschen gleich, also mit all unseren Fragen
an die uns umgebende Wirklichkeit. Spätestens nachdem wir unser physisches
Überleben einigermaßen absichern konnten, werden wir aufs Neue damit beginnen,
uns über das Leben, den Tod, den Sinn unserer Existenz Gedanken zu machen.
Wie unsere Vorfahren in der alten Welt werden auch wir uns wieder um religiöse
Erkenntnis bemühen - im Unterschied zu wissenschaftlichem Wissen, womit wir

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die äußere Natur beherrschen. Doch dabei verfiele niemand von uns auf den
Gedanken, dass die Wahrheit nur in der Vergangenheit existiert. Angenommen
einer von uns würde sich einen liebenden Gott nach Art eines in den Himmel
versetzten Menschen vorstellen, so würde er selbstverständlich nicht meinen, dass
ein solches übermenschliches Wesen seine Botschaft nur der alten Welt überließ,
aber uns nicht für würdig hält, sie neuerlich von ihm zu empfangen. Wenn Er sich
wirklich all seinen Kindern mit gleicher Liebe zuwendet, so wird er – das wird uns
als völlig selbstverständlich erscheinen - seine Botschaft immer aufs Neue an jede
Zeit, in alle Räume und letztlich an jeden einzelnen Menschen schicken. Niemand
von uns würde die abwegige Vorstellung hegen, dass er sich nur einmal in der
Vergangenheit offenbarte, dass er nur zu den Weißen gekommen sei oder nur auf
dem Berge Kailasch im Himalaya wohne, weil ihm die dortigen Menschen lieber
als alle anderen wären. Keiner von uns würde im Ernste glauben, dass er sich
gerade in Palästina als Avatar verkörpern musste, nachdem die Menschheit schon
Tausende von Jahren zuvor existierte und deshalb nichts von ihm wissen konnte.
All diese Möglichkeiten, uns einen solchen Gott vorzustellen, würden von
vornherein nicht in Frage kommen, denn, wie ich schon sagte, wir wissen nichts
von dieser Geschichte. Wie fangen von vorne an, am Punkte Null.
Dennoch würde das religiöse Denken auch in unserer neuen Welt sehr
schnell einen festen Kern gewinnen - und das gilt wohl überhaupt für Menschen,
wenn sie isoliert von den Glaubensvorstellungen ihrer jeweiligen historischen
Umgebung aufwachsen. Angenommen, wir würden uns darauf einigen können,
dass wir uns die Welt nicht ohne eine alles beherrschende Instanz vorzustellen
vermögen, eine Instanz, die wir mit den Begriffen Gottheit, das Göttliche oder Gott
bezeichnen, so würden wir doch auf jeden Fall darauf bestehen, dass deren
Existenz unmöglich von einem historischen Zufall abhängen kann, einem Zufall,
der uns gewisse »heilige« Bücher in die Hände spielte oder auch nicht. Der einzige
Beweis, den wir akzeptieren, wird darin liegen, dass wir uns von ihrer Existenz
durch eigenes Erleben und Denken hier und jetzt überzeugen können. Insofern
würden wir keine andere Evidenz verlangen als diejenige, die uns zur gleichen Zeit
auch vom Nullpunkt aus wieder zur Wissenschaft führt.

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Rückblick (das Hier und das Jetzt):
Für den Mystiker stellte der Bezug auf das Hier und Jetzt des lebenden Menschen
immer Angelpunkt und Mitte des religiösen Erlebens dar. Die Vergangenheit als
Quelle der Wahrheit auszugeben, musste für ihn deshalb eine abwegige
Vorstellung sein. Nach seiner Meinung genießt keine Generation einen
privilegierten Zugang zur Wahrheit. Hier und Jetzt offenbart sich das Göttliche.
Meister Eckhart (1260 - 1328) sagt es mit aller Bestimmtheit:

Wer die Kunst und die Macht hätte, dass er Zeit und alles, was in 6000
Jahren je geschah oder noch geschehen soll bis an das Ende der Welt - wenn
einer das wieder in ein gegenwärtiges Nun zusammenziehen könnte, das
wäre Fülle der Zeit. Dies ist das Nun der Ewigkeit, da die Seele alle Dinge in
Gott als neu und als frisch bekennt und in derselben Lust, wie ich sie jetzt
gegenwärtig habe.

Im göttlichen Bewusstsein, das letztlich identisch mit der Schau des Mystikers ist,
wird die Zeit aufgehoben:

Ich sagte einst, dass Gott die Welt jetzt erschafft, und alle Dinge sind gleich
edel in diesem Tage. … Gott erschafft die Welt und alle Dinge in einem
gegenwärtigen Nun, und die Zeit, die da vergangen ist vor tausend Jahren,
die ist Gott jetzt ebenso gegenwärtig und ebenso nahe wie die Zeit, die Zeit,
die jetzt ist.

Kein Punkt auf der Zeitskala und kein Ort auf dem Globus sind näher bei Gott.
Einzig das Hier und Jetzt des offenen Bewusstseins ist Quelle der Erkenntnis. Der
Stein der Weisen, so drückt es Angelus Silesius aus, liegt im eigenen Herzen:

Mensch, geh nur in dich selbst! Denn nach dem Stein der Weisen darf man
nicht allererst in fremde Lande reisen.

Du brauchst nicht in andere Land und andere Zeiten auszuschwärmen, alles, was
für den Menschen erfahrbar ist, hat im Hier und Jetzt sein Ziel und seinen
Ursprung. So sagt es ein moderner Mystiker, der Dichter des neuen Kontinents,
Walt Whitman (1819 - 1892), in seinen »Leaves of Grasses«:

Da war nie mehr Anbeginn als es jetzt gibt,


Noch mehr Jugend oder Alter als jetzt.
Und nie wird es mehr Vollkommenheit geben als jetzt,
Und auch nicht mehr Himmel oder Hölle als jetzt.

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Grundlagen von Frieden und Gemeinsamkeit
Das gerade beschriebene Gedankenexperiment, das uns zu einer Religion ohne
Geschichte führt, weil die Wahrheit nicht an den historischen Zufall gebunden sein
kann, lässt sich auch ohne die darin vorausgesetzte Untergangsvision anstellen,
nämlich indem man sich mit der gegenwärtigen Situation des Menschen befasst,
wie sie mit dem Schlagwort der Globalisierung gekennzeichnet ist. Angesichts
ihrer stetig zunehmenden Fähigkeit zur Zerstörung der Biosphäre ist die
Menschheit auf einen gemeinsamen Überlebenswillen, gemeinsame Institutionen,
ein internationales Recht angewiesen, doch dabei stößt sie bis heute auf scheinbar
unüberwindbare Widerstände. Worin sind diese begründet?
Gewiss nicht in unseren Vorstellungen über die praktischen Instrumente zur
Beherrschung der Außenwelt. Wissenschaft und Technik sind heute Teil eines
wahrhaft universalen Denkens. Wahrheit und Unwahrheit werden hier nicht von
irgendwelchen Autoritäten, sondern letztlich von der Gesamtheit der Einzelnen
entschieden. Um ein Diktum des Wissenschaftstheoretikers Popper etwas
konkreter zu formulieren: Es ist gleichgültig, ob ein Chinese, ein Grönländer oder
ein Deutscher ein Naturgesetz »falsifiziert«. Jedes souveräne Ich kann mit einer
auf sorgfältige Beobachtung begründeten Aussage ein Naturgesetz widerlegen, wie
umgekehrt auch jeder Einzelne, sprich jeder entdeckende Wissenschaftler, ein
solches Gesetz finden kann. Vor der Wissenschaft sind alle Menschen des Globus
gleich. Alle sind hier vollkommen gleichberechtigt, wenn es um die
Unterscheidung von wahr und unwahr geht. In der theoretischen Erkenntnis und
praktischen Herrschaft über die Natur, gibt es zum ersten Mal seit Beginn
menschlicher Geschichte eine wirkliche Einheit sämtlicher Menschen. Historisch
gesehen haben wir es mit einer einzigartigen, noch vor einem halben Jahrtausend
nicht einmal erahnten Errungenschaft zu tun. Sie drückt sich darin aus, dass es in
Peking, München oder Boston Universitäten mit annähernd gleichen Lehrplänen
gibt und in den Fabriken Chinas, Frankreichs oder Argentiniens mit denselben
Maschinen nach denselben wissenschaftlichen Erkenntnissen gearbeitet wird.
Doch diese Universalität des wissenschaftlichen Denkens lässt uns merkwürdig
kalt. So sensationell eine solche erst im zwanzigsten Jahrhundert zustande
gekommene geistige Einheit auch ist, bleibt sie doch merkwürdig farblos und für
unsere Gefühle neutral. Denn es fehlt ihr gerade dasjenige Element, welches wir
mit einer wirklichen Einheit zuallererst verbinden: nämlich das Element der
Verbrüderung. Wir mögen zwar darin einig sein, was wir in unserer Beobachtung
der Natur als wahr und falsch bezeichnen, aber diese Einigkeit stellt keineswegs
eine größere Nähe zwischen den Völkern des Globus her.
Das ist auf Anhieb daran zu erkennen, dass die wissenschaftlich-technische
Globalisierung die Interessengegensätze zwischen Völkern und Nationen,
Wirtschaftsblöcken und Handelsimperien keinesfalls aufhebt, sondern sie sogar
noch zusätzlich verschärft, weil diese Gegensätze sich gerade aufgrund des
technologischen Fortschritts weit effektiver, d. h. aber auch mit weit gefährlicheren
Folgen austragen lassen. Die globale Einheit im wissenschaftlichen Denken hat

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den Globus um nichts friedfertiger werden lassen, sondern die Gefahren für alle im
Gegenteil wesentlich erhöht. Der Grund für dieses auffallende Missverhältnis ist
darin zu suchen, dass die Menschheit sich zwar seit Jahrtausenden zum ersten Mal
darauf einigen konnte, was von nun an als wahr und falsch im
herrschaftsbezogenen Umgang mit der Natur gelten solle, aber nach wie vor keine
Einigkeit darüber besteht, was unter Menschen und Völker als wahr und falsch im
Hinblick auf das gegenseitige Verhalten zu gelten habe.
Man würde sich also einer leichtfertigen Illusion hingeben, wenn man
glaubte, dass Wissenschaft der Menschheit den Frieden bringt. Die mittlerweile
universale Sprache von Naturwissenschaft und Technik hat nicht verhindern
können, dass eine parochiale Vielfalt im Hinblick auf egoistische Interessen und
Machtansprüche besteht. Und hier ist es bezeichnend, dass solchen Interessen und
Machtansprüchen fast immer weltanschauliche, sehr oft religiöse Haltungen
zugrunde liegen. Und das aus leicht einsehbaren Gründen. Die Wissenschaft ist im
Hinblick auf Werte und Wünsche neutral. Die Geltung der Naturgesetze besteht
nun einmal unabhängig von menschlichen Werten und Wünschen. Religionen aber
haben es in erster Linie gerade damit zu tun: mit Hoffnungen, Werten und
Wünschen. So ist es eine beinahe zwangsläufige Folge, dass dieselbe Menschheit,
die im Hinblick auf das Verständnis der äußeren Natur weltweit dieselbe
wissenschaftlich-technische Sprache spricht, im Hinblick auf ihre Werte keine
Einigung zu erzielen vermag, weil unterschiedliche Religionen mit
unterschiedlichen Wertvorstellungen hier hohe und manchmal unüberwindliche
Barrieren errichten. Denn eben darin gleichen sich die verschiedenen Religionen.
Alle tendieren dazu, das Festhalten an den je eigenen Werten zum höchsten Gebot
zu erheben. Der Anspruch der US-Amerikaner, als Gottes erwähltes Volk zu gelten,
wird von den Taliban, den Saudis oder den fundamentalistischen Hindus mit
gleicher Selbstgewissheit, gleichem Fanatismus vertreten, ungeachtet der Tatsache,
dass mittlerweile an sämtlichen Universitäten und in allen großen Konzernen der
Welt Technik und Wissenschaft auf dieselbe Art praktiziert und weitergegeben
werden. Eine tiefer reichende Einheit der Menschen, die Grundlage künftigen
Friedens, kann daher nicht auf Wissenschaft und Technik beruhen. Wer sich dieser
Illusion hingibt – die auch dem Wissenschaftsglauben von Dawkins zugrunde liegt
- der hätte auch davon ausgehen müssen, dass Anzug und Krawatte, die noch im 19.
Jahrhundert einzig in Europa getragen wurden, einen Beitrag zum Weltfrieden
leisten würden, sobald sie sich einmal über den ganzen Globus verbreiten.

Von der instrumentellen zur universalen Vernunft


Wirkliche Verbrüderung setzt etwas anderes voraus: den Abbau der
weltanschaulichen Gegensätze, die Überwindung trennender Glaubensschranken
und Ideologien. Denn die Wahrheit der einen ist oft für die anderen eine Lüge. Fast
immer ist es ein durch die religiöse Weltanschauung bestimmtes »gutes Gewissen«,

14
das am Ursprung der schlimmsten Konflikte zwischen den Völkern liegt. Im
Namen ihrer jeweiligen Götter und der von ihnen verkündeten Gebote glauben sie
einander ausbeuten oder offen bekämpfen zu dürfen. Wissenschaft wird in den
Dienst widerstreitender Werte gestellt und vervielfältig damit das Potential ihrer
zerstörenden Wirksamkeit.
Die Einigung der Menschheit auf ein gemeinsames wissenschaftliches und
technologisches Denken hat ganze zehntausend Jahre benötigt, wenn wir die
neolithische Revolution an den Beginn dokumentierter Geschichte setzen. Es
handelt sich um die Einigung auf die Spielregeln einer Vernunft, die wir mit Max
Horkheimer als »instrumentell« bezeichnen können, weil sie ihre größten und
sichtbarsten Wirkungen darin erzielte, die Natur dem Dienst des Menschen zu
unterwerfen. Die Einheit der Menschheit im Hinblick auf seine Vorstellungen von
gut und böse, gerecht und ungerecht steht dagegen noch aus - im Augenblick
scheint sie noch unerreichbar zu sein. Sie ist aber nicht weniger als die
unerlässliche Voraussetzung dafür, dass die interessebedingten Gegensätze, wie sie
sich in ökonomischer Ausbeutung, Kriegen und der Zerstörung der Umwelt
manifestieren, einvernehmlich geächtet werden, bevor es dafür zu spät sein könnte.
Die Lage des Menschen auf dem gemeinsamen Globus ist derart prekär, dass diese
höhere Einheit, dieses wirkliche Einvernehmen, das weit über und jenseits der
instrumentellen Vernunft liegen muss, zur existentiell notwendigen Aufgabe wird.
Diese wichtigste Aufgabe unserer und der kommenden Zeit ist keineswegs
eine Fata Morgana. Vorbereitungen dafür gibt es schon lange. So wie es auch
schon immer Versuche gab, dem erfahrungsbegründeten Wissen zum Sieg zu
verhelfen, das heute seine Triumphe in Wissenschaft und Technik feiert. Jetzt geht
es darum, die Quelle gemeinsamen religiösen Denkens bloßzulegen, um für jene
künftige Einheit der Werte und religiösen Vorstellungen auf dem Globus das
Fundament zu legen. Ohne diese Verständigung über gemeinsame Werte kann uns
die die schon erreichte Einheit der instrumentellen Vernunft nur in die Katastrophe
führen.
Und damit schlage ich eine Brücke zwischen dem obigen
Gedankenexperiment und der gegenwärtigen Situation einer zwar wissenschaftlich
geeinten, aber durch unterschiedliche Religionen und Werte, kurz durch ihre
Geschichte, tief gespaltenen Menschheit. In dem Augenblick, da wir von unserer
Geschichte absehen – entweder weil sie uns abhanden gekommen ist oder weil wir
sie bewusst überwinden – ist auch der durch Geschichte verursachte Gegensatz
aufgehoben. Wenn das Göttliche überall und allen zugänglich ist; wenn es keine
selbsternannten Experten gibt, die in ihrem eigenen Interesse oder dem einer auf
Selbsterhaltung bedachten Organisation den Zugang zu ihm streng überwachen;
wenn diese Experten nicht vorgeben, die allein befugten Interpreten und Vermittler
der Wahrheit zu sein; wenn die Zufälle der Geschichte ausgespart bleiben, die die
Geburt, die Selbstoffenbarung oder das sonstige Wirken Gottes einmal im
Vorderen Orient lokalisieren, das andere Mal in Indien oder unter den Bantus –
dann steht einzig und allein der gegenwärtige und überall gleiche Mensch dieser

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höchsten Instanz von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Wenn wir die Zufälle der
Geschichte als das sehen, was sie sind, nämlich etwas nur Zugefallenes, dann
kommt uns die heute nur geahnte Einheit der Menschen auf höherer Ebene in den
Blick.
Diese neue und höhere Einheit hebt die durch die instrumentelle Vernunft
bewirkte natürliche Einheit keinesfalls auf, im Gegenteil, sie ruht auf ihr, nützt sie
als ihre Basis. Für diese neue und höhere Einheit hat die Wissenschaft sogar eine
notwendige Vorarbeit geleistet, denn ihrem Wesen nach ist Wissenschaft
ungeschichtlich. Sie besteht zwar in einem ständigen Anhäufen von Erkenntnis: Je
mehr Zeit vergeht, umso höher türmt sich der von ihr angesammelte Wissensberg,
aber diese Erkenntnisse können nach einem Verlust jederzeit von anderen
Einzelnen neu gefunden werden. Es gibt in der Wissenschaft keine Wahrheiten, die
allein deswegen wahr sind, weil ein bestimmtes Individuum darauf stieß. Es gibt in
ihr keine Autorität, die an bestimmte Gruppen, Stammbäume, Ethnien gebunden
wäre. Mag der einzelne Wissenschaftler auch anmaßend sein, autoritätsgläubig
oder leichtfertig, dem Wahrheitsspruch der anderen Wissenschaftler wird er sich
dennoch beugen müssen, denn diese besitzen genau die gleiche Befugnis über
wahr und unwahr zu urteilen wie er. Insofern liefert der Wissenschaftler ein
Vorbild für alles Denken über die Wirklichkeit. Jeder Mensch ist seiner Anlage
nach vollständig, auch wenn er mehr oder weniger intelligent, mehr oder weniger
gebildet ist. Die Wissenschaft erkennt jedem das gleiche Recht zu. Genau dieser
Umstand hat zu ihrer Verbreitung über den ganzen Globus wesentlich beigetragen.
Doch was für die Wissenschaft gilt, trifft bisher eben nicht auf jenen Teil
unseres Denkens zu, der sich auf historische Zufälle der Vergangenheit stützt, um
die Gegenwart damit zu beherrschen. Eine als gültig angenommene Fatwa oder die
Aussprüche eines als unfehlbar geltenden Priesters lassen keinen Widerspruch zu,
ebenso wenig wie die heiligen Bücher, auf die sich beide beziehen. Der historische
Zufall einer bestimmten Kultur, eines bestimmten Lebensraums, bestimmter
geschichtlicher Konstellationen wird über die Gegenwart gestellt, die Wahrheiten
der Vergangenheit über die Erkenntnisse der hier und jetzt lebenden Menschen.
Hier wird es ein radikales Umdenken geben müssen. Die neue und höhere Einheit
der Menschen wird dabei insofern auf dem wissenschaftlichen Denken aufbauen
können, als die letzte Autorität über wahr und falsch nicht aus der Vergangenheit
stammen darf, denn diese ist für jedes Volk eine andere. Das religiöse Denken wird
sich auf seine Essenz besinnen, auf dasjenige, was der Einzelne, ohne Weisungen
von anderen zu empfangen, aus eigener Einsicht, eigenem Erleben vom Göttlichen
zu erfahren vermag. Hier liegt die Einheit, die noch weit höher zu werten ist als
diejenige, die auf der Globalisierung der instrumentellen Vernunft beruht. Hier
muss eine Neubesinnung ansetzen, denn diese allein kann die Kraft aufbringen, die
aufgerissenen Gräben wieder einzuebnen.
Wir wissen, wie dies geschehen kann. Die Mystik als elementare Form des
religiösen Erlebens hat nie der Autorität, der Historie und der Weisung bedurft.
Mystik war immer und überall Religion in statu nascendi, d.h. in ihrer

16
ursprünglichen und elementaren Gestalt. Sie ist die einzige Form der Religion,
welche genau wie die Wissenschaft die Bindung an die Zufälligkeiten der
Geschichte zu überwinden suchte und auch immer erneut überwunden hat. Sie ist
die religiöse Lingua universalis.

17
Rückblick (Absage an Autoritäten):
Mystiker sind immer Teil einer Gesellschaft und als solcher unterliegen sie wie
andere Menschen dem von ihr ausgehenden Anpassungsdruck. Mystiker sind daher
oft gute Christen, Muslime, Hindus, Buddhisten etc. gewesen. Sie haben sich mit
den zu ihrer Zeit und in ihrem Lande jeweils herrschenden Autoritäten zu
arrangieren gewusst. Doch ihrem Wesen nach ist Mystik Auflehnung gegen alle
Autorität, denn mehr als alles andere zählt für sie die eigene Erfahrung. Wer das
Göttliche in der Welt und in sich selbst nicht zu sehen vermag, dem kann es weder
ein Lehrer noch eine Kirche vermitteln.
Shankarāchārya, der große indische Mystiker des achten nachchristlichen
Jahrhunderts, der die zweittausend Jahre zuvor aufgekommene Mystik der
Upanishaden wiederentdeckte und sie vertiefte, äußert sich darüber in der »Viveka
Chūdāmani«.

Das Wesen der einen Wirklichkeit lässt sich nur mit eigener klarer
Wahrnehmung erkennen, nicht durch einen Lehrer. Auch die Form des
Mondes kann ja nur mit den eigenen nicht mit den Augen anderer Menschen
gesehen werden.

Und an anderer Stelle:

Das königliche Wissen, das königliche Geheimnis ist hier das


Brahmanwissen. Und dieses ist nicht Schriftwissen, sondern eine
unmittelbare Eigenerkenntnis, sowie man sein Wohl oder Weh fühlt, d.h. in
unmittelbarer Eigenvernehmung.

Darin drückt sich wohl die eigentliche Überzeugung des großen Philosophen und
Mystikers aus. In seiner Lehrtätigkeit sah er sich freilich gezwungen, beständig an
die Autorität der Veden anzuknüpfen. Nach Auffassung des orthodoxen
Hinduismus konnte es keine Wahrheit geben, die nicht schon am Anfang der
Zeiten offenbart worden wäre. Diesem äußeren Anpassungsdruck konnte Shankara
sich ebenso wenig wie Meister Eckhart entziehen.[2] Dennoch lassen sich die
eigentlichen Überzeugungen der beiden Mystiker deutlich genug zwischen den
Zeilen lesen.
Die buddhistische Mystik des Mahāyāna verwahrt sich gleichfalls gegen den
Machtspruch äußerer Autoritäten. So heißt es im Sūtrālamkāra:

Tatsächlich ist die rettende Wahrheit nie von Buddha gepredigt worden, denn
jeder muss sie in seinem eigenen Herzen finden.

Und so sagt es auch der deutsche Mystiker Angelus Silesius (1624 - 1677):

18
Die Schrift ist Schrift, sonst nichts! Mein Trost ist Wesenheit. Und dass Gott
in mir spricht das Wort der Ewigkeit.

Dem gleichen Misstrauen gegenüber aller nur durch Wort und Schrift formulierten
Wahrheit begegnen wir bei dem viel gerühmten sufischen Dichter und Mystiker
Djalal od-Din Rumi (1207 - 1273). Dieser wagt es sogar, sich in einem Gedicht aus
dem Diwan von der eigenen Religionsgruppe loszusagen.

Was soll ich tun, o ihr Muslime? Denn ich kenn mich selber nicht:
Weder Christ bin ich noch Jude, und auch Pars und Muslim nicht;
Nicht von Osten, nicht von Westen, nicht vom Festland, nicht vom Meer,
Nicht stamm ich vom Schoß der Erde und nicht aus des Himmels Licht.

Diese Zeilen haben ihm die religiösen Eiferer bis heute nicht verziehen und stellen
sie deshalb als Einschub aus anderer Feder hin. Was immer man davon halten mag,
wäre es natürlich ganz falsch, daraus eine Feindschaft Rumis gegen den Islam
abzuleiten, den Glauben, in dem er aufgewachsen war. Was sich aus diesem
Gedicht erkennen lässt, ist einzig die Überzeugung des Mystikers, dass er sich von
allen Fesseln befreien muss, mit denen ihn die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Doktrin oder Menschengruppe beschwert. Der Mystiker lässt allen Religionen als
Hilfsmitteln zur Erkenntnis des Göttlichen ihr Recht, aber er kann sich keiner
einzigen von ihnen unterwerfen. In diesem Sinne sagt auch Mahatma Gandhi: »Ich
bin Christ, Hindu, Moslem und Jude«. Ähnlich äußert sich Schopenhauer (1788 -
1860), wenn er christliche Mystik und Vedānta miteinander vergleicht.

Die christlichen Mystiker und die Lehrer der Vedanta-Philosophie treffen


auch darin zusammen, dass sie für den, der zur Vollkommenheit gelangt ist,
alle äußern Werke und Religionsübungen überflüssig erachten.

Von der Wahrheit, die vor jeder historischen Offenbarung liegt, hat auch Friedrich
Schelling (1775 - 1854) gesprochen: »Wir haben eine ältere Offenbarung als jede
geschriebene, die Natur«. Im gleichen Sinn äußert sich Schiller unter der
Überschrift »Mein Glaube«:

Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,


Die du mir nennst! »Und warum keine?« Aus Religion.

Nämlich aus dem unmittelbaren Erleben des Göttlichen vor aller


autoritätsgebundenen Weisung. Nicht anders sah der große französische
Gottessucher Pascal (1623 - 1662) die letzte Instanz für alle Entscheidung über
wahr und falsch nicht in einer äußeren Autorität sondern im Inneren des Einzelnen:

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Legt eurem Glauben nicht das zugrunde, was ihr von anderen gehört habt.
Wenn ihr etwas für richtig haltet, dann so als hätte euch nie jemand etwas
davon gesagt.

Denn, wenn wir uns nur danach richten, was andere sagen, dann entsteht daraus
wie es der indische Mystiker und Heilige Ramakrishna formuliert, ein nicht-
endender Streit zwischen Meinungen, Dogmen und Religionen.

Wohin immer ich blicke, sehe ich die Menschen im Namen der Religion
streiten [...] Aber sie denken nie daran, dass Er, der Krishna genannt wird,
auch Shiva heißt und den Namen der Shakti, von Jesus und Allah ebenso
trägt - derselbe Rama mit tausend Namen.

Mit besonderer Radikalität verwirft das Zen jede von außen kommende Autorität.
Das gilt selbst für das Wort des Buddha, sofern der Schüler es als etwas auffassen
könnte, dem er sich wie einem Machtspruch zu unterwerfen hätte. Das so genannte
»Koan« ist eine bewusste Irreführung und Desorientierung der Vernunft, um den
Schüler von der Illusion befreien, dass er die Wahrheit auf dem Wege der
Berechnung oder des gehorsamen Lernens finde könne.

Ein Mönch fragte Dung-schan: Was ist es mit dem Buddha? Dung-schan
erwiderte: Drei Pfund Hanf.

Wenn Du nicht spürst, dass die Wahrheit in Dir liegt, so dass Du nicht nach ihr
fragen musst, dann sind alle Worte - und bezeichnen sie auch das Höchste - nicht
mehr wert als drei Pfund Hanf.
Der amerikanische Dichter und Pfarrer Ralph Waldo Emerson sah Autorität
in offenem Gegensatz zum religiösen Erleben.

Die Bedeutung der Autorität ist das Maß für den Verfall der Religion, das
Maß dafür, wie sehr der Geist bereits aus ihr entwichen ist.

Die Absage an alle Bevormundung ist ein Tenor mystischen Denkens. In seinem
bis heute maßgeblichen Werk über die »Mannigfaltigkeit religiöser Erfahrung«
fasst William James deren Wesen auf folgende Weise zusammen: »Man darf, so
glaube ich, ruhig behaupten, dass alle persönliche religiöse Erfahrung ihre Wurzeln
und ihren Mittelpunkt in Zuständen mystischen Bewusstseins hat«.

20
Lingua universalis – Mystik als Menschheitssprache

»Die Kirche der Zukunft wird mystisch sein - oder sie wird nicht mehr sein«.
Karl Rahner, katholischer Theologe

Mystik ist die Religion des souveränen Ich und damit zur gleichen Zeit die
Religion aller Menschen, die sich in ihrer Wesensgleichheit erkennen und
respektieren. Darin gleicht sie der Wissenschaft, die einerseits Erkenntnis der
Natur durch den souveränen Einzelnen ist und zur gleichen Zeit in der
Erkenntnisgemeinschaft aller Menschen des Globus verwurzelt ist.
Aber die religiöse Erkenntnis ist keineswegs identisch mit jener
Naturerkenntnis (einschließlich der von Mensch und Gesellschaft), die wir als
Wissenschaft bezeichnen. Auf dem praktischen Wissen der Letzteren baut ein
anderes auf, ein theoretisches, wobei Theorie hier im ursprünglichen griechischen
Sinne als Schau und Wesensschau zu verstehen ist. Es ist ein Wissen, das nicht auf
Herrschaft abzielt, sondern auf Einklang und Einheit, ein Wissen, das die Sphäre
der animalischen Selbstbehauptung unter sich lässt, weil es im Bewusstsein von
der Einheit alles Lebenden und auch noch des scheinbar Toten gipfelt. Dieses
Wissen verfolgt keinen unmittelbar praktischen Zweck, weder verstärkt noch
vermindert es den unmittelbaren Zugriff auf die uns umgebende Welt - und doch
dient es dem höchsten Zweck überhaupt, nämlich einer Erkenntnis, die sich selbst -
das eigene mikrokosmische Ich - im Makrokosmos des Universums erblickt und
umgekehrt den Makrokosmos hologrammatisch in den Facetten des eigenen
Wesens entdeckt. Diese durchdringende Wesensschau, der man den irreführenden
Namen »Mystik«, also Geheimnis, gab, beruht auf einer wirklich universalen Sicht
auf die Welt, weil sie die zwischen den Menschen bestehenden historischen
Gegensätze und die ihrer partikulären Interessen zum Schweigen bringt.
Einen überzeugenden Beweis für diese These liefert uns die Geschichte
menschlichen Erlebens und Denkens. Mystisches Philosophieren und mystisches
Erleben der Wirklichkeit hat es überall auf der Welt gegeben, gerade auch
innerhalb der großen historischen Religionen. Der Islam hat diese Strömung im
Sufismus ausgebildet; das Christentum hat es bei Meister Eckhart zu einem
Höhepunkt gesteigert; der Buddhismus hat im Zen eine mystische Strömung
hervorgebracht; die Volksreligion der Chinesen im Daoismus, noch sichtbarer aber
hat sich mystisches Naturerleben in der Malerei der Sung manifestiert. Geht man
noch weiter zurück bis zu jenen religiösen Ursprüngen des Welterlebens, die man
zu Unrecht als primitiv bezeichnet, so stoßen wir immer wieder auf die Vorstellung
einer allen Dingen innewohnenden Kraft: das melanesische Mana, das Wakan der
Sioux-Indianer, das Orenda der Irokesen sind verschiedene Namen für eine Kraft,
welche das beobachtende Ich ebenso in sich selbst wie in den äußeren Dingen
entdeckte. Mit nicht zu überbietender Klarheit haben schließlich die Inder seit der
frühen Zeit der Upanishaden (etwa 1000 bis 500 v. Chr.) bis hin zum Vedanta des
Shankara (gegen Ende des 8. Jahrhunderts n. Chr.) über die Einheit des Selbst mit

21
der umgebenden Welt philosophiert und darin viel mehr als nur einen
intellektuellen Akt der Erkenntnis gesehen: Diese Einheit beruhte auf einer
erlebten Wesensschau.
Das alles ist Geschichte, die hinter uns liegt und die wir im Prinzip auch
vergessen könnten, ohne dass das Gemeinte selbst damit verloren ginge. Denn
wenn das mystische Erleben wirklich universal ist, dann muss es sich heute im
Einzelnen genauso spontan ereignen können wie zu irgendeiner früheren Zeit. Erst
dadurch nehmen mystisches Denken und mystisches Erleben den Charakter einer
Raum und Zeit übergreifenden Erscheinung an, dass sie sich unabhängig von
Kirchen und heiligen Texten völlig voraussetzungslos ebenso in der Gegenwart
ereignen. Wenn es sich zeigen lässt, dass mystisches Denken gerade unter den
größten Denkern verbreitet ist, nämlich unter jenen, die auf ihrem Gebiet, dem der
Wissenschaft zum Beispiel, Hervorragendes vollbrachten, dann ist das ein
eindrücklicher Beleg für die Aktualität dieser Urform religiösen Denkens.

Abkehr von anthropomorphen Vorstellungen

Die kirchliche Autorität biblischen Offenbarungsglaubens… wird nie die


Menschen des Erdballs, nicht einmal die des Abendlands einigen. Karl
Jaspers, Glaube, 7.

Unter großen Wissenschaftlern finden wir nur wenige, die sich dem
Buchstabenglauben der Kirchen oder gar ihren Dogmen fügen. Und geradezu
verschwindend gering ist unter ihnen die Zahl der Fanatiker, die wortwörtlich
übernehmen, was ihnen christliche, islamische, hinduistische oder buddhistische
Priester zu glauben befehlen. Die meisten führenden Wissenschaftler lehnen es
überhaupt ab, ein Bekenntnis zu einer der offiziellen Religionen abzulegen. Doch
gerade unter ihnen finden sich ausgesprochen religiöse Naturen. Nur ist es nicht
die gewöhnliche anstaltsgebundene Form der Religiosität, die von ihnen
Unterwerfung gegenüber Traditionen und anderen Menschen (Priestern, Päpsten
usw.) verlangt, sondern eine zugleich weiter und tiefer angelegte, die sich mit ihren
sonstigen Kenntnissen als Wissenschaftler verträgt. Auf die allgemeinste Art
ausgedrückt, besteht sie in dem Bewusstsein von einer das Dasein beherrschenden
höheren Macht, die sich in anthropomorphen Formeln und Dogmen, in Mythen
und Riten nicht einfangen lässt. Dieses differenzierte Bewusstsein, das vor einer
historisch verengten, menschlich-allzumenschlichen Beschreibung des Göttlichen
zurückschreckt und es gerade dadurch erhöht, steht in ein und derselben Linie mit
der Mystik, wie sie sich inner- und außerhalb der großen Weltreligionen
manifestiert. Gleichgültig ob wir an Albert Einstein, Niels Bohr, Max Born, David
Bohm oder Erwin Schrödinger denken, viele gerade der bedeutendsten
Naturwissenschaftler bezeugen die fortdauernde Universalität eines religiös

22
motivierten Denkens, das keinen Kultus, keinen Klerus, kurz keine Herrschaft
benötigt und seine Sicht auf das Göttliche gerade dadurch von allem Menschlich-
Allzumenschlichen freihält.
Der Widerstand gegen die Entwürdigung des Göttlichen durch Vorstellungen,
die es in allzu große Nähe zum Menschlichen bringen, hat in der Mystik eine lange
Geschichte. Im klassischen Griechenland, im Hinduismus ebenso wie im
volkstümlichen Katholizismus haben die Massen die Götter wie ihresgleichen
behandelt. Bei den Hindus mussten sie in Milch gebadet, mit Blumen bekränzt, mit
schönen Frauen bedient und umschmeichelt werden. Und fast überall konnte man
die Götter mit Geschenken bestechen. „Ich gebe Dir etwas, glaube an Dich und
bete zu Dir, dafür erwarte ich, dass Du Dich Deinerseits genauso um die Erfüllung
meiner Wünsche bemühst.“
Ein solcher Kuhhandel, bei dem Gott oder die Götter von hilfesuchenden
Menschen auf das eigene Niveau erniedrigt wurden, musste auf feinere Naturen
und tiefer blickende Denker in hohem Maße abstoßend wirken. Mit aller
Entschiedenheit hoben sie daher das Göttliche über diese niedere Sphäre hinaus. Es
sollte und durfte nicht »dies« oder »jenes« sein, das heißt, es durfte keine jener
Eigenschaften besitzen, die an die materielle Existenz und das Alltägliche erinnern.
Das Göttliche lag jenseits von Alltag und Machtstrukturen. Es war unendlich viel
mehr, nämlich die Quintessenz allen Seins.

23
Rückblick (Absage an anthropomorphe Vorstellungen):
Zu den Vorfahren der heutigen Wissenschaftler zählen die griechischen
Naturphilosophen. Keiner von ihnen hat seine Meinung über den damals üblichen
Götterglauben so deutlich ausgesprochen wie Xenophanes (um 570 bis 470 v.
Chr.) aus dem kleinasiatischen Kolophon.

Doch wähnen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten
Gewand und Stimme und Gestalt wie sie.
Doch wenn die Ochsen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen
könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden
die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen
und solche Körper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte.
Die Äthiopen [behaupten, ihre Götter] seien schwarz und stumpfnasig, die
Thraker, blauäugig und rothaarig.

Es klingt wie ein Kommentar dazu, wenn Epikur (um 341 – 270 v. Chr.) bemerkt:

Wer die Götter der Menge leugnet, ist also kein Gottloser, sondern der ist
gottlos, der den Göttern die Eigenschaften anheftet, die ihnen von der Menge
beigelegt sind.

Oder wie Friedrich Schiller es beinahe zweieinhalb Jahrtausende später sagt: »In
seinen Göttern malt sich der Mensch«.
Die Kritik an personal vorgestellten Göttern, die in Aussehen, Wünschen
und Forderungen gar zu offensichtlich dem Menschen gleichen, wurde bis zu
Ludwig Feuerbach, der die Götter zu Projektionen der menschlichen Psyche
erklärte, und in jüngster Zeit von Dawkins immer erneut aufgegriffen. Auch der
Mystiker lehnt die Bilder einer personal oder überhaupt nach Analogie des
Menschen gedachten Gottheit ab, weil diese viel zu groß ist um durch Etiketten
und menschliche Bilder erfasst zu werden. Mit aller Entschiedenheit wird diese
Erkenntnis in den Upanishaden ausgesprochen: Gott ist weder dieses noch jenes, er
ist frei von allen Attributen, die Menschen ihm anzuhängen versuchen. All das sei
Maya: eine Auswirkung menschlicher Unwissenheit.

Was durch das Denken undenkbar,


Wodurch das Denken wird gedacht,
Das sollst du wissen als Brahman,
Nicht jenes, was man dort verehrt.

Alles was die diskursive Vernunft über die Gottheit sagt, alle Bilder, in denen sie
diese verehrt, treffen ihr Wesen nicht, in Wahrheit ist sie weder dieses noch jenes
(neti, neti).

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Und Vasishtha überlegte bei sich und sprach: »Dasjenige, von dem sie sagen:
›es ist nicht so, es ist nicht so‹ (neti, neti), das ist das Brahman. Dieses
Brahman ist der Atman, ohn' Ende, ohne Alter, ohne Ufer…

Alle Bestimmungen dieser höchsten Realität können nicht mehr sein als
unpassende Bilder, die wir aus uns selbst und unserer Außenwelt schöpfen. Darauf
laufen auch die entsprechenden Aussagen Meister Eckharts hinaus.

Ich würde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte,
wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist weder
dies noch das.

Alles womit in der Alltagssprache Gott bezeichnet wird, das ist der Seele, die von
ihm erfüllt ist, ganz fern.

Soll Gott je darin lugen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten
und seine personhafte Eigenheit; das muss er allzumal draußen lassen, soll er
je darein lugen. Vielmehr, so wie er ein einfaltiges Eins ist,… so ist er weder
Vater noch Sohn noch Heiliger Geist…

Und er lässt auch keinen Zweifel daran, wie es zu diesen vermenschlichenden


Vorstellungen kommt. Wenn man sich Gott nach dem Bild eines nützlichen
Wesens vorstellt, dann glaubt man von ihm die Erfüllung eigennütziger Wünsche
erhoffen zu dürfen.

Aber manche Leute wollen Gott mit den Augen ansehen, mit denen sie eine
Kuh ansehen und wollen Gott lieben, wie sie eine Kuh lieben. Die liebst du
wegen der Milch und des Käses und deines eigenen Nutzens.

Doch zwischen einem derart ins Menschliche herabgezogenen Gott und dem
unnennbar Göttlichen – der Gottheit in Eckharts Worten - besteht eine
unüberbrückbare Kluft.

Dazwischen aber bedenket es, ich bitte euch bei der ewigen und
unvergänglichen Wahrheit und bei meiner Seele: fasst das Unerhörte. Gott
und Gottheit sind unterschieden wie Himmel und Erde. Der Himmel steht
wohl tausend Meilen höher. Und so die Gottheit über Gott.

Vier Jahrhunderte nach Eckhart hat ein großer philosophischer Mystiker aus
Amsterdam, Baruch de Spinoza (1632 - 1677), diese Verkleinerung des
Gottesbildes mit gleicher Entschiedenheit abgelehnt:

25
Es gibt Menschen, welche sich Gott wie einen Menschen vorstellen, aus
Körper und Geist bestehend und den Leidenschaften unterworfen. Wie weit
aber diese von dem richtigen Begriff Gottes entfernt sind, ergibt sich aus
dem, was bereits bewiesen worden, zur Genüge. Doch lasse ich diese
beiseite; denn alle, welche über die göttliche Natur nur einigermaßen
nachgedacht haben, verneinen die Körperlichkeit Gottes. Unter anderem
beweisen sie das am besten damit, dass man unter Körper eine lange, breite
und hohe Masse von bestimmter Form versteht, während es nichts
Widersinnigeres geben könne, als dies von Gott, dem absolut unendlichen
Wesen, zu sagen.

Dieselbe klare Haltung finden wir bei dem Manne, der als größter
Naturwissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts gilt: bei Albert Einstein.

Die religiösen Genies aller Zeiten waren durch diese kosmische Religiosität
ausgezeichnet, die keine Dogmen und keinen Gott kennt, der nach dem Bild
des Menschen gedacht wäre.

Nicht anders denkt David Bohm, US-amerikanischer Quantentheoretiker, über


anthropomorphe Gottesvorstellungen:

Menschen erkannten in der Vergangenheit eine Intelligenzform, die das


Universum organisiert hatte. Sie personalisierten diese und nannten sie Gott.
Ein ähnlicher Einblick ist heutzutage auch möglich, ohne ihn zu
personalisieren und einen persönlichen Gott zu nennen.

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Abkehr von Herrschaft
Die größten unter den Wissenschaftlern bezeugen die fortdauernde Universalität
eines religiös motivierten Denkens, das sich entschieden gegen eine Vermischung
des Göttlichen mit allem Menschlich-Allzumenschlichen sträubt. Das gilt in
besonderem Maße für das Eindringen von Herrschaft und Macht. Mystik weist alle
menschliche Herrschaft als vermittelnde Instanz zurück. Sie ist daher die einzige
Form der Religion, die Menschen über Konfessionen hinweg verbindet.
Christentum und Islam finden nicht zueinander - wie sollten sie auch, wenn schon
Protestanten und Katholiken einander bis heute nicht wesentlich näher kamen?
Solange die Wahrheiten der Religion auf der vermeintlich unanfechtbaren
Autorität ihrer geschichtlichen Urheber beruhen statt auf dem inneren Zeugnis der
jeweils lebenden Einzelnen, stehen sie einander als unversöhnliche Mächte fremd
und unüberbrückbar, d.h. letztlich in Feindschaft, gegenüber. Das gilt nicht nur für
ihre historisch-dogmatisch begründeten Lehren selbst, sondern ebenso für die
Anstalten und Institutionen, in denen sie sich konkret manifestieren. Im Prinzip
funktionieren ja Kirchen und andere organisierte Glaubensgemeinschaften nicht
anders als große Wirtschaftskonzerne. Ihr Produkt ist eine bestimmte
Glaubenswahrheit, so wie diese von ihnen jeweils definiert worden ist. Die eigene
Expansion - fast immer auf Kosten der anderen - ist dann mit der Verbreitung
dieses Produktes unlösbar verbunden, nur dadurch erhöhen sie ihre Macht. Denn
jede Organisation tendiert sehr schnell dazu, den eigenen Fortbestand und den
eigenen Machtzuwachs als ihre eigentlichen Aufgaben zu verstehen. In demselben
Augenblick, wo sie dies tut, sind es aber auch zwangsläufig Fragen der Macht, die
sie wesentlich in ihrem Vorgehen bestimmen. Nirgendwo ist dieser Umschwung
deutlicher zu erkennen, als in der Machtergreifung des Christentums unter
Konstantin im vierten Jahrhundert nach Christus.
Die Mystik hat den Verlockungen der Macht widerstanden, weil sie es nicht
zulassen konnte, dass sich zwischen das Göttliche und den einzelnen Menschen
andere Menschen einschoben. Genau dieses Dazwischentreten anderer Menschen
ist aber das typische Kennzeichen der »Machtreligion«. Macht hat den Zugang
zum Göttlichen von menschlichen Gnadenspendern so abhängig gemacht wie den
kleinen Untertan von der Gunst eines Königs. Macht hat zwischen den einzelnen
und seinen Zugang zur Wahrheit die »Experten der Wahrheit«, Priester und andere,
gestellt, ohne die er angeblich niemals begreifen würde und vor allem auch niemals
begreifen sollte, was Wahrheit wirklich ist und von ihm verlangt. Diese
selbsternannten Experten haben ihm Jahrhunderte lang eingeredet, dass er die
Wahrheit auf keinen Fall in sich selbst und unabhängig von ihrer Hilfe entdecken
würde. Die »Experten der Wahrheit« haben den einzelnen regelmäßig und
systematisch entmündigt, ihn zur Stumm- und Taubheit verdammt. Auch wenn am
Ursprung einer historischen Religion, wie beispielsweise im Urchristentum, einmal
eine Gemeinschaft von Gleichberechtigten stand, so wurde diese doch nahezu
überall auf der Welt von einer Priesterschaft abgelöst, die das Monopol auf die

27
Wahrheit besaß und diesen Besitz zum eigentlichen Fundament einer Jahrhunderte
lang mit inquisitorischen Mitteln verteidigten Macht erhob.
Mystik war und ist die einzige Form religiösen Denkens, die dieses
Dazwischentreten der Macht verwirft. Sie richtet sich an den einzelnen, sie ruft ihn
zum Ausbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit auf. Wenn es eine
Wahrheit des Göttlichen gebe, so ihre Grundüberzeugung, dann müsse sie für
jedermann sichtbar sein, sofern er sie überhaupt sehen wolle. Mystik ist der direkte
Blick des einzelnen Menschen auf die Transzendenz und das Göttliche.
Die Folgerung, die sich aus einer solchen Haltung für die Zukunft ergibt, ist
wenig zweifelhaft. Eine zukünftige Menschheit wird christlich sein, wenn sie, auch
ohne sich von den Dogmen der Kirchen indoktrinieren zu lassen, von sich aus zur
Wahrheit des Christentums findet, sie wird islamisch sein, wenn sie, ganz ohne den
Koran in jahrelangem Bemühen auswendig lernen zu müssen, von sich aus zu
dessen wesentlichen Aussagen gelangt. Eine solche Entwicklung ist freilich wenig
wahrscheinlich, auch wenn im Christentum wie im Islam Werte und Aussagen von
universaler Geltung enthalten sind und selbst Theologen wie etwa Hans Küng in
einigen ihrer Äußerungen der Mystik ganz nahe kommen.[3] Deswegen scheint die
oben zitierte Voraussage von Karl Rahner viel eher richtig zu sein, wonach die
künftige Menschheit eine mystische Form der Religion annehmen wird. Denn zur
Befreiung von Macht und damit zur Mündigkeit findet sie nur durch diese. Mystik
erlaubt ihr die Machtsprüche abzuschütteln, weil Macht den Menschen immer nur
Machtbefehle erteilt. Das religiöse Denken wird sich vom Druck und den
Autoritäten der Vergangenheit befreien, von den historischen Attrappen des
Religiösen, um zu dessen universalem Kern vorzustoßen.

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Rückblick (Wahrheit entsteht aus dem Einzelnen):
In der Mystik geht die Ablehnung von Autorität noch weiter als in den
Wissenschaften. Sie wird einerseits damit begründet, dass alle Wahrheit nicht mehr
sei als Schall und Rauch, solange der Einzelne sie nicht in sich selbst spürt, also
aus eigener Kraft in sich erweckt. Doch das ist nicht alles. Der Mystiker vollzieht
noch einen Schritt darüber hinaus. Hat er die Barriere zwischen dem Selbst und
den Dingen überwunden, dann ist für ihn das Verhältnis von Ich zu Gegen-stand
letztlich nur Illusion (vgl. Kap. Am Beispiel der Antimystik). Es ist daher auch ganz
wörtlich zu nehmen, wenn der Mystiker davon ausgeht, dass die Welt in ihm selbst
entsteht und damit auch die Wahrheit im eigenen Selbst ihren Ursprung hat. Alle
Machtbeziehung, die auf die Oktroyierung einer von außen kommenden Wahrheit
hinauslaufen würde, ist für ihn unannehmbar. So heißt es zum Beispiel im 19.
Sūtram der Kaivalya-Upanishad:

In mir entstand das Weltganze, in mir nur hat Bestand das All, in mir vergeht
es, dies Brahman, das zweitlose, ich bin es selbst.

Meister Eckhart, der Mystiker aus Hochheim im heutigen Thüringen, drückt


dieselbe Idee in etwas anderen Worten aus:

In meiner Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner
selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären
alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch Gott nicht.

Es ist interessant festzustellen, dass auch die kritische Wissenschaft sich seit dem
vergangenen Jahrhundert wieder mit solchen Erwägungen befasst. So zum Beispiel
Erwin Schrödinger.[4] Vorsichtig nähert sich auch das sogenannte »anthropische
Prinzip« der mystischen Einsicht, denn dieses Prinzip läuft in seinem Kern auf die
fundamentale Aussage hinaus, dass es das beobachtbare Universum nicht ohne
einen Beobachter geben kann (siehe auch Kap. Materie und Bewusstsein, S. 74).

29
Die Rolle des Einzelnen
Das religiöse Denken wird sich vom Druck und den Autoritäten der historischen
Religionen befreien, um zu deren universalem Kern vorzustoßen. Allerdings lauern
auch am Rande dieses Weges manche Gefahren. Die Rolle des Einzelnen kann auf
falsche Weise überschätzt und aufgebläht und auf ebenso falsche Weise
unterschätzt und geschmälert werden. Auch hier hat die heute universale Sprache
der Wissenschaften gezeigt, wie sich beide Gefahren umgehen lassen. Der
Einzelne führt in der Wissenschaft eine zugleich privilegierte und eine der
Gemeinschaft anderer Wissenschaftler doch auch wieder ganz und gar
untergeordnete Existenz. Einerseits ist er und nur er notwendig der Ursprung jedes
weiterführenden Gedankens. Ein neues Naturgesetz wird niemals als kollektive
Gedankeneingebung gefunden. Das bleibt auch dann eine unanfechtbare Wahrheit,
wenn wir zugeben müssen, dass der Zeitgeist gewisse Probleme nicht selten so
sehr in den Vordergrund drängt, dass sie in verschiedenen Ländern und
unterschiedlichen Köpfen nahezu gleichzeitig zum Durchbruch gelangen - wie
etwa das Differenzialkalkül von Newton und Leibniz. Auch in diesem Fall bleiben
es jedoch immer einzelne Köpfe, in denen die Denkarbeit sich ereignet. Aller
Fortschritt des Denkens, sämtliche Erfindungen haben hier, im Einzelnen, ihren
Ursprung. Das ist der Quell, aus dem sie notwendig fließen.
Sind sie dort jedoch einmal entstanden, dann ergibt sich sogleich eine völlig
veränderte Situation. Denn nun wird die Gemeinschaft zu ihrem Richter. Auf
einmal hat nun sie und nur sie das letzte Wort über wahr und falsch dieser
ursprünglich individuellen Eingebungen. Denn jede von ihnen wird erst dadurch
zum allgemeinen Besitz, dass andere sie nachvollziehen, sie sich aneignen oder sie
im Gegenteil als falsch oder irreführend verwerfen. Erst aus dieser nachträglichen
Übernahme der Errungenschaften des Einzelnen durch die beharrliche Prüfung
einer Gemeinschaft kann Wahrheit entstehen.
Das radikal Neue dieses seit dem siebzehnten Jahrhundert im Europa der
frühen Aufklärung entstandenen Zugangs zur Wahrheit besteht nun darin, dass
dabei keine Denkbefehle von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannt
werden. Für sie ist jede Behauptung eines Einzelnen grundsätzlich gleichwertig,
sie ist gleichwertig im Hinblick auf ihre ethnische und historische Herkunft,
gleichwertig im Hinblick auf Raum und Zeit. Ob jemand eine Erkenntnis vor 2000
Jahren in Palästina oder vor dreitausend Jahren in Mesopotamien fand, spielt für
sie keine Rolle. Sie überprüft jede von ihnen an der beobachtbaren Wirklichkeit
nach gleichen Kriterien. Das einzige Kriterium, das sie grundsätzlich nie anerkennt,
ist die Autoritätsanmaßung. Behauptet jemand, einen besseren, tieferen oder
wahreren Blick auf die Wirklichkeit zu besitzen als seine Mitmenschen oder
fordert gar von ihnen, sich dieser Behauptung widerspruchslos zu unterwerfen;
kleidet sich jemand in ehrfurchtheischende Roben oder lässt sich von anderen als
außerordentliche Erscheinung verehren, so lässt ein Wissenschaftler dies unter
keinen Umständen als Grund dafür gelten, seine Aussagen höher zu bewerten als
die irgendeines anderen Menschen. Sie wird den gleichen Prüfungen unterworfen.

30
Auch die Tatsache, dass ein Einzelner in diesem oder jenem Land als Heiliger,
Inspirierter oder gar als unfehlbar gegolten habe, so dass seine Behauptungen vor
jeder denkbaren Überprüfung schlechterdings wahr sein müssten, weist die
Wissenschaft grundsätzlich als unzulässigen Wahrheitsbeweis zurück. In dieser
strikten Unparteilichkeit liegt die Ursache für ihre weltweite Verbreitung. Die
wissenschaftliche Sprache konnte eben deshalb zur neuen Lingua franca der
Menschheit werden, weil sie keinen Teil dieser Menschheit diskriminiert.
Trifft dasselbe Verhältnis von Einzelnem zur Gemeinschaft auch auf die
Religionen zu? Auf den ersten Blick schon. Bevor ganze Völker an Götter glaubten,
mussten einzelne Menschen, z. B. in Mesopotamien, sich Gott als ein
menschenähnliches Wesen vorgestellt haben. Andere Menschen in Ozeanien, in
Indien, in Mittelamerika und vielen anderen Gegenden der Erde sind auf den
Gedanken verfallen, sich Gottheiten in Tieren verkörpert vorzustellen. Ebenso
mussten zunächst einmal einzelne Menschen an die Möglichkeit glauben, dass das
Göttliche sich in einem Pantheon mit vielen verschiedenen Göttergestalten
manifestiert. Und ebenso sind es dann wiederum Einzelne gewesen, die sich im
Laufe der Geschichte als erste dazu entschieden haben, an die Herrschaft eines
einzigen Gottes zu glauben.
Bis zu diesem Punkt verlaufen die Wege der religiösen und der
wissenschaftlichen Wahrheitsfindung durchaus parallel, sieht man einmal darüber
hinweg, dass die Aufmerksamkeit eines Naturwissenschaftlers den sinnlich
erfahrbaren Dingen gilt, während die religiöse Erkenntnis sich auf deren sinnlich
nicht mehr wahrnehmbaren Hintergrund richtet. Die Wege pflegen sich erst in dem
Augenblick - dann aber auch auf radikale Weise - zu trennen, wenn es um die
Bewertung dieser von Einzelnen kommenden Denkanstöße durch die
Gemeinschaft geht. In den Wissenschaften spielt der Einzelne immer dieselbe
gleichbleibende Rolle. Mag es auch immer nur einen einzigen Einstein oder
Newton im Laufe eines Jahrhunderts geben, so steht doch allen Menschen der
gleiche Zugang zur Wahrheit offen und daher prinzipiell auch die Möglichkeit, die
Rolle eines Einstein oder Newton zu übernehmen. Und auch diese beiden Giganten
unter den Wissenschaftlern sind keineswegs dagegen gefeit, dass irgendein
späterer Forscher, sofern er nur die Fakten auf seiner Seite hat, ihre Aussagen und
Theorien mit Hilfe von Ausnahmen oder Gegenbeweisen entkräftet.
Genau dies aber ist in der Wahrheitsfindung historischer Religionen
prinzipiell ausgeschlossen. Hier stoßen wir auf ein völlig anderes Phänomen.
Einerseits wird der Einzelne extrem aufgewertet, auf der anderen Seite aber – und
das mit innerer Zwangsläufigkeit – wird er ebenso stark abgewertet. Der Einzelne
wird entweder ins Übermenschliche empor gehoben oder seiner Mündigkeit als
unabhängiger Schiedsrichter beraubt. Er ist hier alles oder er ist weniger als nichts:
anzubetender Prophet, Heiliger, Religionsgründer oder unnachsichtig zu
verfolgender Ketzer.
So wurden Jesus, Mohammed, Buddha in den Rang von Übermenschen
erhoben – eine nachträgliche Vergottung, die für andere Menschen katastrophale

31
Folgen hatte. Denn die Gemeinschaft übernahm ja nicht nur das von diesen
Übermenschen sanktionierte Sinn- und Wahrheitsverständnis, sondern sie legte
gleichzeitig fest, dass es von nun an kein anderes Sinn- und Wahrheitsverständnis
mehr geben dürfe. Nachdem sie bestimmte Einzelne auf diese Art zum Himmel
erhoben hatte, verdammte sie all jene anderen Einzelnen zur Hölle, die es künftig
noch wagen sollten, an ihnen und ihrer Lehre zu zweifeln.[5] Die extreme
Abwertung der Einzelnen, die damit verbunden ist, führt in der Regel – jedenfalls
solange wie die betreffende Religion eine starke Machtstellung besitzt - zur aktiven
Verfolgung aller Menschen mit einer eigenen, von der vorgeschriebenen
abweichenden Meinung. Sie werden als Ungläubige und Ketzer diffamiert. Die
Verfolgung anderer Religionen, die ja per definitionem als Aberglauben und
Ketzereien galten, verstand sich dabei historisch fast immer von selbst; jedenfalls
bis zu der Zeit als Aufklärung dafür sorgte, das Religionen in westlichen
Gesellschaften ihre bisherige Unangreifbarkeit weitgehend verloren.
Hier liegt der archaische Zug und hässliche Pferdefuß fast aller
überkommenen Religionen, hier liegt ihr in die Augen springender Unterschied zur
universalen Sprache der Wissenschaften. In den letzteren ist jeder ermuntert, ja
geradezu aufgefordert, gegen überkommene Lehrmeinungen Einspruch zu erheben,
wenn er es mit überzeugenden und überprüfbaren Argumenten vermag. Selbst die
größten Wissenschaftler werden als Menschen gesehen, die grundsätzlich irren
können und in Einzelheiten auch meist des Irrtums überführt worden sind. Wenn
die Einwände gegen ihre Lehren stichhaltig sind, wird die wissenschaftliche
Gemeinschaft sie akzeptieren. Der Fortschritt der Wissenschaften besteht in nichts
anderem als in diesem fortwährenden Austausch, dieser fortwährenden
Überprüfung der Wahrheit durch Einzelne und Gemeinschaft.[6]
Doch gegen die bloße Möglichkeit eines derartigen Fortschritts haben sich
die historischen Religionen mit allen Machtmitteln abgesichert.
Exkommunikationen und Ketzerverfolgungen dienten dazu, eine eingefrorene
Wahrheit gegen jeden Widerspruch abzuschirmen. Niemand sollte sich anmaßen
dürfen, gegen die einmal zur absoluten Autorität erhobene Wahrheit
aufzubegehren. Denn das wäre gleichzeitig darauf hinausgelaufen, die
Machtstellung einer etablierten Priesterschaft zu erschüttern, die ihrerseits (wenn
auch in beständiger Rivalität) die weltliche Autorität in einer angeblich von Gott
begründeten Stellung hielt. Der Einspruch gegen die Wahrheit der Priester wurde
daher überall als schlimmste Ketzerei gebrandmarkt. Ketzer, das waren Menschen,
die das Monopol der »Monopolisten der Wahrheit« unterminierten.
Aus der extremen Auf- und Abwertung des Einzelnen in den historischen
Religionen folgte die praktische Unmündigkeit und Ungleichheit der Menschen.
Einige von ihnen haben – zu göttlichem Rang erhoben – die Wahrheit verkündet,
andere treten als deren selbsternannte Vermittler auf, die meisten müssen sich mit
der Rolle bescheiden, sie passiv aufzunehmen, ganz wenige wagen es, sie zu
bezweifeln. Hier kann es Gleichheit nicht geben. Überall wird zwischen Propheten,
Päpsten, Priestern und Laien bzw. deren mehr oder weniger ähnlichen Pendants im

32
Islam, bei den Hindus etc. unterschieden. Stets wird nur einigen wenigen
Menschen die Vollmacht gegeben, Wahrheit für die anderen zu finden und sie
ihnen dann kraft ihres Amtes vorzuschreiben.
Diese Ungleichheit musste die schlimmste Unterdrückung und selbst noch
die größten Verbrechen legitimieren. Überhaupt ist die Geschichte der Religionen
und der sie verkörpernden Institutionen in so hohem Maße mit Ausbeutung und
Unterdrückung verknüpft, dass Karlheinz Deschner das Christentum schlicht als
Kriminalgeschichte und Karl Marx die Religion insgesamt als eine das Denken
ausschaltende Droge verstanden haben. Beide waren im Recht, insofern
unkontrolliert vorgehende Machtgebilde fast zwangsläufig in die Richtung von
Ausbeutung und Verbrechen tendieren. Beide haben die Wahrheit insofern völlig
verkannt, als Religion an sich keinesfalls auf Ungleichheit gründet und deshalb die
Folgen von Ausbeutung und Verbrechen auch nicht zu ihrem Wesen gehören.
Dennoch steht uns religiös begründete Ungleichheit bis zum Beginn der
europäischen Neuzeit als tausendfach bezeugte Tatsache vor Augen. Erst die
Wissenschaft hat ihr auf dem Feld der empirischen Naturerkenntnis in Theorie und
Praxis ein Ende gesetzt. Doch diese Feststellung bedarf einer Korrektur. Solche
Kritik geht meist an der Tatsache ganz vorbei, dass in der Religion noch viel früher
als in den Wissenschaften ebenso der Versuch unternommen wurde, eine
universale, auf Gleichheit begründete Menschheitssprache zu finden. Es ist die
Mystik, die seit frühesten Zeiten gerade in diese Richtung zielte. Der Mystiker
kennt keine privilegierte Verfügungsgewalt über die Wahrheit, und
dementsprechend kennt er auch keine Unterscheidung von Propheten, Päpsten,
Priestern und Laien. Für ihn liegt die letzte Entscheidung über richtig und falsch
nicht in der Kompetenz gewisser zu Göttern oder Halbgöttern erhobener Einzelner,
und sie wird schon gar nicht durch das Machtwort einer Institution entschieden.
Der Mystiker sieht diese Kompetenz ausschließlich bei Menschen, die in der
rationalen Erkenntnis ebenso wie im unmittelbaren Erleben des Wirklichen zu
ähnlichen Überzeugungen gelangen. Denn für ihn ist das Göttliche in jedem
Menschen präsent, und deswegen hebt er den Einzelnen weder zum Himmel empor
noch drückt er ihn im irdischen Jammertal zu einem Nichts zusammen. Für ihn
kann es weder den Übermenschen noch das ihm entsprechende Gegenstück: den
unmündigen von oben religiös zu dirigierenden oder gar zu verfolgenden
Menschen geben. Für den Mystiker gibt es Menschen, die sich gegen Erkenntnis
sträuben, die von ihr nichts wissen wollen, aber es gibt keine Ketzer, die sich
gegen eine absolut gesetzte Wahrheit versündigen und deshalb aus der
Gemeinschaft verbannt werden müssten. Weil die Mystik alle Machtstrukturen
zurückweist, hat sie nie der Unterdrückung und der Verfolgung das Wort geredet.

33
Mystik

Wo Rätsel mich zu neuen Rätseln führten, da wussten sie die Wahrheit ganz
genau. Grillparzer

Aber was ist Mystik? Auf diese Frage habe ich bisher nur kursorische Antworten
gegeben. Durch das ursprünglich griechische Wort wird die zeit- und
raumübergreifende Universalität der Mystik in wenig angemessener Weise
umschrieben. Seiner ursprünglichen Bedeutung entspricht im Deutschen das Wort
»Geheimnis«. Das Erleben der Wirklichkeit als rätselhaft und wunderbar, das
Staunen und die Ehrfurcht treffen wir zwar als Begleiterscheinung aller tieferen
Erkenntnis. Schmerzlich wird Faust bewusst, dass sein Wissen im Grunde sehr
wenig wert sei. »Dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß, rede von dem, was ich
nicht weiß«, das wird für ihn zum Antrieb seines Bündnisses mit dem Teufel, und
dessen Ziel liegt in der Entschleierung des Geheimnisvollen: »Dass ich erkenne,
was die Welt im Innersten zusammenhält«.
Selbst dem gründlich abgebrühten Mephisto ist diese Regung nicht fremd.
Der einzige, dem sie völlig abgeht, ist Wagner, der sich ganz sicher ist, dass ein
großer Professor alles erkannt und durchschaut haben muss. So bleibt Wagner als
kümmerlicher Philister übrig, denn hierin besteht das für ihn charakteristische
Merkmal: Der Philister ist unfähig zu staunen. Für ihn gibt es keine Rätsel und
kein Geheimnis, sondern nur eine durch das anerkannte Wissen völlig
ausgemessene und ausgedeutete Welt.
Nach Auffassung von Erwin Schrödinger, dem Nobelpreisträger für Physik,
birgt jedes irgendwie wertvolle Denken die Dimension des Geheimnisses. »Diese
Phänomene des… Staunens, des Rätselfindens… scheinen mir darauf hinzudeuten,
dass in dem, was wir erleben, Beziehungen angetroffen werden…, welche immer
aufs Neue zur Metaphysik, d. h. zum Hinausgehen über das direkt Erfahrbare
drängen…«. Der nüchternen Vernunft offenbart sich dieses als Paradox, dem
gefühlten Erleben als Erschauern vor dem Übermächtigen. Daher ist es auch nicht
völlig falsch, jene Art des Denkens und Erlebens mystisch zu nennen, die an der
Wirklichkeit das unentschlüsselte Geheimnis hervorhebt. Freilich birgt ein
derartiges Verständnis, die naheliegende Gefahr, dass daraus ein manisches Suchen
nach Geheimnissen wird: ein Mystifizieren der Wirklichkeit, nämlich deren
bewusste Verrätselung. Doch das sind Randerscheinungen.
Denn Mystik wird recht oberflächlich beschrieben, wenn man sie lediglich
als Suche nach dem Geheimnisvollen versteht. Das Wort, das ihr das Etikett
aufklebte, erweist sich sogar als irreführend, weil es eine der Mystik wesentliche
Dimension ganz außer Acht lässt, nämlich die starke Betonung der Vernunft. Es
fällt auf, dass Mystik in erster Linie eine Religion der Abweichler, Außenseiter, d.
h. mündiger Menschen ist, die sich von anderen das eigene Denken nicht
vorschreiben lassen. Dadurch aber ist von vornherein schon gewährleistet, dass die

34
Vernunft in ihrer Weltsicht eine ganz besondere Rolle spielt. Statt von mündigen
Menschen könnte man auch von »Intellektuellen« sprechen, wenn das Wort in
politischen und ideologischen Diktaturen nicht so oft zum Schimpfwort gemacht
worden wäre (eben weil der mündige Mensch ihnen immer ein Dorn im Auge ist).
Mystik ist vorwiegend eine Religion der Intellektuellen, weil diese sich am
wenigsten mit den Denkvorschriften der traditionellen Religionen abzufinden
vermochten.
So gehörten die Seher der Upanishaden zu den mündigen Abweichlern.[7] Sie
waren Intellektuelle, die nicht an den blinden Glauben, sondern an das rationale
Denken ihrer Schüler und Zuhörer appellierten. Durch die Vernunft, nicht durch
den Kniefall vor Autoritäten, wollten sie andere davon überzeugen, dass das
Göttliche überall sichtbar sei: in jedem Menschen ebenso wie in einem Sesamkorn
und überhaupt in den unscheinbarsten Dingen der uns umgebenden Welt.
Shankarāchārya, der eineinhalb Jahrtausende später als diese frühen Seher ihre
Lehre neuerlich aufgreift und sie vertieft, wird nicht zu Unrecht unter die größten
Denker Indiens gerechnet. Mit der ganzen Akribie der zu seiner Zeit gültigen
argumentativen Beweisführung wendet er sich an den mitdenkenden Menschen.
Genauso appelliert auch Meister Eckardt an Einsicht und Zustimmung des
Einzelnen. Der mündige, unabhängige Mensch braucht keinen Vormund, um das
göttliche Seelenfünkchen in sich und anderen zu erkennen, er muss nur hinhören,
hinschauen und mitdenken können.
Die Mystik der frühen Seher der Upanishaden, die Mystik eines Shankara
oder einiger Wissenschaftler unserer Zeit wie Einstein oder Schrödinger zeichnet
sich dadurch aus, das sie sich stets um das Argument und das strenge Denken
bemüht – auch dann noch, wenn sie beweisen will, dass man mit dem Denken
allein das Ziel nicht erreichen kann. Nie wird das Denken mit Füßen getreten, wie
in dem berühmt-berüchtigten Spruch des frühen Kirchenvaters Tertullian: »Credo
quia absurdum est« (es ist absurd, aber gerade deswegen glaube ich) oder bei
Ignatius von Loyola, wenn er erklärt: »Wir müssen, um in allem das Rechte zu
treffen, immer festhalten: Ich glaube, dass das Weiße, das ich sehe, schwarz ist,
wenn die Hierarchische Kirche es so definiert«. Hier wird das selbstständige
Denken sozusagen zum Feind erklärt, so als wäre es keine göttliche Gabe, sondern
ein teuflisches Erbe. Wird die Vernunft so zum Hindernis für die Erkenntnis der
Wahrheit erklärt, dann wird diese nur noch in Gestalt fremder Denkbefehle
ertragen, d. h. wenn sie auf Autoritäten und Dogmen beruht.
Diese Haltung ist den großen Mystikern fremd. Sie dulden keine von außen
kommenden Denkbefehle, deswegen messen sie dem eigenen folgerichtigen
Denken eine so große Bedeutung bei. Sofern sie dabei in völliger Furchtlosigkeit
verfahren und sich an keinem Punkt das weitere Fragen verbieten, stoßen sie dabei
unweigerlich bis an die Grenzen des Denkens und des Denkbaren vor. So kommt
es, dass sie gerade mit den Mitteln der Logik, die doch der Inbegriff des
geheimnislosen Denkens schlechthin ist, an die Grenzen der Logik und mitten
hinein in das Geheimnis gelangen.

35
Mystik und strenge, manchmal pedantische Logik fallen daher sehr oft
zusammen,[8] viel öfter als in den traditionellen Religionen, wo die letzte Autorität
im historischen Zufall wurzelt, der keiner Rechtfertigung durch die Vernunft
zugänglich ist. Bei Tertullian und seinen Nachfolgern wird das Geheimnis durch
Ausschaltung der eigenen Vernunft willkürlich befohlen – immer auch gegen das
bessere Wissen. Es geht ja auch gar nicht anders, weil Historie nun einmal keine
weitere Begründung erlaubt. Aus dieser unterschiedlichen Stellung zum mündigen
Denken resultiert der Widerstand der Wissenschaften gegen die traditionelle
Religion, der seit dem 17. Jahrhundert die europäische Geistesgeschichte prägte.
Derselbe Unterschied erklärt aber auch, warum gerade das Denken der Mystik
vielen Wissenschaftlern als geistesverwandt erscheint.

36
Rückblick (rationale Mystik):
In ihrem Protest gegen jede Art Autoritätsanmaßung – wozu auch die
Offenbarungen historischer Religionen zählen – hat sich die Mystik nie damit
abfinden können, dass irgendetwas nur deshalb wahr sein sollte, weil diese
Wahrheit in der Vergangenheit dekretiert worden ist. Gegen die verordnete
Wahrheit hat der Mystiker die zeitlose Wahrheit gesetzt, die jede Generation und
jeder Mensch aufs Neue zu finden imstande ist. Sie musste daher an eine
Erkenntnisfähigkeit appellieren, über die im Prinzip alle Menschen verfügen.
Manchmal tendierte sie dabei mehr zum rationalen Argument, manchmal mehr
dazu, den Menschen bewusst zu machen, dass sie die Welt keineswegs nur auf
rationale Weise begreifen. Auffallend ist, dass gerade zwei der größten Mystiker,
der eine aus Indien, der andere ein Abendländer, dem Denken als Mittel zur
Wahrheitsfindung eine überragende Stellung zuteilten. Bei beiden Denkern kann
keine Rede davon sein, dass sie besondere psychische Zustände bei ihren
Anhängern erzeugen wollten oder sie auch nur vorausgesetzt hätten. Die Wahrheit
ließ sich, so waren sie überzeugt, schon dadurch ermitteln, dass es dem Denken
gelingt, alle ihr entgegenstehenden Hemmnisse wegzuräumen. Selbst Eckhart
verlässt sich auf die Überzeugungskraft der rationalen Beweisführung. Und so
kann Rudolf Otto in seinem herausragenden Werk über West-Östliche Mystik mit
gutem Grund behaupten:

»Niemand ist weiter entfernt [als Shankara und Eckhart] von dem
angeblichen Grundbekenntnis ‚der’ Mystik: „Gefühl ist alles, Name ist
Schall und Rauch“, [beide zielen sie auf] ein Wissen, das mit allen Mitteln
der Prüfung und Darstellung und scharfer Dialektik in greifbare Lehre
überführt werden soll. Ja, ein fast unglaubliches Schauspiel ergibt sich: diese
beiden Verkündiger eines letztlich schlechthin Irrationalen, Unfasslichen
und Unerfasslichen, das jedem Begriffe sich versagt, »vor dem Wort und
Verstand umkehren«, werden formal zu schärfsten Theoretikern…

Und Spinoza war überhaupt davon überzeugt, sich ganz und gar auf die Vernunft
verlassen zu können. Er sah seine Aufgabe darin, die Wahrheit mit der seiner
Auffassung nach denkbar schärfsten Methode, nämlich dem geometrischen Beweis
(more geometrico) zu erfassen und zur Evidenz zu bringen. Wenn wir, wie ich
weiter unten zeigen werde, auch Albert Einstein - und manch anderen
Naturwissenschaftler – zu den Mystikern rechnen dürfen, dann zeigt sich, wie eng
das Verhältnis von Mystik und kritischer Ratio ist.

37
Irrationalismus?

Die Gewohnheit ist eine zweite Natur, welche die erste zerstört. Pascal,
Pensées, 89.

Das Verhältnis der Mystik gegenüber der Vernunft ist also keinesfalls eindeutig.
Die Vernunft kann dazu dienen, Hindernisse wegzuräumen – und zu diesem
Zweck wird sie auch von der großen Mystik in der Tradition Shankaras und
Eckharts bewusst eingesetzt. Aber sie kann das Denken auch so in Routinen
einfangen und beengen, dass damit alle Offenheit für das Geheimnis der Welt und
des eigenen Selbst völlig erstickt wird. Je nachdem, ob Mystik sich die Vernunft
zunutze macht oder umgekehrt Denkroutinen zerstören will, erscheint sie dem
Betrachter als wesentlich rational oder im Gegenteil betont irrational ausgerichtet.
Wenn das Wort Mystik so oft den Beigeschmack der Mystifikation, d. h. der
gewollten Geheimnistuerei und Verrätselung, annahm, so ist das zwar einerseits
auf das Betreiben ihrer Gegner zurückzuführen, denen stets daran lag, die Mystik
als Ketzerei zu verdammen, aber dies ist nicht der einzige Grund. Dieses Urteil
beruht auch darauf, dass es in der Mystik immer auch Strömungen gab, die ganz
gezielt auf die Zerstörung des in Vorurteilen erstarrten Denkens ausgingen. Statt
wie die »rationale« Mystik durch Beobachtung und unbeirrbares Denken im
scheinbar Geheimnislosen das Geheimnis neu zu entdecken, versuchten ihre
Anhänger es dadurch zu finden, dass sie sich selbst und andere künstlich durch
Trance oder Drogen in besondere Seelenzustände versetzten. Diese bewusst
erzeugte Irrationalität ist mit dem Wort Mystifikation treffend charakterisiert,
wobei Geheimnis im Sinne von Unverständlichkeit, Unlogik, Verspottung des
gesunden Menschenverstandes zu verstehen ist. Für solche Tendenzen war der
islamische Sufismus ebenso anfällig wie das Zen als fernöstliche Variante der
Mystik. Auf den ersten Blick könnte das Zen sogar den Anschein erwecken, dass
es ihm überhaupt um eine Verneinung des Denkens gehe, denn das sogenannte
Koan, ein ganz wesentliches Instrumenten der Erleuchtung, besteht in einer
absichtlichen Verdrehung der Logik und aller Regeln des gesunden
Menschenverstands. Sprüche wie »Wenn du den Buddha triffst, töte ihn« (Linji –
jap. Rinzai - 9. Jahrhundert) scheinen für einen gläubigen Buddhisten eine etwas
merkwürdige Aufforderung zu sein. Blicken wir allerdings ein wenig mehr in die
Tiefe, dann sind wir zu einem vorsichtigeren Urteil genötigt. Auch die
Zenbuddhisten zählen – wenn auch auf eine sehr unübliche und eigenwillige Art -
zu den Denkern. Denn sie sehen die größte Gefahr für die Erkenntnis des
Menschen in der Autorität des normalen, des üblichen, des nicht hinterfragenden
Denkens. Im Sinne Goethes gesprochen, sehen sie in Wagner den eigentlichen
Feind der Erkenntnis, in jenen Menschen also, für die alle Rätsel gelöst sind oder
für die es überhaupt nie Rätsel gegeben hat. Die Meister des Zen betrachten den
Menschen als eine Marionette seiner jeweiligen Zeit und der in dieser Zeit
gängigen Überzeugungen und Denkroutinen. Jeder, der nach der Wahrheit sucht,

38
müsse sich daher zuerst einmal von der Illusion befreien, sie bereits zu besitzen.
Das Koan ist als eine Art logischer Peitschenhieb zu verstehen, um das Gehirn des
Adepten in Erschütterung zu versetzen.
In seiner Wirkung, wenn auch ganz und gar nicht in seiner Methode, ist das
fernöstliche Vorgehen dem des mystischen Logikers gar nicht so unähnlich. Mit
dem Paradox konfrontiert, gelangen beide am Ende dazu, das Wirkliche in seiner
Rätselhaftigkeit neu zu begreifen und zu erleben. Die einen gelangen an diesen
Punkt, indem sie die Logik in aller Strenge ihren Weg zu Ende verfolgen lassen,
bis diese an ihre Grenzen prallt und das Paradox sichtbar macht; die anderen
versuchen mit dem Koan eine Abkürzung einzuschlagen. Sie setzen die
Alltagslogik, die dem Menschen eine durch und durch geordnete Welt vorgaukelt,
von vornherein außer Kraft.
Was das chinesisch-japanische Koan durch absichtliche Verdrehung der
Logik herbeiführen will: die Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Vernunft,
haben andere Spielarten der Mystik durch deren bewusste Unterdrückung zu
erreichen versucht. Der islamische Sufismus macht sich die Ekstase des Tanzes
zunutze, um aus dem Zustand der Alltagsbefindlichkeit in einen Zustand
außerordentlicher Empfänglichkeit zu gelangen, in dem das vernünftige Denken
durch die Trance überwältigt wird. Auch hier geht es um die Abkürzung eines
Weges. In der Trance, manchmal auch durch Drogen verstärkt oder ausgelöst, soll
der Mensch für Stimmen und Stimmungen empfänglich werden, die der Panzer
seiner Alltagsbefindlichkeit normalerweise weit von ihm fernhält. Diese Arten der
Mystik sind immer in Gefahr, die künstlich erzeugten Zustände im eigenen Inneren
mit dem Geschehen der äußeren Welt gleichzusetzen. Mit anderen Worten, sie
tendieren dazu, die äußere Realität von bestimmten inneren Zuständen abzuleiten.
Wenn Mystik sich auf den Weg der bewussten Ausschaltung der Vernunft begibt,
ist sie in Gefahr in Esoterik und Beliebigkeit abzugleiten. Wie alle Esoterik wird
sie zur Geheimlehre unter Auserwählten, die sich als neue Autorität mit eigenen
Dogmen aufführen. Sie verliert ihren Anspruch auf universale Geltung.
Aldous Huxley hat für die Mystik die Bezeichnung »philosophia perennis«
verwendet, einen Ausdruck, der einst von Leibniz für die von ihm so gesehenen
unveränderlichen Grundwahrheiten der Philosophie geprägt worden war. Perennis,
d. h. ewig, werden wir eine Philosophie von nun an nur nennen dürfen, wenn sie
nach einem plötzlichen Aufhören der überlieferten Geschichte vom Einzelnen zu
jeder Zeit neu entdeckt werden würde, so wie man auch die Gesetze der Natur nach
einem Totalverlust aller Lehrbücher der Physik von neuem finden würde, ganz
einfach deshalb, weil Natur und Mensch dieselben geblieben sind. Wenn es wahr
ist, dass der Einzelne, unabhängig von seiner jeweiligen historischen Erfahrung nie
zu den zeitgebundenen Wahrheiten einer historischen Religionen finden wird, sehr
wohl aber zu religiösen Grundwahrheiten, wie sie die Mystik von jeher geahnt und
manchmal explizit beschrieben hat, dann ist »philosophia perennis« zweifellos
jener Begriff, der das Wesen der Mystik am besten beschreibt.

39
Am Beispiel der Antimystik
Bis zu diesem Punkt stand der Zugang der Mystik zur Wirklichkeit im
Vordergrund der Betrachtung. Wir haben uns mit ihrer Methode, aber noch nicht
mit dem Inhalt der von ihnen gefundenen Wahrheiten befasst. Davon wird im
Folgenden noch ausgiebig die Rede sein. Zuerst möchte ich davon sprechen, was
Mystik nicht ist. Eine der Grund- und Haupterkenntnisse der Mystik ist die
Erfahrung der Einheit von Beobachter und Beobachtetem. Das aber ist gewiss alles
andere als eine Erfahrung, die sich dem Menschen in seinem Alltagsleben
aufdrängt. Die Alltagserfahrung weist ihn im Gegenteil ständig darauf hin, dass die
ihn umgebenden Menschen anders sind als er selbst und dass die sogenannte tote
Natur ihm ohnehin als etwas Getrenntes entgegentritt. Mit anderen Worten das
praktische Alltagsleben lässt in ihm gewöhnlich keine mystische Haltung
aufkommen.
Denn alles, was uns umgibt, erscheint uns im normalen Erleben als Gegen-
stand, als Gegen-über und sehr oft als Gegen-Macht. Wir drücken damit eine
Verschiedenheit und Andersartigkeit aus, die auf den ersten Blick unüberwindbar
erscheint. Auf der einen Seite steht das beobachtende Ich, das in der täglichen
Selbstbehauptung zwangsläufig die Rolle des Machers einnimmt, auf der anderen
Seite befinden sich Dinge, die von uns beobachtet werden und die wir zu
praktischen Zwecken manipulieren. Diese Dinge machen uns gegenüber ihren
Widerstand und Eigensinn geltend, mit denen wir rechnen müssen, um mit ihnen
umgehen zu können. Das gilt auch von den uns umgebenden Menschen. Nicht nur,
dass sie ihre eigenen, keineswegs immer freundlichen, manchmal geradezu
feindlichen Absichten uns gegenüber bekunden, sie können uns als schlechterdings
fremd und unbegreiflich erscheinen, Misstrauen in uns erwecken, weil es uns
unmöglich erscheint, bis in ihr Inneres vorzudringen. Im äußersten Fall erleben wir
die Welt wie Autisten, denen sie als bedrohliche Kulisse erscheint, sozusagen als
ein feindlicher Gürtel, der das einzige uns vertraute Terrain umlagert, nämlich die
Befindlichkeit des eigenen nach außen abgeschlossenen Ich. Wenn der Autist diese
Spaltung der Welt in das eigene Ich und das ihn umgebende radikal Fremde zu
einer Philosophie aufwertet, dann wird daraus die qualvolle Vorstellung, als
Einzelner existenziell in die Leere einer ebenso sinnlosen wie feindlichen Welt
geschleudert zu sein. Sich selbst erlebt dieses heillos vereinsamte Ich als eine
flackernde Kerze inmitten eines unendlichen und unendlich düsteren Universums,
er sieht sich - ohne jemals zu wissen warum und wozu - als einsame Nussschale in
dem grenzenlos weiten Meer einer ihm wesensfremden Wirklichkeit ausgesetzt.
Dieses vor allem in Zeiten zwischenmenschlicher Brutalität immer neu
aufkommende Lebensgefühl könnte man als Antimystik bezeichnen, weil es
ziemlich exakt den geistigen Gegenpol zum mystischen Erleben bildet. Die Welt
wird als ein von dem sie beobachtenden Ich radikal verschiedenes Gegenüber
erlebt.[9]
Es erhebt sich dann allerdings die Frage, ob es noch legitim ist, dieses
antimystische Lebensgefühl in den Rang einer Philosophie aufzuwerten? Blicken

40
wir etwas genauer hin, dann zeigt sich nämlich, dass der Existenzialismus vor
allem in der ihm von Camus gegebenen Prägung an einem inneren Widerspruch
leidet, der ihn von vornherein dazu verdammt, nie über ein Zeugnis eigener
Befindlichkeit hinauszugelangen - wenn wir uns nämlich zuvor darin einig sind,
dass Philosophie, um einen Sinn zu ergeben, sich notwendig an verstehende und
mitfühlende Menschen richtet. Doch eben diesen ihn verstehenden, mit ihm
fühlenden anderen Menschen hat das autistische, das existenzialistische Ich aus
seinem Weltbild von vornherein ausgeklammert. Eine solche Philosophie scheitert
daher an widerstreitenden Aussagen. Es macht keinen Sinn, die eigene Angst in
eine als völlig leer und taub gedachte Welt hinauszuschreien. Da ist ja niemand,
der diesen Schrei hören könnte. Die Schreie des autistischen Ich widersprechen der
eigenen Lehre: Tatsächlich machen sie nur einen Sinn, wenn ihnen die
unausgesprochene Hoffnung zugrunde liegt, dass diese Lehre eben doch falsch sein
könnte, weil der zum Fremden erklärte andere Mensch oder die taube äußere Welt
diesen Schrei vielleicht doch hören könnte. Freilich, in den unglücklichen Zeiten,
in denen der Mensch die Welt für seinesgleichen zur Hölle macht, kann Antimystik
durchaus zu einem herrschenden Lebensgefühl werden.[10]
Der Mystiker nähert sich der Welt und den anderen Menschen von
vornherein auf ganz andere Weise. Natürlich kann und will er den Dingen der
Alltagserfahrung nicht ihre Gegenständlichkeit nehmen. Auch ihm müssen sie im
gewöhnlichen Leben als Objekte erscheinen. Denn nur so kann er sie seiner
Manipulation und Herrschaft unterwerfen, um dadurch für seine
Überlebensbedürfnisse zu sorgen. Doch ist für ihn damit nur eine Dimension seiner
Erkenntnis bezeichnet, jene, die sein Verhältnis zur Welt zu Zwecken des
Überlebens beschreibt. Der Baum, den wir fällen, um ihn als Feuerholz zu
verwenden, der Berg, den wir aushöhlen, um daraus Eisen oder Bauxit zu
gewinnen - all dies steht für unser Vorgehen gegenüber einer Natur, die uns als
Reservoir und Ersatzteillager zur Befriedigung unserer Bedürfnisse dient. Bis zu
einem gewissen Grade sind wir selbst noch gezwungen, das gleiche Verhältnis der
Manipulation auch auf andere Menschen zu übertragen. In jedem Konzern, in jeder
Bürokratie treten Menschen in streng definierten Rollen auf. Bis zu einem
gewissen Grade müssen sie in diesen Rollen für andere berechenbar sein, ihre
Leistungen, Funktionen und der aus ihnen zu schöpfende Gewinn müssen genauso
kalkulierbar bleiben wie die Leistungen, Funktionen und der Ertrag materieller
Objekte. Aber diese Verwertung, Versachlichung, Distanzierung der äußeren
Dinge und Menschen bleibt nicht ohne Folgen auf unsere Psyche. Wenn sie für uns
zur einzigen Form des Umgangs und der Wahrnehmung wird, führt sie zu einer
Verengung unserer Sicht auf die Wirklichkeit. So fremd wie uns etwa ein Baum als
bloßer Lieferant von Brennholz erscheint, so fremd wird auch der andere Mensch,
wenn er vollständig in seiner verordneten Rolle aufgeht und dabei zum Objekt und
zur Maske erstarrt. Wenn dieses antimystische Verhältnis zur Wirklichkeit alle
andere Erkenntnis verdrängt, kommt es zu einer Vereisung, Abtötung und

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Entleerung der uns umgebenden Wirklichkeit, die sich dann niederschlägt in einer
ebensolchen Abtötung des inneren Erlebens.

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Rückblick (früher Mechanismus):
Soweit unsere historischen Quellen reichen, begegnen wir einer derartigen
Vereisung und Verengung der Wirklichkeit. Es ist bemerkenswert, dass während
der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrtausends, als die brahmanischen
Seher der Upanishaden voller Staunen auf eine Wirklichkeit blickten, die sie als
Geist von ihrem Geiste verstanden, eine andere brahmanische Strömung viel
mächtiger war, eine Strömung, deren Weltsicht der der upanishadischen Mystiker
geradezu entgegengesetzt war. In dieser Sicht schien die Welt eine Art von totem
und seelenlosen Automaten zu sein, wo mechanische Eingriffe nur mechanische
Auswirkungen hatten. In den sogenannten Brāhmana-Texten rühmen sich die
damaligen Magier eines außerordentlichen Wissens, das ihnen nicht nur die
Entschlüsselung aller Erscheinungen des Universums erlaubt, sondern durch
entsprechende Manipulationen auch dessen vollkommene Beherrschung. Sie
behaupten nicht mehr und nicht weniger, als die Welt nach Belieben durch ihre
Formeln und rituellen Manipulationen zu lenken. Eine Dürre glaubten sie ebenso
sicher verhindern oder bewirken zu können wie ein Erdbeben, eine Krankheit oder
Siege und Niederlagen.
Im Universum der »Brāhmana-Texte« sind Götter zwar noch vorhanden, aber
sie sind zu bloßen Potenzen geschrumpft, denn auch Götter unterliegen der
allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nicht anders als die dinghaften Erscheinungen der
Natur. Selbst der Wechsel der Jahreszeiten und der Gang der Gestirne gehorchen
den Geboten des Zauberers, weil eben alles Geschehen ausnahmslos dem Gesetz
von Ursache und Wirkung folgt. Jan Gonda, der wohl beste Kenner dieser frühen
indischen Literatur, fasst das Wesen dieser Magie in folgenden Worten zusammen.

Kommen wir nun zu dem wichtigsten Punkt... der sakrale Akt Yajna [ist]...
das irdische Ebenbild und Gegenstück des kosmischen Dramas... Weil der
Schauplatz der großen Riten ein Ebenbild des Kosmos war..., [vermochten]
… die sakralen Vorgänge den Verlauf der makrokosmischen Ereignisse zu...
bestimmen. Der Ritus ist von niemandem abhängig. Sobald er in Wirkung
gesetzt ist, vollzieht er sich nach eigenen, inhärenten Gesetzen; der Akt
wirkt an sich automatisch.[11]

In den Brāhmana-Texten ist die Welt zu einer sinn- und zweckentleerten


Maschinerie von Ursachen und automatischen Wirkungen geschrumpft, den Geist
haben die magischen Technokraten jener Epoche völlig aus ihr hinausgetrieben.[12]
Diese antimystische Haltung, der die Welt als geistentleerte Mechanik erscheint,
ist als Weltanschauungsalternative zu Mystik und Religion also nicht erst in
unserer sondern schon in frühesten Zeiten verbreitet - auch schon in den
sogenannten primitiven Gesellschaften. In diesem Sinne bemerkt Lévi-Strauss im
Hinblick auf weltweit verbreitete magische Praktiken:

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»Aber ist es denn nicht so, dass das magische Denken, diese gigantische
Variation über das Thema des Kausalitätsprinzips... sich von der
Wissenschaft allenfalls durch die Voraussetzung eines noch herrischeren,
noch unnachgiebigeren Determinismus unterscheidet? ... Die magischen
Riten und Glaubensinhalte erscheinen als Äußerungen des Glaubens an eine
Wissenschaft, die erst noch geboren werden soll.«

Der Unterschied zum wissenschaftlichen Weltbild, das ja ganz genauso den


Automatismus von Ursachen und Wirkungen voraussetzt, liegt freilich darin, dass
den indischen Magiern und all ihren Vorgängern jene praktische Rechtfertigung
fehlte, die seit dem 17. Jahrhundert den Erfolg der Wissenschaften auf so
spektakuläre Weise begründete. Die von den Brahmanen behaupteten
Zusammenhänge von Wirkung und Ursache erwiesen sich recht bald als rein
imaginär. Die brahmanischen Magier glaubten durch das Aufschichten von Ziegeln
zu kunstvollen Altären, durch das Murmeln von Mantras und das Ausgießen von
heiligem Ghee den Regen herbeizuzaubern, die Jahreszeiten zu lenken oder das
Wachstum von Rindern oder Pflanzen zu steuern. Ihr Anspruch auf unbegrenztes
Wissen und Können stand jedoch zu ihren tatsächlichen Erfolgen in
offenkundigem Widerspruch. Den von ihnen entwickelten Lehrgebäuden und
magischen Praktiken war daher nur eine kurze Wirkungsdauer beschieden. Hätten
die Magier sie nicht in den erwähnten Brāhmana-Texten tradiert, so wären sie von
der Bühne der Weltgeschichte ohne alle Spuren verschwunden.
Doch ebenso sehr wie der praktische Misserfolg dieser frühen
»mechanistischen« Weltsicht musste die damit verbundene Sinnentleerung vielen
Menschen als unerträglich erscheinen. Denn mit ihr verbunden waren eine Abkehr
von der Ethik und eine Brutalisierung der Menschen:

Die Moral hat in diesem System keinen Platz: das Opfer ist... eine
mechanische Operation, die durch ihre innere Energie wirksam wird;
verborgen im Inneren der Natur wird sie erst durch die magische Handlung
des Priesters in Bewegung gesetzt ... Es ist in der Tat schwierig, sich etwas
Brutaleres und Materielleres als die Theologie der Brahmanen /jener Zeit/
vorzustellen.[13]

Wir wissen nicht, welche Gefühlslage dieser Mechanisierung und Entseelung der
Welt unter den damaligen Zauberern und ihren Anhängern entsprach, aber wir
können es aufgrund von Parallelen zur europäischen Neuzeit vermuten. Wenige
Denker haben der Antimystik mit so großem Grauen und so unendlicher
Traurigkeit Ausdruck verliehen wie Pascal im 17. und Nietzsche im 19.
Jahrhundert.

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»Ich sehe diese fürchterlichen Räume… diese Unendlichkeiten auf allen
Seiten, die mich, dieses Atom, umgeben, das nicht mehr als ein flüchtiger
Schatten ist «.

Aus Pascal spricht die Angst vor dem Nichts, die der Verkünder des Nihilismus,
Friedrich Nietzsche, zwei Jahrhunderte nach ihm in bezwingenden Versen
ausdrücken wird:

Die Welt - ein Tor


zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor,
was du verlorst, macht nirgends halt.

Hier ist von der Heimatlosigkeit und dem Grauen des Menschen die Rede, wenn er
die Welt als Antimystiker erfährt: als tote Wüsten, entseelte Unendlichkeiten. Die
etwa tausend vor unserer Zeitrechnung aufkommende Mystik der Upanishaden und
die von ihr ausgelöste Begeisterung und belebende Kraft lassen sich nicht
verstehen, wenn man sie nicht vor dem Hintergrund und im Gegensatz zu dem
seelenlosen Weltbild der damals das Weltbild beherrschenden Magier sieht.

45
Das mystische Innehalten
Für den Mystiker ist das Verhältnis zum Wirklichen keineswegs durch die für das
physische Überleben bis zu einem gewissen Grade unausweichliche
Herrschaftsrolle erschöpft. Die Welt als Gegen-Stand ist eine verarmte, reduzierte
Welt. In ihrer Fülle erleben wir die Natur und den anderen Menschen erst dann,
wenn wir unsere Sicht nicht durch den praktischen Nutzen beengen lassen. Die
Fremdheit der Dinge – die mir schließlich sogar als Fremdheit meines eigenen
Leibes und Denkens erscheinen kann – ist nicht das letzte Wort über die
Wirklichkeit, so wie meine praktische, aufs Überleben gerichtete Existenz nicht
den höchsten Stand meines Bewusstseins bezeichnet. Mitten in diesem nutzen- und
überlebensbezogenen Dasein, in dem es angeblich um nichts anderes geht als um
einen Kampf, den ich mit den übrigen Konkurrenten auf der gemeinsamen
Lebensbühne ausfechte, halte ich plötzlich und immer von neuem inne. In solchen
Momenten der Besinnung entferne ich mich von meiner Herrschaftsrolle. Je
intensiver ich dabei das Eigenleben der Dinge erlebe, sobald ich nichts von ihnen
will, sozusagen in absichtsloser Betrachtung bei ihnen verharre, umso stärker
verwandelt sich die Welt vor meinen Augen. In der reinen Betrachtung kann sich
ihr Wesen vollständig verändern.
Zum Beispiel in dem Blick auf das, was wir mit dem Begriff des Schönen
benennen. Schönheit in ihren vielfältigen Formen kann mich in einen mir sonst
ganz ungewohnten Zustand des Entzückens versetzen, obwohl sie nicht den
geringsten Sinn im Hinblick auf mein Überleben und allen damit verbundenen
Nutzen ergibt. Nicht selten gerate ich dabei in eine Art von Ekstase, d. h. ich bin
nicht mehr bei mir und meinem gewöhnlichen Ich, sondern eben in einem
andersartigen Zustand, etwa beim Anhören einer von mir als ergreifend
empfundenen Musik. Dieser andersartige Zustand besteht in einer Öffnung des
Panzers, der mein Ich gewöhnlich umschließt und alles andere außerhalb von ihm
eben auf einen bloßen Gegenstand reduziert. Was ich in solchen Momenten spüre,
ist ein Mitschwingen mit anderen Menschen, die Gefühle, die dabei in mir
entstehen, empfinde ich nicht mehr als nur die meines kleinen und isolierten Ich,
sondern ich fühle mich mit den anderen Menschen und der übrigen mich
umgebenden Welt auf seltsame Art verbunden. Die Aufhebung von Fremdheit, von
Gegenständlichkeit, ist die auffälligste Wirkung einer solchen Betrachtung des
Schönen. In derartigen Momenten innerer Versenkung bin ich mir intuitiv ganz
sicher, dass andere Menschen beim Anhören solcher Töne dieselbe Freude,
denselben Schmerz erleben wie ich. Ich lese das eigene Erleben von den
Gesichtern der anderen ab.
Vor allem Musik, die wir in ganzer Tiefe erleben, führt uns über uns selbst
und über die anderen als isolierte Monaden hinaus. Sie überspringt die Grenzen
und die Barrieren unseres Ich und lässt dieses so sehr mit der umgebenden Welt
und den anderen Menschen verschmelzen, dass wir in den Momenten des tiefsten
Miterlebens die Gebundenheit an das eigene Ich überhaupt völlig vergessen
können. Nicht nur, dass dieses dabei seine Bedeutung verliert, wir spüren sogar das

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intensive und aktive Bedürfnis, dem Käfig des Ich ganz zu entkommen, an seine
Enge nicht länger gefesselt zu sein. Im Moment der Ekstase, dem Außer-uns-
Treten, sind wir, wie das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung besagt, aus dem
Gefängnis der eigenen Person ganz ins Freie hinaus getreten. Denn auch unser
eigenes Ich erleben wir ja gewöhnlich als einen Gegen-Stand, wie ein Objekt der
Beobachtung, das wir in seinen Aktionen und Reaktionen bis zu einem gewissen
Grade vorhersehen können. Im Mitschwingen, das die Musik in uns bewirkt, treten
wir in einen Zustand ein, in dem dieses vergegenständlichte Ich ebenso hinfällig
wird wie unsere gewöhnliche Herrschaftsrolle. Im mystischen Erlebnis des
Schönen überwinden wir die Trennung von Welt und Ich.

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Rückblick (Befreiung vom Ich):
In den Upanishaden wird diese Loslösung nicht vorrangig als das Vergessen einer
den Menschen normalerweise beherrschenden Bindung verstanden, Vielmehr ist
das Augenmerk auf diese Bindung selbst gerichtet, die man als Nichtwissen
definiert. Es ist das Nichtwissen, der irrige Glaube, das individuelle Ich sei mit
dem Atman in seiner Tiefe identisch, was den Menschen daran hindert, sein
wahres Selbst zu erkennen. So heißt es in der Kāthaka-Upanishad:

In des Nichtwissens Tiefe hin sich windend,


Sich selbst als Weise, als Gelehrte wähnend,
So laufen ziellos hin und her die Toren,
Wie Blinde, die ein selbst auch Blinder anführt.

Nichtwissen und scheinbares Wissen sind die größten Hemmnisse der


Selbsterkenntnis, wie es in der Îshā-Upanishad heißt:

In blinde Finsternis fahren,


Die dem Nichtwissen huldigen;
In blindere wohl noch jene,
Die am Wissen genügten sich.

In den Vedānta-Sūtras bekräftigt Shankara noch einmal, dass es sich hier um eine
Verwechslung handelt:

»da ist zunächst das Nichtwissen, welches den Leib und [seine Organe],
obwohl sie nicht das Selbst (âtman) sind, in dem Bewusstsein: »dies bin ich«
für das Selbst hält.«

Ein halbes Jahrtausend nach Shankara besteht der deutsche Meister von Hochheim
ebenso darauf, dass es das »principium individuationis« sei, die Verengung des
Selbst auf dieses konkrete Ich, welches den Menschen an der Erkenntnis seines
wahren Wesens hindert:

»Solange ich dies oder das bin, dies oder das habe, so bin ich nicht alle Dinge
noch habe ich alle Dinge. Scheide ab, dass du noch dies oder das seiest oder
habest, so bist du allenthalben. Und also, bist du weder dies noch das, so bist
du alle Dinge.«

In einer heutigen und zugleich so anmutigen Sprache drückt es Schopenhauer aus:

»Wenn man… sein Individuum, seinen Willen, vergisst und nur noch als
reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; …dann ist …

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der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum:.. sondern er ist
reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.«

Nicht viel anders sagt es der Naturwissenschaftler Einstein:

»Jedes kulturelle Streben, sei es nun religiöser oder wissenschaftlicher Art,


dringt bis zum Kern der menschlichen Seele vor, wo es auf eine Befreiung
vom Ich abzielt – nicht allein vom individuellen Ich, sondern vom
kollektiven Ich der ganzen Menschheit.«

Hymnen an die Nutzlosigkeit


Das Leben jedes Menschen ist reich an solchen Momenten mystischer
Einheitserfahrung, vorausgesetzt, dass es sich nicht völlig im Dienst nutzen- und
herrschaftsbezogener Manipulation von Dingen und Menschen verbraucht und
verausgabt. Wir suchen diese Momente wie die größten Kostbarkeiten, wann
immer uns die Notdurft des praktischen Handelns dazu die Muße lässt. Was wir
mit dem schönen deutschen Wort »Besinnung« bezeichnen, ist nichts anderes als
ein plötzliches Innehalten. Dann wird uns auf einmal bewusst, dass Dinge und
Menschen neben einem Dasein, das sie unseren Bedürfnissen dienstbar macht,
ganz unabhängig von diesen eine andere und tiefere Existenz besitzen, eine
zweckfreie, die sie unserer Betrachtung in einem ganz neuen Licht erschließt. Fast
immer ist eine solche Besinnung mit einer Veränderung des Lebenstempos
verbunden. Hektik schließt alle Besinnung aus. Sie ist das typische Tempo einer
auf den Nutzen, eben die Beherrschung der Gegenstände gerichteten Lebensweise.
Hektik macht uns zu Robotern, sie entfremdet uns von der Welt, sie tötet unsere
Fähigkeit, die Welt auf tiefere Art zu erleben. Wir rotieren in der täglichen Arbeit
und in allen Funktionen, die sie uns auferlegt, um diese oder jene Aufgabe, um
diesen oder jenen Zweck zu erfüllen. Besinnung dagegen öffnet den Horizont der
Zwecklosigkeit und überrascht uns jedes Mal von neuem damit, dass dieses
Hinaustreten aus dem knirschenden Rad der Notwendigkeiten wie eine Erlösung
wirkt: wie der Blick in eine andere, hellere Welt.
Es ist wichtig, dieses mystische Erleben nicht gleich wieder, wie heute so oft
geschieht, auf technisches Beiwerk zu reduzieren: auf Meditation oder Yoga etwa,
um damit Stress abzubauen, so als käme es nur darauf an, die Kräfte neuerlich für
den Kampf gegen die tägliche Routine zu stärken. Das hieße, diese tägliche
Routine, diesen Kampf ums Dasein, zum eigentlichen Lebensinhalt zu deklarieren
und in der Besinnung, die mir ab und zu einen Ausblick hinaus über den Tellerrand
der Notwendigkeiten gewährt, nichts als eine hygienische Maßnahme zu erblicken,
damit wir diesem Kampf auch weiter gewachsen bleiben. Doch wir leben nicht, um
im Kampf ums Dasein zu überleben, wie der Sozialdarwinismus behauptet. Wir
leben, um jenseits dieses Kampfes, der nicht mehr als die Plattform für unser

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physisches Dasein sichert, zu unserem eigentlichen und tieferen Leben zu finden:
zur Selbsterkenntnis, die in der Mystik identisch ist mit der Erkenntnis der Welt.
Nicht nur von der Musik geht der merkwürdige Zauber aus, der die
Gegenständlichkeit unseres eigenen Ich ebenso wie die der äußeren Dinge als
Illusion überwindet, sondern von sämtlichen Künsten. Allen voran von den
großartigsten Zeugnissen jener Kunst, die sich einerseits den elementaren
Bedürfnissen des Menschen zu unterwerfen hat - und solange sie dies tut, auch nur
bedingt zu den Künsten zählt - sich andererseits aber auch völlig über diese
Bedürfnisse zu erheben vermag und dabei nicht selten die vollkommenste
Verwirklichung der Schönheitsideale erreicht. Ich spreche natürlich von der
Architektur. Diese dient den elementaren Bedürfnissen des Menschen auf gleiche
Weise wie etwas das Nest dem Vogel oder dem Fuchs der von ihm gegrabene Bau.
Sie unterlag und unterliegt zunächst einmal den Imperativen und Regeln des
Nützlichen. Doch wenn wir uns nicht gerade bei den modernen Vorstädten und
ihren krebsartigen Wucherungen aufhalten, wo der Gesichtspunkt der Nützlichkeit
die letzten Reste von Schönheit beseitigt hat, sehen wir auf den ersten Blick, und
zwar gleichgültig, ob wir zu den Mayas in Yucatan, zu den Hindus, den Indern
oder zu uns nach Europa gehen, dass Menschen auf der ganzen Welt gerade jene
Bauwerke mit größter Hingabe und unter den unglaublichsten materiellen Opfern
errichtet haben, die für ihr physisches Dasein keinerlei Nutzen erbringen. Der
Sonnentempel von Konarak, die Kathedrale von Chartres, das trotz aller
verkitschenden Nachahmungen unvergleichliche Tadsch Mahal und die beiden
wundersam verschwiegenen Moscheen an seiner Seite, der Schrein von Ise oder
der Airavateshvaratempel in Tamil Nadu sind im gleichen Sinne Hymnen an die
Zwecklosigkeit wie Schuberts Unvollendete oder das »Stabat Mater« von Pergolesi.
Es sind Monumente des reinen Innehaltens: einer Besinnung, die dem Menschen
das Heraustreten aus dem alltäglichen Kampf ums Dasein erlaubt und damit einen
Blick hinaus in eine andere Wirklichkeit. Diese Monumente bezeugen, ja sie
beweisen, dass der Mensch ganz unterschiedlicher Kulturen in solchen
zweckfreien Hymnen - und eben nicht in seinen Anstrengungen zur physischen
Daseinsbewältigung - seine eigentlichen und höchsten Leistungen erblickte. Sie
beweisen, dass er in dieser Transzendierung der physischen Daseinszwänge von
jeher den eigentlichen Sinn und Zweck seines Lebens erkannte.

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Rückblick (Abwendung vom Nutzen):
Das Innehalten, die Abkehr vom Ich und vom Nutzen, dieser besondere Zustand, in
dem der Mensch sich von seinem Wollen befreit, um sich im Schauen der
Wirklichkeit ganz zu öffnen, wird seit frühester Zeit als eine außerordentliche
Befindlichkeit gesehen. So schon bei Laotse. Was ist sein »Wu Wei« – das Nicht-
Handeln des Weisen - anderes als das Bemühen, diesem Zustand Dauer zu
verleihen?

Schaffe Leere bis zum Höchsten!


Wahre die Stille bis zum Völligsten!
Alle Dinge mögen sich dann zugleich erheben.
Ich schaue, wie sie sich wenden.
Die Dinge in all ihrer Menge,
ein jedes kehrt zurück zu seiner Wurzel.

Sein berühmter geistiger Nachfahre, Zhuangzi, greift das Thema in ähnlichen


Worten auf:

Der höchste Mensch gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er geht den
Dingen nicht nach und geht ihnen nicht entgegen; er spiegelt sie wider, aber
hält sie nicht fest.

Eine ähnliche Auffassung findet sich auch bei Plato:

… es ist uns wirklich klar, dass, wenn wir je etwas rein erkennen wollen, wir
uns von ihm losmachen und mit der Seele selbst die Dinge selbst schauen
müssen.

Die Mystik hat das Heraustreten aus der täglichen Routine des Wollens und
Begehrens immer als eine notwendige Vorbedingung für den Zugang zu höherer
Erkenntnis gesehen. Wer sein Leben, »angepflockt an den Pfosten des
Augenblicks«, ausschließlich in den Dienst der physischen Daseinsfürsorge und
sozialer Konventionen stellt, dessen Geist wird nie die Freiheit erringen, aus dem
Gefängnis des Ich und seiner Alltagsbedürfnisse auszubrechen. In seinem
wichtigsten Werk (dem Kommentar zu Bādarāyanas Shārīrika-Mimāmsā) sagt
Shankara:

Gerade dadurch, dass man die Seele als das allem Meiden und Thun
enthobene Brahman erkennt, wird man frei von aller Not und des
Endzweckes des Menschen teilhaftig.

und in gleichem Sinne fährt er fort:

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würde somit die Erlösung als etwas aufzufassen sein, was sich durch
irgendein Tun verwirklichen ließe, so würde sie nicht ewig sein.

Nicht viel anders hört es sich an, wenn Eckhart die Menschen zur inneren
Befreiung auffordert:

Nun bedenke! Dann wird Gott in uns geboren, wenn all unsere Seelenkräfte,
die vorher gebunden und gefangen waren, ledig und frei werden und in uns
ein Stillschweigen alles Bezweckens entsteht…

Denn die Ausübung der Alltagsfunktionen zwingt den Menschen so sehr in die
Routine des bloßen Bezweckens, dass es die Fähigkeit zu höherer Erkenntnis in
ihm erstickt. Deswegen sagt er an anderer Stelle:

So sagen wir: Soll der Mensch arm sein an Willen, so muss er so wenig
wollen und begehren, wie er wollte und begehrte, als er [noch] nicht war.
Und in dieser Weise ist der Mensch arm [geistig erweckt], der nichts will.

Wie verwandt klingen da die Worte des zeitgenössischen persischen Mystikers


Djalal od-Din Rumi.

Ganz im Geheimen sprachen der Weise und ich. Ich bat ihn: Nenne mir die
Geheimnisse der Welt. Er sprach: Schweig ... und lass dir von der Stille die
Geheimnisse der Welt erzählen.

Der größte Mystiker unter den deutschen Dichtern, Goethe, hat dieselbe Erkenntnis
in Worten ausgesprochen, die uns wie ein zauberhaftes Stück Musik anrühren.

Ich ging im Walde


So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich


Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Wer nicht sucht und nicht will, der findet. Eine solche Befreiung des eigenen
Erlebens von allen praktischen Rücksichten, Zwecken, ja selbst noch von allem
Wissen öffnet das Tor, durch das wie die Offenbarung einer anderen Welt die
Dinge in ihrer reinen Gestalt eintreten. Friedrich Hölderlin beschreibt die
Sehnsucht, die sich mit dieser geistigen Öffnung verbindet.

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Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht, wenn die zarte Welle der Luft
mir um die Brust spielt. Verloren ins weite Blau, blick ich oft hinauf an den
Aether und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet' ein verwandter
Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben
der Gottheit.
Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des
Menschen.

Ryonen, eine berühmte japanische Dichterin und spätere Zenschülerin vom Ende
des 18. Jahrhunderts, beschreibt das erstaunte Innehalten in den folgenden Zeilen:

Sechsundsechzig Jahre lang sind diese Augen dem Wechsel der


Herbstlandschaften gefolgt. Genug habe ich über das Mondlicht gesagt.
Fragt mich nicht länger danach. Lauscht nur auf die Stimmen von Kiefern
und Zedern im Schweigen des Windes.

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Vorstufen der mystischen Verschmelzung

Mystik ist Empathie, bei der sich die Seele der Welt bemächtigt.

Die Transzendierung der physischen Daseinszwänge in der Architektur führt aus


der Welt von Nutzen und Fremdheit hinaus, um beide durch die erlebte Einheit mit
einer höheren Welt zu überwinden. In Chartres ist es die Einheit mit einem als
persönliches Wesen gedachten Gott, dem die Kathedrale ihre Türme
entgegenstreckt, in Ise die Einheit mit der Welt der tausend Götter und Geister, in
Gizeh die Einheit mit einem Kosmos, der von Gottheiten sinngebend nach ihrem
Willen gelenkt wird. Das Tadsch Mahal wurde zwar für Mumtaz Mahal, die
geliebte Frau des Mogulkaisers Shah Jahan, errichtet, aber es ist eine
Verherrlichung der Liebe überhaupt, wie eine in Stein geformte Musik zieht es
durch vollkommene Schönheit in seinen Bann. In den größten Zeugnissen
menschlicher Baukunst hat sich das mystische Streben nach Einheit in Formen,
Farben und Figuren verdichtet. Diesem Streben liegen zwar jeweils ganz
bestimmte historische Anlässe, Motive und Glaubensformen zugrunde, doch darin,
in dieser kulturellen Gebundenheit, liegt nicht die Ursache für den Zauber, den sie
auf alle Menschen, auch die ganz anderer Kulturen ausüben. Die Kathedrale von
Chartres bliebe immer noch eine mystische Hymne auf eine Schönheit, die alle
Menschen verstehen, auch wenn es das Christentum längst nicht mehr gäbe, und
der Sonnentempel von Konarak würde immer noch ihre höchste Bewunderung
erregen, auch wenn ihnen das Gedankengut des Hinduismus ganz unbekannt wäre.
Das mystische Einheitserleben ist an keinen historischen Anlass gebunden, es
verbindet die Menschen verschiedenster Epochen.
Die äußeren Formen: Musik, Architektur, bildende Kunst, Literatur spielen
dabei letztlich nur die Rolle eines unmittelbar auf die Seele einwirkenden
Zauberstabes. Deshalb kann die gleiche Berührung auch auf ganz unterschiedliche
Weise erfolgen. Seinen großen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«
beginnt Marcel Proust mit einem Akt der Besinnung, einem jähen und im höchsten
Maße verwunderten Innehalten: Beim Eintauchen der Madeleine in den Tee,
öffnen sich plötzlich die Schleusen seines Bewusstseins. Die Vergangenheit strömt
in ihn ein, wird eins mit der Gegenwart. Die Madeleine ist nichts als ein kleines
Stück Gebäck, ein Gegenstand, der aber plötzlich seine Gegenständlichkeit einbüßt,
weil er durch seinen Duft eine längst verloren geglaubte Vergangenheit wieder
wachruft. Ein gewöhnliches Stück Kuchen wird so zum Träger unendlich
ausgedehnter Bewusstseinsinhalte. Der Gegenstand verliert seine Fremdheit; mehr
noch als ein Teil des eigenen Körpers hat er sich vollgesogen mit Geschichte. In
gewissem Sinne ist er diese Geschichte, denn letztlich ist Geschichte ja nichts
anderes als eine Verschmelzung von Dingen und Handlungen der äußeren Welt mit
inneren Bewusstseinszuständen. Mystik ist Empathie, bei der sich die Seele der
Welt bemächtigt. Diese von Proust so meisterhaft beschriebene Szene, wo ein

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unscheinbarer Gegenstand den Fluss der Zeit plötzlich zur Umkehr bringt, ist ein
typisch mystisches Erleben.[14]
Diesen Zauber der höchsten Empathie in uns zu bewirken, d. h. uns aus der
Alltagswelt hinaus in eine andere zu katapultieren - um mit Einstein zu sprechen:
eine Art »kosmischer Religiosität« in uns hervorzubringen[15] - gelingt der großen
Kunst, aber nicht nur dieser, auch die Natur kann zum Auslöser mystischer
Erfahrungen werden. Für die Erschütterung durch die Musik ist nicht jeder in
gleichem Maße empfänglich, mancher erlebt dasselbe plötzliche Erstaunen vor
einer ungewohnten Natur, einer besonderen Landschaft zum Beispiel. Der Zustand
des Innehaltens kann ihn plötzlich überraschen, wenn er das rote Herbstlaub der
Essigbäume erblickt, Tau auf einer Wiese im Sonnenschein, Gebirgsgipfel im
Dunst. Andererseits kann auch der überwältigende Schrecken, der von einem
Atompilz über der Wüste Nevada ausgeht, von einer sich heranwälzenden
Tsunamiwand, dem Explodieren eines Vulkans oder der plötzlichen Erschütterung
durch eine erbebende Erde den Menschen so sehr aus der Routine der
Alltagserfahrung reißen, dass er in der ihn umgebenden Natur nicht mehr den ihm
durch Gewohnheit gleichgültig gewordenen und scheinbar beherrschten
Gegenstand sieht, sondern eine ihn überwältigende, ihm ebenbürtige und dadurch
ehrfurchtheischende Macht. In den glücklichen Momenten des Naturerlebens, wo
er sich ganz in ihre Schönheit versenkt, ist es aber ein Mitschwingen und
Mitklingen, das ihn mit den Dingen so eins werden lässt wie durch den Zauberstab
der Musik. In der völlig gelösten und an die Dinge hingegebenen Betrachtung sieht
er sich selbst als Ding unter Dingen: als Stein, Baum oder Wolke. Er erlebt sich als
eins mit der Natur, die in solchen Momenten alle Fremdheit für ihn verliert.
Das ist ein intuitives und spontanes Erleben vor aller intellektuellen
Reflexion, doch diese bestätigt nachträglich die darin verborgene Wahrheit, denn
wir wissen ja, dass wir selbst nichts anderes sind als die Metamorphosen dieser
Natur - Stoff von ihrem Stoff. Bevor wir zu Menschen wurden, waren wir für eine
Ewigkeit diese Dinge, während wir Menschen sind, saugen wir diese Dinge in uns
ein und verwandeln sie in unser eigenes physisch-geistiges Wesen. Nach unserem
Tod werden wir wiederum für Ewigkeiten zu diesen Dingen werden. Das spontane
Erleben und die bewusste Analyse münden hier in dieselbe Erkenntnis. Die Dinge
um uns her sind unsere eigene Substanz, sind Leib von unserem Leibe. Wenn wir
diese Reflexion weiter führen, stoßen wir spontan auf die Ahnung, dass wir nicht
nur Stoff vom Stoff der Natur, sondern ebenso auch Geist von ihrem Geiste sind.
Denn nichts als die Anordnung derselben elementaren Teilchen, also nichts als ein
Unterschied der immateriellen Information, bewirkt die sichtbaren Unterschiede all
ihrer fortwährenden Metamorphosen.
Das ist keine ganz einfache und nicht einmal eine ganz schmerzlose
Erkenntnis. Blickt der Mensch nachts zum Himmel auf, dann ist es möglich, dass
ihn die Unendlichkeit dieses neuen Geistes und Leibes, die er in plötzlicher
Erkenntnis als seine eigenen erlebt, so sehr in Schrecken versetzt, dass er sich
umgehend wieder in das sichere Schneckenhaus seinen kleinen heimischen Ich

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verzieht. Das heißt, er macht die Natur sogleich wieder zum Gegenstand und zu
etwas Fremdem. Das mystische Erleben der Einheit ist eben nicht immer so
beglückend wie der Blick in die Ferne einer herbstlich verzauberten Landschaft
oder der Ausflug in musikalische Sphären, der den Gefühlen einen sicheren Halt
verleiht. Wir werden sehen, dass mystisches Erschauern sehr wohl auch in
Schauder umschlagen kann.
Doch von dieser zweifachen Wirkung des mystischen Einheitserlebens soll
erst später die Rede sein (siehe Kap. Mystik und das Böse). Wie in der Musik so
wird auch sonst die Aufhebung der Grenzen des eigenen Ich normalerweise als ein
Zustand des intensiven Glücks erlebt. Schopenhauer hat das in einer sehr schönen
Passage beschrieben.

Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche
Betrachtung der Dinge fahren lässt, ...also nicht mehr das Wo, das Wann,
das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet, sondern einzig und
allein das Was; /wenn man/ die ganze Macht seines Geistes der Anschauung
hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewusstsein ausfüllen
lässt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen
Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder
was auch immer, indem man nach einer sinnvollen Deutschen Redensart,
sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum,
seinen Willen, vergisst und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel
des Objekts bestehend bleibt; so dass es ist, als ob der Gegenstand allein da
wäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den
Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern Beide Eines
geworden sind, indem das ganze Bewusstsein von einem einzigen
anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist, ...dann ist, was
also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist
die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektivität des Willens auf
dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung
Begriffene nicht mehr Individuum:... sondern er ist reines, willenloses,
schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.

Der für das mystische Erleben kennzeichnende Kern dieser Passage bleibt hier
ganz unabhängig von Schopenhauers philosophiegeschichtlichem Bezug auf
Kants Welt der Ideen (der Dinge an sich) bestehen. Entscheidend ist die so
eindringlich beschriebene Aufhebung der Kluft, die normalerweise den
Anschauenden von dem Gegenstand seiner Anschauung trennt. Besser als jeder
andere Philosoph hat Schopenhauer diesen Zustand der Grenzüberschreitung des
eigenen Ich beschrieben, der für die höchsten Momente des innehaltenden Erlebens
von Kunst und Natur die entscheidende Rolle spielt und wohl jedem Menschen
irgendwann widerfährt, sofern er sich nicht völlig von den Rädern eines bloß
nutzenbezogenen Daseins zermalmen lässt. Was Schopenhauer dabei zu wenig

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betont – wie wir noch sehen werden, ist das eine Konsequenz aus seinen sonstigen
philosophischen Anschauungen - ist der von anderen Mystikern so sehr betonte
Zustand des Glücks, der wie in der Musik eine regelmäßige Begleiterscheinung
dieses Einheitserlebens ist.

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Rückblick (Aufhebung der Zweiheit):
In den Upanishaden geht es immer wieder darum, die Scheinbarkeit der normalen
Welterfahrung ins Bewusstsein zu heben. Es ist die Alltagswahrnehmung, die stets
von Neuem den Graben zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten aufreißt
und ihn die Dinge außerhalb von ihm selbst nur als fremde Vielheit erkennen lässt.
Erst auf einer höheren Ebene der Erfahrung werden sie eins. Dabei rücken in der
indischen Mystik Atman und Brahman zu Symbolen für diese Einheitsschau auf.
Das erste bezeichnet den tiefsten Grund des Menschen, das zweite den tiefsten
Grund der ihn umgebenen Welt. Entscheidend ist, dass beide für die höhere
Erkenntnis letztlich in eins verschmelzen. Deswegen heißt es in dem berühmten
Text der Chāndogya-Upanishad.

Seiend nur… war dieses am Anfang, eines nur und ohne zweites.

Der Neuplatoniker Plotin (um 205 – 270) entstammt einer völlig anderen
kulturellen Tradition und doch versteht er die mystische Einheitsschau auf ähnliche
Weise.

Wer aber seine Seele die Schönheit jener Welt hat durchdringen lassen, geht
nicht mehr als einfacher Zuschauer davon. Denn das geschaute Objekt und
die schauende Seele sind nicht mehr zwei voneinander getrennte Dinge,
sondern die also schauende Seele hat in sich selbst das geschaute Objekt.

In demselben Bestreben, im Menschen das Bewusstsein für eine Erkenntnis


höherer Art zu schärfen, sagt Eckhart:

Solange die Seele [noch] irgendeine Unterschiedenheit gewahrt, ist es noch


nicht recht mit ihr bestellt; solange da [noch] irgendetwas herauslugt oder
hineinlugt, ist da noch keine Einheit

Und er fügt ausdrücklich hinzu, dass dieses Eine letztlich unnennbar sei, auch
wenn Menschen ihm die Bezeichnung Gott anhängen. Am meisten aber seien sie
im Irrtum, wenn sie es mit Eigenschaften etikettieren, die sie doch immer nur ihrer
Alltagserfahrung entnehmen. All das ist ein Gekläff über Gott, das mit ihm nichts
gemein hat.

Schweig daher und klaffe nicht über Gott, denn damit, dass du über ihn
klaffst, lügst du, tust du Sünde.

58
Ist Mystik Religion?
Auf die Frage, ob Mystik zur Religion zu zählen sei oder als eine besondere Art
der Weltanschauung neben den Religionen zu gelten habe, lässt sich natürlich erst
dann eine Antwort geben, wenn man sich zunächst einmal auf eine Definition der
Religion einigen könnte. Wie jedermann weiß, ist diese Einigung aber sehr schwer
herzustellen, schwerer vielleicht als über jeden anderen Gegenstand.
Zuerst einmal muss unterschieden werden zwischen Definitionen, die der
Gläubige abgibt, und der eines Wissenschaftlers, der sich zu keiner der existenten
Religionen bekennt. Der Gläubige, sei er Hindu, Christ, Schintoist oder Muslim,
akzeptiert nur eine einzige Weltanschauung als wahr: nämlich die seine, die ihm
durch Offenbarung bezeugt ist. Das Wissen und der Wille eines höchsten Wesens
sind ihm durch Heilige, Propheten oder gottgleiche Menschen vermittelt worden,
meist in der Form einer Heiligen Schrift. Fast immer gelten deren Sätze
wortwörtlich als von einem Höchsten Wesen unmittelbar inspiriert und beglaubigt,
weshalb es künftigen Generationen nicht erlaubt ist, auch nur ein Jota daran zu
verändern. Für den Gläubigen muss daher zwangsläufig alles Lüge, wenn nicht
teuflische Eingebung, sein, was die Gläubigen anderer Religionen sagen. Dies geht
so weit, dass er selbst Aussagen verteufelt, die mit den seinen weitgehende
Übereinstimmungen aufweisen. So haben die katholischen Eroberer in Fällen, wo
sie bei den Indios Mittelamerikas auf überraschende Ähnlichkeiten in
Glaubensinhalten stießen, diese als doppelt teuflisch bewertet, weil sie ihrer
Meinung zufolge aus satanischer Quelle stammten. Wenn man eine unantastbare
göttliche Inspiration der eigenen Lehre zugrunde legt, dann ist eine Versöhnung
mit anderen Lehren allenfalls aus politischen Gründen denkbar, aber aus Prinzip
ausgeschlossen. So wie der fremde Gott nur Götze sein kann, sind auch seine
Gebote denen des Teufels gleichzusetzen. Ein Christ kann den Polytheismus der
Hindus nicht als göttliche Wahrheit dulden und schon gar nicht die Verehrung von
Tiergestalten als Götter. Ein Muslim kann sich nicht mit der christlichen Trinität
abfinden, die ihm als Vielgötterei erscheint. Ein Buddhist nicht damit, dass Götter
die Quelle von Heil und Unheil sein sollen, die für ihn doch nicht mehr darstellen
als die höchsten Erscheinungsformen auf der Skala der Wiedergeburten. Zwischen
den Gläubigen verschiedener Religionen gibt es im besten Fall Duldung, im
schlechtesten Krieg. In der Vergangenheit war der schlechteste Fall die traurige
Regel, weil die Wahrheit der einen eben stets der Irrtum der anderen ist. Die
Bezeichnung als Glaube bzw. als Aberglaube wechselt je nachdem, ob das Urteil
von »Heiden« oder »Gläubigen« stammt.
Der Wissenschaftler, der diese Auseinandersetzungen unbeteiligt verfolgt,
wird zu der Ansicht gelangen, dass es unter den verschiedenen Religionen dennoch
ein Minimum an Gemeinsamkeit geben müsse, andernfalls würde für ihn nicht
einmal der gemeinsame Begriff Religion existieren können. Diese Gemeinsamkeit
wird er vielleicht darin erkennen, dass Menschen der verschiedensten Kulturen und
Epochen hinter der ihnen unmittelbar erkennbaren Welt eine andere Dimension des
Wirklichen vermuten, der sie verschiedene Namen geben, indem sie vom

59
Göttlichen, von Göttern, von Geistern, von geistigen Kräften etc. sprechen. Er wird
sich aber hüten, diese allgemeine Aussage wesentlich zu überschreiten, weil es ihm
sonst kaum möglich erschiene, so verschiedene Weltansichten wie den
Schintoismus, den Buddhismus, das Christentum oder etwa auch noch den
Konfuzianismus unter dem gemeinsamen Begriff der Religion zusammenzufassen.
Der Wissenschaftler wird aber noch ein zweites, überaus typisches Merkmal
der Religionen finden, in dem er vielleicht sogar ihren hervorstechenden
universalen Zug erkennt. In irgendeiner Form unterscheiden Religionen zwischen
dem, was jedermann durch eigene Beobachtung weiß, und dem, was man nur
durch Überlieferung erfährt. Beide, ein Christ zum Beispiel und ein australischer
Ureinwohner, würden die Eigenschaften der sie umgebenden Natur auch dann in
einer für ihr Überleben notwendigen Weise begreifen, wenn sie fern von ihrer
Gemeinschaft auf einer Insel aufwüchsen – wie das dem Gedankenexperiment am
Anfang dieses Buches entspricht. Beide verfügen daher über ein Wissen, das sie
aus eigener Kraft und eigenem Antrieb gewinnen, unabhängig von ihrer kulturellen
Zugehörigkeit. Andererseits besitzen sie darüber hinaus aber auch noch ein ganz
und gar kulturell bedingtes und definiertes Wissen. So akzeptieren die einen die
christliche Tradition als unanfechtbares Wissen, während die anderen sich an eine
Überlieferung halten, in der die Geister der Ahnen eine Mensch und Natur
beherrschende Rolle spielen. Der Wissenschaftler würde es daher als ein weiteres
für die Religion charakteristisches Merkmal ansehen, dass in ihr die Menschen in
zwei unterschiedlichen geistigen Sphären zu Hause sind, einerseits in einem für ihr
Überleben unabdingbaren Wissen, andererseits in einem Glauben, der mit dem
Abreißen einer Tradition auch völlig absterben kann.
Betrachten wir die Mystik im Hinblick auf diese beiden grundlegenden
Definitionen, so zählt sie zweifellos zur Religion im Hinblick auf die erste von
ihnen. Mystik richtet den Blick auf eine Wirklichkeit jenseits der sichtbaren Welt.
In dieser Hinsicht reiht sie sich an die Seite aller bestehenden Religionen. Aber
andererseits wird man sie nicht zur Religion zählen dürfen, wenn deren
wesentliches Merkmal in einem Glauben besteht, der mit dem Abreißen einer
bestimmten Tradition auch ganz wieder verschwinden kann und – wie die vielen
im Laufe der Geschichte erst untergegangenen und dann völlig vergessenen
Religionen beweisen – auch immer wieder verschwunden ist.[16] Wir sahen, dass
Mystik sich weder auf heilige Texte noch Offenbarungen verlässt, die von
Menschen in der Vergangenheit aufgezeichnet und von ihnen – und notwendig
immer nur von ihnen – als Gottes Worte bezeichnet wurden. Mystik verlässt sich
einzig und allein auf Wahrheit, die immer gültig bleibt, weil sie jetzt und hier, d. h.
von den Menschen jeder Generation aufs Neue entdeckt werden kann.

Religion und Wissenschaft

60
Wieweit Mystik Religion ist und wo sie sich von ihr unterscheidet, diese Frage ist
also leicht zu klären, dagegen ist die Beurteilung der Religion durch die
Wissenschaft weniger leicht abzuhandeln. Und das nicht etwa deshalb, weil diese
Frage so schwer zu beantworten wäre, sondern weil die Haltung der
Wissenschaftler wesentlich davon abhängt, in welchem Sinne der Begriff Religion
von ihnen verstanden wird – nämlich gemäß der ersten oder der zweiten der beiden
Definitionen.
Ein schlechtes Beispiel für die Haltung einer in diesem Punkte oberflächlich
verfahrenden Wissenschaft liefert das Buch von Dawkins. Es ist nicht so, dass der
britische Wissenschaftler diese wichtige Unterscheidung ganz übersehen hätte. Auf
den ersten Seiten seines Buches hebt er ausdrücklich hervor, dass die Art von
Religiosität, wie man sie etwa bei Albert Einstein finde, nicht Gegenstand seiner
Attacken sei. Nachdem er jedoch dieser Unterscheidung ein kurzes
Lippenbekenntnis gezollt hat, wird sie von ihm auf den folgenden Seiten gleich
wieder fallen gelassen und im Rest seiner Arbeit dann nicht weiter berücksichtig.
Doch gerade diese Entgegensetzung ist von zentraler Bedeutung. Es macht
einen entscheidenden Unterschied, ob Religion dem Wissenschaftler als eine
bestimmte in der Geschichte lokalisierte »Offenbarung« begegnet, die dann
notwendig den Stempel aller Irrtümer, Leidenschaften und Idiosynkrasien einer
Epoche und ihrer Menschen trägt und darüber hinaus tief in Mythos und Fabel
verwurzelt ist, oder ob er Religion als Reflexion über die letzten Rätsel des
Daseins versteht. Seine Haltung wird jeweils eine ganz andere sein.
Wird Religion im zweiten Sinne dieser beiden Sichtweisen als Begegnung
des Menschen mit einer höheren als der unmittelbar sichtbaren Welt verstanden, so
ergibt sich ein völlig anderes als das von Dawkins in seinem Gotteswahn
gezeichnete Bild. Unter Wissenschaftlern, und zwar gerade unter vielen ihrer
höchsten Vertreter, ist eine so begründete Sicht auf die Wirklichkeit stark
verbreitet. Doch davon soll erst später die Rede sein, zunächst soll hier noch die
erste Auffassung von Religion im Sinne von überlieferten Glaubensinhalten und
Denkvorschriften im Vordergrund stehen.
Solange wir uns auf diese beschränken, ist Dawkins zweifellos recht zu
geben. Eine eindeutig gleichgültige bis offen ablehnende Haltung ist bei führenden
Wissenschaftlern die Regel, solange es um Offenbarungsreligionen in ihrer
historisch bedingten Zufälligkeit geht. Es gibt nur wenige führende
Wissenschaftler, die sich ausdrücklich zu einer von ihnen bekennen (siehe Kap.
Mystik und Wissenschaft), während nahezu alle anderen sie entweder ganz
ignorieren oder sich ausdrücklich als Ungläubige bezeichnen. Vielen erscheint es
schlicht als Zeitverschwendung, sich über so unbeweisbare Dinge zu äußern wie
die vermeintliche Unfehlbarkeit der Päpste oder ob Gott nur ein einziger sei oder
dreifaltig oder ob Jesus eine Jungfrau zur Mutter habe.
Wenige hervorragende Wissenschaftler wie Siegmund Freud in Zukunft einer
Illusion, oder Bertrand Russell in Warum ich kein Christ bin oder eben auch
Richard Dawkins in seinem Buch Der Gotteswahn halten es überhaupt ihrer Mühe

61
für wert, sich zur traditionellen Religion und ihren Mythen und Fabeln zu äußern.
Wenn sie es tun, dann allerdings in der für den Wissenschaftler charakteristischen
Weise: Sie akzeptieren kein mit noch so großem Autoritätsgehabe vorgetragenes
Dogma, keine von außen befohlene Doktrin. Selbständig überprüfen sie jede
Ansicht darauf, ob sie vor der Vernunft eines freien, d. h. vor allem auch eines
vorurteilsfreien, Menschen besteht.

Religion und Wissenschaft II


Der Wissenschaftler und Philosoph hält sich nicht an verordnete Denkinhalte, an
Dogmen. Das war in der Vergangenheit nicht anders als heute. Insofern präsentiert
sich uns der religionskritische Dawkins als würdiger Nachfahre der frühen
Aufklärer des 17. und der durch die Erfolge der Wissenschaften und die
Schwächung der Kirchen in ihrer Stellung gefestigten Aufklärer des 18.
Jahrhunderts. Für die Wissenschaftler gab es dabei einen besonderen Grund, sich
direkt oder indirekt gegen die Kirche aufzulehnen. Neben vielen anderen Dogmen,
die mit den Ergebnissen wissenschaftlichen Denkens nicht zu vereinbaren waren,
lehnten die Wissenschaftler insbesondere die Vorstellung einer göttlichen
Allmacht ab, weil diese nach Vorstellung der Theologen auch das Naturgesetz
außer Kraft setzen konnte. Würde es Gott so gefallen, dann konnte ihn nichts daran
hindern, mit Hilfe von Wundern die von ihm selbst verhängten Gesetze jederzeit
aufzuheben.[17]
Aus leicht einsehbaren Gründen war das Beharren auf dieser Vorstellung für
die Kirche von existenzieller Bedeutung. Wenn Natur und Mensch
unveränderlichen Gesetzen gehorchten, dann gab es für Gott und sie selbst ja nicht
mehr viel, genauer gesagt, eigentlich gar nichts zu tun. Gebete, Fürsprachen,
Gnadenmittel – all dies wäre wirkungslos gegenüber einer Gesetzesmechanik, die
völlig unabhängig von menschlichen wie göttlichen Wünschen besteht. In diesem
Fall würde alle Herrschaft in die Hände der Wissenschaft fallen, wenn es diesen
nämlich zu zeigen gelingt, dass göttliches Eingreifen in die Natur nirgendwo
nachweisbar ist, weil durchgängig nur Gesetze herrschten. Wissenschaftler wären
als neue Heilsvermittler an die Stelle von Priestern getreten.
Dieser Konflikt war seit dem 17. Jahrhundert in aller Schärfe entbrannt und
ist bis heute niemals abschließend geklärt, geschweige denn wirklich beendet
worden. Im Gegenteil kehrt er neuerdings wiederum in unverminderter Stärke
zurück. Die vor allem in den Vereinigten Staaten einflussreichen Kreationisten
verteidigen das Eingreifen Gottes gegenüber der Gesetzesmechanik, wie es schon
drei Jahrhunderte zuvor die damals noch mächtigen Kirchen taten. Diese selbst
haben zwar inzwischen aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Die
Verketzerung des Doctor Mirabilis Roger Bacon, die Verbrennung Giordano
Brunos, die Verurteilung Galileis, überhaupt das beharrliche Festhalten an
Positionen, die dann unter dem Druck einer siegreichen Wissenschaft geräumt

62
werden mussten, all das hat sie gelehrt, sich auf eine Stellung zurückzuziehen, die
der wissenschaftlichen Kritik möglichst wenige Angriffsflächen bietet. In diesem
Sinne haben sich die Vertreter der traditionellen Religionen, zumindest im
säkularisierten Westen, mit der Formel abgefunden, dass Wissenschaft und
Religion jeweils für getrennte Bereiche zuständig seien. Der Wissenschaftler
beschreibe das Wie der beobachtbaren Wirklichkeit, die Religion dagegen befasse
sich mit dem letzten Warum und Wozu. Diese Formel hat so etwas wie einen
unsicheren Burgfrieden hergestellt. Nach dem Motto: »Du lässt mich in meinem
Bereich als Experten walten, dann erkenne ich dich auch als Fachmann in dem
deinigen an und wir kommen beide auf unsere Kosten«, hat man sich informell
darauf geeinigt, einander möglichst in Frieden zu lassen. Ohne den Einspruch der
Wissenschaft befürchten zu müssen, dürfen die Vertreter der
Offenbarungsreligionen behaupten, dass es einen personalen Gott, eine göttliche
Trinität, die Unfehlbarkeit des Papstes oder das Walten Allahs, ja überhaupt die
Existenz von Gott, Göttern oder Dämonen gebe. Dafür ließen sich zwar keine
wissenschaftlichen Beweise erbringen, doch halte die Wissenschaft ebenso wenig
den Gegenbeweis in der Hand, dass ein personaler Gott usw. nicht existiere. So
scheinen Wissen und Glauben beide ihr eigenes Feld zu bestellen, wo der jeweils
andere nichts zu suchen und nichts zu sagen hat.
Diesen Burgfrieden hat Dawkins mit seinem Buch aufgehoben. Unverblümt
macht er sich über die Vorstellung lustig, Gebete könnten Korrekturen am Lauf des
Naturgeschehens bewirken, also die Naturgesetze aushebeln. Mit dieser Kritik ist
Dawkins von seinem Stundpunkt gesehen durchaus im Recht (wenn auch nur
scheinbar, wie ich später zeigen werde). Wenn Wissenschaft für das Wie zuständig
ist und dabei beweisen kann, dass alles Naturgeschehen ausschließlich von
Gesetzen beherrscht wird, dann ist in einer solchen Natur für Gebete und überhaupt
für irgendwelche Wünsche und Hoffnungen des Menschen schlechterdings kein
freier Raum vorhanden. Dieser an die dreihundert Jahre alte Einwand der
Wissenschaft wird durch eine von Dawkins zitierte Untersuchung erhärtet, in der
die Hypothese von der Wirksamkeit der Gebete unter wissenschaftlichen
Voraussetzungen empirisch getestet wurde. In doppelten Blindversuchen erwies
sich die Wirksamkeit von Gebeten als null und nichtig.[18]
Die Kirchen können also in Wirklichkeit gar nicht dulden, dass sie nur für
das Warum und Wozu, aber nicht auch für das Wie zuständig seien. Denn der
Glaube der Kirchen an das Eingreifen Gottes und die Vorstellung einer
durchgehend von Gesetzen beherrschten Natur stehen einander schroff gegenüber.
Angenommen, einem zum Tode Verurteilten wäre es möglich, die Kugel eines
Erschießungskommandos mit einem Stoßgebet abzuwenden, dann wäre das ein
schlagender Beweis für die Wahrheit des von den Kirchen verfochtenen
Standpunkts: Gott als Schöpfer der ballistischen Gesetze hätte seine Allmacht
dadurch bewiesen, dass er sie in bestimmten Momenten nach eigenem Gutdünken
außer Kraft setzt. Diese Möglichkeit müsste natürlich den Verdacht erwecken, dass
die Himmelskörper in und außerhalb des Sonnensystems, die im Prinzip denselben

63
Gesetzen gehorchen, auf göttliches Geheiß gleichfalls ihre Bahn verlassen könnten.
Mehr noch. Wenn sich Naturgesetze auf unberechenbare Art an- oder abschalten
ließen, würde die gesamte moderne Technik letztlich auf brüchiger Basis stehen.
Man müsste es als unverantwortlich betrachten, Astronauten mit einem Shuttle zu
einer Raumstation zu schießen. Auf Tausende von Gesetzen, deren
hundertprozentige Geltung die Wissenschaftler bei ihren Berechnungen
vorausgesetzt haben, wäre auf einmal kein rechter Verlass mehr.
Der schroffe Gegensatz zwischen der von der Wissenschaft vorausgesetzten
Gesetzesmechanik und der Vorstellung eines jederzeit möglichen Eingriffs von
oben, erklärt, warum die Wissenschaft seit Beginn ihres Siegeszugs so hartnäckig
darauf bestand, dass es prinzipiell kein göttliches Eingreifen in die Natur geben
könne und dürfe. Die Wissenschaften drücken dieses Prinzip bis heute in der ihnen
gemäßen Weise aus: Sie beharren darauf, dass alles in der Natur grundsätzlich und
unausweichlich mit ganz natürlichen Dingen zugehe.
Dabei musste es sogar nahe liegen, dass die Wissenschaft auf ihrem
Standpunkt noch unduldsamer beharrt als die Kirchen. Die letzteren hätten sich
durchaus damit abfinden können, dass Gott normalerweise die von ihm zu Beginn
der Schöpfung gemachten Naturgesetze auch weiterhin respektiert. Er lässt sie
eben gelten, wann und wie lange es ihm gefällt. Um Gottes Allmacht – und ihre
eigene Macht – aufrechtzuerhalten, mussten die Kirchen lediglich darauf bestehen,
in Gott den Schöpfer der Gesetze zu sehen und ihm die Möglichkeit einzuräumen,
kraft seiner Allmacht auch gelegentliche Ausnahmen eben Wunder machen zu
können. Auch wenn es stimmen sollte, dass die Ablenkung einer Kugel aus ihrer
gesetzlich bestimmten Bahn noch nie beobachtet wurde, so war damit doch
durchaus nicht bewiesen, dass ein solcher Fall grundsätzlich unmöglich wäre.
Ein solches Zugeständnis wollten und wollen die Naturwissenschaften nicht
machen. Mit seinem bissigen Spott an der vermeintlichen Wirksamkeit von
Gebeten zielt Dawkins direkt auf die Vorstellung göttlichen Eingreifens in die
Natur. Erneut und mit vernichtender Schärfe bringt er den zentralen Punkt der
dreihundertjährigen Auseinandersetzung zur Sprache. Es kann kein göttliches
Eingreifen geben, weil die Wissenschaft in der gesamten Natur nichts als den
Mechanismus ewiger und unverbrüchlicher Gesetze entdeckt. Darum gibt es auch
nur eine Organisation, die dem Menschen durch ihr Wissen zu helfen vermag: eben
die Wissenschaft, die sich zur Aufgabe macht, diese Gesetze ausfindig zu machen
und sie zum Nutzen des Menschen anzuwenden. Der Anspruch der Kirchen,
Vermittler für die Gnade und die Hilfe Gottes zu sein, sei leerer Wahn und sonst
gar nichts.
Wie so viele Wissenschaftler vor ihm ruft Dawkins zu einer Entscheidung
auf, die in seinen Augen ganz einfach ist: Bekennt euch zur religiösen Illusion oder
zur wissenschaftlichen Wahrheit. Auf den ersten Blick scheint die Entscheidung
tatsächlich ganz einfach zu sein, so einfach wie sie in einer Reihe von Büchern,
beginnend mit dem System der Natur (1770) des Baron von Holbach über Kraft
und Stoff (1855) von Ludwig Büchner bis eben zu Dawkins’ Gotteswahn (2006),

64
dargestellt wird, Bücher, die alle den Leser vor diese scheinbar so mühelos zu
beantwortende Alternative stellen und ihren außerordentlichen internationalen
Erfolg wohl genau dieser Tatsache verdanken.[19] Aber stimmt diese Alternative?
Ist die Wahl zwischen Wissenschaft und Aberglauben auf solche Art wirklich
zutreffend definiert? Diese Schlüsselfrage, die letztlich über den Wert dieser
vierhundertjährigen Attacken entscheidet, wird uns im Abschnitt Wissenschaft
eingehend beschäftigen.

Mystik und Wissenschaft


In einer von NATURE durchgeführten Untersuchung nach ihrem Verhältnis zur
Religion, d. h. zu irgendeiner der gegenwärtig herrschenden theistischen
Religionen, befragt, bekennen sich nur sieben Prozent der aufgrund hervorragender
Leistungen in die National Academy gewählten amerikanischen
Spitzenwissenschaftler als gläubig. Damit bilden sie ein ziemlich genaues
Gegenstück zur statistischen Verteilung im Rest der Bevölkerung, wo umgekehrt
mehr als 90 Prozent der Befragten ihren Glauben an einen personalen Gott erklären,
weniger als zehn Prozent sich dagegen als nichtgläubig deklarieren. Eine weitere
Studie bekräftigt dieses Ergebnis. Sie deckt eine eindeutig negative Korrelation
von Bildungsniveau und Glauben an eine der herrschenden Religionen auf.[20]
Diese Ergebnisse gelten in verschärfter Form auch für Europa, verschärft aus dem
Grund, weil der Anteil der Gleichgültigen und Nichtgläubigen in der breiten
Bevölkerung noch größer ist als in den traditionell gläubigen USA. Blickt man in
die Vergangenheit seit dem Aufkommen des neuen wissenschaftlichen Weltbilds
im 17. Jahrhundert, so trifft man durch vier Jahrhunderte gerade unter führenden
Köpfen von Wissenschaft, Philosophie und Kunst viele erklärte Gegner der
überlieferten Religionen. Männer wie David Hume, Voltaire, Denis Diderot, James
Madison, Abraham Lincoln, Benjamin Franklin, Holbach, Charles Darwin, Ludwig
Feuerbach, Ludwig Büchner, John Stuart Mill, Karl Marx, Friedrich Nietzsche,
Siegmund Freud, Marc Twain, George Bernard Shaw, Joseph Conrad, Ernest
Hemingway, Jawaharlal Nehru, Albert Einstein, Thomas Huxley, Bertrand Russell,
Albert Camus, Karl Popper, Richard Feynman, Steven Weinberg, George Orwell,
Richard Dawkins und viele andere mehr machten kein Hehl daraus, dass sie an den
Gott der Bibel oder anderer kanonischer Texte nicht glauben konnten.
Solche Statistiken und Namenslisten sind jedoch irreführend. In der Regel
beschreiben sie nicht mehr als das Verhältnis der Befragten zu den sehr
spezifischen Glaubensvorstellungen, die ihnen die historischen Religionen
abverlangen. Es leuchtet ein, dass sich die meisten von ihnen nicht zu kirchlichen
Dogmen bekennen, die für sie aus historischer wie ethischer Sicht gleich
fragwürdig sind. Ein höheres Maß an Bildung fördert größere Skepsis bis hin zu
einer schroff ablehnenden Haltung.

65
Wie von Dawkins selbst auf den ersten Seiten seines Buches eingeräumt,
doch im weiteren Verlauf der Darlegungen nicht weiter berücksichtigt, sehen die
Ergebnisse jedoch wesentlich anders aus, sobald nicht nach dem kirchlichem
Glauben gefragt wird, sondern nach einer diese Einschränkung sprengenden
Weltsicht. Wird Religion in einem nicht-kirchlichen Sinne als Beschäftigung des
Menschen mit den letzten Fragen von Wahrheit und Sinn verstanden, so hat höhere
Bildung durchaus nicht die Folge hierfür unempfänglich oder gar blind zu machen.
Im Gegenteil. Die größten Köpfe gerade derjenigen Disziplin, die bis heute als
Königin der Wissenschaften gilt, Physiker wie Newton, Galileo, Kepler oder in
unserer Zeit Einstein und Schrödinger, haben sich dezidiert zu der Auffassung
bekannt, dass die Welt mehr sei als eine durch Gesetze definierte tote Maschinerie.
Sie sind von der Präsenz des Göttlichen ausgegangen, wobei Newton geradezu
davon besessen erscheint, dieses Göttliche ebenso »in den Griff« zu bekommen
wie die Bewegung der Himmelskörper, die er in wenigen grandiosen Formeln
beschreibt. Einstein seinerseits hat sich gehütet, das letzte Geheimnis der Welt in
einer mathematischen Formel zu sehen. Er sprach stattdessen von einer
»Intelligenz…, die der menschlichen weit überlegen ist« (S. 95).
Tatsache ist, dass Wissenschaftler unterschiedlichster Fachgebiete sich mit
religiösen Fragen beschäftigt haben, vorausgesetzt, dass ihnen diese als offene
Probleme entgegentraten und nicht als fertige Dogmen. Die Vertreter des
mündigen Denkens haben sich also der »Machtreligion«, die einen Akt der
Unterwerfung von ihnen verlangt, nur selten anzuschließen vermocht, hier drücken
sie ihre Distanz, oft auch ihre erklärte Feindschaft aus: »Die religiösen Genies aller
Zeiten haben sich durch ein religiöses Empfinden ausgezeichnet, das keine
Dogmen kennt und keinen nach menschlichem Bilde entworfenen Gott« (S. 95).
Dagegen meldet sich ihre Wissbegierde, sobald es um offene Fragen geht,
möglicherweise sogar um solche, die manchem anderen als unsinnig erscheinen.
So ist es doch recht bemerkenswert, dass die berühmte Londoner Society for
Psychic Research, die übersinnliche Phänomene wie Telepathie, Telekinetik
untersuchte, zwischen 1882 bis 1971 eine Vielzahl renommierter Wissenschaftler
zu ihren Präsidenten zählte, darunter drei Nobelpreisträger (Charles Richet,
Medizin; Henri Bergson, Philosophie; Lord Raleigh, Physik).[21] Viele der größten
Wissenschaftler der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich
demnach keineswegs zu gut dafür gehalten, sich mit solchen in wissenschaftlicher
Hinsicht eher zweifelhaften Fragen auseinanderzusetzen.
Eine derartige Haltung ist mit mündigem Denken sehr wohl in Einklang zu
bringen, weil der unabhängig urteilende Wissenschaftler die Erkenntnis der
Wirklichkeit zu keiner Zeit als endgültig und abgeschlossen betrachtet. Die
Einstellung zu religiösen Fragen, ist eben doch nicht auf so einfache Art mit dem
Ausmaß an Bildung verbunden, wie Dawkins es seinen Lesen einzureden versucht.
Während höhere Bildung die Skepsis gegenüber jeder Art von Denkbefehlen
befördert, mögen diese nun aus der Machtreligion oder von dogmatischer
Wissenschaft stammen, trägt sie umgekehrt dazu bei, den unbefangenen und

66
staunenden Blick auf die Wirklichkeit frei zu geben. Es ist eine der
Oberflächlichkeiten der naiven Wissenschaftsgläubigkeit, dass sie diese Wahrheit
gern unterschlägt.

Mystik und Religion


Aber nicht nur Wissenschaftler machen sich solcher Unterschlagungen schuldig,
wenn es ihnen um eine Vereinfachung der Wirklichkeit geht. Machtwissenschaft
und Machtreligion sind sich darin gleich, dass sie beide für eine solche
Vereinfachung anfällig sind. So ist es zum Beispiel bemerkenswert, dass Hans
Küng in einem Buch, das ansonsten mit geradezu enzyklopädischer
Detailfreudigkeit auf die Kritiker des Gottesglaubens eingeht, jener fundamentalen
Kritik, die durch die Jahrtausende reicht und den gesunden Menschenverstand
ebenso wie die Philosophie und die größten Naturwissenschaftler zu ihren
Protagonisten zählt – hier ist natürlich von Mystik die Rede – nur wenige Seiten
widmet. Den zahlreichen Gottesleugnern ruft der Tübinger Theologe noch bis in
ihr Grab sein »kein zurück hinter« euch nach, um dann allerdings, als hätten sie nie
gelebt, genau jene Positionen beizubehalten, die von ihnen auf schärfste bekämpft
worden waren. Der großzügige Umgang des Theologen mit den entschiedenen
Gegnern überrascht nicht weiter, denn er weiß, dass die Leser seines Buches ihnen
ohnehin kaum Glauben schenken. Dagegen hütet sich der Autor, anders als im
Vorübergehen auf die wirklich fundamentale Kritik einzugehen: die Kritik an einer
auf den historischen Zufall fixierten Religion; er weiß, dass sie bei denkenden
Menschen immer schon Anklang und Widerhall fand.
In dieser Hinsicht geht der Theologe Hans Küng nicht anders vor als der
Atheist Richard Dawkins. Ja, es ist verblüffend, wie ähnlich sich beide in ihrem
Vorgehen sind. Beide vertreten – und das mit beeindruckender Gelehrsamkeit - die
Positionen der Macht, der eine die der Machtreligion, der andere die der
Machtwissenschaft, deren jeweilige Dogmen sie sich ganz zueigen machen. Und
beide sind gleichermaßen bemüht, die wirklich entscheidenden, ihre Positionen
erschütternden Einwände nur beiläufig zur Sprache zu bringen. Die mystische
Allgegenwart des Göttlichen in der Welt, die für große Wissenschaftler wie
Einstein, Schrödinger oder Max Born eine Tatsache war, wird von Dawkins ebenso
knapp abgehandelt wie im Buche von Küng, und zwar aus den gleichen Gründen.
Hier haben beide es mit einem kritischen Denken zu tun, das ebenso an den
Dogmen der historischen Religion wie an den Dogmen der Machtwissenschaft
rüttelt. Ja, mehr noch: Hier verbündet sich das kritische Denken mit der
ursprünglichen religiösen Erfahrung und richtet eine Barriere gegen alles
dogmatische Vorurteil auf.
Schaut man dann etwas näher auf die knappe Darstellung der Mystik bei
Küng, so stellt ihre Charakterisierung als eine Spätform der Religion die wahren
Verhältnisse geradezu auf den Kopf.[22] Gewiss tritt Mystik auch »in Zeiten
übersteigerter Kultur und der Sehnsucht nach Weltflucht« auf, weil jede kulturelle

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Verfeinerung im Sinne der Bildung wirkt und daher die Skepsis an den
überkommenden Traditionen, Glaubensformen und –ritualen vermehrt. Aber schon
William James hatte ihr Wesen richtiger beschrieben, wenn er die mystische
Ahnung zum Urgrund religiösen Erlebens erklärt. »Man darf, so glaube ich, ruhig
behaupten, dass alle persönliche religiöse Erfahrung ihre Wurzeln und ihren
Mittelpunkt in Zuständen mystischen Bewusstseins hat«[23] - alle persönliche
Erfahrung, d. h. jene ursprüngliche Erfahrung des Religiösen, wie sie die
Menschheit in ihrer Kindheit und der Mensch in seiner Jugend macht, bevor
sozialer Druck bis hin zur Indoktrinierung diese Erfahrung mit der Zeit in die
Bahnen eines bestimmten »Bekenntnisses« lenkt oder umgekehrt das religiöse
Empfinden völlig erstickt.
Hans Küng ist ein vergleichsweise liberaler (und deswegen von der Kirche
misstrauisch beurteilter) Theologe. Wenn man selbst ihn von dem Vorwurf nicht
freisprechen kann, die wirkliche Auseinandersetzung zu scheuen und zu vermeiden,
so darf man zusammenfassend wohl sagen, dass Machtreligion in der Mystik einen
Rivalen erblickt - ein störendes und gefährliches Ärgernis, deren Argumente
gerade deshalb so überzeugen, weil sie eben nicht auf Machtspruch und
Unterwerfung beruhen. Diese Abneigung der historischen Religion gegen die
Mystik braucht uns nicht zu verwundern: Sie beruht auf der Unterlegenheit alles
dogmatischen gegenüber dem kritischen Denken. Und sie ist - wie die in dieser
Hinsicht ganz ähnliche Einstellung von Küng und Dawkins beweist – keineswegs
auf die Religion beschränkt. Den Widerspruch zwischen Dogma und kritischer
Vernunft finden wir genauso auch in der Wissenschaft – davon soll im Folgenden
die Rede sein.

Wissenschaft
Nicht nur Bildung ist maßgebend für die Einstellung des Menschen zur religiösen
Weltsicht, ebenso ist es der Faktor der Macht. Das kann in einem so elementaren
Sinne aufgefasst werden, wie von Bertrand Russell zur Sprache gebracht: »Eine
überwältigende Mehrzahl intellektuell hervorragender Männer glaubt nicht an die
christliche Religion, aber sie verbergen diese Tatsache in der Öffentlichkeit, weil
sie befürchten, andernfalls ihr Einkommen zu verlieren«.[24] Der Wissenschaftler
wird hier zum Opfer einer mehr oder minder diskret vorgehenden Macht, die ihn
zur Mimikry zwingt. Seit Aufkommen jenes von Autoritäten befreiten Erforschens
der Wirklichkeit, das man als wissenschaftlich bezeichnet, mussten
Wissenschaftler befürchten, den herrschenden Mächten unliebsam aufzufallen und
dadurch persönliche Nachteile zu erleiden.
Aber es ist nicht nur die Macht der anderen, die den Wissenschaften zu
schaffen macht, auch sie selbst werden vom Streben nach Macht getrieben. Wie
jede menschliche Institution waren und sind auch sie um größtmögliche Autorität
und Einfluss bemüht, d. h. auch sie tendieren dazu, als Machtfaktor aufzutreten.
Das jedoch konnte ihnen jedoch nur gelingen, wenn sie ganz bestimmte
ideologische Voraussetzungen postulierten. Ausnahmslos musste alles

68
Naturgeschehen nach Gesetzen verlaufen. Nur unter dieser Bedingung konnte der
Wissenschaftler allen Ernstes behaupten, nicht nur alles erklären, sondern mit
Hilfe der von ihm gefundenen Gesetze auch die gesamte Natur einschließlich des
Menschen (wenigstens im Prinzip) beherrschen zu können. Es ist diese auf ein
Nutzen- und Machtpostulat gegründete Ideologie, die den Wissenschaftler dazu
verleiten musste, die gesamte Natur als bloße Mechanik zu deuten. Nur wenn es
außer den vermeintlich ewigen und unabwendbaren Gesetzen nichts anderes gibt,
ist dieser absolute Herrschaftsanspruch unanfechtbar. Daher die endlosen
Beschwörungen von der Art, dass die Natur nichts als eine Maschine sei, nichts als
ein Getriebe der Notwendigkeiten und dass es in ihr zwangsläufig nur mit ganz
natürlichen Dingen zugehe. In diesen Beschwörungen, die nur scheinbar der
empirischen Erkenntnis entspringen in Wirklichkeit aber ideologischen
Forderungen, drückt sich das Machtstreben der Wissenschaften ebenso dogmatisch
aus wie in der Machtreligion die Ersetzung des Denkens durch verordnete
Glaubensinhalte. Die Wissenschaft versicherte sich dadurch des größtmöglichen, ja
eines geradezu ins Grenzenlose zielenden Herrschaftsanspruchs, der jede
konkurrierende Weltdeutung, in erster Linie die religiöse, von vornherein
ausschloss.[25] Freilich tat sie dies um den Preis, das kritische Denken dabei in die
Enge zu treiben. Stimmte es denn wirklich, dass die Natur einschließlich des
Menschen nichts als Maschine sei, deren Funktion wie die eines Uhrwerks mit
zunehmendem wissenschaftlichen Fortschritt mit immer größerer Präzision
bestimmt und irgendwann total gelenkt werden könne?
Die Tatsache, dass so viele Wissenschaftler, und zwar gerade auch solche in
der Königsdisziplin der Physik, ihr Denken nicht durch die Grenzen ihres Faches
einzäunen ließen, belegt ihre Zweifel an der eigenen Machtideologie. Zwischen
»Machtwissenschaft« und kritischer Wissenschaft oszillierte das Denken ebenso
wie im religiösen Bereich zwischen Machtreligion und Mystik. Die Postulate der
eigenen Machtideologie drängten den Wissenschaftler dazu, alle Rätsel zu leugnen,
bzw. ihre mehr oder weniger unmittelbar bevorstehende Lösung vorauszusagen.
Dagegen hegte der kritische Wissenschaftler daran seine mehr oder weniger
deutlich ausgesprochenen Zweifel. Allerdings gibt es einen in die Irre führenden
und einen richtigen Weg, diese Zweifel zu äußern. Die Suche nach konkreten
ungelösten Rätseln und Widersprüchen hat die Zweifler bisher immer nur
diskreditiert und sie nicht selten geradezu der Lächerlichkeit preisgegeben. Erst die
grundsätzliche, philosophische Kritik deckt die Widersprüche und Fallstricke der
Machtideologie auf.

Die Lückensucher
Die einfachste Form des Protestes gegen den in der Maschinendeutung der
Wirklichkeit so herrisch zum Ausdruck gebrachten Machtanspruch der
Naturwissenschaften bestand von Anfang an in der Behauptung, dass die

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Wissenschaft zwar großartige Erfolge in bestimmten Gebieten errungen habe, aber
ihr gewisse andere für immer verschlossen sein würden.
Dawkins führt hier eine Aussage des französischen Philosophen Auguste
Comte als typisches Beispiel an. Dieser hatte im frühen 19. Jahrhundert gemeint,
dass der Mensch grundsätzlich nie zu sicheren Erkenntnissen über die chemische
Beschaffenheit der Sterne gelangen würde. Die fernen Himmelskörper würden für
den Menschen immer und notwendig eine Terra incognita bleiben, da er die Sterne
niemals betreten würde und diese daher für immer seiner direkten Beobachtung
entzogen sein würden. Wie sehr sich Comte irren sollte, stellte sich aber schon
wenige Jahre später heraus, als Bunsen und Kirchhoff die Spektralanalyse erfanden,
mit der man genau dieses Geheimnis entschlüsseln konnte: die materielle
Beschaffenheit ferner Himmelskörper.
Der von Dawkins aus diesem und anderen Beispielen gezogene Schluss
leuchtet zunächst unmittelbar ein. Alle Aussagen von der Art, bis hierher reiche
der Arm der Wissenschaften, aber zu diesem oder jenem anderen Bereich sei ihnen
der Zugang ein für alle Male verwehrt, habe eine voranschreitende Forschung
regelmäßig ad absurdum geführt. In der Tat liefern die seit vier Jahrhunderten
erzwungenen Rückzugsgefechte der Kirche dafür bis heute eine augenfällige
Demonstration. Die Wissenschaft hatte die Theologen sozusagen vor sich her in
eine Enge getrieben, die mehr und mehr einer Falle glich. Die wissenschaftliche
Erkenntnis, so der Kern von Dawkins Behauptung – der sich übrigens ebenso bei
Holbach und Büchner findet - werde den Theologen keinen einzigen Bereich übrig
lassen außer unbewiesenen und unbeweisbaren Fiktionen.
Das spektakulärste Beispiel für diese These scheint die wissenschaftliche
Erkenntnis des Lebens zu bieten. Lange Zeit blieben die größten Triumphe der
Wissenschaft ganz auf die unbelebte Natur beschränkt. Hier schien es in der Tat
möglich zu sein, alles Geschehen als ein Räderwerk zu verstehen - ein
mechanisches Uhrwerk, wie die vorherrschende Metapher besagte. Doch was das
Leben betraf, so glaubten selbst führende Wissenschaftler, dass es sich diesem
Zugriff entzog. Es schien viel zu komplex zu sein, viel zu vernetzt in all seinen
Erscheinungen, um auf einfache wissenschaftliche Formeln gebracht zu werden.
Das Leben war sozusagen der Hoffnungsträger für alle, die nach einer Zuflucht vor
der Maschinensicht des Wirklichen suchten. Gerade diese Hoffnung aber wurde
zunächst durch die Evolutionstheorie von Charles Darwins und ein Jahrhundert
danach durch die Entdeckung des genetischen Codes erschüttert. Die Theorie
Darwins erklärte die Entstehung der Arten als einen im Prinzip mechanischen und
auf diese Weise Schritt um Schritt erklärbaren Vorgang. Durch die Entdeckung
und Entschlüsselung des genetischen Codes aber ließen sich die Grundlagen des
Lebens nun vollends in Gestalt einer symbolischen Sprache beschreiben, die
dieselbe Einfachheit und mathematisch strenge Ordnung erkennen ließ wie bis
dahin nur die unbelebte Natur. Es ist dieser außerordentliche Triumph gerade der
Lebensforschung, welche heute den Biologen ermöglicht, den ideologischen
Machtanspruch so hartnäckig zu verfechten wie es ein Jahrhundert zuvor die

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Physiker taten. Die restlose wissenschaftliche Erklär- und Beherrschbarkeit von
Natur und Mensch wird dann bei ihnen zu einem Credo, das an die Stelle der
religiösen Weltdeutung tritt.
Deshalb fällt das Fazit aus all den vergeblichen Versuchen, konkrete
Bereiche der Wirklichkeit von vornherein als off-limits für die Wissenschaften zu
erklären, auch ziemlich eindeutig aus. Alle derartigen Versuche haben sich als
unmöglich erwiesen, obwohl nicht selten Wissenschaftler selbst es gewesen sind,
die eine solche Grenzziehung vornehmen wollten. Warum diese dennoch eine nicht
abreißende Kette von Niederlagen bewirkte, ist im Grunde leicht zu verstehen.
Ohne einen bestimmten Bereich gründlich durchforscht zu haben, können wir
nichts darüber wissen, ob wir in ihm Gesetze entdecken oder auch nicht. Doch
selbst wenn wir dort vorläufig keine Gesetze finden, können wir trotzdem nie a
priori ausschließen, dass wir sie in Zukunft entdecken werden. Nicht einmal über
das Ausmaß dieser möglicherweise später entdeckten Gesetze können wir im
Voraus etwas Verlässliches wissen.
Wäre damit also bewiesen, dass die Maschinensicht des Wirklichen richtig
und gültig ist? Sind die Propheten des Wissenschaftsglaubens von Holbach bis
Dawkins also im Recht? Keineswegs. Zwar haben die Lückensucher dieser
Weltsicht nichts als Vermutungen entgegenzusetzen, dennoch ist diese deswegen
nicht weniger falsch. Und gerade hier liegt denn auch der Ursprung des
Dawkinswahns, hier zeigt sich der Pferdefuß der Machtwissenschaft im Gegensatz
zu ihrem kritischen Gegenüber.
Ebenso wie Machtreligion aus dem Urgrund religiöser Erfahrung hervorgeht,
so dass man in ihr auch eine ideologisch irre geleitete Form von Mystik erblicken
kann, entspringt auch Machtwissenschaft durch ideologisches Vorurteil aus der
kritischen Wissenschaft. Wie ich zeigen werde, ist für die letztere evident, dass die
Annahme einer deterministischen Wirklichkeit – die Welt als Uhrwerk in
populärer Ausdrucksweise – ein bloßes Konstrukt unseres Denkens ist. Denn wir
wissen und können unwiderleglich beweisen, dass die Maschinensicht der
Wirklichkeit sich selbst ad absurdum führt. Der Beweis dafür reicht allerdings in
weit größere Tiefe als jene vergeblichen Versuche der Lückensucher, irgendein
konkretes Gebiet dem Zugriff der Wissenschaft zu entziehen.

Jenseits der Ideologie

Unsere Wissenschaft ist kein System von gesicherten Sätzen, das in stetem
Fortschritt einem Zustand der Endgültigkeit zustrebt. Unsere Wissenschaft
ist kein Wissen (episteme): Weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann
sie erreichen. Popper.

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In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, dass in der uns umgebenden
Wirklichkeit der Bereich des »Gesetzlosen« (Nicht-Determinierten) mindestens
gleich groß sein muss wie der aller von uns bisher und in Zukunft gefundenen
Gesetze. Der Beweis wird uns zeigen, dass der Traum der Machtwissenschaft von
universeller Herrschaft nicht mehr als ein Wahn ist. Indem sie den Wahn entlarvt,
stößt die radikal kritische Wissenschaft auf den unerklärbaren Teil unserer Welt,
auf das Geheimnis, das sich weder von unserem Denken noch unserem
Herrschaftswillen domestizieren lässt. Sie tut dies, indem sie den üblichen
Standpunkt von Nutzen und Macht hinter sich lässt, nur dieser hat sie ja dazu
verführt, ihren Anspruch auf Allerklärung mit der Annahme einer durchgehenden
Gesetzlichkeit zu begründen. Kaum wendet sie sich ab von diesem Macht- und
Nutzendenken fällt auch der Determinismus zusammen, der erst von diesem
Denken erzeugt worden ist. Die kritische Wissenschaft macht sehr schnell die
Entdeckung, dass die Annahme einer durchgehenden Gesetzhaftigkeit an inneren
Widersprüchen zerbricht.
Übrigens kann sich kritische Wissenschaft diese Erkenntnis ruhigen
Gewissens leisten. Unser Wissen über die Wirklichkeit und unser technologisches
Können sind ja nicht etwa deswegen weniger staunenswert, weil wir uns ihrer
Grenzen bewusst sind. Den Wahn der Machtwissenschaft kann die kritische
ruhigen Gewissens entlarven. Sie weiß, dass nicht das ideologische sondern allein
das von der Ideologie befreite Wissen Wahrheit vermittelt.

Der Durchbruch
Das Problem aller Macht ist die Verfälschung der Wirklichkeit um
Machtinteressen willen. Die Deutung der Natur als einer Maschine ist das
Paradebeispiel für eine solche Verfälschung. Aber die Machtreligion hat zuvor eine
ganz ähnliche Verzerrung vorgenommen und das aus ganz denselben
Machtinteressen. Sie hat einen allwissenden Gott konstruiert und zugleich auf der
Freiheit des Menschen bestanden. Dadurch musste sie in die Falle eines unlösbaren
Problems geraten. War der Mensch in seinem Handeln frei, dann konnte Gott
dessen Verlauf nicht schon im Voraus erkennen. Andererseits wäre Gottes
Allwissenheit hinfällig gewesen, würde man ihm nicht die Eigenschaft zuerkennen,
die Zukunft vorauszusehen. Dieser logische Widerspruch war und ist
unüberbrückbar, auch wenn man verzweifelt versuchte, ihn mit Scheinlösungen zu
verdecken, wie etwa jenem Trick aus der Kiste der Varietezauberei, wonach Gott
eben den freien Willen des Menschen voraussieht.[26]
Das Problem erwies sich deshalb als unüberwindbar, weil die religiöse
Machtideologie weder auf die eine noch auf die andere der beiden Positionen
verzichten wollte. Die Annahme eines allwissenden Gottes war unerlässlich, um
der Kompetenz und Autorität seiner Stellvertreter auf Erden ein unerschütterliches
Fundament zu verleihen. Kraft dieser Autorität war es ihnen dann möglich, auch

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ihren Mitmenschen gegenüber ein unanfechtbares Wissen (bis hin zur
Unfehlbarkeit) geltend zu machen. Andererseits konnte man aber auf die Freiheit
des Menschen ebenso wenig verzichten. Unfreie Menschen hätte man für ihre
Taten nicht zur Rechenschaft ziehen, also sie weder belohnen noch strafen können.
Gerade Strafe und Lohn sind aber die wichtigsten und ältesten Instrumente der
Herrschaft.
Das Problem wurde nie gelöst, weil es schlechthin unlösbar ist. Aber es ist
keineswegs ein Problem, das nur die Religion betrifft. Die wenigsten ahnen auch
nur, dass es in den Wissenschaften, jedenfalls in deren vorherrschendem Zweig,
den ich als »Machtwissenschaft« charakterisiere, eine genauso unselige Rolle
spielt. Die Machtwissenschaft besteht darauf, alles erklären und damit letztlich
auch alles beherrschen zu können - sofern es denn überhaupt menschlicher
Einwirkung zugänglich ist. Dieser Anspruch setzt allerdings bestimmte
Bedingungen voraus, hauptsächlich jene, dass alles Geschehen nach Gesetzen
verlaufen müsse – in der Fachsprache, dass alles Geschehen »determiniert« sei.
Nur unter dieser Voraussetzung können die Wissenschaften in jedem Bereich der
Natur die Mechanik des Geschehens aufdecken und darauf dann auch ihre
Voraussagen gründen. Ungesetzmäßige und damit der Voraussage entzogene
(nichtdeterministische) Bereiche der Wirklichkeit durfte es unter dieser Bedingung
nicht geben. Ein solches Zugeständnis hätte den Verzicht auf uneingeschränkte
Erklärung und Macht bedeutet. Man hätte sagen müssen: Bis hierher sind wir
kompetent, aber nicht weiter, denn in diesem oder jenem Bereich der Natur finden
wir keine Gesetze, es geht in ihr nicht mit »natürlichen Dingen« zu.
Bis zum Beginn des 20 Jahrhunderts und dem Vordringen der Quantenphysik
bestand die Machtwissenschaft in der Tat mit dogmatischer Hartnäckigkeit darauf,
dass es solche unzugänglichen (nichtdeterministischen) Bereiche weder gebe noch
überhaupt geben könne. Sie drückte dies auf ihre Art in der Weise aus, dass sie die
Existenz des Zufalls grundsätzlich leugnete. Darin waren ihr schon einige der
großen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts vorangegangen. Zufall, so sagten
Spinoza ebenso wie nach ihm Voltaire, sei nur ein anderes Wort für menschliches
Unwissen. Bertrand Russell und Albert Einstein schlossen sich diesem Standpunkt
noch im zwanzigsten Jahrhundert an. Sobald unser Wissen auch das letzte Dunkel
unserer Unwissenheit aufgehellt hätte, gäbe es keinen Zufall mehr, wir hätten die
Wirklichkeit in ihrer durchgehenden Notwendigkeit begriffen. Denn kein
Geschehen könne sich den Naturgesetzen entziehen.
Solche Aussagen blieben von der kritischen Wissenschaft keineswegs
unwidersprochen. Schon der englische Philosoph David Hume hatte im
achtzehnten Jahrhundert und der Wissenschaftsanalytiker Sir Karl Popper hatte
zwei Jahrhunderte nach ihm dann im zwanzigsten festgestellt, dass derartige
Behauptungen keine empirische Begründung zuließen. Niemand konnte und kann
einen generellen Determinismus der Wirklichkeit oder eine generelle Kausalität
durch Beobachtung beweisen.[27] Tatsächlich war denn auch nicht die beobachtete
Wirklichkeit selbst, sondern einzig das Machtstreben der Beobachter, die über

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keinen Winkel des Wirklichen auf Herrschaft verzichten wollen, dafür
verantwortlich, dass eine der Beobachtung grundsätzlich unzugängliche
Behauptung mit solcher Emphase vertreten wurde.
Ja, bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass viele Wissenschaftler sich in
diesem Punkt sogar eines noch bedenklicheren Verstoßes gegen die Logik schuldig
machten als die Ideologen der Religion. Diese versuchten immerhin den klaffenden
Widerspruch zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Allwissenheit durch
allerlei Verschleierungstaktiken zu überbrücken. Die Wissenschaften hingegen,
deren Methodik doch auf strengem Denken gebaut und begründet ist, pflegten den
Widerspruch, der sich bei ihnen nicht weniger sichtbar manifestierte, ganz einfach
zu ignorieren. Sie bestanden zwar auf der Notwendigkeit allen Geschehens,
übersahen dabei aber völlig die offenkundige Tatsache, dass diese Notwendigkeit
für den Menschen nur dann einen praktischen Sinn ergibt, wenn er ihre Gesetze
nach Belieben, also »willkürlich« anzuwenden vermag. Zumindest der Mensch
selbst muss willkürlich handeln können, also von der Notwendigkeit
ausgenommen sein, um in das Getriebe des Geschehens seinen Zwecken gemäß
eingreifen zu können.[28]
Die Machtreligion biss sich an dem Problem der menschlichen Freiheit die
Zähne aus – mit der Allwissenheit und Allmacht Gottes, auf die sie keinen
Verzicht leisten wollte, war solche Freiheit nun einmal nicht zu vereinbaren. Die
Machtwissenschaft konnte dieses Problem leichter verdrängen, weil sie auf
Freiheit nicht angewiesen war, um den Menschen für seine Taten zu belohnen oder
zu strafen. Der Mensch wurde von der zunächst allein auf die Natur fixierten
(Natur-)Wissenschaft daher zunächst einmal schlicht übersehen. Dennoch war
Freiheit für sie ebenso unverzichtbar, der Widerspruch von genauso grundlegender
und unüberwindbarer Art.
Menschliche Freiheit, anders gesagt, die Fähigkeit unvorhersehbar und damit
ungesetzmäßig zu handeln, war als Gegenstück der Notwendigkeit schlechterdings
denknotwendig. Denn seinen praktischen Nutzen verdankte ein vom Menschen
gefundenes Gesetz ja ausschließlich dem Umstand, dass es eine Lücke im Gewebe
der Notwendigkeiten gab, in die der Mensch eingreifen konnte, indem er das
Gesetz zu seinen Zwecken gebrauchte. Der Sinn wissenschaftlicher Gesetze hängt
also zwangsläufig davon ab, dass neben ihnen einen Bereich der Gesetzlosigkeit
existiert. So gehorcht etwa der Explosionsdruck innerhalb der Düsen eines
Raketenmotors bestimmten Gesetzen, doch der Abschuss einer Mondrakete, muss
willkürlich herbeigeführt werden und in diesem Sinne zu-fällig sein, damit diese
Gesetze dem Menschen einen Nutzen verschaffen. Nur aufgrund dieses Zufalls in
Gestalt menschlichen Wollens lässt sich der ballistische Lauf einer Kugel oder
einer Rakete zum Mond den Absichten des Menschen entsprechend beherrschen.
Der Beweis für diese gegenseitige Abhängigkeit ist von logischer Evidenz.
Notwendigkeit kann es nur unter der Voraussetzung von Freiheit geben, Freiheit
aber kann sich nur sinnvoll betätigen, wenn es auch Notwendigkeit gibt. Bildlich
gesprochen, muss für jedes Gesetz eine Lücke im Gewebe der Notwendigkeit

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existieren, damit der Mensch oder auch nichtmenschliche Wesen mit ihrem Wollen
in sie eingreifen können, indem sie dieses Gesetz verwenden. Oder anders gesagt:
Je weiter sich das Gewebe der Notwendigkeiten mit wachsender Erkenntnis
erstreckt, desto zahlreicher müssen in diesem Gewebe auch die Lücken zwischen
den Fäden werden, in die das durch Erkenntnis gesteuerte Handeln einzugreifen
vermag. Und noch ein weiteres Bild scheint mir diesen Zusammenhang gut zu
verdeutlichen. Unsere Erkenntnis wird dadurch zu einem Kegel von Licht, den wir
rings um uns auf die Wirklichkeit werfen. Je tiefer die Strahlen dieses Kegels in
das umgebende Dunkel reichen, umso größer wird auch das zwischen ihnen
befindliche Dunkel.[29]
Konkret bedeutet dies, dass die Reichweite der Wissenschaft: ihre
Erklärungen und Herrschaft, grundsätzlich begrenzt sind. Freiheit und Zufall
bedeuten Unvorhersehbarkeit, Ungesetzlichkeit, Unerklärbarkeit. Den ballistischen
Verlauf einer Kugel können wir durch Formeln genau beschreiben, aber es ist strikt
unvorhersehbar, dass ein gewisser Heinz Y. am 17. Oktober 2012 aus einer Laune
heraus den Gesetzen der Ballistik gemäß einen Straßenarbeiter erschießt. Genauer
gesagt, ist all unser Eingreifen in den Ring der Notwendigkeiten (solange wir nicht
unter Fremddruck handeln oder bloß die kulturellen Konventionen unserer
jeweiligen Gesellschaft befolgen) strikt unvorhersehbar. Es entzieht sich der
Determination und damit auch dem wissenschaftlichen Zugriff.

Identische Verirrungen: Machtwissenschaft und Machtreligion


Dennoch, bis zum Aufkommen der Quantenmechanik hat die Machtwissenschaft
unerbittlich an der Ideologie festgehalten, dass es den Zufall nicht geben könne.
Alles war für sie prinzipiell determiniert. Alles sollte in den Bereich ihrer
Herrschaft fallen. Der große französische Mathematiker Pierre-Simon
Laplace (1749 -1827) hatte das in einem berühmten Diktum auf eine einfache
Formel gebracht. »Eine Intelligenz, die in einem bestimmten Moment alle Kräfte
erfasste, welche die Natur beherrschen, und darüber hinaus die respektive Lage der
Elemente, aus denen sie besteht, würde - vorausgesetzt, dass sie groß genug wäre,
um alle diese Daten der Analyse zu unterwerfen - in einer einzigen Formel die
Bewegungen der größten Körper des Universums und die der kleinsten Atome
gleichermaßen erfassen: Nichts wäre ungewiss für sie. Zukunft und Vergangenheit
würden ihr deutlich vor Augen stehen«.
Angesichts dieser generellen Reduktion aller Vorgänge der Natur auf die
kleinsten sie konstituierenden Elemente ging man auch wie selbstverständlich von
der Annahme aus, dass nicht nur das Geschehen der unbelebten Natur durchgehend
gesetzmäßig und daher voraussehbar (und im Prinzip auch beherrschbar sei),
sondern dass dies auch für den Menschen und überhaupt den sozialen Bereich
zutreffe. Karl Marx hatte bereits gesellschaftliche Prozesse für determiniert
gehalten und glaubte die Gesetze ihrer Entwicklung gefunden zu haben. Vor ihm

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hatte Charles Darwin dasselbe für die Biologie behauptet, Watson und
Skinner übertrugen die gleiche Sicht auf die Psychologie, Edward Wilson auf die
Soziologie im engeren Sinne.[30] In all diesen Bereichen sollte und durfte der Zufall
nur noch ein Wort für jenes Unwissen sein, das die Menschheit mit der Zeit ganz
überwinden würde. Auch auf den Menschen wollte sich Machtwissenschaft den
Zugriff nicht verwehren lassen. Sie bestand darauf, dass die gesamte Wirklichkeit
einschließlich der lebenden Wesen im Grunde (d. h. aus Sicht der perfekten
Erkenntnis) nichts anderes als eine Maschine sei, eine restlos zu entzaubernde
Mechanik. Das waren freilich nicht die letzten Versuche, menschliche Freiheit als
Illusion zu entlarven. In jüngster Zeit glaubt sich die Hirnforschung zu ähnlichen
Schlüssen berechtigt, weil der subjektive Eindruck, eine bestimmte Handlung zu
»wollen«, nachweisbar um Bruchteile einer Sekunde später erfolgt als die
physiologischen Veränderungen, die dieses Wollen begleiten.[31] Die Ideologie des
Nichts-Als verschafft sich immer erneut ihre Anhänger. Ihr Zweck ist es, jeden
anderen Zugang zur Wirklichkeit prinzipiell auszuschließen.[32]
Drei Jahrhunderte lang hielt die Machtwissenschaft am vermeintlichen
Determinismus fest, blind für die offenkundige Einsicht in die Denknotwendigkeit
einer Freiheit, die den Gebrauch von Gesetzen überhaupt erst denkbar und möglich
macht. Das Freiheitsdilemma der Machtreligion umging sie nur deshalb, weil sie
nicht wie die Kirche strafen und lohnen musste und deshalb auf Freiheit nicht
verzichten konnte. Ja, die Machtwissenschaft ging in ihrer ideologischen
Abschottung von der Wirklichkeit sogar noch einen Schritt weiter: Sie hat sich das
Denken über grundsätzliche Frage ausdrücklich verboten. Gültige
wissenschaftliche Aussagen, so ihre Forderung, dürften allein auf empirischem
Wege zustande kommen, bloßes Nachdenken wurde als wertlos verworfen. Nur
wenn der Forscher, bewaffnet mit einem Mikroskop oder sonstigen Apparaturen,
neue Einsichten gewann, wurden diese als ernstzunehmende Erkenntnis gewertet.
Dagegen pflegte man als unerheblich zurückzuweisen, was durch reines Denken
gefunden wurde wie etwa die Aussagen der Philosophie.[33] Diese Unterscheidung
bot sich als bequemes Werkzeug an, um alle Einwände einer kritischen
Wissenschaft, sofern sie der Ideologie der Machtwissenschaft widersprachen, von
vornherein als irrelevant auszusondern. Dass der Mensch nicht zugleich sich selbst
als Maschine betrachten und andererseits die dabei gefundenen Gesetze nach
seinem Belieben nutzen konnte, also gerade auf nicht-maschinenartige Weise –
dieses offensichtliche Paradox (und Variante des machtreligiösen
Freiheitsdilemmas) wurde als nichtempirisches Philosophieren verdrängt und
verworfen. In solchen Fällen sah man geflissentlich darüber hinweg, dass reines
und strenges Denken (z.B. in Logik und Mathematik) für alle Wissenschaften die
Grundlage von Forschung und Fortschritt bildet.
Erst die kritische Wissenschaft ist imstande, diese und andere Strategien der
Machtwissenschaft zu entlarven. Die Annahme einer generellen Gesetzmäßigkeit
(Determinismus) entlarvt sie als ideologisches Postulat, das zu unaufhebbarem
Selbstwiderspruch führt. Zwar werden wir nie exakt angeben können, wo wir

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Gesetze auffinden und wo dies nicht möglich ist – die Lückensuche, von der
vorher die Rede war, bleibt daher zwangsläufig unfruchtbar - aber wir können
beweisen, dass ohne solche Lücken im Notwendigkeitengewebe unsere ganze
Suche nach Gesetzen sinnlos wäre und niemals begonnen hätte.

Kritische gegen Machtwissenschaft

Der letzte Schritt der Vernunft ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit
von Dingen gibt, die sie übersteigen. Pascal, Pensées, 167.
Aber die existierenden wissenschaftlichen Begriffe passen jeweils nur zu
einem sehr begrenzten Teil der Wirklichkeit, und der andere Teil, der noch
nicht verstanden ist, bleibt unendlich. Werner Heisenberg, Physik, 169.

Weite Bereiche des Wirklichen müssen offene Stellen im Gewebe der


Notwendigkeit sein, damit es überhaupt einen praktischen Sinn ergibt,
Notwendigkeit in der Erfahrung zu registrieren. Die Maschinendeutung des
Wirklichen erweist sich damit als eine ideologische Verirrung – eine der
schlimmsten, die der Mensch sich selbst und der Natur je angetan hat. Es bedarf
der ideologieresistenten Intelligenz der kritischen Wissenschaft, um Natur und
Mensch wieder zu dem zu machen, was sie für die spontane Intelligenz, das naive
und intuitive Erleben, schon immer waren und immer bleiben werden: ein
komplexes Rätsel, das sich unserem Erkennen nur teilweise erschließt. Die
kritische Wissenschaft bekennt sich damit zu einer Wahrheit, die von der
Machtwissenschaft nie akzeptiert worden ist: Es gibt keine menschliche
Allwissenheit, weder in der Praxis noch als theoretische Möglichkeit. Wir werden
zwar immer neue Gesetzmäßigkeiten entdecken, aber trotz dieses nie endenden
Bemühens nie zu endgültigem Wissen gelangen. Denn der Lichtkegel unseres
ausgreifenden Wissens erschließt uns zugleich auch immer weitere Bereiche von
Dunkelheit.
Der kritische Wissenschaftler wird in diesem Zusammenhang zwar nicht von
»Geheimnis« sprechen. Das Wort klingt unwissenschaftlich, es war und ist unter
Wissenschaftlern verpönt und scheint den, der es verwendet, zu einem Phantasten
oder gar einem Esoteriker zu stempeln. Ein kritischer Wissenschaftler sieht seine
Aufgabe im Sammeln und Sichten von Fakten und in einem Denken, das die
richtigen Schlüsse aus deren Beobachtung zieht. Emotionen haben bei einem
solchen Vorgehen nichts zu suchen. Anders der Mystiker. In seinem Denken geht
er nicht anders vor als der kritische Wissenschaftler, aber er darf etwas, was sich
dieser verbietet. Er darf staunen, ergriffen sein, sich begeistern oder betrüben
lassen. Angesichts einer Wirklichkeit, die sich uns durch Erklärung und
Voraussage immer nur teilweise erschließt, braucht er sich das Wort Geheimnis
nicht zu verbieten.

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Denn genau dieses Wort beschreibt besser als jedes andere die Tiefen einer
Erfahrung, für die Notwendigkeit und Freiheit nur gemeinsam gedacht werden
können. Das Wort Geheimnis besagt aber auch, dass selbst die grundlegenden
Begriffe für uns in Dunkel gehüllt sind. Denn was meinen wir, wenn wir von
Freiheit sprechen? Jeder weiß, warum er sein eigenes und das Denken anderer
Menschen als frei bezeichnet. Damit meinen wir, dass wir – sofern wir gesund und
bei Sinnen sind – keinem Zwang gehorchen, der unser Denken für andere
berechen- und daher vorhersehbar macht. Stellen wir uns dann jedoch die weitere
Frage stellen, was diese Freiheit denn eigentlich sei, das heißt, welchen
eigenständigen Inhalt wir ihr geben sollen, außer eben demjenigen, dass unsere
Gedanken keinen erkennbaren Regeln, keinem Zwang gehorchen, so gerät unser
Denken schnell aus dem Tritt. Wir fragen dann etwa, woher diese freien Gedanken
denn stammen und ob sie nicht aufgrund ihrer Regellosigkeit völlig willkürlich und
deshalb beliebig seien? Denn normalerweise ist ja genau das die Bezeichnung für
alles Geschehen, das keinen erkennbaren Regeln oder Gesetzen gehorcht.
Darauf gibt es keine sinnvolle Antwort. Natürlich empfinden wir unser
eigenes Denken und Tun nicht als willkürlich und beliebig. Unser ganzer
Lebenswille ist damit verknüpft. Wir arbeiten beständig auf Ziele hin und
versuchen sie durch vernünftige Planung herbeizuführen. Aber dieser offenkundige
Gegensatz zur Beliebigkeit bedeutet keineswegs, dass diese Ziele deshalb
berechenbar in dem Sinne wären, dass sie sich aus den Formeln bestimmter
Gesetze herleiten ließen. Wir können weder uns selbst noch andere berechnen, ihre
und unsere Zukunft liegt – solange es sich nicht um Gewohnheiten handelt, die
bloße Wiederholungen des Vergangenen sind - völlig im Dunkeln. Daher ist alles,
was wir über den Kern unseres Wesens, die Freiheit, zu sagen vermögen,
schlechthin paradox. Diese unsere Freiheit ist nicht willkürlich im Sinne von
beliebig - sie ist aber ebenso wenig durch Gesetze bestimmbar. Mit anderen
Worten, sie ist weder dieses noch jenes. Eine der frühesten Aussagen der Mystik
besteht darin, den tiefsten Grund menschlichen Seins gerade so zu charakterisieren:
Er ist weder dieses noch jenes. Er ist undenkbar. Die Tiefe unserer Existenz
entzieht sich allen Begriffen, die wir von ihrer Oberfläche her schöpfen.
Genau dies trifft auch auf das Verständnis von Freiheit zu. Das einzige Wort,
das diesen tiefsten Grund unserer Existenz angemessen beschreibt, ist
»Geheimnis«. Freiheit für uns ist zwar ganz real und alltäglich; wir wissen was wir
damit im allgemeinen Sprachgebrauch meinen. Dennoch verweigert sie sich jeder
tieferen Analyse, denn wir gleiten dabei sofort in die Undenkbarkeit ab.

Kritische Wissenschaft angesichts des Undenkbaren

»Es wird einer umso gelehrter sein, je mehr er um sein Nichtwissen weiß«
Nikolaus von Kues, Docta ignorantia I, 9.

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Man kann annehmen, dass die letzte Quelle unermesslich ist und sich nicht
von unserem Wissen her fassen lässt. Der Quantenphysiker David Bohm

Dem überaus merkwürdigen und verblüffenden Phänomen, dass etwas für uns ganz
alltäglich und dennoch undenkbar ist, begegnen wir nicht erst, wenn wir in unser
eigenes Innere blicken. Der Bruch verläuft keineswegs nur zwischen menschlicher
Freiheit und einer Notwendigkeit, die wir draußen in der Natur lokalisieren, so als
herrschten außerhalb von uns die Gesetze, während nur wir (oder andere lebende
Wesen) die Möglichkeit hätten, durch unser Tun, wie Friedrich Schiller sagt, in
den »Ring der Notwendigkeit« einzugreifen.[34] Die Natur ist nicht zweigeteilt: hier
der Mensch und dort das übrige Universum; hier die Freiheit und dort strenge
Notwendigkeit. Der Gegensatz zwischen Gesetz und Zufall, Regelmaß und Freiheit,
Ordnung und Chaos durchzieht in Wahrheit die gesamte Natur. Doch diese für das
Weltbild von Mystik und kritischer Wissenschaft grundlegende Erkenntnis hat sich
erst spät durchsetzen können. Machtwissenschaft hat alles getan, um sie zu
unterdrücken. Freiheit und Chaos sollten bloße Illusion, nichts als ein
Eingeständnis unserer vorläufigen Unwissenheit sein.
Das ist eine Verfälschung der Wirklichkeit. In Wahrheit stößt unser Wissen
überall auf die Barriere von Zufall, Freiheit und Chaos, d. h. auf das Undenkbare,
das weder dieses noch jenes ist. Die Quantenphysik machte Schluss mit der
Vorstellung eines durch und durch berechenbaren, deterministischen Universums.
Es kam zu einer epochalen Wende, wobei die Physiker selbst es waren, die sich
durch die von ihnen gefundenen Fakten gezwungen sahen, die alte Ideologie der
Machtwissenschaft zu überwinden. Von da an nahm die Physik gegenüber ihrer
eigenen vierhundert Jahre hindurch herrschenden Ideologie eine kritische Haltung
an. Die Beispiele sind bekannt. Nur eines, der Zerfall radioaktiver Atomkerne, sei
hier genannt. Er lässt eine statistisch durch die sogenannte »Halbwertzeit« klar
umrissene Gesetzmäßigkeit erkennen, aber es hat sich als grundsätzlich unmöglich
erwiesen, die Entsendung eines bestimmten Alphateilchens aus dem Kern
vorherzubestimmen. Freiheit in Gestalt des Zufalls wurde in die Physik und damit
auch in die Natur wieder eingeführt. Die für die Machtwissenschaft repräsentative
Auffassung von Laplace, wonach es der Wissenschaft bei vollständiger Kenntnis
der Naturgesetze einmal möglich sein würde, alle Zukunft und alle Vergangenheit
aus der Kenntnis der Gegenwart vorher- und zurückzusagen, erwies sich als
Illusion. In Gestalt des Zufalls gewährte die Physik jenem Indeterminismus in der
Natur neuerlich Hausrecht, den die Machtwissenschaft und in ihrem Gefolge die
Philosophen seit Beginn der europäischen Neuzeit mit dogmatischer
Hartnäckigkeit aus ihr vertrieben hatten.

Die dreifach verschachtelte Welt

79
Wir können nicht als Erkennende außerhalb oder über dem Ganzen stehen.
Karl Jaspers, Glaube, 27.

Seit der von der Quantenmechanik ausgelösten Revolution hat sich die Sicht auf
die Natur grundlegend gewandelt. Was das unbefangene Denken in den Aussagen
von Machtreligion und Machtwissenschaft schon immer als Illusion zu erkennen
vermochte, das wird nun auch von der kritischen Wissenschaft anerkannt: Die
Welt birgt beides zugleich: die Freiheit und die Notwendigkeit. Und sie ist der
Erkenntnis nur in Teilen zugänglich. Diese veränderte Sicht eröffnet seitdem den
Blick auf eine dreifach verschachtelte Welt. Denn gleich an drei verschiedenen
Stellen stößt die Erkenntnis an ihre Grenzen vor. Da sind einmal die beiden Pole
des Allergrößten und Allerkleinsten. Der Blick in das All und in die subatomaren
Strukturen führt über jenen Bereich der Natur hinaus, in der unsere Erkenntnis
heimisch und für die sie gemacht ist und den wir daher »Mittlere Welt« nennen
können.[35]
Da sind, zweitens, die beiden Pole der Zeit: die fernste Vergangenheit und
die fernste Zukunft. Was ganz zu Anfang oder gar vor ihm liegt – denn jeder
Anfang kann ja immer nur eine von uns angenommene Grenze sein - liegt ebenso
im Dunkeln unserer Erkenntnis wie das Ende oder was nach ihm kommt. Auch
hier gilt für den von uns überschaubaren Bereich zwischen den beiden Polen der
Zeit die Bezeichnung als Mittlere Welt.
Und nicht zuletzt sind die Pole des Erkennbaren und der Unerkennbarkeit
mitten in dieser Mittleren Welt selbst schon vorhanden, nämlich im Hier und Jetzt.
Es wäre also falsch, zu behaupten, dass wir die Mittlere Welt, jene Nische, in die
unsere Erkenntnis reicht und für die sie gemacht ist, völlig entschlüsseln
könnten.[36] Selbst in der Mittleren Welt kann unsere Erkenntnis immer nur
bruchstückhaft sein.
So weit vermag eine kritische Wissenschaft zu gehen, die sich nicht an die
Vorgaben der Machtwissenschaft hält. Die Mystik aber geht über diesen
nüchternen Befund noch hinaus. Sie spricht nicht nur von Undenkbarkeit, sondern
von dem Geheimnis der Welt und des Daseins. Im Gegensatz diesmal zur
Wissenschaft, die darin nur eine Begrenzung ihrer Reichweite sieht, wird gerade
diese Undenkbarkeit zu einem positiven Aspekt. Warum, das wird später noch zu
erhellen sein.

Zwischen All und Atom

Die Disproportionalität des Unendlichen gegenüber dem Endlichen ist


evident. Mit einleuchtender Klarheit folgt daraus, dass man zum schlechthin
Größten nicht zu gelangen vermag. Nikolaus von Kues, Docta ignorantia I,
13.

80
Was ist denn schließlich der Mensch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick
auf das Unendliche, ein All im Hinblick auf das Nichts, eine Mitte zwischen
dem Nichts und dem All, unendlich weit davon entfernt, die Extreme zu
begreifen. Pascal, Pensées, 70.

In seinem Bestreben die Welt zunächst seiner Erkenntnis dann seinem Können zu
unterwerfen, hat der Mensch sich nicht nur in der ihn unmittelbar umgebenden
Wirklichkeit eingerichtet, sondern schon in frühester Zeit seinen Blick weit über
diese hinaus gerichtet, zunächst auf das gestirnte Firmament über ihm und sehr viel
später, im zwanzigsten Jahrhundert, mit ungeahntem empirischem Erfolg auch auf
die diesem sozusagen gegenüberliegende Sphäre des Allerkleinsten, die Sphäre des
Subatomaren.[37] Je rigoroser er dabei verfuhr, desto schneller drängte sich ihm die
Einsicht auf, dass sein Denken nicht für beliebige Wirklichkeiten sondern für eine
»Mittlere Welt« gemacht ist, an die er durch evolutionäre Prozesse im Denken und
Handeln angepasst ist.
Diese Anpassung unseres Denkens an die Mittlere Welt drückt sich am
sichtbarsten in der Art und Weise aus, wie wir die uns umgebenden Wirklichkeiten
»erklären«. Es zeigt sich, dass alle Erklärung, auch jene, die wir als
wissenschaftlich bezeichnen, uns nie über die Grenzen der Mittleren Welt
hinausführt. Das »Erklären« und »Klarmachen« läuft in der Regel darauf hinaus,
dass wir etwas weniger Bekanntes oder etwas Komplexes durch etwas anderes
illustrieren, was für uns zur Sphäre des Bekannten, Gewohnten oder Einfachen
gehört. Sprechen wir etwa von elektromagnetischen Phänomenen, so erhellen wir
ihre Natur, indem wir sie Wellen nennen: Wellen wie sie etwa auf der Oberfläche
eines Gewässers für uns einen Bestandteil der alltäglichen Erfahrung bilden.
Erklärung ist demnach ein Vorgang, bei dem wir Bestandteile der uns umgebenden
Wirklichkeit in Beziehung zueinander setzen. Das gilt für Erklärung ganz
allgemein, also auch für das wissenschaftliche Erklären. Auch diese bringen uns
immer nur Teile der Mittleren Welt durch andere Teile nahe. Auch Wissenschaft
erklärt Bilder immer nur durch andere Bilder – in der Regel benutzt sie bekannte,
vor allem aber gut und eindeutig definierte Bilder, um damit weniger bekannte und
schlecht definierte zu erhellen.
Das ist auch dann noch der Fall, wenn die Erklärung darin besteht, dass wir
einen ganz vertrauten Vorgang der unmittelbaren Erfahrung mit Hilfe von
Begriffen erläutern, die einem Laien alles andere als vertraut sind: wie etwa eine
mathematische Formel, durch die wir eine Wellenform (des Wassers oder einer
elektromagnetischen Strahlung) beschreiben. In diesem Fall lösen wir etwas
Komplexes in seine einfachsten Bestandteile auf – z.B. in die grundlegenden
mathematischen Ordnungen, wie sie modellhaft eine empirische Welle abbilden.
Das Komplexe, schlecht Definierte oder wenig Bekannte wird auch in diesem Fall
durch etwas Eindeutiges abgebildet: die dem Kenner vertrauten mathematischen
Formeln und Operationen.

81
Grundsätzlich erfassen wir Wirklichkeit daher nie durch etwas außerhalb
dieser Wirklichkeit Liegendes. Offensichtlich ist das in der Physik, der Königin
unter den Naturwissenschaften. Sie arbeitet mit Körpern und ihren Eigenschaften
(Masse, Geschwindigkeit, Ausdehnung usw.), Wellen und ihren Eigenschaften
(Wellenlängen, Amplituden etc.) oder noch abstrakteren Begriffen wie Energie, in
denen sie eine Gesamtheit konkreterer Phänomene zusammenfasst. Stets bewegt
sie sich dabei innerhalb der Grenzen der Mittleren Welt. Erst wenn sie diese
allmählich verlässt, wird sie mit der Situation konfrontiert, dass ihre Bilder nicht
länger passen, weil diese die Wirklichkeiten des Allergrößten und Allerkleinsten
nicht mehr auf adäquate Weise beschreiben. Ja, in dieser Situation hat sie sich
sogar damit abfinden müssen, dass alle Bilder sukzessive verblassen und damit alle
Erklärung an den beiden Enden der Mittleren Welt allmählich ihre Geltung verliert.
Diese Erfahrung wird der Makro- und der Mikrophysik umso stärker ins
Bewusstsein gerufen, je weiter sie sich in Richtung auf das unendlich Kleine und
das unendlich Große hinauswagt. Kleinste Teilchen wie Elektronen verhalten sich
weder eindeutig nach Art von Körpern (obwohl man sie unter bestimmten
Umständen sehr wohl als solche verstehen kann) noch sind sie eindeutig wie
Wellen aufzufassen (obwohl sie in ihrem Verhalten unter gewissen Umständen
diesen am ähnlichsten sind). Wellen und Körper als typische Phänomene der
Mittleren Welt taugen also nur noch begrenzt als Bilder zum Verstehen des
Allerkleinsten.
Dieselbe zunehmende Untauglichkeit der Begriffe und Bilder aus der
Mittleren Welt muss die Physik auch konstatieren, wenn sie sich weiter und weiter
in Richtung auf das Allergrößte bewegt. Punkte im Universum, die ganze
Universen schlucken (als schwarze Löcher oder anders bezeichnet), Welten, die
sich unendlich in Räume ausdehnen, die durch ihre Ausdehnung überhaupt erst
entstehen; Zeiten, die erst dadurch zu Zeiten werden, dass im Nullpunkt der Welt
das Geschehen beginnt, sind keine für uns mit Inhalt gefüllten Begriffe, sondern
vielmehr Signale für Auflösung und Verfall der uns bekannten Bilder aus der
Mittleren Welt.
Dagegen reicht Mathematik in beiden Richtungen noch ein gutes Stück
weiter. Wo Bilder wie Körper oder Welle versagen, lassen sich mit Hilfe der
Mathematik noch Brücken zwischen sonst unverständlichen Vorgängen
subatomarer Bereiche herstellen. Vorgänge der Quantenphysik gelten als
bestenfalls unvollständig verstanden – die Bilder der groben Anschauung reichen
da nicht mehr hin -, aber das hindert die Physiker nicht, mathematisch erfassbare
quantitative Effekte zu registrieren. Wo komplexe und grobe Bilder nach der Art
von Körper oder Welle versagen, erlaubt die rein quantitativ-mathematische
Erfassung noch immer eine Beschreibung der Vorgänge und damit auch
Vorhersehbarkeit und Manipulation.
Führt uns die Sprache der Mathematik vielleicht über die Mittlere Welt
hinaus? Ist Mathematik die einzige universale Sprache, die Sprache Gottes, wie
Pythagoras, Plato, Galileo, Kepler, Leibniz und ihre Nachfolger dachten?[38] Ist sie

82
vielleicht das einzige Instrument von Erkenntnis, womit wir die Grenzen der
Mittleren Welt überschreiten und überwinden?
Keineswegs. Nur scheinbar macht uns die quantitative Erfassung von
Messergebnissen und das quantitativ gesteuerte Einwirken auf Vorgänge im
subatomaren Bereich von den Bildern der Mittleren Welt unabhängig. Denn die
elementaren Einheiten der Mathematik und die zwischen diesen durchgeführten
Operationen sind offensichtlich von den Dingen dieser Welt abgezogen. Mengen
und ihre Einheiten sind abstrakte Körper und als solche ohne den Raum
undenkbar; Additionen, Subtraktionen etc. sind Vorgänge in der Zeit. Alle
Operationen der Mathematik sind daher Spiele mit Gegenständen der Mittleren
Welt, auch wenn diese dabei ihrer Konkretheit bis auf den Kern von Raum und
Zeit völlig entblößt sind. Daher bilden auch alle von Mathematikern über
Generationen kreierten künstlichen Ordnungen nichts anderes als den Kosmos
möglicher Ordnungen ab, die die uns umgebende Mittlere Welt in sich birgt. Im
Spiel mit abstrakten Mengen und den zwischen ihnen möglichen Operationen geht
der Mathematiker dann so kreativ vor wie die Natur: Die denkbaren Ordnungen
der realen Welt erschafft er sozusagen ein zweites Mal, wobei es immer wieder
überrascht, wie sehr diese denkbaren dann mit den tatsächlich vorhandenen
Ordnungen koinzidieren. Das zeigt sich stets neu und auf verblüffende Weise,
wenn sich selbst die ausgefallenste mathematische Formel irgendwann als
bestmögliche Beschreibung für bestimmte regelhafte Prozesse in der Natur erweist.
Doch auch mit den Mitteln der Mathematik gelangen wir nicht über die
Grenzen Mittlere Welt hinaus. Die Mathematik führt uns nur etwas weiter als alle
konkreteren Bilder, womit wir diese Welt zu erklären versuchen.

83
Rückblick (Unbildlichkeit):
Mystik weiß, dass alle Bilder, die uns in der Mittleren Welt so gute Dienste leisten,
in dem Augenblick ihren Dienst versagen, wo wir sie auf das Höchste beziehen.
Was jenseits der uns gewohnten Welt beheimatet ist, lässt sich nicht mit
diesseitigen Bildern erfassen. Daher heißt es in der Kāthaka-Upanishad 6. 12.

Nicht, durch Reden, nicht durch Denken,


Nicht durch Sehen erfasst man ihn:
›Er ist!‹ durch dieses Wort wird er
Und nicht auf andre Art erfasst.

Auch die daoistische Mystik eines Zhuangzi besteht auf der Unmöglichkeit, sich
durch verstandesmäßiges Denken dieser höchsten Realität zu vergewissern - sie
»in den Griff« zu bekommen.

Der Wissende redet nicht, wer redet, der weiß nicht.

Die besondere Form der Erkenntnis, die Schopenhauer als Anschauung,


Kontemplation und »Sichverlieren« in die Dinge beschrieb, setzt eben kein
Gleichnis voraus, keine Verwendung von Bildern zur Erhellung anderer Bilder,
sondern beruht auf einem ganz anderen Zugang zur Wirklichkeit, der in eigenem
Erleben, nicht in der diskursiven Erklärung besteht. Ganz deutlich wird dies bei
Eckhart:

Wenn immer nun die Seele mit dieser Kraft Bildhaftes schaut,… [dann ist]
etwas Unvollkommenes an ihr… Wenn aber alle Bilder der Seele
abgeschieden werden und sie nur das einige Eine schaut, dann findet das
reine Sein der Seele, erleidend und ruhend in sich selbst, das reine,
formenfreie Sein göttlicher Einheit.

Nichts anderes als Eckhart sagt es auch der Mystiker Angelus Silesius, wenn er im
Cherubinischen Wandersmann darauf besteht, dass man das Erleben dieser anderen
Wirklichkeit nicht herbeizwingen könne. Im Sichverlieren in die Dinge strömt sie
ein, doch verweigert sie sich, sobald man nach ihr greift, um sie »dingfest« zu
machen.

GOtt ist ein lauter nichts / Jhn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach Jhm greiffst / je mehr entwird Er dir.

Nikolaus von Kues meint dasselbe in anderer Ausdrucksweise:

84
Zu Dir, Gott, der du die Unendlichkeit bist, kann nur derjenige herantreten,
dessen Vernunft im Nichtwissen ist, d. h., der weiß, dass er, was dich betrifft,
ein Nichtwissender ist. [...] Gerade weil du die Unendlichkeit bist, weiß die
Vernunft um ihr Nichtwissen. De visione dei, cap. 13, n. 52,11–13.

85
Zwischen Anfang und Ende
Unsere Bilder versagen nicht nur an den beiden Raumextremen des Größten und
Kleinsten, also des Mikro- und Makrokosmos, der für uns in Wahrheit eben nicht
ein Kosmos – etwas Wohlgeordnetes – ist, sondern eine Terra incognita jenseits
der von unseren Bildern allein erreichbaren Mittleren Welt. Sie versagen mit gleich
augenfälliger Evidenz an den beiden Zeitextremen eines angenommenen
Beginnens und Endens. Die Inder haben sich die große Weltgeschichte als ein
dauerndes Auf und Ab von Weltentstehung und Weltuntergang vorgestellt. So
haben sie das Problem des Beginns umgangen. Denn jeder Beginn löst die Frage
aus, was denn vor diesem Zeitpunkt lag. In der Mittleren Welt unserer
Alltagserfahrung gibt es vor jedem Geschehen stets auch ein anderes Geschehen.
Ein absoluter Beginn ist deshalb in dem von uns besiedelten Zeit- und
Raumkontinuum ebenso unvorstellbar wie dessen Gegenteil: ein absolutes Ende.
Indem sie das eine Problem beseitigten, haben die Inder sich freilich ein anderes
aufgehalst. Denn nun müssen sie eine ewige Welt annehmen. Die Skala der Zeit in
beiden Richtungen ist dann ja offen und unbegrenzt. Die Ewigkeit aber liegt
unserer Vorstellungskraft nicht weniger fern. Auch sie ist nicht in unserer
Erfahrung verankert. Wie immer wir die Frage der Zeit im Hinblick auf die Welt
angehen, unsere Bilder verlieren hier ihre Tauglichkeit.
Denn menschliche Vorstellung, die sich so problemlos auf die Mittlere Welt
anwenden lässt, sieht sich mit dem eigenen Versagen sofort konfrontiert, wenn sie
sich über deren Grenzen hinauswagt. Das gilt für die beiden Enden auf der Skala
der Zeit ebenso wie für die beiden Extreme des Raums. Im unendlich Kleinen
versagt unsere Anschauung ebenso wie im unendlich Großen. Wir erleben es als
geradezu qualvoll, unsere Vorstellung an einem Raum ohne Grenzen erproben zu
müssen. Was kommt jenseits dieser Grenze und dann noch weiter und immer
weiter? Solche Versuche erschüttern uns. Sie bringen uns die Begrenztheit unserer
geistigen Vermögen angesichts einer Wirklichkeit zu Bewusstsein, für deren
Verstehen sie nicht gemacht sind.
Anders gesagt, beim Verlassen der Mittleren Welt stoßen wir auf das
Undenkbare: die Grenzen unserer Vorstellungskraft und unserer Vernunft. Schon
vor uns stießen die Menschen aller Epochen und Kulturen darauf - und reagierten
darauf auf je eigene Weise. Die Grenze verläuft dabei zwischen Machtreligion und
Machtwissenschaft einerseits und kritischem Denken und Mystik auf der anderen
Seite. Die ersten versuchten stets das Undenkbare zu verdrängen oder - wenn ihnen
das nicht gelang - es scheinbar zu domestizieren und so umzudeuten, dass es nicht
als eigenes Nichtwissen erscheint. Mythos und Scheinerklärungen hatten
Antworten zu geben, die weiteres Fragen abstellen sollten. Scheinlösungen wie die
vom gekrümmten Raum übernehmen in unserer Zeit exakt dieselbe Funktion. Um
uns vor dem Zustand von Schwindel und Desorientierung zu schützen, in den wir
bei der Vorstellung eines grenzenlosen Raums unweigerlich geraten (mehr noch
als bei der Vorstellung einer Zeit ohne Grenzen), sprechen wir von seiner
Krümmung, die wir mit der Grenzenlosigkeit auf der Oberfläche einer Kugel

86
vergleichen - eine Vorstellung, die uns augenblicklich beruhigt, weil sie ein
vertrautes Bild der Mittleren Welt beschwört. Die Unendlichkeit einer
Kugeloberfläche hat nichts Verwirrendes und Desorientierendes, sie ist in
Wahrheit anschauliche Endlichkeit. Mit einem mentalen Trick haben wir uns vor
der Erschütterung durch das Undenkbare bewahrt.
Die Physiker vermeiden es, sich mit ihren Gedanken so weit ins
Grundsätzliche zu verlieren (auch das eine Reaktion auf Desorientierung). Sie
halten sich an ihre Beobachtungen und die daraus gewonnenen Daten. Diese allein
sind allerdings schon aufregend genug. Man ist nämlich auf das verblüffende
Faktum gestoßen, dass die erkennbare Ordnung (die Struktur der Naturgesetze)
sich nicht erst an den Rändern von Raum und Zeit auflöst, sondern schon inmitten
des von uns überschaubaren Raum-Zeit-Kontinuums selbst. Es gibt kuriose Stellen
in dem mit uns zeit- und raumgleich existierenden Universum, wo dessen überall
sonst vorherrschenden Eigenschaften – jene, die wir leichtfertig als ewig und
unverbrüchlich bezeichnen – keine Geltung besitzen. Inzwischen reden die
Astrophysiker ziemlich unbekümmert von »Singularitäten« in der Natur, d.h. von
einzelnen Punkten, in denen alle aus der Mittleren Welt bekannten Ordnungen ihre
Geltung einbüßen.
1994 ist es mit Hilfe des Hubble Raumteleskops gelungen, die Existenz eines
gewaltigen schwarzen Lochs im Zentrum der M87-Galaxie zweifelsfrei
nachzuweisen. Im Hinblick auf seine Masse entspricht dieses Loch der unfassbaren
Menge von nicht weniger als zwei bis drei Milliarden Sonnen. Im Inneren eines
derartigen Lochs stürzen demnach Stoffmengen zusammen, welche für eine ganze
Milchstraße ausreichen würden. Das bestürzende Paradox aber liegt darin, dass
diese Mengen de facto verschwinden, denn sie verdichten sich zu etwas
Geringerem als einem Stecknadelkopf, nämlich einem dimensionslosen Punkt.
Milliarden von Sonnen, die eine ganze Milchstraße füllen, verwandeln sich
demnach in ein raumloses Nichts. Das ist nicht weniger als eine eklatante
Verletzung aller sonst von uns in der Mittleren Welt beobachteten
Ordnungsstrukturen. Es ist eine Aufhebung genau jener Gesetze, die eine frühere
Wissenschaft als überall und ewig gültig vorausgesetzt hatte.[39] Die vermeintliche
Homogenität des Raums und der Zeit ist mit Löchern punktiert – mitten im
Gewebe der Gesetzhaftigkeit.
In dieser Durchbrechung der für uns normalen Gesetze der Mittleren Welt
liegt der Grund für die seltsame Benennung als einzigartige Stellen oder
»Singularitäten«. Wie einzigartig diese Stellen jedoch tatsächlich sind, ob die
Natur sich also gewöhnlich gerade an jene Regeln hält, die uns zufällig aus der uns
zugänglichen Mittleren Welt besonders bekannt sind, oder ob sie im Rest des
Universums ganz andere oder überhaupt keine von uns darstellbaren Regeln besitzt,
darüber lässt sich nur spekulieren. Der Begriff der Singularitäten drückt bereits
eine Voreingenommenheit unsererseits aus. Wir glauben, dass die Natur sich
derartige Ausrutscher nur ausnahmsweise erlaube, uns aber im Übrigen ein Gesicht
zuwendet, das auf unser Erkenntnisvermögen Rücksicht nimmt. Deshalb drücken

87
wir eben auch unser Befremden aus, wenn sie nicht länger jenen Ordnungen
»gehorcht«, die wir ihr von Ewigkeit an und überall zuschreiben wollten. Doch
haben wir damit im Grunde nur das uns Erreichbare und Vertraute zur Regel
erklärt. Auch das ist eine Art Anthropomorphismus: Die verstehbare Mittlere Welt
verwechseln wir mit Welt überhaupt. Alles weist jedoch darauf hin, dass Atom-
und Astrophysik sich darauf gefasst machen müssen, jenseits der Mittleren Welt
immer häufiger auf Singularitäten zu stoßen, so dass ihre »Bilder« allmählich
verblassen, bis sie schließlich überhaupt unbrauchbar werden.
Kritische Wissenschaft, als dessen ersten großen philosophischen
Repräsentanten ich Immanuel Kant betrachte, hat immer schon offen zugegeben,
dass ihre Begriffe an den beiden Rändern der Mittleren Welt versagen. Das
Problem der Unendlichkeit war ja schon immer unlösbar, noch bevor die Physik
auf Quanten und Schwarze Löcher stieß. Die kritische Wissenschaft hat keine
Schwierigkeiten damit, die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis offen
einzugestehen. Sie weiß um die Schranken unseres wissenschaftlichen Begreifens
und unserer Herrschaft über die Welt. Nur Machtwissenschaft, deren heutiger
typischer Repräsentant ein Richard Dawkins ist, besteht darauf, dass alle Rätsel
grundsätzlich gelöst werden können oder schon gelöst worden sind. Die
begreifliche Euphorie über einen bedeutenden Erkenntnisgewinn, wie er in der
Biologie aufgrund der Entdeckungen des genetischen Codes möglich war, macht
diesen Wahn erklärlich, ohne dass freilich die ihm zugrunde liegende Blindheit
dadurch entschuldbar wird.

88
Rückblick (metaphysische Wissenschaft):
Kritisches Denken ist nicht erst eine Fähigkeit, die mit der modernen Wissenschaft
zum Durchbruch gelangte. Wir wissen, dass die Menschen vor zehntausend Jahren
genetisch mit uns identisch waren. Ihr Denkvermögen war nicht weniger
ausgebildet als das unsrige heute. Genauso wie wir stießen sie auf das Paradox und
die Undenkbarkeit, sobald sie versuchten, die Welt der Vernunft zu unterwerfen.
Gewiss, eine durch Wissen und Können immens fortgeschrittene Naturerkenntnis
ermöglicht uns heute, die Grenzen der Denkbarkeit viel präziser zu lokalisieren. In
diesem Sinne versuche ich hier, die Bruchlinien einer dreifach verschachtelten
Welt nachzuzeichnen. Doch das ändert nichts daran, dass unsere Ahnen vor
dreitausend Jahren schon dasselbe Erstaunen vor einer Welt verspürten, die der
Ratio nur teilweise zugänglich ist. Und sie haben ihre Erschütterung auch auf
wunderbare Weise in dem berühmten Schöpfungslied des Rigveda in Worte
gegossen.

Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein,


Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. –
Wer hielt in Hut die Welt, wer schloss sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?

Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,


Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das Eine, außer dem kein andres war.

Als quer hindurch sie ihre Messschnur legten,
Was war da unterhalb? und was war oben? –
Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,
Selbstsetzung drunten, Angespanntheit droben.

Doch, wem ist auszuforschen es gelungen,


Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
Wer sagt es also, wo sie hergekommen? –

Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,


Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
Der weiß es! – oder weiß auch er es nicht?

Hier spricht nicht Mystik, sondern kritisches Denken vor Aufkommen der
Wissenschaften. Das Denken erkennt seine Grenzen angesichts jener Fragen,
womit es den Bereich der Mittleren Welt überschreitet. Ohne dieses kritische

89
Denken, das unmittelbar das Tor zum Geheimnis öffnet, würde Mystik sich nicht
entwickelt haben.

90
Mitten im Alltagsgeschehen
Die Bekanntschaft mit den Singularitäten der Physik ist insofern bemerkenswert,
als das Undenk- und Unvorstellbare – z. B. ein dimensionsloser Punkt, der
unendlich viel Masse besitzt – uns bereits innerhalb der Mittleren Welt begegnet,
dort also, wohin uns unsere Instrumente und unsere Beobachtung noch sicher
geleitet. Wir müssen also gar nicht bis an die Grenzen von Raum und Zeit
vorstoßen, um die Konfrontation mit dem Undenkbaren zu erleben. Für die
intuitive Vernunft, jenes Wirklichkeitsverständnis also, das nicht von
ideologischen Vorurteilen verbogen wird, stand dies freilich immer schon fest.
Tatsächlich begegnen wir dem Ende der erkennbaren Ordnung schon mitten im
Alltagsleben. Obwohl wir diese Einsicht normalerweise verdrängen, ist dieses voll
von »Singularitäten«, d. h. von Ereignissen, die für uns unerklärbar sind und es
auch bleiben.
Nehmen wir als Beispiel ein so alltägliches Ereignis wie einen Autounfall auf
der Kurve einer eisglatten Straße. Wir wissen, dass es zu dem Weggleiten des
Autos und dem Zusammenstoß mit dem entgegenkommenden Fahrzeug nur
deswegen kam, weil eine bestimmte Temperatur unterschritten wurde und
Leitungswasser aus einem geplatzten Rohr über die eiskalte Straße floss. Die
Straßenkälte war die Ursache für das sofortige Gefrieren des Wassers. Soweit
haben wir es mit kausalen Linien zu tun, die den wiederhol- und dadurch auch
erklärbaren Aspekt des Geschehens erhellen. Doch nur dies und nicht mehr wird
durch das Kausalverhältnis beschrieben. Die Tatsache, dass Materialermüdung
gerade in diesem Moment das Platzen eines Wasserrohres zur Folge hatte, hängt
von atomaren Vorgängen ab, deren zeit-räumliche Koinzidenz nur in weiten
Grenzen bestimmt werden kann. Die Tatsache, dass gerade an jenem Abend die
Temperatur unter den Nullpunkt geriet, wird von komplex vernetzten Faktoren
bestimmt, möglicherweise dem Flügelschlag eines Schmetterlings über Ulan Batur,
der eine veränderte Großwetterlage auslöste. Die Tatsache endlich, dass der Fahrer
gerade zu jener Stunde den Wagen über dieses Stück Straße lenkte, geht zwar auf
einen Entschluss zurück, der durch einen Streit mit seinem Chef ausgelöst wurde,
aber in gleichartigen früheren Situationen hatte er sich stets anders verhalten, so
dass ein ursächliches Verhältnis daraus nicht ableitbar ist. Mit anderen Worten, die
wenigen Schnittlinien der Notwendigkeit, wie sie durch das Gefrieren von Wasser
und das Ausgleiten des Fahrzeugs auf einer eisglatten Kurve gegeben sind, sagen
überhaupt nichts darüber aus, warum gerade dieses Fahrzeug mit diesem Fahrer in
diesem Moment einen derartigen Unfall erleiden musste. Unbegrenzt viele
Ereignisse hätten stattdessen ebenso eintreten können – und mit gleichem Recht
oder Unrecht hätten wir jedes von ihnen für gleich gut erklärt gehalten, weil die
Lücken der Notwendigkeit ausreichend groß sind für eine faktisch unbegrenzte
Zahl von Alternativen.
In jedem Momente ereignen sich also zahllose konkrete Ereignisse in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft - ein Autounfall, ein Waldbrand, eine Hochzeit
zwischen zwei Menschen aus unserer Bekanntschaft - die wir nicht in dem Sinne

91
zu erklären vermögen, dass wir sie voraussagen könnten. Auch wenn zahllose wohl
bekannte Gesetze an ihrem Zustandekommen mitgewirkt haben, reicht dies doch
keineswegs aus, um daraus ihr tatsächliches Eintreten abzuleiten. Jedem dieser
konkreten Ereignisse stehen vielmehr unzählige andere Möglichkeiten zur Seite,
deren Eintreten wir für ebenso natürlich, einleuchtend oder gar notwendig gehalten
hätten. Wir sind nicht nur faktisch sondern prinzipiell außerstande, irgendein
Ereignis vorherzusagen, das nicht wie die Beschleunigung eines fallenden Steins
oder das Kochen von Wasser rein gesetzmäßig verläuft, also eine bloße
Wiederholung isolierter Geschehensabläufe unter gleichartigen Bedingungen ist.
Anders gesagt, unsere Voraussagen können sich immer nur auf
Ereignisstränge oder wiederholbare Geschehensabläufe beziehen. Nur im Hinblick
auf diese können wir von gesetzmäßigen Abläufen sprechen. Solche Abläufe
bilden allerdings nur einen Bruchteil jener komplexen Ereignisse, die wie der
genannte Autounfall in unserer Umgebung täglich geschehen, und die zwar in
vielerlei Einzelsträngen mit Gesetzmäßigkeit verknüpft sind, aber in ihrem
konkreten Gesamtbild durch diese Gesetzmäßigkeiten weder erklär- noch
vorhersehbar sind. Dem intuitiven Wissen war das von jeher bekannt, nur die
vorwissenschaftliche Magie (vgl. S. 36) früherer Zeiten ebenso wie die
Machtwissenschaft unserer Epoche hat diese elementare Wahrheit zu verdrängen
vermocht.

Das Neue
Viele Ereignisse geschehen nicht »zufällig« sondern werden durch unser bewusstes
Planen herbeigeführt, sind also das Resultat unserer von keiner Gesetzmäßigkeit
erfassbaren Freiheit. Diese Freiheit bringt das Neue hervor, sie bildet damit eine
der Triebkräfte der Evolution, d. h. der bewussten oder unbewussten Veränderung
der uns umgebenden Welt. Es sind nicht die von uns gefundenen Gesetze, sondern
es ist unsere Freiheit bei der Anwendung dieser Gesetze, die das Antlitz des
Planeten zum Guten und Schlechten innerhalb von nur zwei Jahrhunderten bis zur
Unkenntlichkeit neu zu gestalten vermochte. Der Mensch ist eine der wirksamsten
Triebkräfte der Evolution, aber niemand hätte vor dreihundert Jahren voraussehen
können, wie diese konkret aussehen würde. Und wir selbst haben heute keine
Vorstellung davon, in welchem Zustand der Planet und wir selbst uns nach
weiteren dreihundert Jahren befinden werden. Schon hier, mitten im Zentrum der
Mittleren Welt, bei der Voraussage der von uns selbst bewirkten Veränderungen
versagt alle wissenschaftliche Erklärung.
Unser eigener Standpunkt im Hier und Jetzt ist in dieser Hinsicht nicht
privilegiert. Gegenwart wechselt je nachdem, auf welchem Punkt der Zeitskala ein
Beobachter sich gerade befindet. Nehmen wir an, eine wie immer verkörperte
Intelligenz hätte ihren Beobachtungsposten kurz nach dem sogenannten »Urknall«
beziehen können, als ihr die Materie nur mit den Eigenschaften des Plasmas

92
bekannt sein konnte. So groß diese Intelligenz auch gewesen wäre, hätte sie aus
diesen Eigenschaften doch die Entstehung des Periodensystems mit seinen 118
chemischen Elementen keineswegs vorhersagen können, ebenso wenig wie aus der
Existenz der Elemente die konkrete Bildung von Sternen und Planeten.[40] Das
Spätere ist im Früheren nicht angelegt, es ist daher aus diesem auch nicht
abzuleiten. Der jeweils vorangehende Zustand erlaubt nicht mehr als eine
Extrapolation der in ihm herrschenden Regelmäßigkeiten und genau deshalb bleibt
alles Übrige: das Neue, aus ihm unableitbar und unvorhersehbar. Deswegen konnte
auch aus dem Zustand eines »toten« Planeten nicht abgeleitet werden, dass darauf
irgendwann einmal Leben entstehen würde. Aus der bloßen Kenntnis des
biologischen Lebens wiederum lässt sich die Entstehung von Gefühlen nicht
ableiten und darauf aufbauend ebenso wenig die des Bewusstseins etc. Der
Baukastentraum einer reduktionistischen Wissenschaft, die immer wieder
versuchte, aus der Vergangenheit die Zukunft und aus Teilen das Komplexe
herzuleiten bzw. umgekehrt dieses auf jenes zu reduzieren, musste an dieser
Aufgabe immer von neuem scheitern.[41]
Mit anderen Worten, die Evolution der unorganischen und organischen Welt
weist zwar in jeder Epoche des Werdens eine unüberschaubar große Zahl sich
wiederholender Abläufe auf, die sich in Gestalt von Gesetzen beschreiben lassen,
aber zur gleichen Zeit gibt es eine unendliche Zahl von sich nicht wiederholenden
Abläufen, die jeweils das konkret Neue und die Einzigartigkeit einer Epoche
ausmachen. Diese aber stellen sich unserer Erkenntnis als Zu-Fälle dar, d. h. sie
stehen außerhalb unserer Erkenntnis. Die eigentliche Entwicklung, das
Fortschreiten zum Neuen, nie Dagewesenen ist für uns schlicht undenkbar. So wie
wir nicht wissen können, wie die Welt in einer Million Jahren aussieht - abgesehen
von jenen großen Konstellationen der galaktischen Entwicklung, die schon seit
vielen Millionen Jahren einem bestimmten Regelmaß folgen – so wenig hätte die
wissenschaftliche Intelligenz derartige Zukunftsprognosen von irgendeinem
beliebig gewählten Punkt auf der Zeitskala aus anstellen können. Der
Baukastentraum der Wissenschaft war ein unrealisierbarer Wahn.
Für die Erkenntnis des Hier und Jetzt ist diese Einsicht von zentraler
Bedeutung. Wir wissen unendlich vieles über den konkreten Verlauf unserer
näheren Zukunft. Im Großen und Ganzen wissen wir heute schon darüber bescheid,
wie der Verkehr, die Wirtschaft, die Bildung, die Energieversorgung der nächsten
Jahre aussehen wird. Nur weil die Zukunft als Extrapolation aus der Vergangenheit
für unsere Zwecke weitgehend berechenbar ist, können wir uns auf sie einrichten
und in ihr weiterleben. Genau so weit reicht damit auch unsere Herrschaft. Doch
zur gleichen Zeit wissen wir, dass diese Zukunft in gleichem Umfang ungewiss ist.
Kriege und Wirtschaftszusammenbrücke, Seuchen, der Kollaps der Natur und
andere noch nicht einmal geahnte Katastrophen, aber auch unvorhergesehene
Aufschwünge, Entdeckungen usw. können von einem Moment auf den anderen in
unser Leben eingreifen und es radikal verändern. Die letzten zweihundert Jahre
Menschheitsentwicklung mit ihren zahlreichen unvorhergesehenen Entdeckungen

93
und technologischen Durchbrüchen liefern dafür wohl den überzeugendsten
Beweis überhaupt. Die generelle Unmöglichkeit, die Zukunft durch die
Vergangenheit zu bestimmen, ist wie im Brennspiegel auch im Hier und Jetzt zu
erkennen.
Die Undenkbarkeit des zufallenden Neuen ist also letztlich genauso tief
verankert wie die Grenzen der Erkenntnis, die ich zuvor an den Beispielen von
Raum und Zeit exemplifizierte. Dort habe ich davon gesprochen, dass wir uns
weder die Endlichkeit noch die Unendlichkeit des Raums vorstellen können und
weder einen Beginn noch ein Ende der Zeit. Wie schon Kant bewies, gerät unser
Denken dabei jedes Mal in unaufhebbaren Widerspruch zu sich selbst. Aber so
geht es uns auch, sobald wir die Entstehung des Neuen ins Auge fassen. Wir
können uns weder vorstellen noch denken, dass das Zukünftige nicht im
Vergangenen angelegt sei. Woher soll es kommen, wenn nicht aus der
Vergangenheit? Aus der Mittleren Welt sind wir daran gewöhnt, das Heutige aus
dem Gestern herzuleiten.
Andererseits gibt es für unser Denken aber nicht den geringsten empirischen
Anhaltspunkt, dass eine solche Ableitung des Neuen tatsächlich möglich ist. Selbst
wenn wir die Eigenschaften des Plasmas kurz nach dem Urknall im Hinblick auf
sämtliche empirisch überhaupt feststellbaren Eigenschaften aufs Genaueste
untersuchen, finden wir darin nirgendwo einen Hinweis auf alles das, was aus
diesen Bausteinen einst werden sollte: z. B. Kanarienvögel, Menschen,
Bewusstsein und Dantes Divina Commedia.
Und es nützt uns auch nichts, dass wir eine andere Perspektive beziehen,
indem wir zum Beispiel zwischen einem materiellen Grundsubstrat und einer es
jeweils in bestimmte Formen verwandelnden Information unterscheiden. Die
kosmische Evolution würde sich uns dann als ein Prozess ständig komplexerer und
neuer Information darstellen. Doch das Problem würde im Wesentlichen
unverändert bleiben. Auch in diesem Fall wäre es uns unmöglich, aus kurz den
nach dem Urknall vorhandenen Informationen die späteren komplexen
Informationsstrukturen zu erschließen.
Anders gesagt, wir wissen zwar mit größter Gewissheit, dass das Spätere aus
dem Früheren hervorging. Aber wir können weder sagen, dass die kommende Welt
im Kleinsten und Frühesten schon enthalten sei noch ergibt es einen Sinn für
unsere Erkenntnis, das Gegenteil zu behaupten, nämlich dass alles Neue aus dem
Nichts entspringe.[42] Denn was ist dieses Nichts? Wieder stoßen wir auf die
Barriere der Undenkbarkeit.
Und wir begegnen auch hier wieder genau jener Formel, welche die Mystik
schon seit frühester Zeit für das Unbegreifbare fand. Es ist weder das eine noch
das andere, weder dieses noch jenes. Wie immer wir uns die Entstehung des
Neuen, z. B. die kosmische Evolution, auch vorzustellen versuchen, jedes Mal
gerät die Vernunft an unüberwindbare Grenzen.

94
Rückblick (paradoxe Welt):
Das Neue ist für uns das Zu-fallende, nicht im Sinne eines ideologisch als wertlos
erklärten Zufalls, den wir mit Zufallsgeneratoren erzeugen, um uns dadurch ein
augenfälliges »Bild« von seiner Wertlosigkeit zu machen, sondern im Sinne der
Unfassbarkeit für das Denken. Wir wissen, das Neue »ist«. Es ereignet sich in
einem fort und bestimmt unsere Zukunft, aber wir können es nicht definieren, nicht
durch die Erkenntnis in den Griff bekommen. Dieser Unmöglichkeit, das für uns
Wesentliche diskursiv zu erfassen, war sich der große chinesische Mystiker
Zhuangzi (365 – 290 v. Chr.) deutlich bewusst.

Shun befragte seinen Gehilfen und sagte: »Kann man den WEG erlangen und
dann besitzen?«
»Ihr besitzt noch nicht einmal Euren eigenen Körper. Wie könntet Ihr dann
den WEG erlangen und ihn besitzen?«
»Wenn ich meinen eigenen Körper nicht besitze«, fragte Shun, »wer besitzt
ihn dann?«
»Er ist eine Form, die Euch von Himmel und Erde anvertraut wurde. Auch
Euer Leben besitzt Ihr nicht; es ist eine Harmonie, die Euch von Himmel
und Erde anvertraut wurde. Auch Eure Nachkommen besitzt Ihr nicht; sie
sind wie abgestreifte Häute, die Euch von Himmel und Erde anvertraut
wurden… Alle diese Dinge verdanken sich dem machtvollen Lebensatem
von Himmel und Erde; wie also könnten wir sie erlangen und besitzen?«

Das Neue ist natürlich nicht identisch mit demjenigen, was hier als Dao, der Weg,
bezeichnet wird, aber es ist ein Teil des großen Geheimnisses, das auch in dem
folgenden mittelalterlichen Sinnspruch aufleuchtet.

Ich komm, weiß nit woher,


ich bin und weiß nit wer,
ich leb, weiß nit wie lang,
ich stirb und weiß nit wann,
ich fahr, weiß nit wohin:
mich wundert’s, dass ich fröhlich bin.

95
Materie und Bewusstsein
Dem Hier und Jetzt stehen wir ohnmächtig gegenüber, wenn wir zu erklären
versuchen, wie es aus in seiner faktischen Komplexität aus dem Einfachsten und
Frühesten entstand, doch die gleiche Erfahrung von Undenkbarkeit machen wir
auch dann, wenn wir ein scheinbar so simples Problem wie die zeitliche Abfolge
von Geist und Materie untersuchen. Auf den ersten Blick scheint hier alles
offensichtlich zu sein. Die Materie steht in der Entwicklung am Anfang, der Geist
trat irgendwann ganz am ihrem Ende in Erscheinung, noch eine ganze Zeit später
als das Leben, das sich selbst als eine Späterscheinung der kosmischen
Entwicklung manifestiert.
Doch so einfach liegen die Dinge nur für den Empiriker, der seinen Blick eng
an die Tatsachen heftet, ohne nach den Bedingungen zu fragen, welche die
Tatsachen und der Blick selbst zur Voraussetzung haben. In dem Augenblick, wo
diese tieferen Bedingungen in den Lichtkegel der Betrachtung rücken, verändert
sich die Perspektive auf grundlegende Weise. Existiert Materie auch ohne ein
Bewusstsein, in dem sie sich spiegelt? Die Antwort auf diese scheinbar einfache
Frage ist viel schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar bereitet uns die
Vorstellung wenig Mühe, dass das eigene Bewusstsein schwindet und mit dem
Tode aller anderer Menschen sukzessive auch jedes weitere Bewusstsein. Dann
bliebe, so könnten wir meinen, eine Welt zurück, die existiert, obwohl es
niemanden gibt, der diese Existenz registrieren könnte. Genau dies ist auch die
Auffassung der Physik, wenn sie davon spricht, dass Milliarden von Jahren seit
Entstehen des Universums bis zu dem Zeitpunkt vergangen sind, als Leben und
später auch Bewusstsein entstanden.
Doch brauchen wir uns nur das Problem der Zeit vor Augen zu führen, um
die Naivität eines solchen Standpunktes aufzudecken. Was wir als Entwicklung, z.
B. die Entwicklung des Kosmos, bezeichnen, setzt ein Bewusstsein von Zeit
voraus. Zeit aber besteht in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, d. h. in den
Fußabdrücken, welche verschiedene Zustände in einem Bewusstsein erzeugen. Die
Frage, ob es Zeit auch außerhalb eines Bewusstseins gibt, lässt keine vernünftige
Antwort zu. Denn wenn wir etwa behaupten, dass die Welt auch ohne die
Beobachtung lebender Wesen vorhanden sei, dann sagen wir letztlich ja nur, dass
sie weiterhin von irgendeinem anderen Bewusstsein als existent erlebt, gesehen
oder aufgefasst wird. Einen anderen als diesen Sinn können wir unserer
Behauptung nicht geben. Mit anderen Worten, wir setzen immer und notwendig
die Existenz eines Bewusstseins voraus: »esse est percipi« (Sein ist
gleichbedeutend mit Wahrgenommenwerden), so drückte es schon der irische
Theologe und Philosoph George Berkeley (1685 - 1753) aus.[43]
Im sogenannten anthropischen Prinzip, das zuerst 1973 von dem
Mathematiker Brandon Carter aufgestellt wurde, wird dieser Faden noch etwas
weiter und fester gesponnen. Was der Ire Berkeley als grundlegende Einsicht
aufgestellt hatte: Keine Welt ohne einen Beobachter, der ihre Existenz registriert,
das wird im anthropischen Prinzip der Physiker auf einer Ebene vertiefter

96
Konkretheit gestellt. Allerdings verläuft der Blick nicht wie bei Berkeley vom
Beobachter zum Beobachteten sondern in umgekehrter Richtung. Der Physiker
geht von der Welt aus, um von ihr zum Beobachter zu gelangen. Die Welt muss so
beschaffen sein, formuliert es das anthropische Prinzip, dass es in ihr überhaupt
Menschen wie uns geben könne, Menschen, die sie wahrnehmen und beschreiben.
Sie muss also bestimmte physikalische und chemische Voraussetzungen besitzen,
damit wir, die Beobachter, in ihr überhaupt zu existieren vermögen und sie
dadurch zum Gegenstand für unsere Beobachtung wird. Doch diese Umkehrung
der Perspektive, die nur das uralte Problem der Priorität von Henne oder Ei
aufwirft, ändert nichts an der grundlegenden Einsicht, dass es offenbar einen
notwendigen Zusammenhang von beobachteter Welt und Beobachter gibt.
Doch auch mit dieser Einsicht haben wir das Problem keinesfalls
abschließend gelöst. Denn die Existenz dieser Welt hängt, wie schon gesagt,
gewiss nicht von irgendeinem bestimmten Bewusstsein ab. Wie schon gesagt,
können wir uns mühelos vorstellen, dass wir selbst und jeder andere Mensch oder
auch jedes andere uns bekannte Bewusstsein verschwindet, ohne dass die Existenz
der Welt durch diese graduelle Verminderung in Nichtsein umschlagen würde. Mit
anderen Worten, es macht keinen Sinn, sich Existenz ohne Bewusstsein
vorzustellen, es macht aber ebenso auch keinen Sinn, bei der sukzessiven
Ausscheidung irgendwelcher bestimmter Beobachter an irgendeinem Punkt
stillzustehen. Wiederum stoßen wir auf ein unüberwindbares Paradox – auf
Undenkbarkeit.[44] Wir stehen vor einem Problem, für das es keine abschließende
Lösung gibt.
Allerdings, in der von uns überschaubaren Mittleren Welt brauchen wir uns
um dieses Paradox nicht zu kümmern. Wir können es sogar ganz übersehen, wie es
der Großteil der Menschen einschließlich der Wissenschaft tut. Virulent zum
Vorschein gelangt es nur dann, wenn wir mit unseren Fragen über die Grenzen der
Mittleren Welt hinausgelangen. Kaum stellen wir die Frage nach Geist und Materie
im Hinblick auf die Welt überhaupt, stoßen wir erneut an die Grenzen unserer
Erkenntnis.

97
Real oder ideal?
Und dieses Paradox begleitet uns auch dann, wenn wir uns das Problem nicht in
der zeitlichen Perspektive des Vorher und Nachher vor Augen führen, sondern in
der räumlichen des Innen und Außen, wie es uns der Idealismus vor Augen führt.
Stimmt es, dass die Welt außerhalb meines Körpers real und wirklich vorhanden ist,
also so wie es der naive und gesunde Menschenverstand intuitiv voraussetzt und
der Realismus zur philosophischen Wahrheit erhebt? Oder beruht diese
Vorstellung auf einer naiven Täuschung, weil die Welt immer nur als ein Abdruck
in meinem Gehirn existiert – dies die Auffassung des Idealismus? Der Kampf
zwischen beiden Positionen hat die besten Geister über Jahrhunderte beschäftigt.
Selbst Naturwissenschaftler, die gewöhnlich die handfeste Perspektive der realen
Wirklichkeit beziehen, gerieten ins Zweifeln, wenn sie sich, wie es etwa Erwin
Schrödinger tat, mit diesem Problem befassten.[45] Immer wurde versucht, eine
Antwort im Sinne der einen oder der anderen Alternative zu geben. Dabei lag der
Realismus der naiven und der naturwissenschaftlichen Auffassung näher, während
der Idealismus seit Kant unter den Philosophen und Geisteswissenschaftlern die
größere Gefolgschaft besaß.
Immer wurde dabei eine andere Position fast ganz übersehen, nämlich die,
dass das Problem grundsätzlich unlösbar sein könnte, weil wir an die Grenze des
Denkbaren stoßen. Tatsächlich, können wir den Begriff des »Innen« nicht denken,
ohne ein »Außen« vorauszusetzen – und genauso verhält es sich umgekehrt. Auf
diese gegenseitige Bedingtheit sind wir schon im Verhältnis von Freiheit und
Notwendigkeit gestoßen. Wenn der Idealist deshalb behauptet, dass »im Grunde«
die Wirklichkeit nur als Bild in einem Bewusstsein vorhanden sei, also immer nur
innerhalb eines Menschen, so leugnet er nachträglich, was er zuvor wie jeder
andere als selbstverständlich vorausgesetzt hatte, nämlich dass es ein Außen zu
diesem Innen gibt. Die Behauptung, dass Wirklichkeit nur innen geschehe, setzt
dieses Außen zwangsläufig voraus. Andererseits können wir natürlich durchaus
behaupten, dass der Gegensatz von Innen und Außen selbst nur ein solcher unseres
Bewusstseins sei, dass also alles Wahrnehmen, alles Denken und Fühlen nichts als
Bewusstsein sei, das sich selbst die Pole von innen und außen erdenkt. Dann aber
haben wir wieder einen Teil der Wirklichkeit, den wir intuitiv als
selbstverständlich vorausgesetzt haben, im Nachhinein ausgeschlossen, diesmal
nämlich die reale Welt als Gegenstand unseres Bewusstseins. Genauso wie wir
vorher künstlich das Außen verdrängten, weil wir alles zu einem Innen erklärten.
Wie wir es auch drehen und wenden mögen, die Welt existiert zwar für uns
nur in unserem Bewusstsein, aber der Idealismus ist damit durchaus nicht bewiesen.
Und andererseits zweifeln wir in unserem praktischen Leben zwar keinen
Augenblick an ihrer konkreten Realität, aber der Realismus ist deswegen noch
längst keine etablierte Wahrheit. Beide Positionen sind in sich schlüssig und doch
stoßen wir hier erneut auf Undenkbarkeit, weil keine unabhängige Instanz existiert,
die das Problem für uns entscheiden könnte. Alle Ideologien der Macht,
gleichgültig ob von religiösen oder wissenschaftlichen, manchmal auch

98
philosophischen Körperschaften aufgestellt und verteidigt, haben sich darum
bemüht, fertige Lösungen anzubieten, um die Welt zu vereinfachen. Nur das
kritische Denken schreckt nicht davor zurück, auf dem Wege des Denkens die
Grenzen des Denkens aufzuzeigen.

99
Rückblick (weder dieses noch jenes):
Alles was die diskursive Vernunft über die höchste Realität und ihr Wesen sagt,
alle Bilder, in denen sie diese verehrt, gehen letztlich an ihr vorbei, in Wahrheit ist
sie weder dieses noch jenes (neti, neti). In diesem Sinne heißt es in der Ārsheya-
Upanishad:

Und Vasishtha überlegte bei sich und sprach: »Dasjenige, von dem sie sagen:
›es ist nicht so, es ist nicht so‹ (neti, neti), das ist das Brahman. Dieses
Brahman ist der Atman, ohn' Ende, ohne Alter, ohne Ufer…

Alle Bestimmungen dieser höchsten Realität können nicht mehr sein als
unpassende Bilder, die wir aus uns selbst und unserer Außenwelt schöpfen. Darauf
laufen auch die entsprechenden Aussagen Meister Eckharts hinaus.

Ich würde etwas ebenso Unrichtiges sagen, wenn ich Gott ein Sein nennte,
wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte. Gott ist weder
dies noch das.

In solchen Aussagen bewegt sich die Mystik auf zwei verschiedenen Ebenen. Auf
der einen schließt sie sich der kritischen Wissenschaft an und gelangt dabei zu
einer rein negativen Feststellung: Vernunft ist jenseits der eigenen Grenzen zur
Ohnmacht verdammt. Sie stößt auf Undenkbarkeit. Als Mystiker aber braucht der
Mensch sich nicht mit dieser Ohnmacht abzufinden. Er weiß, dass er in gewissen
Momenten eine Erweiterung seines Bewusstseins erlebt, die ihn auf eine andere
Ebene führt. Dort erhält das »neti, neti« für ihn einen anderen Sinn. Es wird für ihn
zum überwältigenden Ausdruck des Ganzen, aus einer qualvoll empfundenen
Ohnmacht gelangt er zur Fülle der Welt, die zugleich die Fülle des Göttlichen ist,
wie die Chāndogya-Upanishad es in folgender Zeile ausdrückt:

Wo einer kein andres [nichts Fremdes] sieht, kein andres hört, kein andres
erkennt, das ist die Unbeschränktheit [= Fülle].

Fülle und Leere stehen hier ganz nah beieinander, wie es Angelus Silesius im
folgenden Vers formuliert:

Man kann den höchsten Gott mit allen Namen nennen, Man kann ihm
wiederum nicht einen zuerkennen.

Die Doppelbödigkeit der Verneinung wird von Laotse gleich in den ersten Versen
des Daodejing eindringlich beschworen.

Aus dem Namenlosen sind Himmel und Erde entsprungen.

100
Damit ist von vornherein ausgesprochen, dass die diskursive Vernunft, die ohne
die Verwendung von Namen zur Blindheit verurteilt ist, dieses Geheimnis nicht zu
ergründen vermag. Sie wird nie wissen, wie und warum es zur Entstehung von
Himmel und Erde kam. Andererseits ist der Mensch sich der Fülle von Himmel
und Erde in jedem Moment seines Lebens bewusst: Sie liegen ihm ja sichtbar vor
Augen.

101
Intelligent Design
Freund, es ist auch genug! Im Fall du mehr willst lesen, so geh und werde
selbst die Schrift und selbst das Wesen. Angelus Silesius

Diese Überlegungen erhalten eine besondere Aktualität, wenn wir sie auf die in
jüngster Zeit in Mode gekommenen Vorstellungen von einem »Intelligent Design«
beziehen, wonach die Evolution des Universums in all seiner Komplexität nur als
Resultat göttlicher Planung aufgefasst werden kann. Auch hier sind die
angebotenen Lösungen nur vordergründig einleuchtend und einfach. Wir wissen:
Alle Bilder, mit denen wir die Wirklichkeit erklären, stammen aus der Mittleren
Welt. Von dem, was wir in unserem Umfeld – in der uns zugänglichen Nische von
Wirklichkeit - sehen, schließen wir auf das, was wir nicht mehr sehen. Aber mit
diesem Verfahren geraten wir schnell in unwegsames Gelände. Gewiss, solange
wir in der Mittleren Welt verbleiben, haben wir keine Schwierigkeiten mit unseren
Folgerungen. So ist uns zum Beispiel klar, dass ein Gebäude von höchster
Komplexität wie etwa der Kölner Dom nicht von selbst entstanden sein kann.
Tausende Menschen haben an seiner Errichtung arbeiten müssen, doch auch ihre
Arbeit bildet nur einen Teil der Entstehungsgeschichte. Denn zusätzlich bedurfte es
noch einer planenden Intelligenz, die all diese Arbeiten lenkte. Bevor auch nur ein
einziger Stein gesetzt worden ist, musste das künftige Bild dieses Gebäudes
zumindest in seinen groben Umrissen schon als geistige Realität vorhanden
gewesen sein. Um in materieller Gestalt überhaupt entstehen zu können, musste
sich in den Köpfen einiger Menschen der Entwurf dieses Bauwerks bereits gebildet
haben.
Dieser Zusammenhang zwischen menschlichem Wollen, das sich zu einem
geistigen Entwurf konkretisiert, der dann seinerseits die Grundlage der materiellen
Verwirklichung bildet, liefert das wohl älteste Erklärungsmodell für die
Entstehung der Welt. Warum gibt es rings um uns Berge, Meere und Tiere? Die
Antwort schien nahe zu liegen, wenn der Mensch die Ergebnisse seiner eigenen
Tätigkeiten danach befragte, warum sie entstanden waren. Eine höhere Intelligenz
muss sie im Voraus geplant und daraufhin ausgeführt haben. Der Mensch wusste,
dass er selbst für das ihn umgebende Universum nicht verantwortlich war, also
mussten es Wesen sein, die ihm an Macht und Können weit überlegen waren. Er
nannte sie Geister, Dämonen oder Götter. Da die Bilder von Wollen, Planen und
Ausführen zwangsläufig der Mittleren Welt entstammten, in diesem Fall aus der
Selbstbeobachtung des Menschen, ergab es sich sozusagen von selbst, dass auch
diese höheren Wesen stark menschliche Züge aufwiesen. Man konnte sich nicht
gut ein gestaltloses Nichts als einen Planer vorstellen. Allenfalls spielte die
Phantasie mit verschiedenen Attributen aus der Mittleren Welt, um diese Gestalten
über das gewöhnliche Maß hinauszuheben: Sie stellte sich Götter mit vielen Armen,
Dämonen mit tierischen Attributen etc. vor.

102
Auch das »Intelligent Design«, die geistige Planung der Welt durch einen
christlichen oder anderen Gott, ist eine Vorstellung, die auf dieser ältesten
Analogie aus der Mittleren Welt beruht. Der Mensch als Planer und Macher
lieferte das Vorbild für übermenschliche Planer und Macher. Um diesen Ursprung
der eigenen Projektionen vor sich selbst zu verschleiern, stellte er jedoch die
tatsächliche Reihenfolge bewusst auf den Kopf, indem er behauptete, dass die
Götter den Menschen nach ihrem Vorbild erschaffen hätten.
Doch dieses Deutungsschema ist in der Geschichte menschlichen Denkens
nie unumstritten und deshalb auch nie das einzige gewesen. Denn die Entstehung
neuer und komplexer Gebilde ließ sich auch mit ganz anderen Analogien aus der
Mittleren Welt begründen. Ein Fluss trat über die Ufer und schwemmte Bäume und
Häuser fort. Die Temperatur sank ab, und aus Wasser wurde mit einem Mal Eis.
Zwei Hölzer wurden aneinander gerieben, und nach einiger Zeit wurde es so heiß,
dass Flammen aufflackern. Ein abgeschossener Pfeil grub sich in das Fleisch eines
Tieres, und dieses stirbt daraufhin. Wohin der Mensch auch blickte, es gab eine
Fülle von Erscheinungen, die ganz ohne alle planende Intelligenz nach dem
Schema einer zwangsläufigen Folge verliefen. Wollen und Intelligenz spielten
dabei offenbar keine Rolle. Wasser wurde immer zu Eis, wenn die Kälte einen
bestimmten Grad erreichte und Holz wurde immer heiß, sofern man nur lange und
stark genug rieb.
Diese Beobachtung der Geschehnisse der Mittleren Welt brachte einige
Menschen schon in der Vergangenheit auf den Gedanken, alles Geschehen einer
Notwendigkeit zuzuschreiben, die unabhängig von allem menschlichen oder
göttlichen Planen wirkte. Wir sahen, dass in Indien und ebenso in sogenannten
primitiven Gesellschaften schon früh eine Magie existierte, die ohne Götter und
Geister auskam oder diese zumindest als ohnmächtig erklärte und ganz an den
Rand des Geschehens drängte. Aus Sicht dieser Weltanschauung geschahen die
Dinge von selbst: aus eigenem Vermögen. Wie wir heute sagen würden:
mechanisch. Diese frühe Magie wurde von einigen Wissenschaftlern mit Recht als
»vorwissenschaftliche Wissenschaft« bezeichnet.[46] Sie war weltweit verbreitet,
wenn auch weniger stark als das erst genannte Bild planender Intelligenzen. So
spielte etwa bei den Griechen die Moira, die schicksalhafte Notwendigkeit, eine
besondere Rolle, denn man stellte sich vor, dass sie noch über den Göttern stand.

Hegel und Darwin – die Antipoden


Der Gegensatz zwischen den beiden geistigen Haltungen - mit vollem Recht darf
man sie als widerstreitende »Welt-Anschauungen« bezeichnen - ist mit größter
Schärfe im 19. Jahrhundert zum Durchbruch gelangt. Romantik und Idealismus
suchten nach personaler Intelligenz in der Geschichte. In Absicht und Wesen
waren beide ein Aufbegehren gegen die erdrückende Übermacht der neuen
wissenschaftlichen Welterklärung. Der Idealismus hat sich auf Dauer nicht

103
durchsetzen können, insofern ist dieses Aufbegehren gescheitert. Auch die
Romantik wurde seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts als reaktionäre
Auflehnung gegen den Geist der Wissenschaften verstanden. Dennoch standen
Philosophie, Kunst und Geschichtswissenschaft eine Zeitlang unter dem Bann
dieser Strömungen und bildeten eine breite Front gegen den entzaubernden Zugriff
der Wissenschaften. Goethe wagte es sogar, mit seiner Farbenlehre in die exakte
Wissenschaft selbst vorzudringen und sich gegen Newton zu stellen. In heutiger
Sprache lässt sich seine Absicht als der Versuch verstehen, der mechanistischen
Farbenlehre eine der geistigen Wahrnehmung entgegenzusetzen.
Der Höhepunkt dieses Bemühens wurde in Hegels »Phänomenologie des
Geistes« vom Jahre 1807 erreicht. In diesem monumentalen Werk unternahm es
der deutsche Philosoph, den Gang der Weltgeschichte auf eine radikal andere
Weise zu deuten als die zeitgenössische Naturwissenschaft, die den Geist ganz aus
der Natur vertrieb, indem sie alles Geschehen nach der berühmten laplaceschen
Formel verstand. Dieser Formel zufolge war eine ausreichend große Intelligenz im
Prinzip dazu fähig, die ganze Zukunft aus der Vergangenheit zu errechnen
(Laplace, S. 75). Alle Vorgänge der Natur ergaben sich daher als rein
mechanisches Resultat zusammenwirkender Gesetzmäßigkeiten.
Hegel legte eine ganz andere Deutung der Weltgeschichte vor. Sein
Hauptwerk, die »Phänomenologie des Geistes« enthält den Kern seiner
Philosophie bereits im Titel. Weltgeschichte wird als Aufscheinen und
Selbstverwirklichung eines übermenschlichen Geistes gesehen, und der Philosoph
beschreibt den zugrundeliegenden Logos dieses Prozesses. Geschichte stellt sich so
als der konkrete Widerschein der fortschreitenden Bewusstseinserweiterung einer
Gottheit dar, die in diesem Prozess zu sich selber findet. Weltgeschichte ist für
Hegel geistiger Entwurf – ein »Intelligent Design«, um es in heutigen Begriffen zu
sagen - so wie auch das Handeln eines Menschen von geistigen Absichten gelenkt
wird, die erst in seinem Gehirn entstehen müssen, bevor sie sich in Handlungen
materiell manifestieren.
Hegels Werk stellte bis zur Mitte des Jahrhunderts die vorherrschende
Evolutionstheorie dar. Die christliche Lehre von einem übermenschlichen
Demiurgen, der nach vollbrachter Schöpfertat weiterhin die Welt überwacht,
wurde von ihm in ein System gegossen, das das Christentum um ein neues Element
bereicherte: die Vorstellung einer Entwicklung, die bei den niedersten Stufen des
Menschseins beginnend, nämlich bei den Anfängen von individueller Moral und
kollektiven Institutionen, sich von dort zu jenem vermeintlichen Höhepunkt
weiterentwickelt, den Hegel in seiner eigenen Zeit lokalisierte.
Das neunzehnte Jahrhundert mit seinen epochalen Entdeckungen auf den
beiden Gebieten der Natur- und der Menschengeschichte war vom Gedanken der
Entwicklung geradezu besessen. Kein Wunder, dass nicht nur die Philosophie,
allen voran eben Hegel, ein System der Evolution entwarf, sondern die
Wissenschaft sich des Themas gleichfalls bemächtigte. Die Antwort der
Wissenschaft auf eine Philosophie, die das Werden der Welt als Ausfluss eines

104
göttlichen Willens verstand, konnte nichts anderes sein als eine Theorie, die genau
den entgegengesetzten Weg beschritt, indem sie sich nur auf natürliche Ursachen
und Bedingungen stützte. Im Jahr 1859 legte Darwin seine wissenschaftliche
Evolutionstheorie vor: On the origin of species.
Das Augenmerk hat sich dabei freilich verschoben. Anders als Hegel befasst
sich Darwin nicht mit der Entwicklung der Menschheit von deren Anfängen bis zur
Gegenwart; sein Blick ist zugleich enger und reicht doch gleichzeitig in größere
Tiefen. Er ist enger, weil Darwin nichts über den kulturellen Werdegang des
Menschen sagt, aber er ist tiefer, weil er bei einer Entwicklung ansetzt, die viel
älter, viel weitreichender und daher auch viel allgemeiner ist als die kurze
Menschheitsgeschichte. Der Wissenschaftler befasst sich mit der Entwicklung des
Lebens schlechthin: von den damals bekannten primitivsten Lebensformen bis zur
Auffächerung in Tausende von Arten.
Der Gegensatz zwischen den beiden Theorien der Entwicklung könnte nicht
größer sein. Für Hegel ist die treibende Kraft der Entwicklung ein überweltlicher
Gott, der dem christlichen so nahe steht, dass seine Philosophie von Seiten der
Kirchen keine Einsprüche zu befürchten hatte. Es versteht sich von selbst, dass
dieser Gott nicht nur für das höchste aller lebenden Geschöpfe, für den Menschen,
zuständig ist, sondern damit auch für alle niederen Lebewesen und natürlich für die
unbelebte Natur. Auf die Entwicklung der Arten brauchte Hegel deshalb gar nicht
besonders einzugehen. Ein Gott, der die Geschicke des Menschen lenkt, hat auch
die der außermenschlichen Natur nach seinem Willen geformt.
Weil umgekehrt der Ehrgeiz Darwins gerade darin besteht, die Geschichte
der Arten ausschließlich aufgrund von natürlichen Ursachen und Bedingungen zu
erklären, wird Gott an keiner Stelle gebraucht. Ganz so wie Hegel nicht auf die
Entwicklung der Arten braucht Darwin seinerseits nicht auf die spezielle
Geschichte des Menschen einzugehen. Für Darwin (und die Wissenschaft
überhaupt) versteht sich von selbst, dass mit der generellen Entfaltung des Lebens
aus natürlichen Ursachen und Bedingungen auch der Sonderfall menschlicher
Entwicklung auf gleiche Weise erklärt werden kann - wenn nicht heute dann mit
fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Kluft zwischen Hegel und
Darwin, d. h. zwischen der Erklärung durch einen waltenden Geist und der
Erklärung durch mechanische Ursachen, ist deshalb so tief und scheint auf den
ersten Blick auch genau deshalb so unüberbrückbar, weil die Absicht des einen
Lagers dem des anderen genau entgegengesetzt ist. Gott soll im einen Fall letzter
Erklärungsgrund sein. Natürliche Ursachen sollen seine Stelle im anderen Fall
vertreten.

Abkehr vom Design


Wenn sich der Mensch mit Hilfe der ihm geläufigen Bilder aus der Mittleren Welt
das Entstehen und das Wesen des Universums erklären wollte, so war er letztlich

105
auf diese beiden Möglichkeiten verwiesen. Materielle Notwendigkeit, die
unabhängig vom Wünschen und Wollen geistiger Wesen geschieht, oder
intelligente Planung, also ein die Welt gestaltendes Wünschen und Wollen – eine
dritte Möglichkeit kann es nicht geben. Entstehung und Bestand dieser Welt
musste man sich entweder nach der Analogie eines wirkenden Geistes denken, den
man aus der Sphäre lebender Wesen kannte, oder nach Analogie einer
mechanischen Zwangsläufigkeit, die man in der Sphäre der außermenschlichen
Natur beobachten konnte.
Weder den Menschen der Steinzeit noch uns, ihren heutigen Nachfahren,
standen andere als diese beiden einander entgegengesetzten Bilder und ihre
zahllosen Übergänge und Vermischungen zur Verfügung.[47] Die moderne
Wissenschaft hält sich in Theorie und Praxis mit größter Ausschließlichkeit nur an
die zweite der beiden Möglichkeiten, während sich die theistischen Religionen mit
gleicher Entschiedenheit zu der ersten bekennen.
Man könnte nun meinen, dass es für das Leben des Menschen ziemlich
gleichgültig sei, ob er sich ein Geschehen wie die Entstehung der Welt, das seinem
Alltag so fern liegt, so oder so vorstelle. Doch nichts wäre historisch weniger
richtig als eine solche Schlussfolgerung. Wenn er sich zu der ersten Auffassung der
intelligenten Planung bekannte, dann nahm die Welt für den Menschen Sinn und
Wärme an. So wie er selbst sich seine individuelle und soziale Existenz ersann und
dann durch sein Tun aufrecht erhielt, so hatte auch eine göttliche Intelligenz (oder
mehrere) die Welt erst geplant und dann nach ihren Vorstellungen realisiert. Da
aber eine Intelligenz auf die Regungen anderer Intelligenzen, z.B. der Menschen,
zu lauschen vermag, war es diesen dann ihrerseits möglich, durch Bitten, Opfer,
Glauben etc. auf diese höchste planende Intelligenz einzuwirken. Der Mensch sah
sich dann mit seinem eigenen kleinen Geist als mitwirkenden Teil jenes großen
Geistes, der das Schicksal der Welt beherrscht. Sinn, Zweck, Enthusiasmus – all
das findet Platz in einer Weltsicht, die daraus entstanden war, dass der Mensch das
ihm geläufigste Bilder aus der eigenen Wirklichkeit: sein eigenes Planen und
Machen und mit diesen auch seine eigene Moral, seine Wünsche und Aversionen,
zum Himmel verlagerte. Auch wenn man nicht immer so weit ging, sich die Götter
in menschlicher Gestalt vorzustellen, so waren doch zumindest ihr Denken, die von
ihnen gewünschte Moral und die von ihnen verfolgten Zwecke diesem Bild aus der
Mittleren Welt entnommen.
Dagegen ließ die Betrachtung mechanischer Notwendigkeiten keinen Raum
für derartige Entlehnungen aus der Sphäre des Menschen. Frühe Magie und
moderne Wissenschaften scheiden Fragen nach der Moral oder Sinn und Zweck
aus ihren Überlegungen aus. Sie beschränken sich ganz darauf, das Sosein der
Welt in zunehmend größerem Detail und mit wachsender Genauigkeit zu erfassen.
Sie forschen nach Regelmäßigkeiten im Geschehen der Natur und machen diese
zur Grundlage ihrer Theorien und angewandten Naturbeherrschung. Wenn alles
sich allein aus dem Wirken von Gesetzen erklären lässt, wird die Frage nach einer
planenden Intelligenz überflüssig.

106
Diese zunächst ganz negative Begrenzung verblüfft seit etwa dem 17.
Jahrhundert durch ihre ungeahnten positiven Errungenschaften, die sich schließlich
als schlechterdings sensationell erwiesen. Nicht Gebete und Opfer, sondern erst
diese desinteressierten Fragen bescherten dem Menschen eine reale, jederzeit
nachweisbare Herrschaft über die eigene Umwelt. Erst durch die Wissenschaft und
ihre praktische Nutzanwendung hat der Mensch die Bedrohung durch natürliche
Feinde beseitigt, die Sicherheit und das Ausmaß seiner Ernten um ein Vielfaches
erhöht, die meisten Seuchen besiegt und einen Großteil der Krankheiten heilbar
gemacht. Alles was der Mensch bis dahin unternommen hatte, um sich die Götter
geneigt zu machen, war in seiner nachweisbaren Wirkung auf die ihn umgebende
Natur schlechterdings null und nichtig, vergleicht man es mit den geradezu
ungeheuren und unabsehbaren Wirkungen, die der Mensch in dem Augenblick
selbst auszuüben vermochte, als er statt Gebeten seine eigene Kraft und Intelligenz
zum Eingriff in die ihn umgebende Wirklichkeit zu nutzen begann. Seit der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts glaubte man Darwin – seine Lehre
war Wissenschaft und damit Wahrheit und damit mehr und mehr offizielle
Weltanschauung - während Hegel und die Religion, die er philosophisch zu
begründen suchte, zu Privatsachen wurden.

Emotionale Vereisung
Das war das eine: der welthistorische Erfolg einer Weltanschauung, die alles
Geschehen nach Art eines Uhrwerks oder der mechanischen Abläufe einer
Maschine verstand. Das andere war die Gesamtwirkung dieses Übergangs vom
Bild der planenden Intelligenz zum Bild einer mechanisch funktionierenden Natur.
Die neue Weltsicht brachte einen materiellen Sieg und eine zunehmend als
bedrückend empfundene geistige Dürre, wie schon William James zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts feststellte:

»Seit 150 [inzwischen 250] Jahren ist der Fortschritt der Wissenschaft
gleichbedeutend mit der Vergrößerung des materiellen Universums und der
Verkleinerung der Bedeutung des Menschen. Das Ergebnis besteht in der
steten Zunahme einer, wie man es nennen könnte, naturalistischen und
positivistischen Einstellung… Seine Aufgabe liegt nur darin, Wahrheit zu
registrieren und sich ihr zu unterwerfen, mag sie noch so unmenschlich sein.
Vorbei ist es mit Kühnheit und romantischer Spontaneität, die Vision ist
materialistisch und deprimierend. Ideale erscheinen als passive
Nebenprodukte der Physiologie; das Höhere wird durch das Niedere erklärt
und durchwegs als ein Fall von Nichts-Als behandelt - nichts als irgendetwas
anderes von niederer Art. Man erhält, kurz gesagt, ein materialistisches
Universum, in welchem sich nur die Hartgesottenen unter uns wirklich zu
Hause fühlen«.[48]

107
Denn, so sagte es der amerikanische Philosoph Edwin A. Burtt, ein anderer
Kritiker dieser »mechanistischen« Weltsicht,

»die Welt, in der die Menschen bis dahin geglaubt hatten zu leben - eine
Welt reich an Farbe und Tönen, erfüllt von Düften... und Schönheit, die zu
ihnen überall von zweckerfüllter Harmonie und schöpferischen Idealen
redete - wurde nunmehr nur noch als zerebrale Ausgeburt...verstanden. Die
Welt, welche jetzt wirklich zählte, war die harte, kalte, farblose,
schweigende und tote Außenwelt; eine Welt der Quantitäten, eine Welt
mathematisch berechenbarer Bewegungen von vollkommener
Regelmäßigkeit. Die Welt der Qualitäten, welche der Mensch mit seinen
Sinnen erfährt, wurde zu einem kuriosen und unbedeutenden Nebeneffekt
jener unendlichen Maschinerie erklärt«.[49]

Der Mensch hatte sich selbst und seinen Geist sozusagen aus der Natur
herausgenommen, indem er sie so betrachtete als wäre sie eine einzige geistlose
Leere. Mit einem Schlage wurde damit alle Wärme aus dem Universum verdrängt:
es erlitt einen Kältetod. Die Frage nach dem Sinn musste in einer Welt der puren
Notwendigkeiten als völlig sinnlos erscheinen. Ebenso die Frage nach der Moral:

Nach der Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es


nur eine Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation
von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die Feststellung,
dass Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und
Unterdrückung, ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. An sich
klingt sie mittlerweise gerade so sinnlos wie die Feststellung, Rot sei
schöner als Blau oder ein Ei besser als Milch (Horkheimer).

Eine solche Weltsicht hätte sich gewiss nicht auf Dauer behaupten können, auch in
der Vergangenheit hat die magisch-vorwissenschaftliche Weltsicht ja gleichfalls
nur vorübergehend Einfluss gewonnen, vorherrschend war immer das Bild der
planenden Intelligenz. Doch seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war eine
in der Weltgeschichte einmalige Situation eingetreten. Die neue mechanische
Weltsicht erwies sich als so außerordentlich erfolgreich, dass es einer immer
größeren Zahl von Menschen als schlechterdings töricht erschien, sie noch zu
bezweifeln. Zum ersten Mal in seiner Geschichte erlaubte sie dem Menschen jene
Berge für jedermann sichtbar und ganz real zu versetzen, die der Glaube bis dahin
nur in der Phantasie zu bewegen vermochte.[50]

108
Überwindung der Gegensätze
Bleibt uns also nichts als die Entscheidung, zwischen zwei Unmöglichkeiten zu
wählen: einem warmen Universum, das uns zur Ohnmacht verdammt und mit dem
Makel der Fiktion behaftet erscheint, oder ein totes, in dem wir als freudlose
Herrscher agieren? In diesem Buch habe ich von Anfang an die These vertreten,
dass wir hier vor einer irreführenden und letztlich falschen Alternative stehen.
Denn die neue Weltsicht tritt von vornherein mit einem unüberwindbaren inneren
Widerspruch in Erscheinung. Die planende Intelligenz, die nun ganz und gar durch
Notwendigkeiten verdrängt zu sein scheint, ist als eine bewegende Kraft nur
scheinbar aus der realen Welt verstoßen. Gewiss, die Welt soll jetzt nur noch
Maschine sein, die sich gemäß all jenen Gesetzen verhält, welche die Wissenschaft
in Physik, Chemie und Biogenetik in zunehmender Fülle entdeckt. Alles soll von
nun an mit »ganz natürlichen Dingen« zugehen, also völlig ohne Planung, allein
aufgrund der Gesetze, die seit Beginn der Geschichte den Aufbau der Atome, der
Himmelskörper, der anorganischen Materie und schließlich des Lebens
beherrschen. Dieses Wirken materieller Gesetzmäßigkeiten soll völlig genügen,
um die Entwicklung des Universums vom Punkt Null bis zu Homo sapiens zu
erklären. Sozusagen mechanisch soll sich aus dem Früheren das Spätere ergeben –
ein Sinn des Geschehens oder ein Telos (ein durch Planung vorgegebenes Ziel) ist
ja an keiner Stelle empirisch nachzuweisen.
Doch wie ich im Kapitel Der Durchbruch schon zeigte, ist die planende
Intelligenz, die man aus der Welt ganz vertrieben zu haben glaubte, nichts weniger
als die Voraussetzung dieser Weltsicht. Die Entdeckung naturwissenschaftlicher
Gesetze ergibt ja von vornherein nur dann einen Sinn, wenn die Wirklichkeit nur
teilweise von ihnen beherrscht wird, wenn also offene Stellen im Gewebe der
Notwendigkeiten existieren, in die eine planende Intelligenz, der Mensch zum
Beispiel, durch sein Handeln einzugreifen vermag. Im Gegensatz zur eigenen
Ideologie darf das neue Weltbild nur teilweise wahr sein, die Wirklichkeit nur
teilweise der Notwendigkeit unterliegen, wenn die Kenntnis der Naturgesetze dem
Menschen einen Nutzen verschaffen soll. Dieser Nutzen beruht ja einzig und allein
auf der erfolgreichen Anwendung der Gesetze für die Zwecke des Menschen. Die
ballistische Kurve einer Gewehrkugel zu kennen, macht nur dann einen Sinn, wenn
die Kugel sich aufgrund eines freien Entschlusses jederzeit abschießen lässt. Das
aber bedeutet für den Erfolg der Naturwissenschaften, dass nicht die Kenntnis von
Gesetzen jene Berge versetzte, die den Siegeszug der modernen
Naturwissenschaften markieren, sondern erst die Freiheit des Menschen in der
Anwendung dieser Gesetze. In dem mechanischen Weltbild der
Naturwissenschaften meldet sich unverhofft und doch unausweichlich der »Geist
in der Maschine« zurück.[51] Es ist planende Intelligenz, welche in die Lücken der
Notwendigkeit eingreift, um die Welt zu verändern. Und diese Veränderungen sind
so spektakulär, dass man die Neuzeit seit dem 17. Jahrhundert als das Zeitalter
titanischer Freiheit betrachten darf, weil nie zuvor der Globus im Guten wie Bösen
in so kurzer Zeit so grundlegend verwandelt wurde. Von Notwendigkeit ist in

109
diesem Prozess keine Spur zu bemerken – die Welt ist das, was sie heute ist, allein
weil unser Planen und Handeln sie dazu machte.
Geist und Materie geraten damit in eine neue, von der Machtwissenschaft
völlig verkannte Beziehung. Verkleinert konnte der Mensch nur durch die
Ideologie der Machtwissenschaft werden, weil in deren Sicht einzig die Gesetze
der unbelebten Materie Realität besitzen. Das Höhere wird von unten her erklärt,
der Geist durch die Materie, das Spätere durch das Frühere, das Komplexe durch
das Einfache. Dagegen rückt die kritische Wissenschaft diese Perspektive in
entscheidender Hinsicht zurecht. Die Kenntnis der unbelebten Materie, des
Früheren und des Einfachen setzt die Existenz und das freie Wirken des Geistes
und damit des Späteren und des Komplexen voraus. Sofern der Mensch oder
andere Lebewesen ihre Umwelt gestalten – und sie tun dies in einem fort – sind sie
es, die von oben her die Entwicklung und damit auch die Evolution in ihrem
Bereich gemäß ihren jeweiligen Absichten lenken. Die Machtwissenschaft hatte
den Geist eskamotiert, zu etwas Sekundärem gegenüber der Materie verkleinern
oder auch ganz hinwegerklären wollen. Tatsächlich ist es einzig der Geist, dessen
Bedürfnisse der Machtwissenschaft überhaupt erst zur Existenz verhelfen.

Das unerkennbare Design


Die These vom »Intelligent Design«, der intelligenten Planung, ist daher alles
andere als unsinnig. Es gibt in der uns umgebenden Natur Regelmäßigkeiten, die
wir Gesetze nennen und es gibt den planenden Geist, der sich diese Gesetze
zunutze macht. Beides besitzt denselben Grad von Realität. Keiner der beiden Pole
ist ohne den anderen auch nur denkbar.
Allerdings zielt die These vom »Intelligent Design« wesentlich höher. Sie
geht von einer höheren Planung als der des Menschen aus. Auch diese These
verträgt sich mit den Erkenntnissen einer kritischen Wissenschaft. Wir können
definitiv behaupten, dass wir das Eingreifen eines überirdischen Geistes in das
tägliche Weltgeschehen nicht einmal bemerken müssten, auch wenn es tatsächlich
in einem fort stattfinden würde. An einem so einfachen Beispiel wie dem oben
erwähnten Autounfall habe ich zu zeigen versucht, dass sich mitten im
Gesetzesgewebe überall Lücken öffnen. In diese kann eine uns überlegene Macht
natürlich ebenso eingreifen wie unsere eigene planende Intelligenz. Denn ganz und
gar im Einklang mit den von uns erkannten Naturgesetzen kann sich das
tatsächliche und alltägliche Geschehen in einer Unzahl von Varianten ereignen –
und alle würden uns als gleich selbstverständlich, natürlich und gut begründet
erscheinen.
Ein rationaler Beweis dafür, dass alles in dieser Welt »mit ganz natürlichen
Dingen« zugehe, lässt sich daher auf keine Weise erbringen. Unsere Kenntnis der
Naturgesetze erlaubt uns eben niemals die Totalität der zukünftigen Ereignisse zu
prognostizieren, sondern immer nur einzelne Geschehensstränge innerhalb dieser

110
Totalität. Die Behauptung, dass die Welt sich gemäß den Plänen (Design) einer
höheren Intelligenz entwickle, findet in der uns umgebenden Wirklichkeit deshalb
mehr als genug Freiraum vor. Wir können sie nicht widerlegen.
Mehr als dies vermag eine kritische Wissenschaft allerdings nicht zu sagen.
Sobald sie über die abstrakte Möglichkeit einer intelligenten Planung hinaus nach
positiven Beweisen forscht, prallt sie an eine Mauer. Nirgendwo im Universum ist
sie bisher auf eine verborgene Tafel gestoßen, die ihr das Telos, das Endziel der
physikalischen und biologischen Evolution, zu erkennen gäbe. Auch wenn sie
ihren Blick in die Geschichte zurückwirft, gelangt sie keinen Schritt weiter.
Innerhalb der von ihr überschauten physikalischen oder der wesentlich kleineren
biologischen Evolution stellt sie zwar ein Voranschreiten vom Einfachen zum
Komplexen fest, aber warum das so ist und welchen Zweck diese Bewegung
erfolgt, darüber vermag sie nichts zu sagen.
Die Vernunft gelangt an diesem Punkt genau an jene Grenze, die ich zuvor
immer wieder aufgezeigt habe. Weder ist es uns möglich, dass Komplexe aus dem
Zustand eines Urplasmas abzuleiten – empirisch ist es darin auf keinerlei Weise
vorhanden - noch können wir uns denken, dass es dort nicht angelegt sei, denn
dann müsste das Neue aus dem Nichts hervorgehen, was unser
Vorstellungsvermögen ebenso überschreitet.[52] Diese Hilflosigkeit der Vernunft ist
nicht verwunderlich. Sie beweist ja nichts anderes, als dass die große Wirklichkeit
nicht identisch ist mit jener kleinen Wirklichkeitsnische, die wir mit relativem
Erfolg zu domestizieren vermögen. Die rationale Erkenntnis kann nur zu dem
Schluss gelangen, dass die Vorstellung eines Intelligent Design unwiderlegbar ist,
aber sie kann diesen Schluss durch keine positiven Denkgründe erhärten noch
empirische Belege dafür erbringen. Oder anders gesagt, der Sinn dieses Designs
bleibt der rationalen Erkenntnis verschlossen. Er ist undenkbar. Und so muss es
auch sein. Schon Pascal hatte erkannt, dass die Vernunft hier ohnmächtig vor einer
Grenze steht: »Wie sollte es möglich sein, dass ein Teil das Ganze erkennt«?
Die Wirklichkeit ist – und an diesem Punkt überlässt die kritische
Wissenschaft der Mystik das Feld – das schlechthin übermächtige und umfassende,
das sich allen Bildern aus der Nische der uns vertrauten Mittleren Welt entzieht.[53]
Doch diesen Gedanken möchte ich erst später weiter verfolgen. Hier bleibt nur das
eine festzuhalten: Das »Intelligent Design« steht uns als Möglichkeit vor Augen,
aber wir können diese durch das Denken nicht weiter verfolgen, weil sich das
Große und Umfassende eben nicht in den Bildern und Analogien des Umfassten
ausdrücken lässt. Dass der rationale Verzicht hier unabwendbar sei, dass stellte
auch Albert Schweitzer fest, dieser wohl ehrlichste unter den Theologen.
»Welchen [rationalen] Sinn dem Menschendasein geben, wenn wir darauf
verzichten müssen, den Sinn der Welt zu erkennen«? Um dann hinzuzufügen.
»Aber es bleibt dem Denken nichts anderes übrig, als sich in die Tatsachen zu
fügen«.[54]

111
Dawkins Wahn
Die Entdeckungen der Quantenphysik hatten unter den Physikern eine gesunde
Skepsis in Bezug auf alle Totalerklärungen hervorgebracht. Durch die
Bekanntschaft der Astrophysik mit Singularitäten und ähnlichen Paradoxien wurde
diese Skepsis noch zusätzlich bekräftigt. Die erfolgreichste aller
Naturwissenschaften, die Physik, war aus der Phase des Triumphalismus und dem
damit verbundenen dogmatischen Glauben an unbegrenzte Erklärbarkeit in eine
Phase der kritischen Selbstreflektion in Bezug auf die ihr mögliche Erkenntnis
gelangt. Doch dieser Beginn einer kritischen Selbstbesinnung erfasste nicht alle
Wissenschaften in gleichem Maße. Um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts,
genauer gesagt, seit Entdeckung des genetischen Codes, feierte der alte
Triumphalismus unter Biogenetikern fröhliche Auferstehung. Dawkins Wahn ist
ihr unmittelbarer und bezeichnender Ausdruck. Bei jedem Leser seiner von einem
phantastischen Fortschrittsglauben erfüllten Schriften muss sich unwillkürlich das
Gefühl des Déjà Vu einstellen. Vergleicht man Dawkins mit einem klassischen
Vertreter der Machtwissenschaft wie Laplace, so findet man bei beiden dieselbe
Selbstgewissheit, ja denselben Dünkel und nicht zuletzt denselben Spott über alle
abweichenden Meinungen.
Die Lehre, die Dawkins mit dem Fanatismus des Missionars verteidigt, weil
sie, wie er glaubt, sämtliche Rätsel der Entfaltung des Lebens grundsätzlich gelöst
hat oder noch zu lösen imstande sei, ist die Darwinsche Evolutionstheorie. Wie so
oft der Fall bei einem emotional verankerten Glaubensbekenntnis, ist man auch
hier mit einer Halbwahrheit konfrontiert. Denn die Theorie des großen englischen
Biologen besteht aus zwei deutlich unterschiedenen Teilen. Einer von ihnen ist die
Abstammungslehre. Diese beschreibt die zeitliche Aufeinanderfolge der Arten von
den Einzellern bis zum Menschen und zählt heute zu den am besten bestätigten
empirischen Theorien überhaupt. Der zweite Teil erklärt den der Abstammung
zugrunde liegenden Mechanismus. In ihrer Reichweite und Wirkung unterscheiden
sich beide Hälften der Darwinschen Lehre wesentlich voneinander. Die
Abstammungslehre hatte zwar, als Darwin damit an die Öffentlichkeit trat, einen
Aufschrei des Entsetzens und der Empörung ausgelöst, vor allem unter den
Vertretern der historischen Religionen, da sie ein ganz anderes Bild von der
Entstehung des Menschen entwarf als die heiligen Schriften. Auch wenn es
wissenschaftlich nicht ganz zutreffend ist, von einer Abstammung des Menschen
vom Affen zu sprechen, so läuft die Deszendenzlehre Darwins doch darauf hinaus,
die Vorläufer des Menschen unter den Tieren zu suchen – eine Vorstellung, die
sich mit der in vielen Religionen verankerten Auffassung, wonach Gott den
Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe, nur schwer vereinbaren ließ.
Dennoch stellt die Abstammungslehre nicht die wirklich entscheidende
Herausforderung dar. Die Kirchen haben es im Allgemeinen recht schnell
verstanden, Erkenntnisse zu akzeptieren, die sich einfach nicht leugnen oder gar
widerlegen ließen. Tatsächlich konnte es für den gläubigen Menschen ja auch dann
noch einen Heilsplan Gottes geben, wenn dieser eine stufenweise Entfaltung des

112
Lebens von den Einzellern bis zum Menschen und darüber hinaus geplant hatte.
Man musste Gottes Wirken in der Natur keinesfalls nur deswegen als widerlegt
betrachten, weil es Ihm so gefallen hatte, das biologische Leben genauso wie das
der unbelebten Materie vom Einfachsten zum Komplexen voranschreiten zu lassen.
Der wirklich entscheidende und tatsächlich vernichtende Einwand gegen das
Wirken jeder Art von überirdischer Intelligenz ergab sich nicht aus der
Abstammungslehre Darwins, sondern erst aus dessen weit darüber hinaus
führender Theorie von der natürlichen Zuchtwahl (natural selection), die den
Mechanismus dieser Abstammung zum Gegenstand hat. Es ist daher auch
keineswegs als zufällig zu bewerten, dass nicht der heute unter Wissenschaftlern
universal akzeptierte Stammbaum des Lebens bei Dawkins im Mittelpunkt steht
sondern die Theorie von Zuchtwahl und Mutation.
In der Lehre vom Überleben der am besten Angepassten (survival of the
fittest) wird die Entwicklung des Lebens als ein durch und durch nach bestimmten
wohlbekannten Regeln ablaufendes Geschehen verstanden, das in jedem seiner
einzelnen Stadien restlos durchschaut und erklärt werden kann. An einer Reihe von
Beispielen versucht Dawkins zu zeigen, dass die moderne Biologie den
Mechanismus der Deszendenz auch dort ohne Schwierigkeiten zu erklären vermag,
wo eine kaum fassbare Komplexität und Vernetzung vieler gleichzeitig erforderter
Eigenschaften eine derartige Erklärung auf den ersten Blick sehr wenig
wahrscheinlich macht. Auch die komplexesten Erscheinungen des Lebens – so
Dawkins Fazit – werden durch den Anpassungsmechanismus restlos erhellt. Der
Schluss, der daraus zu ziehen sei, ist für ihn unausweichlich: Das Leben, das für
viele Menschen, und selbst noch für viele Wissenschaftler, ein Refugium göttlicher
Planung und Vorsehung war – das letzte, nachdem die Physik seit Newton die
anorganische Welt zu einer Art Uhrwerk entseelt und entgöttlicht hatte – ist nun
ebenfalls in die Hand des Menschen, sprich, in die Kompetenz der Wissenschaften
gegeben. Für denjenigen, der die Prinzipien des Deszendenzmechanismus
durchschaut, gebe es auch im Bereich der organischen Evolution keine
Geheimnisse mehr. Um das ganze grandiose Spektakel der Entfaltung des Lebens
zu analysieren und zu verstehen, bedürfe es keiner überweltlichen Intelligenz, man
müsse nur, darauf läuft das Buch der Gotteswahn letztlich hinaus, Darwin und
seinen Propheten Dawkins begreifen.
Wie gesagt, Dawkins wiederholt hier nur - nach zweihundert Jahren und im
kleineren Bereich des organischen Lebens - was die Machtwissenschaft im
Hinblick auf die gesamte Natur bis zur Entdeckung der Quantenphysik immer
behauptet hatte. Alles sei Gesetz, Geheimnis nur ein Wort für menschliche
Unwissenheit.

Unterschlagene Voraussetzungen

113
Es sind natürlich die atemberaubenden Fortschritte der Biogenetik, die den neuen
Triumphalismus erklären – Fortschritte, die sich durchaus mit den Erkenntnissen
eines Newton vergleichen lassen, der dieselben Gesetze für einen fallenden Apfel
wie für die Umlaufbahnen der Sterne gefunden hatte. In unseren Tagen ist die
Biogenetik auf das erstaunliche Faktum gestoßen, dass der Organismus einer
Raupe und der eines Menschen nach denselben Regeln im genetischen Code
verschlüsselt liegen. Wie zur Zeit eines Newton erweckt auch dieser Durchbruch
den Eindruck, als sei man nun im Besitz einer Theorie, die endgültig alles bis
dahin bestehende Dunkel aus der Schöpfung vertreibt.
Doch so gut gesichert die Erkenntnisse über den genetischen Code heute
auch sind, die von Dawkins daraus im Hinblick auf die Mechanik der Abstammung
gezogenen Schlüsse stehen keineswegs auf so sicheren Füßen wie der Autor selbst
es wahrhaben will. Der Deszendenzmechanismus beruht einerseits auf der
Anpassung lebender Wesen und andererseits auf einem Angebot dafür benötigter
Eigenschaften. Dazu zählen zum Beispiel Mutationen. Ob es tatsächlich
Mutationen sind, die für das Angebot neuer Eigenschaften entscheidend sind, ist
unter Fachleuten umstritten. Joachim Bauer erhebt in diesem Zusammenhang
gegen Dawkins den Einwand, dass bisher kein einziger Fall aufgedeckt worden sei,
in dem solche Mutationen zum Zweck der Anpassung eine Rolle spielen.[55] Doch
wie immer die neuen für die Anpassung in Frage kommenden Eigenschaften auch
entstehen mögen, die wirklich entscheidenden Einwände gegen Dawkins liegen
nicht hier, sondern betreffen den Vorgang der Anpassung selbst. Nicht nur der
Fachmann, sondern jeder logisch denkende Laie, insbesondere der Philosoph, ist
herausgefordert, sich über die logische Struktur dieser Anpassung Gedanken zu
machen – sie ist alles andere als offensichtlich.
Einer der großen Exponenten kritischen Denkens im zwanzigsten
Jahrhundert, Karl Popper, hat zu diesem Punkt deutliche Zweifel geäußert. Er
bezeichnete den Deszendenzmechanismus schlicht als »metaphysisch«, da die
Theorie in der vorliegenden Form unwiderlegbar sei.[56] Eine
naturwissenschaftliche Theorie dürfe aber nur dann den Anspruch auf Wahrheit
erheben, wenn sie auch falsch sein könne, also zu widerlegen sei, denn nur dann
enthalte sie verwertbare Aussagen über die Wirklichkeit. Behaupten wir etwa, dass
es morgen regnen wird, die Sonne scheint oder auch keines von beidem, dann
haben wir zwar in jedem Fall Recht, aber unsere Kenntnis der Wirklichkeit wird
dadurch nicht bereichert. Unwiderlegbare Aussagen dieser Art sind ohne jeden
wissenschaftlichen Gehalt.
Thomas S. Kuhn, der Wissenschaftsphilosoph und –historiker hatte die
Geschichte der Wissenschaften als beharrliche Verteidigung etablierter Positionen
(Paradigmen) verstanden – ohne das Wort selbst zu verwenden, hat er damit einen
wesentlichen Aspekt der Machtwissenschaft aufgedeckt. Der Biologe Steven
Rose erhärtet dieses Verständnis, wenn er darauf verweist, dass Poppers Bedenken
zwar von den Biologen zur Kenntnis genommen, aber nie wirklich diskutiert
worden seien.[57] Dawkins jedenfalls geht auf derartige Einwände gar nicht erst ein.

114
Und dennoch sind sie fundamental und bis heute nicht entkräftet worden, zumal
wenn dafür, wie ich es im Folgenden versuche, eine genauere und schärfere
Formulierung gewählt wird. Die drei grundlegenden Axiome der Zuchtwahllehre
sind die folgenden.
a) Eine sich ständig ändernde Umwelt zwingt lebende Wesen dazu, sich ihr durch
Eigenschaften anzupassen, die diesen Änderungen besser entsprechen.
b) Gegenstand der Anpassung sind bestimmte Eigenschaften bestimmter Arten.
c) Diese Eigenschaften können im Hinblick auf ihren Überlebenswert eindeutig als
negativ, positiv oder neutral beurteilt werden.
Damit sich diese drei Behauptungen empirisch überprüfen lassen und
Voraussagen möglich sind, wie sie für jede widerlegbare Theorie kennzeichnend
sind, müssen aber auch die beiden folgenden Bedingungen zutreffen.
1) Auswählende Umwelt und auftretende Eigenschaften müssen im Idealfall ganz,
aber de facto zumindest weitgehend von einander unabhängig sein. Andernfalls
ergibt sich ein logischer Zirkel: die auswählende Umwelt wählt sich selber aus, da
zu ihr auch die auftretenden Eigenschaften gehören.
2) Die Bewertung von Eigenschaften als positiv, negativ oder neutral muss zeitlos
nach objektiven Kriterien möglich sein, also unabhängig vom jeweiligen Stand der
Evolution und vom Wissensstand des Biologen. Würde die Bewertung nämlich
ausschließlich auf der Kenntnis der in der Vergangenheit wirksamen
Evolutionsstrategien beruhen, dann wäre es grundsätzlich unmöglich
vorherzusagen, welche Eigenschaften sich in Zukunft als die besser angepassten
erweisen.
Einige, wenn auch immer noch sehr wenige Beispiele lassen sich nennen, die
dem oben genannten Dreierschema genau entsprechen und daher in der Literatur
auch immer wieder angeführt werden, wie etwa das Beispiel des englischen
Birkenspanners. Als die Verrußung der Landschaften Großbritanniens im Zuge der
industriellen Revolution die Rinde vieler Bäume, vor allem der weißen Birken,
zunehmend schwärzte, wurden helle Exemplare des Birkenspanners, wenn sie sich
auf die Stämme der Birken setzten, für ihre Fressfeinde auf einmal viel sichtbarer
als sie es vorher gewesen waren. Aufgrund von Mutationen (oder aus welchem
anderen Grund auch immer) entstanden Individuen von dunklerer Farbe, die nun
einen offenkundigen Vorteil besaßen. Ihre Camouflage schützte sie besser. Sie
wurden daher weniger als ihre hellen Artgenossen gefressen und pflanzten sich
stärker fort. Hier besteht ein klarer Zusammenhang zwischen einer neu
aufkommenden, der veränderten Umwelt besser entsprechenden Eigenschaft und
den vermehrten Lebenschancen des damit ausgestatteten Lebewesens. Auch wenn
bisher nur ganz wenige so unmittelbar einleuchtende Beispiele gefunden wurden,
ist es doch anzunehmen, dass die Forschung im Laufe der Zeit auf weitere Evidenz
solcher Art stoßen wird.
Der Fall ist einfach, aber kann er zur Grundlage für eine Theorie mit
prognostischer Aussagekraft werden? Sicher nicht, denn aus der Natur sind
zahllose Fälle alternativer Strategien für die Abwehr von Fressfeinden bekannt.

115
Die Farbe gelb zum Beispiel wird oft zur Abschreckung eingesetzt, ausgefallene
Flecken, die ein Augenpaar simulieren und vieles andere mehr können den
gleichen Zweck erfüllen. Statt einer einzigen möglichen Strategie steht also eine
kaum überschaubare Palette vieler möglicher evolutionärer Schachzüge zur
Verfügung – und sie decken nur die Gamme der uns aus der zurückliegenden
Evolution bekannten Schachzüge ab. Wir wissen nichts darüber, welche anderen in
Zukunft erfunden werden.
Nur ein verschwindender Teil der Evidenz spricht aber überhaupt eine so
deutliche Sprache. Die viel beschworenen Schwanzfedern des Pfaus behindern
diesen offensichtlich am Fliegen und machen ihn Feinden gegenüber viel
verwundbarer als er ohne diesen Ballast sein würde, trotzdem setzen sich im
Pfauenreich offenbar keine Individuen durch, die ihn entbehren. Um solche
augenfälligen Einwände zu entkräften, sieht man sich daher zu verschiedenen
Hilfshypothesen genötigt – ähnlich jenen Verfechtern des ptolemäischen Weltbilds,
die allerlei Epizyklen erfanden, um mit offenkundigen Regelwidrigkeiten fertig zu
werden. Es ist auch nicht ohne weiteres einzusehen, warum Eigenschaften wie die
Windbestäubung bei bestimmten Pflanzen die Überlebenschancen erhöhen,
während andere offenbar mehr von der Bestäubung durch Insekten oder Kolibris
(manchmal nur eine einzige Art) profitieren. Solche Einwände fallen freilich in die
Kompetenz der Spezialisten und können nur von ihnen beantwortet werden. Ich
möchte deshalb den günstigsten Fall annehmen, dass all diese Evidenz, die nur
über Hilfsannahmen mit der Theorie in Einklang zu bringen ist, diese dennoch nur
scheinbar schwächt, in Wahrheit aber durchaus mit ihr verträglich ist. Würde die
Theorie dann endgültig als wahr gelten dürfen? Wäre das Problem der
Entwicklung des Lebens durch das einfache mechanische Modell aus drei Gliedern
zufriedenstellend erklärt?
Offenbar nicht, und dafür ist zunächst die erste der beiden zusätzlichen
Bedingungen verantwortlich. Nicht nur die physische Umwelt ist in einem
ständigen Fluss begriffen, sondern auch alle darin existierenden Lebewesen. Denn
diese sind in einer unaufhörlichen Abwandlung ihrer Eigenschaften begriffen, wie
minimal dies auch immer der Fall sein mag. Für jedes Lebewesen bildet daher
nicht nur die physische Außenwelt jene Umwelt, an die es sich anpassen muss,
sondern ebenso, wenn nicht sogar in noch weit höherem Grade, die anderen zu
dieser Umwelt gehörenden Lebewesen. Durchaus falsch wäre also die Annahme,
dass eine Art plötzlich eine neue Eigenschaft besitzt und diese sich nun in einer als
konstant betrachteten Umwelt behaupten müsse. Vielmehr finden zur selben Zeit
Tausende von unmerklichen Änderungen bei allen übrigen Arten statt, die für
einander also alle zugleich die neue Umwelt bilden. Der einfache Fall des
Birkenspanners, wo nur eine Variable der unbelebten Natur eine Änderung erlitt
(durch Verrußung), dürfte daher eine nur selten anzutreffende Ausnahme sein. Die
Regel besteht vielmehr in der simultanen Änderung sämtlicher Eigenschaften aller
lebenden Wesen innerhalb eines sich gleichfalls fortwährend wandelnden
physischen Lebensraums. Das aber läuft dann darauf hinaus, dass a) und b), also

116
eine die Anpassung erzwingende Umwelt und die sich anpassenden Eigenschaften,
nicht mehr strikt voneinander getrennt werden können. Unter dieser Voraussetzung
kann die Theorie überhaupt keine gültigen Voraussagen machen.

Nicht einmal das Auge


Doch viel schwerer wiegt die zweite Zusatzbedingung. Wenn die Theorie der
Zuchtwahl sich nicht in der bloßen Beschreibung koordiniert auftretender
Veränderungen erschöpfen, sondern dadurch Beweiskraft erlangen soll, dass sie
richtige Aussagen über die Zukunft der Evolution erlaubt, dann muss die
Bewertung der Eigenschaften als positiv, negativ oder neutral nach objektiven,
jederzeit gültigen Kriterien möglich sein. Hat der Biologe zum Beispiel die
Erkenntnis gewonnen, dass die Anpassung an die Farbe des Untergrundes
gewissen Tieren zur Tarnung dient, so kann er darauf so etwas wie ein Gesetz
begründen, wonach bei Änderung des Untergrundes manche Tiere die eigene
Färbung dauerhaft oder vorübergehend der Farbe ihres Untergrunds anpassen
werden. So haben wir es im Fall der dunklen Variante des Birkenspanners mit
einer neu auftretenden Eigenschaft zu tun, die im Sinne des Überlebens deshalb als
positiv eingeschätzt werden kann, weil ein ähnlicher Vorgang der Tarnung schon
in der Vergangenheit das Überleben anderer Tiere auf gleiche Weise begünstigte.
Wir brauchen nur an die Farbänderungen eines Chamäleons zu denken. Ausgehend
von seinem Wissen über die zurückliegenden Stadien der Evolution, kann der
Biologe die Zukunft der Artenentwicklung immerhin so weit prognostizieren, wie
die Letztere sich an die in der Vergangenheit erprobte Strategie halten wird.
Doch wie weit reichen solche Voraussagen? Es zeigt sich, dass der Schluss
von der Vergangenheit auf die Zukunft gerade in dem Augenblick versagt, wo er
für die Theorie wirklich entscheidend wird, nämlich im Hinblick auf alle neu
auftretenden Strategien, die beispielsweise zum Zweck der Tarnung in Zukunft
entwickelt werden. Für diese uns jetzt noch unbekannten, ganz neuen zukünftigen
Strategien steht uns nämlich kein Maßstab mehr zur Verfügung, um die dann
aufkommenden Eigenschaften als positiv, negativ oder neutral im Hinblick auf
ihren Überlebenswert einzuschätzen. Mit anderen Worten, die Aussagekraft der
Theorie ist in solchen Fällen gleich null. Sie hat keinen prognostischen Wert. Das
trifft nun aber auf sämtliche Eigenschaften zu, die im Hinblick auf den Standpunkt
eines Beobachters der zukünftigen Evolution angehören, also auf alle für ihn völlig
neuen Eigenschaften – so zum Beispiel auch auf die Eigenschaft lebender Wesen
mit Hilfe von Augen ihre Umgebung zu sehen. Es lohnt sich, diesen Fall besonders
hervorzuheben, weil er in der Argumentation von Dawkins eine besondere Rolle
spielt.

Die Erfindung des Auges

117
Kein noch so fiktiver Beobachter hätte vor der Erfindung des Auges behaupten
können, dass dieses eine bessere Anpassung lebender Wesen an ihre Umwelt
ermöglichen würde. Denn ein solcher Beobachter hätte nichts über die Existenz
elektromagnetischer Wellen gewusst oder auch nur wissen können, da diese ja erst
durch Sensoren wie eben das Auge als vorhanden erfahren werden. Vorher kann es
elektromagnetische Wellen für einen Beobachter nicht geben, selbst nicht für eine
noch so große Intelligenz. Zwar ist aufgrund unseres nachträglichen Wissens um
die Entwicklung des Universums die Annahme richtig, dass es erst
elektromagnetische Wellen gab und sehr viel später die sie wahrnehmenden Augen
lebender Wesen, dennoch ist es im Sinne der Darwinschen Lehre ein Zirkelschluss,
wenn die Theorie die Entwicklung als Anpassung zu erklären behauptet. Denn
dann müsste es einem Beobachter mit Hilfe der Darwinschen Theorie möglich
gewesen sein, vor Erfindung des Auges dieses als mögliche Reaktion auf ein
vorhandenes Etwas (die elektromagnetischen Wellen) vorherzusagen. Doch genau
dies ist der Theorie aus den genannten Gründen verwehrt. Sie ist blind im Hinblick
auf die Zukunft, und zwar im Hinblick auf jede Zukunft, die sie von irgendeinem
Standort auf der Zeitskala betrachtet, um von dort aus das künftige Geschehen zu
prognostizieren.
Den logischen Fehler, der darin liegt, etwas als notwendige Entwicklung zu
erklären, was erst durch das vorausgesetzte Wissen um die abgeschlossene
Entwicklung überhaupt erst ins Blickfeld gerät, kann man als »Irrtum des
unzulässigen Vorwissens« bezeichnen.[58]
Der darwinsche Mechanismus aus natürlicher Zuchtwahl und Mutation kann
die Entstehung des Auges und sämtlicher anderer »evolutionärer Erfindungen«
also nur nachträglich beschreiben, aber nicht im selben Sinne erklären wie die
Physik etwa die gesetzmäßig verlaufende Bahn einer Rakete erklärt, deren
künftigen Verlauf sie aufgrund dieser Gesetze jederzeit zu bestimmen vermag.
Deshalb war Popper durchaus im Recht, als er die Theorie des
Evolutionsmechanismus als metaphysisch qualifizierte. Wenn Dawkins gleichwohl
die Behauptung vertritt, im evolutionären Verlauf habe alles genauso kommen
müssen, wie es tatsächlich gekommen ist (z. B. die Entwicklung von Augen), so ist
diese Aussage in Wahrheit durch und durch inhaltsleer. Das zeigt sich spätestens in
dem Augenblick, wo unsere heutige Gegenwart zum Ausgangspunkt wird, um die
Zukunft der Evolution vorherzusagen.

Dawkins über den Wolken


Hierzu ist nämlich von Dawkins nichts mehr zu hören. Jedem unbefangenen Leser
muss in die Augen springen, dass seine sonstige Beredsamkeit an einem
bestimmten Punkt zu hartnäckigem Schweigen verebbt. Er ist äußerst beredt, wenn
es um die Vergangenheit geht. Da wird er nicht müde, seinen Lesern einzureden, ja
ihnen einzuhämmern, dass die gesamte Evolution sich strikt an die von Darwin

118
begründete Theorie des Evolutionsmechanismus halte. Dawkins sitzt im
Schöpfungsgeschehen sozusagen mit dem Computer daneben, schaut auf die
Formeln und ruft von seinem wolkigen Beobachtungsposten triumphierend zu uns
hinunter, dass alles ganz genau den Berechnungen folgt. »Genau so und nicht
anders musste es kommen«. Doch im gleichen Augenblick, da er in der Gegenwart
anlangt und die Theorie ihre Aussagekraft nun ernsthaft beweisen müsste,
verschlägt es ihm plötzlich die Sprache. Wie die heute lebenden Wesen
einschließlich des Menschen in zehntausend oder gar nach zehn Millionen Jahren
aussehen werden – wenn es sie dann noch geben sollte – darüber weiß er
bezeichnenderweise so wenig wie die darwinsche Theorie.
Die Biologie kann Konstanten und Regelmäßigkeiten aufdecken, die sich
dann als Ordnungsstränge in eine Zukunft fortsetzen, die dadurch in Teilen
erkennbar wird. Insgesamt aber ist die Zukunft weit mehr als Ordnung, weil sie
eben auch das unberechenbar Neue umschließt. Das gilt für die physische wie für
die organische Welt. Die Biologie kann daher die Zukunft des Lebens ebenso
wenig aus der Vergangenheit prognostizieren wie die Physik das Neue der
kosmischen Entwicklung aus deren frühesten Anfängen. Dieser Traum wurde von
einer kritischen Physik schon vor einem Jahrhundert aufgegeben, eine weit
weniger kritische Biologie hält daran jedoch auch heute noch fest.
Angesichts solcher grundsätzlicher Einwände ist es von eher zweitrangiger
Bedeutung, dass die Theorie von Darwin und ihre Weiterführung durch Dawkins
so offensichtlich den Stempel jenes Zeitgeistes trägt, der das Beisammensein von
Menschen und Kulturen nur im Sinne eines nie endenden Kampfes zu deuten
vermag. Es ist nicht lange her, da hat man diesen Kampf noch als
Auseinandersetzung zwischen überlegenen und minderwertigen Rassen und
Individuen verstanden. Wenn Dawkins daraus einen Krieg zwischen »egoistischen
Genen« macht, der sich hinter der Fassade menschlicher Körper abspielt, so läuft
das nur scheinbar auf eine Sublimierung hinaus. Zwar wird kaum jemand
bestreiten, dass dem Kampf lebender Wesen innerhalb und außerhalb der eigenen
Art wie auch in der Behauptung gegenüber der unbelebten Natur eine zentrale
Bedeutung zukommt. Sehr zu bezweifeln ist aber, ob man darin das einzige oder
auch nur ein vorherrschendes Prinzip sehen dürfe. Angesichts der vielen und
offensichtlichen Beispiele für kooperatives Verhalten fällt es jedenfalls auf, wie
peinlich derartige Fälle nicht nur für Dawkins sind, sondern darüber hinaus für die
ganze Schule der Sozialdarwinisten. Alle geben sich äußerste Mühe, um mit
gewundenen Erklärungen und Hilfshypothesen die Evidenz der Kooperation als
scheinbar hinwegzuerklären oder sie doch wieder vom Kampf als jenem Prinzip
abzuleiten, in dem sie dogmatisch das Grundprinzip sehen wollen. Der Zeitgeist
des 19. und 20. Jahrhunderts, eben der Sozialdarwinismus, stand von Anfang an
Pate für diese ideologischen Grundtendenzen der heutigen Biologie. Ganz
besonders ist die Theorie vom egoistischen Gen der gewaltsame Versuch, die
ganze Fülle der biologischen Wirklichkeit auf einen einzigen Nenner zu zwingen:
den des Egoismus als Lebensprinzip.

119
Die Entstehung des Lebens
Wie sehr ein doch eher simpler Irrtum wie der des »unzulässigen Vorwissens«
selbst das Denken eines überaus kundigen und denkgewandten Wissenschaftlers
wie Dawkins zu beherrschen vermag, dafür liefert seine von ihm selbst besonders
hervorgehobene Erklärung für die Entstehung des Lebens ein anschauliches
Beispiel, das deshalb paradigmatischen Wert besitzt, weil es nicht das illustriert,
was es illustrieren soll, nämlich Strenge des Denkens, sondern das genaue
Gegenteil, eine ausufernde Spekulation, die ihre Wurzeln in einem Glauben hat,
dem Glauben an die Dogmen der Machtwissenschaft.
Dawkins stellt dem Leser eine Wahrscheinlichkeitsrechnung vor Augen. Er
geht davon aus, dass manche Wissenschaftler die Entstehung des Lebens für
überaus unwahrscheinlich halten, so unwahrscheinlich, dass möglicherweise –
manchmal wird dies ausgesprochen, steht aber jedenfalls als Drohung im
Hintergrund –überhaupt keine überzeugende wissenschaftliche Erklärung in Frage
kommt. Schon der bloße Verdacht einer solchen Einschränkung der
wissenschaftlichen Erklärung muss dem Machtwissenschaftler ein Dorn um Auge
sein. Dawkins setzt daher seinen Ehrgeiz daran, genau das Gegenteil nachzuweisen,
dass also die Entstehung des Lebens sogar überaus wahrscheinlich sei. So rechnet
er zunächst einmal aus, wieviele Planeten das All auf sämtlichen Sonnensystemen
insgesamt bei vorsichtiger Schätzung beherbergt. Er kommt auf die Zahl von etwa
einer Milliarde Milliarden. In einer zweiten Schätzung nimmt er dann willkürlich,
aber jedenfalls überaus vorsichtig an, dass die Wahrscheinlichkeit für die
Entstehung von Leben einen so außerordentlich niedrigen Wert wie eins zu einer
Milliarde haben möge. Dann – und darauf laufen seine Zahlenbeispiele letztlich
hinaus – würde es immer noch auf einer Milliarde Planeten zur Entstehung von
Leben gekommen sein. Was soll dann noch, fragt Dawkins am Ende triumphierend,
an dessen Entstehung so seltsam und außergewöhnlich sein? Das Leben musste
geradezu zwangsläufig entstehen. Nichts an seinem Aufkommen ist überraschend
oder gar wunderbar.[59]
Diese Erklärung zeugt von überraschender geistiger Blindheit. Dawkins
merkt nicht einmal, dass die Wahrscheinlichkeitsrechnung hier von vornherein gar
nicht anwendbar ist. Wieder begegnen wir hier dem »Irrtum des unzulässigen
Vorwissens«, der Dawkins aber schon wie bei seinen Ausführungen über die
Entstehung des Auges völlig verborgen bleibt. Bevor das Leben entstand, war
dieses ein X, d. h. etwas für jede Theorie völlig Unbekanntes. Wir können aber
über die Häufigkeit einer Erscheinung nur dann etwas sagen oder sie gar
quantifizieren, wenn sie uns zunächst einmal als etwas Vorhandenes bekannt ist,
also gerade nicht als ein X. Bevor es das Leben gab oder irgendeine Intelligenz
davon wissen konnte, musste jede Aussage darüber, welche Wahrscheinlichkeit die
Entstehung des Lebens besitzt, ein logischer Unfug sein.

120
An dieser Unmöglichkeit der Erklärung wird sich auch dann nichts ändern,
wenn es der Wissenschaft einmal gelingen sollte, aus unbelebten Substanzen nach
eigener Planung belebte Wesen hervorzubringen. Diesen Unterschied zwischen
dem Machen und einer theoretischen Erklärung hatte Popper deutlich gesehen.

Ich halte es nicht nur für möglich, sondern sogar für wahrscheinlich, daß wir
eines Tages imstande sein werden, lebende aus toten Dingen zu erzeugen.
Obwohl dies, selbstverständlich, für sich genommen, außerordentlich
faszinierend wäre... würde es keineswegs beweisen, dass Biologie auf
Physik oder Chemie reduziert werden könne... [60]

Mit anderen Worten, wir werden die vorhandenen Ordnungsstrukturen der


anorganischen und organischen Materie dazu benutzen können, um nach eigener
Planung daraus neue Verbindungen herzustellen, aber warum es diese
Ordnungsstrukturen überhaupt gibt und wie sie zustandekamen, darüber haben wir
damit überhaupt nichts gesagt. Wir können praktische Wunderleistungen
vollbringen und uns dabei Tausende von Gesetzen zunutze machen, ohne den
Schleier von der generellen Undenkbarkeit dieser Welt dadurch auch nur im
Mindesten zu lüften.

Eine sixtinische Evolutionskapelle?


Dogmatische Wissenschaft ist Machtwissenschaft, als solche ist sie wie die
historischen Religionen auf Dogmen gegründet - eine Art Religionsersatz. Daher
der geradezu überschwängliche Enthusiasmus, der, obwohl der falschen Sache
gewidmet, dennoch dem Buch von Dawkins seinen besonderen Reiz verleiht. Da
spricht einer, der inbrünstig an seine Sache glaubt oder glauben will und diesen
Glauben mit missionarischem Eifer auch anderen zu vermitteln sucht. Nur dieser
Überschwang macht verständlich, dass sich Dawkins nicht nur in widersinnige
Spekulationen sondern schließlich sogar in reichlich abstrusen Behauptungen
versteigt, die seinem sonst so regen Sinn für Komik nicht recht entsprechen, denn
hier wird er auf unfreiwillige Art komisch. Allen Ernstes macht er sich nämlich
daran, auch noch die Vergangenheit für sich zu begeistern, so einige der größten
Namen der Kunst- und Musikgeschichte. Hätte ein Michelangelo von den
gigantischen Leistungen der Biogenetik gewusst, dann würde er, so will Dawkins
uns glauben machen, statt im Auftrag der Kirche die Sixtinische Kapelle
auszumalen, seinen Pinsel und Meißel zur Verherrlichung der Evolutionslehre
eingesetzt haben - vermutlich zum Lob des egoistischen Gens. Beethoven würde
eine »Mesozoische Symphonie« geschrieben haben, und Mozart hätte vermutlich
eine Oper mit dem Titel »Das expandierende Universum« geschaffen. Welch ein
Jammer, beklagt Dawkins sich weiter, dass Haydn keine Gelegenheit hatte, statt
seiner ins Religiöse verunglückten »Schöpfung« ein »Evolutionsoratorium« zu

121
komponieren! Hätten die großen Künstler der Vergangenheit sich entsprechend
aufklären lassen, so wäre es ihnen sicher nicht eingefallen, ihre Werke Gott und
seiner Verehrung zu widmen. Sie hätten stattdessen den Wissenschaften gehuldigt,
die doch eine viel größere Leistung vollbrachten, indem sie mit dem Aberglauben
endgültig aufgeräumt haben.
Der Bekehrungswille bringt bei diesem so intelligenten Autor eine
überraschende Naivität hervor. Bach und Mozart lebten immerhin nach Newton, zu
dessen Lebzeiten die Naturwissenschaften zum ersten Mal jenen Höhepunkt
erreichten, der dem Zeitalter der Aufklärung zu der Gewissheit verhalf, mit Hilfe
der Wissenschaften alle noch verbliebenen Rätsel zu lösen. Im Übrigen hatte ja
schon ein Spinoza gegen Mitte des 17. Jahrhunderts den Determinismus als
wissenschaftliche Wahrheit verkündet und damit genau jene Totalerklärung der
Wirklichkeit in Aussicht gestellt, für den ein Laplace dann zu Zeiten Napoleons die
bequeme Formel aufstellte (vgl. S. 59). Hätte es angesichts eines durch die
Aufklärung damals europaweit verbreiteten Wissenschaftsglaubens je eine bessere
Zeit als das achtzehnte Jahrhundert geben können, um Künstler wie Bach oder
Mozart zu Hymnen an das Uhrwerk der Himmelszelts zu ermuntern oder zu
Symphonien, in denen sie die Wissenschaften besingen?
Wir wissen, dass sie es damals nicht taten, und ebenso wissen wir, dass ihre
Nachfolger es auch heute nicht tun. Mit gleicher Sicherheit wird man davon
ausgehen dürfen, dass es auch nach Dawkins keine Bachs oder Mozarts geben wird,
die in ihren Kompositionen das egoistische Gen besingen. Eher wird man
vermuten dürfen, dass sie weiterhin religiöse Themen verwenden, selbst dann,
wenn ihre religiösen Überzeugungen wenig ausgeprägt sind oder sie überhaupt
nicht an die von einer Kirche gepredigten Wahrheiten glauben. Sie werden sich
diese Inkonsequenz nicht deswegen leisten, weil sie von den Wissenschaften eine
geringe Meinung hätten oder gar deren Wahrheiten bezweifeln. Angesichts der
Tatsache, dass die höchsten Preise, welche die Menschheit an ihre herausragenden
Vertreter vergibt, regelmäßig von einem weltweit geachteten Nobelkomitee an
Wissenschaftler ausgeteilt werden, sind solche Zweifel von vornherein wenig
wahrscheinlich. Der Grund für die Zurückhaltung der Künstler liegt auf einer
anderen Ebene. Es ist ihnen nicht verborgen geblieben, dass die Wissenschaften
genau an jenem Punkt nichts mehr zu sagen haben, wo der Mensch mit seinem
Wollen und seinen Emotionen, seinem Enthusiasmus, seiner Trauer und seinen
Hoffnungen überhaupt erst beginnt. Auch wenn sie nicht an den Gott der
Offenbarungen glaubten, haben sie ihm doch ihre Werke gewidmet, weil sie nur so
ihre tiefsten Gefühle zum Ausdruck zu bringen vermochten, Ziele, die immer mit
menschlichem Sollen und Wollen verbunden sind: also mit menschlicher Freiheit.
Nicht nur Machtwissenschaft, sondern auch die sich ihrer Grenzen bewusste
kritische Wissenschaft befasst sich ausschließlich mit dem Bereich des
Notwendigen. Über den der Freiheit, d. h. über alles, was aufgrund von Wollen
oder Sollen geschieht, schweigt sie sich aus. Im Bereich des Notwendigen aber
haben Emotionen wenig oder gar nichts zu suchen. Wir haben es hinzunehmen,

122
dass ein Stein aufgrund der Schwerkraft zu Boden fällt, dass die Sonne jeden
Morgen von neuem aufgeht oder dass sich Holz bei anhaltender Reibung entzündet.
Die Wissenschaft hat es allein mit jenen Fakten zu tun, die unabhängig von
unserem Wollen und Wünschen bestehen – und die uns aus genau diesem Grund
deshalb auch völlig kalt, d. h. emotionslos, lassen. Das bedeutet nicht, dass
Wissenschaftler selbst emotionslos sein müssen. Ganz im Gegenteil. Große
Entdeckungen vermögen nicht nur sie, sondern eine ganze Epoche in Begeisterung
zu versetzen - so war es mit allen großen Erfindungen von Pythagoras über
Newton und Einstein bis zu Watson und Crick. Der Grund für diesen
Enthusiasmus ist jedoch nicht darin zu suchen, dass das jeweils neu entdeckte
Naturgesetz unsere Gefühle mehr als die schon bekannten mobilisieren würde,
sondern die Menschen begeistern sich daran, dass es ihnen neue Betätigungsfelder
für ihre Freiheit eröffnet. Angefangen von Pfeil und Bogen bis hin zur Entdeckung
des genetischen Codes haben alle großen Erkenntnisse den Bereich unserer
praktischen Möglichkeiten im Guten wie Bösen immer mehr ausgeweitet. Hier
zeigt sich erneut, dass der letzte Sinn der Wissenschaften eben nicht darin besteht,
den Bereich des Notwendigen aufzudecken, sondern darin, die Notwendigkeit in
den Dienst der Freiheit zu stellen. Aller Enthusiasmus, den sie in ihren Jüngern und
anderen Menschen zu erwecken vermag, beruht eben darauf, dass sie unsere
Freiheit immer wieder auf spektakuläre Weise vermehrt.
Doch die Wirkung, die von der Erkenntnis bestimmter Gesetze ausgeht, ist
immer nur von vorübergehender Art. Hat eine Entdeckung ihr Potential einmal
ausgeschöpft, so gleitet sie ziemlich schnell in jenen Bereich des Alltäglichen und
Gewohnten ab, der emotional keine Ausstrahlungskraft mehr besitzt. Zur Zeit
seiner Erfindung hat das Flugzeug die Phantasie der Menschen in Höhenflüge
versetzt, heute ist es ein Gebrauchsgegenstand wie alle anderen, der kaum
jemanden mehr zu inspirieren vermag. Emotionen, die sich an Wissenschaften
entzünden, sind daher stets von kurzlebiger Art, Emotionen, die auf den uralten
Themen der menschlichen Freiheit beruhen, d. h. auf Gut und Böse, auf Wollen
und Sollen, auf Liebe und Hass, sind dagegen so alt wie die menschliche
Geschichte. Im Zweifelsfall wird der Künstler daher noch eher den Dienst des
Aberglaubens antreten, weil es dort um den Menschen geht: um seine Hoffnungen,
Sehnsüchte und Ängste, als dass er sein Talent in den Dienst der Wissenschaft
stellt, auch wenn diese die reine Wahrheit verkündet. Deshalb gehen wir sicher
nicht fehl in der Annahme, dass auch künftige Generationen von Künstlern
schwerlich eine sixtinische Evolutionskapelle oder eine Mesozoische Symphonie
hervorbringen werden. Indem sich Kunst der Freiheit zuwendet, Wissenschaft der
Notwendigkeit, beleuchten sie zwei einander in wesentlicher Hinsicht
entgegengesetzte Sphären des Wirklichen.

Der offene Horizont


Mystik und kritische Vernunft sind eins, soweit es das rationale Denken über die
Wirklichkeit betrifft. Eine kritische Wissenschaft gelangt zu der Erkenntnis – und

123
widerspricht in diesem Punkt der Machtwissenschaft – dass die Natur für den
Menschen letztlich unauslotbar und undenkbar ist. Mit unserem sich ständig
ausweitenden Wissen fangen wir zwar immer mehr von ihren Regelmäßigkeiten
oder Gewohnheiten ein und können diese »Gesetze« dann in der uns zugänglichen
Nische der Mittleren Welt für eigene Zwecke verwenden, aber je tiefer die Strahlen
unseres Wissens in die uns umgebende Dunkelheit leuchten, umso stärker weitet
sich gleichzeitig auch der Bereich des Unfassbaren aus. Die Vernunft stößt nicht
allein an die Grenzen von Raum und Zeit, sondern sie entdeckt die Lücken der
Notwendigkeit auch noch mitten in der von uns überschaubaren Mittleren Welt. In
aller Nüchternheit spricht eine kritische Wissenschaft hier von Zufall,
Singularitäten, Grenzen des Wissens, Versagen der Bilder und der Erklärbarkeit.
Die Mystik geht einen entscheidenden Schritt darüber hinaus. Sie spricht von
Geheimnis und Wunder. Sie scheut sich nicht, Begriffe zu gebrauchen, die ein
Wissenschaftler, der sich sozusagen nur als unbeteiligt registrierender Sensor
versteht, grundsätzlich vermeidet, eben weil er in seiner Beobachtung von sich
selbst völlig absehen will. Für den Mystiker bildet die Ratio jedoch nur eine der
Funktionen des menschlichen Geistes – der Mensch in seinem ganzen Erleben darf
und soll seinem Verhältnis zur Wirklichkeit Ausdruck verleihen. Das tut er, indem
er in aller Unbefangenheit das nüchterne Wort der Undenkbarkeit, das der
kritischen Vernunft zugehört, in eines umwandelt, das seine erlebende, immer auch
emotional gefärbte Vernunft ihm eingibt. Die erlebende Vernunft hat keine Scheu
vor den Begriffen von Geheimnis und Wunder, ja, angesichts einer unauslotbaren
Wirklichkeit erblickt sie darin die einzig angemessenen Begriffe.
Das mystische Erleben der Wirklichkeit steht somit in einem doppelten
Gegensatz zur dogmatisch geprägten Machtreligion ebenso wie zur dogmatisch
geprägten Machtwissenschaft. Für die dogmatisch geprägte Machtwissenschaft ist
die Wirklichkeit eine entzauberte Maschine - richtiger gesagt, sie soll so und nicht
anders sein. Der menschliche Geist glaubt den Mittelpunkt des Universums zu
okkupieren und schreibt sich die Fähigkeit zu, die Mechanik des
Schöpfungsprozesses bis ins Detail nachzuvollziehen und zu erklären, warum alles
so und nicht anders kommen musste. Für den kritischen Wissenschaftler wie für
den Mystiker ist das eine naive, wenn nicht geradezu kindische Vision. So
siegreich die Vernunft innerhalb jener Weltnische ist, für die sie und das
menschliche Handeln gemacht sind, so unbeholfen ja untauglich ist sie, sobald sie
an die Grenzen der Mittleren Welt gelangt. Die kritische Vernunft verhilft der
lebendigen Vernunft oder, anders gesagt, der Mensch als kritischer Wissenschaftler
verhilft dem Menschen als Mystiker dazu, seinen Blick voller Staunen auf eine
Wirklichkeit zu werfen, die sich seinem herrschsüchtigen Machtzugriff, seiner
intellektuellen Arroganz, seiner dogmenbewehrten Zudringlichkeit spielerisch
entzieht.
Und dieses Wunder einer unauslotbaren Wirklichkeit wird noch dadurch
vergrößert, dass der Mystiker dasselbe Geheimnis, dieselbe Undenkbarkeit ebenso
auch in sich selbst entdeckt. Makro- und Mikrokosmos bilden ein durchgehendes

124
Kontinuum, ja sind ineinander gespiegelt. Die Freiheit, die der Natur durch
Astrophysik und Quantenmechanik zurückerteilt wurde, vermag eine dogmatisch
unbelastete kritische Vernunft schon in einem so einfachen Beispiel wie dem oben
beschriebenen Verlauf eines alltäglichen Autounfalls zu erkennen. Freiheit,
Spontaneität und das unerkennbare Neue sind nicht nur in der äußeren Wirklichkeit
zu finden, sondern haben ihren Platz in jedem komplexen Geschehen und in jedem
einzelnen Menschen. Kritische Vernunft und das Erleben des Mystikers gelangen
an diesem Punkt zu ein und demselben Schluss: Freiheit ist ein durchgehendes
Prinzip der Natur.
Für den Mystiker ist das mehr als eine rationale Erkenntnis, er erlebt und
erfährt diese Freiheit im Innehalten, in der Versenkung, im Absehen von allem
nutzen- und machtbedingten Zugriff auf die äußeren Dinge und das eigene Selbst.
Freiheit - die Spontaneität des eigenen Selbst und die der ihn umgebenden Dinge -
wird so zum fundamentalen Erleben, das dem Mystiker die Einheit der äußeren
Welt mit seinem eigenen Wesen erschließt.
Mit einer Welt als Maschine kann der Mensch sich nicht identifizieren. Sie
bleibt für ihn das tote, entseelte Gegenüber, das sich zwar ausbeuten und
manipulieren lässt, aber für den Menschen ein unheimlich fremdes Gehäuse ist, in
dem nur er selbst einen unendlich kleinen, einsamen Funken von Geist
repräsentiert. Denn die Evolution, wie sie bei Dawkins erscheint, ist zu einem
durch und durch maschinenartigen Vorgang entstellt. Dawkins entwirft eine tote
Natur, eine gähnende Leere von Geistlosigkeit, in der einzig das Verstandeslicht
von Dawkins selbst – der hier die Stelle des souverän begreifenden
Wissenschaftlers vertritt - eine sonst universale Nacht erhellt.
Das Bild ist auf groteske Weise erschütternd. Die Natur, wie
Machtwissenschaft sie beschreibt und in der allgemeinen Wahrnehmung zu
verankern vermochte, wurde - scheinbar – zu einem total abgerichteten Sklaven
erniedrigt. Aber so wie die Erniedrigung anderer Menschen in deren Erniedrigern
Hass und Grausamkeit freisetzt, weil man den Sklaven nicht mehr als ebenbürtiges
Gegenüber wahrnehmen kann, so bringt auch die Erniedrigung der Natur im
modernen Menschen Hass und Brutalität hervor. Es ist dieser unterschwellige Hass,
der ihm seine Grausamkeit, seine Erbarmungslosigkeit gegenüber der Natur so
leicht werden ließ - und sie wohl auch überhaupt erst ermöglicht hat. Die Natur
musste Maschine werden, damit man mit ihr so rücksichtslos wie mit einer
Maschine verfahren konnte. Die Machtwissenschaft, die dafür den größten Teil der
Verantwortung trägt, hat aus einem zunächst rein rationalen Vorurteil ein Vorurteil
für das Erleben gemacht. Der heutige Mensch erlebt die Natur nicht mehr als einen
Teil seiner selbst und sich selbst nicht mehr als Teil der Natur. Wie sollte er sich da
noch in ihr wiedererkennen? Die Scheuklappen einer entstellenden Weltsicht
haben ihm den unbefangenen Blick auf die ihn umgebende Welt abgeschnitten.
Nach fast dreihundert Jahren höchst wirksamer »Naturbeherrschung« ist uns
allerdings etwas höchst Beunruhigendes passiert. Die Diktatur über den scheinbar
so dienstbaren Sklaven Natur stößt in unserer Zeit auf unerwarteten Widerstand.

125
Denn der vermeintliche Sklave schlägt auf einmal zurück: Die Natur beginnt sich
am Menschen mit der unheimlichen Aussicht zu rächen, dass sie nicht weniger als
sein Überleben in Frage stellt. Die Machtwissenschaft glaubte die äußere Welt
vollständig berechnen und beherrschen zu können – und viele
Machtwissenschaftler glauben es immer noch – sie haben sich darin aber auf fatale
Weise geirrt. Die Bedrohung unserer Lebensgrundlagen bringt uns dies mit
apokalyptischen Vorzeichen zu Bewusstsein.
Der Mystiker hat den Ideologen der Machtwissenschaft und ihrer Entwertung
der äußeren Welt nie geglaubt. Für ihn ist die Natur eine Fortsetzung nicht nur
seines eigenen Körpers, Leib von seinem Leibe, der aus denselben materiellen
Bestandteilen wie alle ihn umgebenden Dinge besteht, sondern die Natur ist für ihn
auch Geist von seinem Geiste, weil er in ihr dieselbe Freiheit wie in sich selbst
erlebt. Im Strom des Werdens sieht der Mystiker sich ganz und gar als einen Teil
der Natur, aus ihr geboren, in sie wieder aufgenommen. Das ganze Potential des
Menschseins und aller höheren Manifestationen des Lebens sieht er wie in einem
Hologramm in jedem ihrer kleinsten Teile, in jedem Atom. Mit anderen Worten er
sieht sich eins mit allen Dingen.

Der Mystiker Einstein


Die größten, d. h. die kritischen Wissenschaftler, zu denen Quantenphysiker wie
Niels Bohr, David Bohm und vor allem Erwin Schrödinger zählen, waren von
mystischem Denken stark beeinflusst. Sie erkannten, dass dieses sich
widerspruchsfrei mit den neuen Erkenntnissen vereinbaren ließ. Erwin Schrödinger
hat sich ausdrücklich zu einer vom indischen Vedanta geprägten
Identitätsphilosophie bekannt.[61] Wie aber sind die religiösen Überzeugungen
Einsteins einzuschätzen, immerhin des größten Physikers jener Epoche?
Wollte man die wesentlichen Überzeugungen zusammenfassen, die den
Mystiker charakterisieren, so würden darunter auf jeden Fall die folgenden fallen.
Erstens, der Mystiker ist sich staunend bewusst, dass unser Denken ein Teil des
Ganzen ist und das Ganze daher nie völlig erfassen wird. Rational umschreibt er
dieses Erstaunen mit dem Begriff der Undenkbarkeit, während er in intuitiver
Gewissheit auch von Wunder oder Geheimnis spricht. Denn der Mystiker ist sich,
zweitens, auch sicher, dass die rationale Erkenntnis nicht den ganzen Bereich
menschlichen Erkennens erfasst. Er kennt Zustände des Erlebens, in denen das
eigene Ego verschwindet und er die Wirklichkeit auf andere als rationale Weise
erfährt. Drittens, lehnt der Mystiker es ab, sich Gott auf anthropomorphe Weise als
einen Gegen-Stand und ein Gegen-über zu denken, so als würden die Kategorien
von Raum und Zeit oder die Eigenschaften menschlichen Wollens und Planens auf
ihn übertragbar sein. Deswegen wird der Mystiker sich, viertens, zum Gebote
machen, über das Göttliche zu schweigen. Es ist für ihn mehr als alles, was er
darüber aussagen könnte, nur in diesem Sinne ist es zu gleicher Zeit auch nichts.

126
Denn alles, was er darüber aussagen könnte, wären nur Begriffe und Bilder aus
seiner eigenen, der Mittleren Welt.
Alle vier den Mystiker kennzeichnenden Überzeugungen lassen sich
vermutlich als mehr oder weniger deutlich konzipierte Ideen bei vielen
Wissenschaftlern nachweisen. Auf jeden Fall begegnen wir ihnen expressis verbis
bei Albert Einstein.
Erstens - das Geheimnis:
»Jedem, der sich der Forschung ernsthaft widmet, drängt sich die Überzeugung auf,
dass eine Intelligenz sich in den Gesetzen des Universums manifestiert – eine
Intelligenz, die der menschlichen weit überlegen ist und der gegenüber wir mit
unseren geringen Geisteskräften nur voller Demut sein können.«
Für Einstein wie für den Mystiker ist dies mehr als nur eine rationale Erkenntnis.
Das Bewusstsein, in einer geheimnisvollen Welt zu leben, ist für ihn ein Erlebnis
von fundamentaler Bedeutung.
»Die schönste Erfahrung, die wir machen können, ist die des Geheimnisvollen. Es
handelt sich dabei um ein elementares Gefühl, das an der Wiege aller wahren
Kunst und aller wahren Wissenschaft steht. Wer davon nichts weiß und nicht
länger der Verwunderung und des Erstaunens fähig ist, der ist so gut wie tot und
seine Augen getrübt. Es war das Erleben des Wunderbaren – auch wenn es von
Furcht begleitet war – das die Religion hervorgebracht hat.«
In diesem Sinne kann Einstein auch davon sprechen, dass das Gefühl des Staunens
eine religiöse Erfahrung sei, die am Beginn aller wirklich bedeutenden
Errungenschaften stehe.
»Im Hinblick auf den Geist, der die wissenschaftliche Forschung beseelt, bin ich
der Meinung, dass alle bedeutsamen Erkundungen im Reich der Wissenschaften
auf tiefen religiösen Gefühlen beruhen und ohne sie auch nicht fruchtbar wären.
Ich glaube auch, dass diese Art Fruchtbarkeit, wie sie sich heute in der
wissenschaftlichen Forschung manifestiert, die einzig schöpferische Tätigkeit
unserer Zeit darstellt.«
Zweitens – die Überwindung des Ego:
Auch hier kommt Einstein jener mystischen Überzeugung ganz nahe, wie sie etwa
die von ihm so sehr geschätzten Philosophen Spinoza und Schopenhauer vertreten.
»Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem
Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.«
Noch deutlicher in den folgenden Zeilen:
»Jedes kulturelle Streben, sei es nun religiöser oder wissenschaftlicher Art, dringt
bis zum Kern der menschlichen Seele vor, wo es auf eine Befreiung vom Ich
abzielt – nicht allein vom individuellen Ich, sondern vom kollektiven Ich der
ganzen Menschheit.«
Denn, so sagt Einstein an anderer Stelle,
»das Individuum fühlt die Vergeblichkeit aller menschlichen Bestrebungen und
Ziele und die Erhabenheit und wunderbare Ordnung, die sich ebenso in der Natur
wie in der Welt des Geistes manifestiert. Die individuelle Existenz erscheint ihm

127
als eine Art von Gefängnis, und er strebt danach, das Universum als ein sinnvolles
Ganzes zu begreifen.«
Drittens – die Ablehnung anthropomorpher Vorstellungen:
Einstein spricht immer wieder von der »kosmischen Religiosität«, die für ihn am
Ursprung aller historischen Religionen liegt.
»Die religiösen Genies aller Zeiten haben sich durch dieses religiöse Empfinden
ausgezeichnet, das keine Dogmen kennt und keinen nach menschlichem Bilde
entworfenen Gott; so dass es auch keine Kirche geben kann, deren Lehren auf
derartigen Entwürfen gegründet sind. Daher kommt es denn auch, dass wir gerade
unter den Ketzern aller Zeiten Männern begegnen, die von dieser höchsten Art
religiösen Empfindens beseelt waren. Oft wurden sie von ihren Zeitgenossen als
Atheisten, manchmal aber auch als Heilige betrachtet«.
In seiner Ablehnung anthropomorpher Vorstellungen im Hinblick auf die den
Kosmos durchdringende Intelligenz geht Einstein sogar noch weiter als andere
Mystiker.
»Solange man zu Gott betet, um von ihm eine Gunst zu erlangen, kann man sich
nicht als religiösen Menschen betrachten,«
bemerkt er, denn, so heißt es bei ihm an anderer Stelle,
»Ich kann mir keinen Gott vorstellen, der seine Geschöpfe belohnt oder bestraft
oder einen Willen von derselben Art besitzt wie wir.«
Der Grund für diese extreme Position wird im Zusammenhang mit seinem
Festhalten am deterministischen Weltbild weiter unten zu besprechen sein.
»Sein [Gottes] Universum wird nicht von Wunschdenken sondern von ehernen
Gesetzen regiert.«
Viertens – über das Göttliche muss man schweigen:
»Religion… verdankt ihre Entstehung der Erfahrung des Wunderbaren, dem
Wissen um etwas, das wir nicht ergründen können, einer Wahrnehmung des
tiefsten Grundes und der strahlendsten Schönheit, die aber nur in ihren gröbsten
Äußerungen unserer Vernunft zugänglich sind: Es sind dieses Wissen und dieses
Erleben, auf denen alle wahre Religiosität beruht. In diesem Sinne und nur in
diesem, bin ich ein tief religiöser Mensch«.
Einstein sagt es hier so deutlich wie alle Mystiker: »Das Wissen um etwas, das wir
nicht [rational] ergründen können«, liegt an der Wurzel der religiösen Erfahrung.
An anderen Stellen spricht Einstein auch von der Wirkung der Musik oder der
Schönheit der Natur auf den Menschen und lässt damit wie auch in den Passagen
über das Staunen anklingen, dass es auch noch einen anderen als den rationalen
Zugang zur Wirklichkeit gibt.

Mystiker wider Willen


Wenn Einstein aufgrund der vier genannten Charakteristika ein eindeutig
mystisches Weltbild vertritt, so muss es auf den ersten Blick umso überraschender

128
erscheinen, dass er selbst sich in unmissverständlichen Worten von der Mystik
distanzierte, nämlich dem, was er unter Mystik verstand.
»Der mystische Zug unserer Zeit, wie er sich vor allem im üppigen Wuchern
der sogenannten Theosophie und des Spiritualismus bekundet, ist für mich nur ein
Symptom von Schwäche und Zerfahrenheit«.
Heute würde Einstein natürlich auch den ganzen Bereich der Esoterik zu
dieser Schwäche und Zerfahrenheit zählen. Wie sein Biograph Max
Jammer bemerkt, hat Einstein sich vermutlich nie mit asiatischen Denksystemen
beschäftigt. Die Tatsache, dass er sich an einer Stelle zustimmend über den
Buddhismus äußert, dürfte allein darauf zurückzuführen sein, dass der von ihm so
geschätzte Schopenhauer dem buddhistischen Glauben besondere Bedeutung
beimaß.[62] Einstein ist das Urbild des rationalen, kritischen Wissenschaftlers, der
den größten Widerwillen gegen alles verschwommene, unsaubere, auf bloßen
Einbildungen und Wunschvorstellungen beruhende Denken hegte, wie es sich in
Theosophie, Spiritualismus und Esoterik bis zur völligen Verdunkelung der
Vernunft so üppig entfaltet. Seine entschiedene Absage an die Irrationalität
historischer Dogmen und Religionen war daher mit gleicher Entschiedenheit gegen
Mystifizierungen jeder Art gerichtet. Wir haben oben gesehen (S. 29 und 32), dass
Mystik dem Verdacht der Mystifizierung immer wieder und nicht ohne Grund
ausgesetzt war.
Andererseits hat Einstein nach eigenem Bekunden den größten Einfluss auf
die Bildung seiner eigenen Weltanschauung von einem Mystiker erfahren, dem
neben Eckhart größten Mystiker des Abendlandes: Baruch de Spinoza, dem auch
Goethe so viel verdankte. Spinoza aber hatte wie nicht wenige Mystiker vor ihm
(so vor allem der Inder Shankara) den erklärten Ehrgeiz, »more geometrico«, mit
Vernunftmitteln also, das alle Vernunft weit Überragende zu erklären. Es war die
logische Strenge, die rationale Durchsichtigkeit, die Absage an alle bloße
Gefühlsduselei, die Einstein wie so viele andere an dem monumentalen geistigen
Bauwerk des Mystikers Spinoza faszinierte – so sehr, dass er sich in seiner
Begeisterung sogar zu einem Gedicht hinreißen ließ.
»Wie lieb hab ich diesen edlen Mann, Mehr als ich mit Worten sagen kann.
doch fürcht’ ich, dass er bleibt allein, Mit seinem strahlenden Heiligenschein… .«
Zugleich aber machte eine für das neuzeitliche Abendland bezeichnende
geistige Verirrung des Denkers aus Amsterdam auf den Naturwissenschaftler
Einstein einen so großen Eindruck, dass er sich noch mitten im zwanzigsten
Jahrhundert, als sie von anderen schon längst überwunden wurde, nicht von ihr
losreißen konnte. Ich spreche hier vom strengen Determinismus Spinozas. Diesem
zufolge wird alles Geschehen und folglich auch das Universum als Ganzes von
einer mechanischen Ordnung beherrscht. An einen New Yorker Verleger, schrieb
Einstein:
»Spinoza ist der erste gewesen, der den Gedanken der deterministischen
Gebundenheit alles Geschehens wirklich konsequent auf das menschliche Denken,
Fühlen und Handeln angewendet hat.«

129
Und an anderer Stelle:
»Unser Handeln sei getragen von dem stets lebendigen Bewußtsein, dass die
Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Tun nicht frei sind, sondern ebenso kausal
gebunden wie die Gestirne in ihren Bewegungen«.
Dieses Festhalten an einer Idee, die gut dreihundert Jahre lang bis zum
Aufkommen der Quantenphysik die größten Köpfe benebelt hatte, hinderte
Einstein bis zuletzt daran, die entscheidenden Erkenntnisse dieser bahnbrechend
neuen Art der Physik uneingeschränkt zu akzeptieren. Ihren Befürwortern hielt er
hartnäckig entgegen: »Gott würfelt nicht«. Allerdings findet sich bei ihm auch ein
Eingeständnis, das niemals aus Spinozas Mund gekommen wäre.
»Wissenschaftliche Forschung beruht auf der Annahme, dass alles
Geschehen einschließlich menschlicher Handlungen von den Naturgesetzen
beherrscht wird… Wir müssen jedoch zugeben, dass unsere gegenwärtige Kenntnis
dieser Gesetze bloßes Stückwerk ist, so dass die Annahme von alles
beherrschenden Naturgesetzen auch auf einer Art von Glauben beruht«.
In seinem späteren Leben, scheint er unter dem Eindruck der Quantenphysik
diesen Glauben allmählich aufgegeben, zumindest abgeschwächt zu haben.
In der Tat, handelt es sich um nichts anderes als einen Glauben, eine
»metaphysische« Annahme, wie Popper es ausdrückt, die für das praktische
Vorgehen des Naturwissenschaftlers unerlässlich ist, denn es macht für ihn nur
einen Sinn nach Gesetzen zu suchen, wenn er deren Existenz in dem von ihm
durchsuchten Bereich zunächst einmal voraussetzt. Aber diese methodologisch
unerlässliche Voraussetzung darf, wie Karl Jaspers sagt, nicht mit einer Aussage
über das Sein verwechselt werden.

»Die Voraussetzungen einer Forschung, mit denen man wissenschaftlich


sieht, wie weit man kommt, verführen unwissenschaftlich, zumal bei großen
Erfolgen dazu, diese Voraussetzungen selbst schon als grundsätzlich
vorweggenommene Erkenntnis des Ganzen anzusehen. Vorläufig noch letzte
Annahmen werden fälschlich für grundsätzlich abschließende Erkenntnis
angesehen, so die vollständige Mathematisierbarkeit der Natur. Methoden
und relative Voraussetzungen werden zur Sache selbst. Erkennbarkeiten in
unbestimmbaren Horizonten zum absoluten Sein.«[63]

Ähnlich Spinoza war Einstein ein Mystiker, doch beide haben die Welt nur als ein
Uhrwerk zu sehen vermocht: ein Uhrwerk freilich, dessen unglaublich komplexes
Funktionieren der Mensch nie vollständig aufdecken würde. Beide, Einstein
ebenso wie Spinoza, haben sich von dem gängigen Anthropomorphismus der
Gottesvorstellung vollständig losgesagt, aber sie vermochten sich nicht von einem
letzten Anthropomorphismus frei zu machen, der in dem Bedürfnis des
erkennenden Menschen, speziell des Wissenschaftlers, besteht, sich die Welt als
durchgehend erkennbar zu denken. Das Universum sollte Ordnung und nichts als
Ordnung sein – Einstein selbst spricht im obigen Zitat von einem Glauben - also

130
wurde ihm der Determinismus auferlegt, aber eingekleidet in die Gefühle des
Erhabenen, Schönen und Göttlichen. Diese Verherrlichung einer
vernunftkonformen und deshalb als schön empfundenen mathematischen Ordnung
ist uns heute sehr fremd, aber sie hat eine lange Vorgeschichte. In gerader Linie
führt sie von Pythagoras über Plato, Kepler, Spinoza und Newton bis eben zu ihm,
Albert Einstein.
Und selbst noch zu Erwin Schrödinger. Dieser hat den Widerspruch in der
gleichzeitigen Annahme einer durchgehenden Kausalität und menschlicher
Willensfreiheit in aller Schärfe gesehen:

1. Mein Körper funktioniert als reiner Mechanismus in Übereinstimmung mit


den Naturgesetzen.
2. Doch weiß ich aufgrund unbestreitbarer unmittelbarer Erfahrung, dass ich
seine Bewegungen lenke und deren Folgen voraussehe, die entscheidend und
höchst bedeutsam sein können; in diesem Fall empfinde und übernehme ich
die volle Verantwortung für sie.
Die einzig mögliche Folgerung aus diesen zwei Tatsachen ist die folgende:
Ich – Ich im weitesten Sinne des Wortes, d. h. jedes bewusst denkende
Wesen, das sich als Ich bezeichnet oder empfunden hat – ist die Person,
sofern es überhaupt eine gibt, welche die »Bewegung der Atome« in
Übereinstimmung mit den Naturgesetzen leitet.[64]

Die erste These belegt, dass auch Schrödinger den metaphysischen Glauben der
Machtwissenschaft an eine durchgehende Mechanik des Weltgeschehens ungeprüft
übernimmt. Doch ist der Physiker ehrlich genug, die Evidenz der Willensfreiheit
anzuerkennen und sie nicht etwa als subjektive Illusion abzutun. Die Lösung, die
er für diesen offenkundigen Widerspruch findet, ist ebenso ingeniös wie an den
Haaren herbeigezogen. Schrödinger erklärt ein umfassendes Ich, das alle Einzel-
Ichs in sich birgt, zum geistigen Motor, der das Wirken der Naturgesetze aus sich
heraus bestimmt. Diese Lösung ist deswegen so gewaltsam, weil Schrödinger zwar
einerseits den Standpunkt des gesunden Menschenverstands bezieht, wenn er die
Willensfreiheit als Realität anerkennt, sich dann aber über die Evidenz hinwegsetzt,
indem er die Unfreiheit, die dieses mechanische Wirken zwangsläufig nach sich
zieht, dadurch in vermeintliche Freiheit uminterpretiert, dass er das Ich – ein alle
Einzel-Ichs umgreifendes Universal-Ich - selbst zum bewegenden Motor der
Naturgesetze erhebt. In dieser merkwürdigen Sicht wird das Ich zwar zum
Gesetzgeber der gesamten Natur ernannt, denn es lenkt die »Bewegung der Atome
in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen«, faktisch aber wird es dadurch zum
Sklaven seiner eigenen Erlässe, denn der Mechanik dieser Gesetze ist es
vollkommen ausgeliefert. An derartigen intellektuellen Manövern lässt sich
erkennen, bis zu welchem Grade der deterministische Glaube – ein bloßes
Konstrukt - noch bis in die jüngste Vergangenheit alles Denken heillos verzerrte.

131
Bei Einstein wie auch bei Schrödinger haben wir es mit einer Art Mystik zu
tun, der wir den Vorzug zusprechen müssen, dass sie sich der Vernunft nicht
schämt und sogar darum bemüht ist, die ganze Tiefe des Daseins mit ihrer Hilfe
auszuloten. Der offenkundige Mangel dieser »Mystik der Mathematiker« besteht
freilich darin, dass sie sich vom grundlegenden Dogma der Machtwissenschaft
nicht loszureißen vermochte.

132
Dimensionen des Einsseins

Die mystische Verzückung


Es gibt eine ganz elementare, eine der Vitalität des Menschen, vor allem des
jungen, gesunden, kraftvollen und selbstbewussten Menschen, entspringende
Lebenslust, deren sichtbare Wirkung in einem Einverständnis mit der ihn
umgebenden Welt besteht. Es scheint sogar, dass jeder Mensch als Säugling, also
im Stadium seiner frühesten Entwicklung, wenn er sich im Schutz der Mutter wie
niemals mehr später als völlig behütet und unverletzbar erlebt, zwischen sich selbst
und den umgebenden Dingen noch keinen Unterschied macht. Er erlebt sich selbst
noch nicht als ein von anderen abgesondertes Individuum, das sich durch einen
Namen, einen eigenen Willen, eine eigene Person auszeichnet und diese gegenüber
einer oft feindlichen Umwelt behaupten muss. Die Grenzen zur umgebenden Welt
sind noch verschwommen.
Dieses ursprüngliche Einheitserleben wird schon in den ersten Jahren
beginnender Bewusstseinserhellung durch eine deutliche Abgrenzung des eigenen
Ich gegen die anderen Ichs abgelöst sowie gegen die Umwelt aller übrigen
belebten und nichtlebenden Dinge. Doch wenn sich das ursprüngliche Gefühl, in
der Welt aufgehoben zu sein, in einer behüteten Kindheit befestigt hat, vermag es
sich noch lange darüber hinaus zu erhalten. Auch wenn der junge Mensch sich
aufgrund seiner entwickelten kognitiven Fähigkeiten der eigenen Persönlichkeit
zunehmend bewusst ist, entfaltet sich seine natürliche Lebenslust inmitten einer
Welt von Dingen, die seine innere Befindlichkeit von Beruhigung oder Freude wie
in einem Spiegel reflektieren.
Eine solche Spiegelung der eigenen Seelenzustände in der äußeren Welt wird
auch noch von erwachsenen Menschen erlebt und oftmals sehr tief empfunden.
Romain Rolland hat dem damit verbundenen Zustand den Namen »ozeanisches
Gefühl« gegeben, andere sprachen von »kosmischem Bewusstsein«.[65] Doch nur
wenige erleben die Dinge und Wesen noch wie im Märchen als ihre Brüder und
Schwestern. Zu diesen wenigen zählen vor allem Dichter. Sie halten an dem
urtümlichen Erleben fest, wenn sie sich in die Schönheiten von Meer, Wolken,
Blumen, Gebirgen und Wäldern versenken und die Natur dabei zu etwas ganz
Nahem, uns auf geheimnisvolle Weise Verwandtem machen. Künstler werden aber
von ihren Mitmenschen nur deshalb verstanden, weil auch in ihnen die Nachklänge
solcher Erfahrungen wirken. Nicht selten beschreibt der Dichter die Dinge ganz
auf dieselbe Weise, wie der junge Mensch sie ursprünglich einmal wahrnahm: so
von Leben erfüllt wie er selbst. Sie haben einen eigenen Willen, sie atmen Freiheit
und Lebensfreude und sie sprechen zu ihm auf eine zwar rational nicht erklärbare
dennoch als evident empfundene Weise. Ich-Entgrenzung oder »ozeanisches
Gefühl« sind ein Erlebnis, das wohl allen Menschen irgendwann im Laufe ihres
Lebens zuteil wird - den meisten freilich nur in ihrer Kindheit und dann nur selten
und im Vorübergehen. Manche beschwören es später als eine Kostbarkeit, die

133
ihnen als etwas in der Kindheit Verlorenes erscheint, das sie als einzigartig
empfanden.
Der erwachsene, ich-bewusste, seinem nutzenorientierten Alltagsdenken
unterworfene Mensch fühlt sich vom Dichter zwar manchmal in seinem Inneren
angesprochen – doch lässt er seinen Alltagsverstand dann doch jenes Machtwort
sprechen, das diese Wirkung augenblicklich relativiert oder auch völlig vernichtet.
»Es ist ja liebenswürdig und schön, was uns da von einem Schwärmer gesagt wird,
aber leider ist es doch ganz und gar wirklichkeitsfremd und deswegen eigentlich
entbehrlich. Manchen wir uns doch nichts vor. Die Dinge sind uns in Wirklichkeit
fremd. Sie haben mit uns nichts gemein. Ich als dieses denkende und fühlende
Subjekt bin grundlegend anders als diese Gegen-Stände«. So lautet die
Abwehrreaktion einer die Welt schließlich nur noch als zu manipulierendes
Gegenüber verfremdenden Vernunft.
In den meisten Menschen lebt daher bestenfalls die flüchtige Ahnung von
einer anderen als dieser dem Denken und Fühlen gleichermaßen entfremdeten Welt.
Nur ganz wenige Menschen haben sich jene Fein- und Dünnhäutigkeit bewahrt,
um die Dinge außer sich unmittelbar und nicht bloß mit dem selektierenden
Verstand zu erfahren, der sie sogleich im Hinblick auf ihren praktischen Nutzen
befragt. Aus Sicht der nutzenhörigen Intelligenz sind die Grenzen zwischen
manipulierendem Ich auf der einen und manipulierter Außen- und
Mitmenschenwelt auf der anderen Seite ganz scharf und eindeutig gezogen. Hier
bin Ich, und da ist die übrige Welt. Auch die kritische Vernunft kann dagegen nicht
mehr ausrichten als uns zu zeigen, dass das selbstgewisse Ich gerade einmal in der
Mittleren Welt regiert und selbst dort nur in eingeschränktem Maße. Doch damit
daraus der Durchbruch zu einer existenziellen Erfahrung wird, reicht das rationale
Argument nicht aus. Es muss etwas anderes hinzukommen: die eigene Erfahrung,
die in Erstaunen und emotionaler Erschütterung besteht. Eine solche Erschütterung
kann aus der Konfrontation mit der Natur erwachsen ebenso wie durch große
Dichtung und Kunst ausgelöst werden. Die Metapher, der virtuose Gebrauch des
Wortes, das ungewohnte Bild, die Beschwörung der tiefer liegenden und
verschütteten psychischen Schichten gehören zu ihren Mitteln. Der Mond
verdüstert sich, als wäre er traurig, die Rose leuchtet, als stiege in ihr die Freude
hoch. Die Wellen schlagen gegen das Ufer als beeilten sie sich, das Land in sich
hineinzufressen. Von der ursprünglichen Ahnung erfüllt, beschwören die Dichter
mit ihren Bildern eine Beseelung, die sich doch mit so groben Mitteln nicht
einfangen sondern immer nur andeuten lässt.
Auch die Philosophie kann hier nur Hilfsarbeit leisten. Einen Menschen, der
über das Alltagsbewusstsein hinauszudringen vermag, bestärkt sie in seiner
Haltung, einen anderen, der im Panzer des eigenen Ich ganz gefangen ist, kann sie
nur selten daraus erlösen. Ein Beispiel dafür, dass das rationale Argument allein
ohnmächtig bleibt, liefert Baruch de Spinoza, der wohl größte philosophische
Mystiker des neuzeitlichen Abendlandes. Für Spinoza ist die ganze Welt
Offenbarung Gottes, denn sie ist strikt identisch mit Gott: Deus sive Natura (Gott

134
gleich Natur). Was wir an der Welt zu erkennen vermögen sind Materie und Geist,
die bei Spinoza Ausdehnung und Gedanken heißen. Vielleicht gebe es an der Welt
noch vieles andere zu erkennen, sagt der Mystiker aus Amsterdam, aber dem
menschlichen Verstand sind eben nur Geist und Materie zugänglich. Vom
Standpunkt Gottes betrachtet, seien aber beide identisch: Gedanken nur
unsichtbare Ausdehnung und Ausdehnung nur sichtbarer Gedanke. Anders gesagt,
ist Gott letztlich eine Einheit, in der Materie und Geist ununterscheidbar werden.
Ohne den »intuitus mystikus«, der ihn in seinem persönlichen Erleben über
die Grenzen der rationalen Erkenntnis hinausgeführt hat, hätte Spinoza sein durch
und durch rational konstruiertes System nicht aufstellen können. Allerdings ist von
diesem persönlichen Hintergrund in den Schriften des Philosophen wenig zu
spüren. Die Ethik, das Hauptwerk Spinozas, wird in den dürren Worten einer
quasi-geometrischen Beweisführung (more geometrico) vorgetragen. Der Mystiker
wollte sich - in dieser Hinsicht zutiefst von Descartes beeinflusst - nur auf die
Ratio verlassen und wählte daher die quasi-mathematische Art des Beweises. So
verdunkelt bei ihm die Ratio die eigene mystische Basis, denn das kritische
Denken in Gestalt einer bis an ihre Grenzen voranschreitenden Ratio ist zwar der
beste Verbündete der Mystik, aber allein vermag es nicht ans Ziel zu führen.
Mystisches Erleben lässt sich durch Ratio nicht erzwingen, schon gar nicht »more
geometrico«. Die von Descartes herrührende geometrische Mode ist einer der
Gründe, warum die Schriften des großen niederländischen Mystikers für die
meisten Menschen außer professionellen Philosophen heute beinahe unlesbar
geworden sind.
Ein weiterer Grund liegt in den Auffassungen Spinozas zur Ethik. Denn
gerade sie, die Ethik, bildet den am wenigsten überzeugenden Teil seiner »Ethik«.
Auch Spinoza unterwarf sich dem Dogma eines allbeherrschenden Determinismus,
wie er zu seiner Zeit von den aufkommenden Naturwissenschaften verfochten
wurde. Die mystische Wahrheit vom Einssein von Mensch, Welt und Gott wurde
von ihm dadurch verkleinert, dass er Welt und Mensch nur als willenlose
Exekutoren einer allbeherrschenden Gesetzesmechanik zu sehen vermochte.
Dennoch bildet die pantheistische (besser: monistische) Mystik Spinozas eine
tiefe Zäsur in der Geistesgeschichte Europas. Sie hat viele der größten Köpfe
zutiefst beeinflusst, allen voran Goethe, dann den ganzen deutschen Idealismus
und im gerade vergangenen Jahrhundert den Physiker Albert Einstein. Und sie hat
nicht zuletzt ihrem Urheber jene Gelassenheit verliehen, die es ihm möglich
machte, den Bannfluch seiner jüdischen Mitbürger ebenso still zu ertragen wie die
Feindschaft zahlreicher anderer Gegner, die ihn aus Böswilligkeit oder Unverstand
des Atheismus bezichtigten. Denn Spinoza musste zwar die Idee eines nach
menschlichem Vorbild gedachten personalen Gottes genauso verwerfen wie andere
große Mystiker vor ihm, doch dadurch wurde die Gottheit eben gerade nicht
verkleinert oder gar zum Verschwinden gebracht, sondern im Gegenteil aus der sie
erniedrigenden Menschenähnlichkeit erlöst und ins wahrhaft Unendliche

135
ausgeweitet. Die Gottheit war überall, Spinoza sah sie, wohin er auch blickte: in
den Dingen, in sich selbst ebenso wie in den anderen Menschen.

136
Rückblick (pantheistische Gleichsetzung):
Aus der Liste der großen Dichter, die das ozeanische Gefühl der Ich-Entgrenzung
mehr oder weniger deutlich und eindringlich beschwören, ragt einer besonders
hervor, der davon sein Leben lang ohne Wenn und Aber, ja geradezu mit
hemmungsloser Hingabe sprach. Djalal od-Din Rumi, der große persische
Mystiker, fast Zeitgenosse von Eckhart, flüchtet sich gar nicht erst in das Als-Ob
der Metaphern. In einem Zustand, der dem einer lebenslänglichen Trunkenheit
gleicht, beschreibt er sich selbst als das Sandkorn in der Wüste, die Rose im Garten,
als das Licht der aufgehenden Sonne. Sich selbst erlebt er in allen Dingen der ihn
umgebenden Natur und wiederum die ganze Natur im eigenen Inneren. Bei ihm
bricht die ursprüngliche Ahnung in kindlicher aber keineswegs naiver Gestalt
hervor, indem er die ganze Natur von menschlichen Gefühlen durchpulst sein lässt
und sich selbst als ein Stück Natur in all ihren wandelbaren Formen begreift. Die
ursprüngliche Wesensverwandtschaft aller Dinge erfährt er als andauernde
Verzückung, der er in seinen Versen wieder und wieder Ausdruck verleiht.

Du bist der Schreiber und die Schrift bist du,


Tint' und Papier und Schreibestift bist du.

Du bist die Sternenschrift am Himmel dort,


Im Herzen hier die Liebeschrift bist du.

Du bist die Ruh', die Unruh' bist du auch,
Das Gift und auch das Gegengift bist du.

Was kann ich treffen? was kann treffen mich?
Was trifft der Sinn, und was ihn trifft, bist du.

Diese unmittelbare Gleichsetzung von Gott, Mensch und Natur entspringt einem
Seelenzustand, der in der Jugend besonders häufig und oft stark von Liebe geprägt
ist. Sehr schön hat Schleiermacher diese naive Zuwendung beschrieben.

»Jener erste geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder sinnlichen


Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen,
wo der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander geflossen und Eins
geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren -
ich weiß wie unbeschreiblich er ist, und wie schnell er vorüber geht, ich
wollte aber Ihr könntet ihn festhalten und auch in der höheren und göttlichen
religiösen Tätigkeit des Gemüts ihn wiedererkennen… Flüchtig ist er und
durchsichtig wie der erste Duft womit der Tau die erwachten Blumen
anhaucht, schamhaft und zart wie ein jungfräulicher Kuss, heilig und
fruchtbar wie eine bräutliche Umarmung; ja nicht wie dies, sondern er ist
alles dieses selbst… Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in

137
diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr
unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblicke mein
Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine
eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und
meiner Ahndung wie die meinigen. Die geringste Erschütterung, und es
verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir
als eine abgesonderte Gestalt … .«

Dieselbe jugendliche Anbetung der Natur strömt aus den Versen Walt Whitmans:

Ich glaube an dich, meine Seele…


Schlendre mit mir durch das Gras, löse den Frosch aus deiner Kehle,
Ich denke daran, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigen
Sommermorgen,
Alsbald erhob und breitete sich um mich der Friede und das Wissen, das
höher ist als alle Beweisgründe der Erde,
Und ich weiß, dass die Hand Gottes die Gewähr für meine eigene Hand ist,
Und ich weiß, dass der Geist Gottes der Bruder meines eignen Geistes ist,
Und dass alle Männer, die je geboren, auch meine Brüder sind und die
Frauen meine Schwestern und Liebsten,
Und dass der Richtkiel der Schöpfung Liebe ist.[66]

Friedrich Hölderlin drückt es beinahe so aus wie die Seher der Upanishaden:

»Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des
Menschen.«

138
Der Urgrund der Dinge
Erwachsene Menschen leben nicht länger in jener ursprünglichen Symbiose, wo
der Leib der Mutter erst den Embryo umhüllte und später den Säugling vor allem
Übel schützte. Der erwachsene Mensch weiß, dass es einerseits Rosen gibt und die
verzaubernde Stille von Herbstlandschaften und andererseits harte Winter,
vernichtende Stürme, Krankheiten und Tod. Diese Erfahrungen lassen die Grenzen
zwischen seinem verletzlichen Ich und einer nur ausnahmsweise freundlichen
Umwelt zunehmend höher und härter werden. Er sieht sich manchmal von einer
lächelnden, aber zu anderen Zeiten von einer finsteren, ihn mit Vernichtung
bedrohenden Natur umgeben. Und ebenso zwiespältig wird sehr bald sein
Verhältnis zu anderen Menschen. Es gibt unter ihnen Freunde und nächste
Verwandte, die ihm vielleicht wie ein Spiegelbild oder eine Variation des eigenen
Ich erscheinen, aber es gibt auch Feinde und Barbaren, die ihm unter Umständen
noch viel schrecklicher erscheinen als selbst die schrecklichste Natur. Die
Erfahrung einer solchen ihm grundverschieden gegenübertretenden Umwelt kann
jenes ursprüngliche Einheitserleben in ihm so völlig ersticken, dass sie – wie es
zum Beispiel Freud in seinem Briefwechsel mit Romain Rolland von sich sagte –
keine Spur des ozeanischen Gefühls in sich verspüren.
Doch selbst dann, wenn die ursprüngliche Ahnung weiterlebt, muss sie sich
doch gegen die eben genannten Einwände behaupten. Das Hochgefühl und die
Verzückung eines Djalal od-Din Rumi stoßen bei weniger spontanen Naturen auf
starke Vorbehalte, wenn nicht offene Ablehnung. Das Ich als Sandkorn in der
Wüste, als Rose im Garten, Tautropfen an einem Blütenkelch - das mögen für
einige Menschen erschütternde, als wunderbar empfundene Bilder sein, aber
andere erleben zumindest große Teile des Wirklichen als viel zu hässlich,
abstoßend und fremd, als dass sie darin eine Wesensgemeinsamkeit erkennen
könnten. Dem nüchternen und philosophischen im Gegensatz zum ekstatischen
Mystiker ist es daher unmöglich, sich mit den Dingen, so wie sie sind, abzufinden.
Er fragt nach ihrem Urgrund, nach demjenigen also, was sie als Essenz hinter ihrer
so oft erschreckenden Oberfläche verbergen. Selbst die Schönheit, die der Dichter
an ihnen besingt, ist für ihn nur ein schwacher Abglanz dieses in ihnen
verborgenen Wesens. Und so wie er in der äußeren Welt nach dem Verborgenen
Ausschau hält, so auch im Grund seines eigenen Wesens. Wenn dieser eher
nüchterne, philosophische Mystiker von der Einheit der Dinge spricht, dann meint
er das in einem anderen Sinne als der trunkene persische Dichter. Er spricht von
der Einheit, die unter der Oberfläche verborgen liegt. So versteht es zum Beispiel
Meister Eckhart, wenn bei ihm von jenem innersten Seelenfünkchen die Rede ist,
das nur dem geistigen Auge erkennbar in den kleinsten Dingen ebenso wie im
eigenen Ich existiert und als göttliche Essenz den Urgrund der Welt ausmacht. Gott
ist bei ihm gleichbedeutend mit diesem in allen Wesen und Dingen verborgenen
Urgrund.
Auf verblüffend ähnliche Weise haben die Brahmanen der Upanishaden diese
mystische Einheitsschau zum Ausdruck gebracht.[67] Den Urgrund des Menschen

139
nannten sie seinen Atman, den Urgrund der Dinge nannten sie Brahman. Die
erschütternde Erkenntnis, in der die ursprüngliche Ahnung genauso, wenn auch in
abgewandelter Form ihren Ausdruck erhält wie bei Eckhart, besteht in der
Gleichsetzung von Atman und Brahman. Dieses dein verborgenes Selbst, das ist
die ganze weite Welt der dich umgebenden Dinge. In Wahrheit findest du die
ganze äußere Welt in dir selbst und dich in allen Dingen. Du musst dich nur für
diese ursprüngliche Erfahrung öffnen. Der Schüler Shvetaketu wird von seinem
Lehrer und Vater Aruni aufgefordert, ein Sesamkorn in immer kleinere Teile zu
spalten. Schließlich ist der letzte Teil so klein, dass er ihn nicht mehr zu sehen
vermag. In diesem Augenblick belehrt ihn der Meister, dass er gerade jetzt auf den
Urgrund gestoßen sei, nämlich auf Brahman, die allen Dingen unsichtbar zugrunde
liegende Essenz. Und dann folgt die großartige Formel, in der die eigentliche
Erkenntnis besteht: Tat twam asi. Das bist du selbst, denn in dir liegt derselbe
unsichtbare Urgrund unter dem Namen Atman verborgen. Nicht die verwirrende
Vielfalt der Dinge und auch nicht du als konkretes Individuum bezeichnen das
Wesentliche, sondern der in dir wie in den Dingen verborgene Urgrund. Erst in der
Tiefe dieses gemeinsamen Urgrunds offenbart sich die Einheit des Seins. Die
Verzückung durch die Erkenntnis ist immer noch dieselbe wie bei Rumi, aber der
Blick des Mystikers gilt hier nicht mehr der schillernden Oberfläche der Dinge
sondern ihrem tiefer liegenden Wesen.

140
Rückblick (Einssein):
Es gibt verschiedene Wege, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen. In der
Chāndogya-Upanishad lässt Uddālaka Āruni, Lehrer seines Sohnes Shvetaketu,
diesen den Samen einer Feigenfrucht immer weiter zerkleinern, bis nichts mehr zu
sehen ist. In diesem Moment sagt der Vater.

Die Feinheit, die du nicht wahrnimmst… aus dieser Feinheit fürwahr ist
dieser große Nyagrodhabaum entstanden.
Was jene Feinheit ist, [daraus besteht]… dieses Weltall, das ist das Reale, das
ist die Seele, das bist du, o Shvetaketu!«

Das erfährt Shvetaketu aus einem weiteren Beispiel.

»Hier dieses Stück Salz lege ins Wasser und komme morgen wieder zu mir.«
– Er tat es. Da sprach er: »Bringe mir das Salz, welches du gestern Abend
ins Wasser gelegt hast.« – Er tastete danach und fand es nicht, denn es war
ganz zergangen. »Koste davon von dieser Seite! – Wie schmeckt es?« –
»Salzig.« – »Koste aus der Mitte! – Wie schmeckt es?« – »Salzig.« – »Koste
von jener Seite! – Wie schmeckt es?« – »Salzig.« – »Lass es stehen und
setze dich zu mir.« – Er tat es [und sprach]: »Es ist immer noch vorhanden.«
– Da sprach jener: »Fürwahr, so nimmst du auch das Seiende hier [im Leibe]
nicht wahr, aber es ist dennoch darin. – Was jene Feinheit ist, ein Bestehen
aus dem ist dieses Weltall, das ist das Reale, das ist die Seele, das bist du, o
Shvetaketu!«

Dieses Weltall, dass dir als etwas scheinbar von dir Verschiedenes gegenübersteht,
das ist in Wahrheit der Stoff, aus dem deine Seele gemacht ist, und umgekehrt
deine Seele nichts anderes als die Manifestation dieser Welt. So auch an einer
anderen Stelle derselben Upanishad:

Gewisslich, dieses Weltall ist Brahman…dieser ist meine Seele (Ātman) im


innern Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Gerstenkorn oder Senfkorn oder
Hirsekorn oder eines Hirsekornes Kern; – dieser ist meine Seele im innern
Herzen, größer als die Erde, größer als der Luftraum, größer als der Himmel,
größer als diese Welten.

In überschwänglicher Weise sagt es die Kaivalya-Upanishad:

Brahman, die höchste Allseele,


Des Weltalls großer Ruhepunkt,
Des Feinen Feinstes, dies Ew'ge
Du selbst bist es, und es ist du!

141
In mir entstand das Weltganze,
In mir nur hat Bestand das All,
In mir vergeht es, dies Brahman,
Das zweitlose, ich bin es selbst!

Die universale Sprache der Mystik überspringt aber mühelos Zeiten und Kulturen.
Ganz ähnlich wie die Inder tausend Jahre zuvor, drückt sich ein Weltbürger des
römischen Reiches im dritten nachchristlichen Jahrhundert aus. Bei Plotin heißt es:

Jedes Wesen fasst in sich die ganze geistige Welt. Darum ist überall alles.
Jeder ist dort Alles und Alles Jedes.
Der Mensch, wie er jetzt geworden ist, hat aufgehört, dass All zu sein. Wenn
er aber aufhört, ein Individuum zu sein, dann schwingt er sich wieder auf
und durchdringt die ganze Welt. Denn eins geworden mit dem All, schafft er
das All.

Eckhart, der deutsche Mystiker, wählt eine etwas andere Ausdrucksweise, weil er
einer anderen Tradition entstammt, aber der Sinn ist derselbe. Bei ihm heißt es:

Die Seele ist alle Dinge.

Weil sich aber das Göttliche ebenso in der Seele jedes Menschen wie in der ihn
umgebenden Wirklichkeit manifestiert, kann Eckhart den gleichen Inhalt auch im
folgenden Satz ausdrücken.

Der erkennt Gott recht, der ihn in allen Dingen erkennt.

Angelus Silesius scheut sich nicht, im Cherubinischen Wandersmann in kindlicher


Naivität das eigene Selbst mit Gott gleichzusetzen.

Jch bin wie Gott / und Gott wie ich.


Jch bin so groß als GOtt / Er ist als ich so klein;
Er kan nicht über mich / ich unter Jhm nicht seyn.

Das Göttliche ist eben keine Instanz, die, vorgestellt nach Art eines Monarchen,
jenseits oder über der Welt heimisch ist, sondern es durchdringt diese Welt,
spiegelt sich in ihr, reflektiert sie wie ein Hologramm, wo das Größte im Kleinsten
verborgen liegt. Schließen wir diesen Überblick mit einem Gedicht von Goethe ab,
das dieselbe Wahrheit zum Ausdruck bringt.

Was wär ein Gott, der nur von außen stieße,


Im Kreis das All am Finger laufen ließe
Ihm ziemts, die Welt im Innern zu bewegen,

142
Natur in sich, sich in Natur zu hegen,
So dass was in ihm lebt und webt und ist,
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermisst.

143
Worin besteht dieser Urgrund?

Nicht also das, was sie einsieht, sättigt die Vernunft oder ist ihr Ziel. Und
nicht das, was sie durchaus nicht einsieht, kann sie sättigen, sondern allein
das, was sie durch Nichteinsehen einsieht. Nikolaus von Kues, De Visione
Dei.[68]

Die Frage nach dem Urgrund wurde durch die Jahrhunderte immer von Neuem
gestellt. Mit anderen Worten, der Mensch versuchte, das ihn überschreitende
Ganze in seinem Gehirn irgendwie als intellektuelle Information abzubilden. Das
ist ganz wörtlich zu nehmen. Er zog Bilder aus der Mittleren Welt heran, um das,
was die Mittlere Welt überschreitet, in klaren, ihm geläufigen Begriffen zu
kondensieren. Diese Versuchen mussten letztlich alle zum Scheitern verurteilt sein,
aber sie zeigen doch in ihrer Vielgestalt und ihren jeweils anderen
Akzentsetzungen, welche Bilder aus der ihm nahen Mittleren Welt er am ehesten
dafür geeignet hielt, das transzendente Sein jenseits der sichtbaren Sinnenwelt zu
beschreiben.
Man konnte dabei so vorgehen, dass man die sinnlich erkennbaren
Unterschiede einfach verdoppelte, indem man Entsprechungen dazu im
Unsichtbaren postulierte. Das hat Plato mit seiner Ideenlehre getan. Neben und
jenseits der realen Bäume existierte der Baum als Idee, neben und jenseits des
realen Tisches der Tisch als Idee. Sein Ziel, die Welt jenseits unserer Erfahrung
damit zu erhellen, hat Plato damit verfehlt, aber er lieferte ein bis heute
brauchbares Modell, um die Abdrücke zu erklären, die die sinnliche Erfahrung in
unserem Gehirn hinterlässt. Denn hier haben wir es ja tatsächlich mit einer
Verdoppelung des Wirklichen zu tun. Wir wissen, dass es den individuellen Baum
dort draußen gibt, z. B. die Birke im Garten dort hinter meinem Haus. Aber nicht
das Bild dieser einzigartigen Birke ist in meinem Gehirn abgelegt, sondern eine
Synthese all jener Birken, die ich jemals gesehen habe, genauer gesagt, nur das
Minimum genau jener Merkmale, die mir erlauben, auf Anhieb eine Birke als
Baum zu erkennen und von jeder anderen mir bekannten Baumart zu unterscheiden.
Dieses Bündel unterscheidender Merkmale kann man sehr wohl als die in meinem
Kopf gespeicherte Idee auffassen, die jenseits der konkreten Individuen oder den
ihnen entsprechenden konkreten Sinneseindrücken besteht. Im Grunde stellte Plato
also nichts anderes als eine Theorie der Erkenntnis auf, die er fälschlicherweise für
eine Seinsdeutung hielt, so als hätte er mit ihr den Bereich der Erfahrung gesprengt
und sich tatsächlich in ein übernatürliches Reich der Ideen vorgewagt.
Anders verhält es sich da schon mit den um etwa eineinhalb Jahrhunderte
früheren Erkenntnissen des Philosophen aus Samos. Am Grunde der Dinge lagen
für Pythagoras (um 570 bis 510 v. Chr.) harmonische Proportionen verborgen; so
vermochte er zum Beispiel den subjektiven Eindruck eines wohlklingenden
Akkords in einfachen mathematischen Verhältnissen auszudrücken. Das brachte
ihn auf den Gedanken, hinter der sichtbaren eine objektive Wirklichkeit zu

144
vermuten. Die ganze für den Menschen so verwirrende Vielfalt der Dinge und
deren fortwährendes Werden und Vergehen war damit auf etwas Tieferliegendem
begründet, das selbst weder wird noch vergeht sondern von göttlicher Schönheit
und mathematischer Einfachheit kündet. Das drückte Pythagoras in dem ihm
zugeschriebenen Diktum aus, dass »alle Dinge [in Wahrheit] Zahlen« seien. Wenn
man die Seele gleichfalls als eine in der Essenz einfache Form auffasste, dann war
eine Brücke zur mystischen Einheitssicht geschlagen. Es scheint zumindest nicht
ausgeschlossen, dass auch Pythagoras auf diese Weise den Seinsgrund der Dinge
mit dem Seinsgrund des Menschen - seiner Seele – auf ähnliche Art wie die
Upanishaden zu verbinden suchte.
Wenn das tatsächlich so gewesen sein sollte, war diesem Versuch allerdings
keine Dauer beschieden. Warum hat sich die Idee nicht durchsetzen können, dass
die Mathematik eine universale und ewige Sprache ist, sozusagen die
Geheimsprache Gottes, worin das Wesen der Dinge und das der Seele verschlüsselt
liegen?
Hierfür gibt es zumindest zwei durchaus unterschiedliche Gründe. Zum einen
sollte sich sehr bald zeigen, dass die Zahlen nicht so einfach - und das musste dann
auch bedeuten - keinesfalls so erhaben und göttlich waren, wie man es anfangs
glaubte. Denn schon die Griechen waren bei ihren mathematischen Forschungen
auf irrationale Zahlen gestoßen: Zahlen, die weder einfach noch endlich waren. So
war es zum Beispiel unmöglich, eine »rationale« Wurzel aus der Zahl zwei zu
ziehen. Ebenso wenig konnte man mit rationalen Zahlen die Summe a2 + b2 = c2 in
einem rechtwinkligen Dreieck begründen. Die Einwände gegen die vermeintliche
Einfachheit einer durch Zahlen erfassten Welt, sollten jedoch erst den Denkern
nach Pythagoras wirklich zu schaffen machen.
So zum Beispiel zweitausend Jahre später Johannes Kepler, der wie
Pythagoras an eine gottgewollte Einfachheit der Naturordnung glaubte und diese in
den kreisförmigen Umlaufbahnen der Planeten verwirklicht sah. Natürlich konnte
nur der Kreis als mathematisch einfache und vollkommene Form aufgefasst
werden, nur eine kreisförmige Bahn konnte deshalb auch als eine von Gott
verordnete, den Himmelskörpern angemessene Bewegungsform gelten. Aber so
wie zweitausend Jahre zuvor die irrationale Wurzel aus zwei den Glauben an die
Einfachheit der Zahlen erschütterte, so wurde Kepler in seiner Verehrung für die
angeblich gottgewollte Einfachheit der himmlischen Umlaufbahnen durch die
Erkenntnis erschüttert, dass die Planeten keineswegs kreisförmige Bahnen
beschreiben, sondern komplizierte Ellipsen. Kepler fürchtete sich vor seiner
eigenen Entdeckung, deren Evidenz er daher auch nur mit Widerwillen akzeptierte.
Mit nicht geringerem Widerwillen nahm später Einstein zur Kenntnis, dass Gott,
wie die Quantentheorie es nahe legte, sich nicht an ein streng deterministisches
Weltordnung hielt, sondern offensichtlich zu würfeln beliebte. Auch für Einstein
büßte die Welt ihre vermeintlich gottgewollte Einfachheit ein, wenn sie nicht
länger als mathematisch strenge Ordnung erfasst werden konnte.

145
Dies war einer der Gründe für den Zweifel an der Mathematik als einer
Sprache, die das eigentliche Wesen der Dinge, ihren Urgrund, bezeichnet.
Ein anderer liegt in der Verwendung der Mathematik als wirksames
Instrument der Naturbeherrschung. Mathematik rückte schon unter den Griechen
zu einem praktischen und nützlichen Werkzeug auf. Diese Rolle sollte sie dann
endgültig seit dem 17. Jahrhundert spielen. Mit anderen Worten, man begann die
Mathematik mehr und mehr in Zusammenhang mit menschlichem Verhalten zu
bringen, das die mechanische Gängelung der Natur ermöglichte und mit der Zeit
auch tatsächlich bewirkte. Je erfolgreicher sich die Mathematik auf diesem Wege
erwies – und diese Erfolge stellten sich seit der europäischen Neuzeit in
überraschendem Maße ein – umso mehr musste sie ihre ursprüngliche Nähe zum
Göttlichen einbüßen. Zu den Zeiten eines Pythagoras oder Plato wurde die
Schönheit eines mathematisch geordneten Universums noch von Dichtern und
Sehern besungen, Mathematik schien ein reines Instrument der Erkenntnis zu sein,
weitgehend ohne praktischen Nutzen. In der europäischen Neuzeit hingegen
wollten Dichter und Seher nichts mehr von ihr wissen. Sie war für sie zu einem
Instrument für den praktischen Nutzen geworden.
Seit Beginn der wissenschaftlichen Epoche im 17. Jahrhundert hat eine
systematische Natur- und Menschenbeherrschung alles, was auf Regelmaß und
Ordnung gründet, also vor allem die Mathematik, dem Dichter und Philosophen
entfremdet. Heute fehlt uns jedes Verständnis für die einstige Erschütterung eines
Pythagoras angesichts der mathematischen Einfachheit jener Saitenverhältnisse,
die der Harmonie der durch sie erzeugten Töne zugrunde liegen. Nicht nach der
starren Ordnung in der Tiefe der Dinge sehnen wir uns heute sondern nach ihrer
unter diesem Ordnungspanzer verschütteten Spontaneität. Wie dies sehr schön der
polnische Philosoph Leszek Kolakowski sagt:

»... In den Dingen, die wir uns dank der Jahrhunderte dramatischer
Anstrengung untertan gemacht haben, vermögen wir keine mythische
Organisation mehr zu entdecken noch ernsthaft an sie zu glauben. Eben weil
sie gebändigt sind, gewissermaßen vor den Karren gespannt, den wir zu
lenken verstehen, erscheinen die physischen Energien unserem Blick
hundertfach "entmenschlichter", gleichgültiger, in der Fülle der
Sinnlosigkeit, obwohl wir sie gerade sinnvoll in unsere Vorhaben
integrierten. Wir sehnen uns erneut nach der aufgegebenen
Unvorhersehbarkeit der Dinge..., wir sehnen uns danach seit dem 18.
Jahrhundert, von dem Augenblick an, in dem die mechanisierte Industrie die
Eroberfläche zu verändern begann«.[69]

Nur die verlorene und geleugnete Freiheit gibt uns heute den Atem und die Seele
der Dinge zurück. Wenn Bilder aus der Mittleren Welt zu eng mit der Verfolgung
von Macht und Nutzen verbunden sind, taugen sie nicht länger als Chiffren für das
verborgene Sein. Der unglaubliche Triumph der Mathematik als praktisches

146
Instrument der Erkenntnis und ihr gleichzeitiger Absturz als Metapher für den
Urgrund der Dinge erklären sich gegenseitig.
Doch gleichgültig, ob wir mit Pythagoras die mathematische Ordnung hinter
den Dingen oder ob wir im Gegenteil Freiheit als Chiffre für den verborgenen
Urgrund setzen, in beiden Fällen übertragen wir letztlich Begriffe der Mittleren
Welt in eine Sphäre, die sich jenseits von ihr befindet. Mit Bildern, die uns vertraut
sind oder zumindest diesen Anschein erwecken, bezeichnen wir das Andere
jenseits des uns Vertrauten. Letztlich gehört es nur zu den jeweiligen Eigenarten
einer Epoche, ob sie das Wesen der Dinge eher in einem verborgenen Regelmaß
(Gesetz) oder in einer alles Regelmaß durchbrechenden Spontaneität sehen will. In
Zeiten wie dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, als das politische ebenso wie
das praktische Leben vielen Menschen chaotisch und unberechenbar erschien, ließ
die Sehnsucht den Menschen eher nach einer verborgenen Ordnung jenseits von
Tumult und Chaos verlangen. In einer Zeit wie der unsrigen, wo die praktischen
Wissenschaften zwar einerseits dem Menschen in Gestalt tausender nutzbringender
Maschinen ungeheuren Gewinn verschaffen, ihn aber gleichzeitig mit der Vision
einer Natur als starrer lebloser Maschinerie bedrohen, sehnt sich der Mensch
umgekehrt nach einer von dieser Starre erlösten Natur zurück. Jede Zeit drückt so
im Kampf gegen vorherrschende Zustände oder Dogmen ihre eigenen Sehnsüchte
aus, die sich in epochebedingten und damit vorübergehenden Sichtweisen äußern.
In diesen Metaphern wird das Wesen der Dinge immer nur bruchstücksweise
erfasst.
Denn letztlich entzieht es sich jeder begrifflichen Fixierung. Durch vorläufige
Bilder kann es immer nur angedeutet, gleichsam beschworen werden. Das ist ja der
Grund dafür, dass Mystik immer wenn sie am konsequentesten war auf dem »das
nicht, das nicht» (»na iti, na iti«) der upanishadischen Seher bestand. Der Urgrund
der Dinge, der auch der Urgrund der Seele ist, lässt sich weder mit diesen noch mit
jenen Bildern der Mittleren Welt beschreiben. Er liegt jenseits aller Begriffe und
Bilder.

147
Rückblick (Kant und Schopenhauer):
Die Mystik hat sich wohlweislich gehütet, den Urgrund der Dinge, den sie doch
immer aufs Neue beschwört, mit den Mitteln der diskursiven Vernunft dingfest zu
machen, anders gesagt, ihn in den Bildern der Mittleren Welt auszudrücken.
Dagegen hat die Philosophie eben dies immer wieder versucht. Mit einem etwas
andersartigen Rückblick auf den deutschen Idealismus möchte ich dieses seltsame
aber letztlich unfruchtbare Unternehmen belegen. Die deutsche Philosophie hat
sich dabei, bewusst oder unbewusst, am Christentum und dessen zentralen
Vorstellungen orientiert, also dem himmlischen Jenseits auf der einen und dem
diesseitigen Jammertal auf der anderen Seite. Das beginnt schon bei Kant. Dieser
hatte das Jenseits in seiner »Kritik der reinen Vernunft« dieser Vernunft zunächst
einmal entzogen. Gottesbeweise konnte es nun keine mehr geben. Der Zugang zum
Himmel war für die reine Vernunft barrikadiert. Um es in Heinrich
Heines belustigten Worten zu sagen:

»Immanuel Kant hat... den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung
über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt
unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr,
keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit,
die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen…«

Nur das irdische Jammertal blieb nun als Spielfeld für die Vernunft zurück,
zugänglich ist ihr nur noch die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit. Diese heilsame
Absage an alle bloße Spekulation wird aber dadurch relativiert, dass sich in die
Betrachtung der empirischen Wirklichkeit von Anfang an das Vorurteil in Gestalt
eines neuen, für das wissenschaftliche Zeitalter kennzeichnenden Dogmas mischte.
Ebenso wie vor ihm Spinoza, Leibniz und Newton dekretiert auch Kant, dass es in
der empirischen Wirklichkeit keine Freiheit geben kann - nur den
Gesetzesmechanismus einer universalen Kausalität. Diesem Denkzwang hat sich
auch Kant nicht entziehen können, ja, er geht sogar noch einen Schritt weiter als
andere Philosophen und Naturwissenschaftler, indem er behauptet, den Grund
hierfür im menschlichen Erkenntnisvermögen selbst gefunden zu haben. Dieses
könne eben nur in den Kategorien von Ursachen und Wirkungen denken. Freiheit
und Zufall hätten nur jenseits der empirischen Wirklichkeit ihren Platz, nämlich in
jenem unerkennbaren Urgrund des Seins, den Kant als »intelligible« Welt
bezeichnet. Hier gerät der Königsberger allerdings in Widerspruch mit sich selbst.
Da die intelligible Wirklichkeit der Vernunft per definitionem nicht zugänglich ist,
können wir nicht wissen, ob es dort so etwas wie Freiheit gibt oder nicht. Wie
schon Albert Lange in seiner »Geschichte des Materialismus« schreibt, hat Kant
die Freiheit gewaltsam aus der empirischen Welt hinauskatapultiert.

»Den unendlich leeren Raum jenseits der menschlichen Erfahrung /hat Kant
dazu benutzt/, um seine intelligible Welt hinein zu bauen... Du kannst, denn

148
du sollst. Also muss es Freiheit geben. In der wirklichen Welt... gibt es keine.
Also mag sie in der intelligiblen Welt wohnen«.[70]

Die philosophische Abwertung des irdischen Jammertals ging im Grunde noch


über die jüdisch-christliche hinaus. Denn das Gleichgewicht ist nun heillos gestört:
der diesseitigen Welt, in der Mensch und Dinge zu mechanischem Funktionieren
verurteilt bleiben, steht kein himmlisches Reich des Trostes mehr gegenüber.
Kants Philosophie bildet damit zugleich einen positiven und einen negativen
Gipfel des Denkens. Einerseits ist sie der Höhepunkt einer Selbstkritik der
Vernunft, die sich nun ausdrücklich zu ihren Grenzen bekennt, andererseits wird
die Sicht auf die wirkliche Welt weiterhin durch das Dogma der Kausalmechanik
verstellt. Dieser Missgriff des größten Exponenten einer kritischen Wissenschaft
lässt sich nur mit der Macht eines Credos erklären, das angesichts der newtonschen
und aller anderen epochalen Entdeckungen so vorherrschend war, dass sich ihm
niemand zu entziehen vermochte. Kant wird dadurch aber zwangsläufig zu einer
doppelten Entwertung der Welt geführt: So weit wir sie durch Verstand und Sinne
erkennen, stellt sie sich uns als Gefängnis dar: Dinge und Menschen sind in ihr zu
einem Dasein von Marionetten verdammt. In Gestalt des christlichen Himmels
hatte die intelligible Welt bis zu Kant immerhin noch eine Zuflucht aus diesem
Jammertal geboten, jetzt war auch dieses Refugium zu einem Nichts geschrumpft,
einem unerkennbaren X. Der große Kritiker Kant, der der Welt doch zunächst ihr
Geheimnis zurückerteilte, indem er zeigte, wie die reine Vernunft überall auf die
Grenzen des Undenkbaren stößt, machte durch diese doppelte Entwertung die
befreiende Wirkung seiner Kritik wieder zunichte.
Vielleicht wäre Schopenhauer nach Spinoza der große Mystiker der
europäischen Neuzeit geworden, hätte er sich in diesem Punkt nicht so sklavisch an
der Fehldeutung Kants orientiert.

»Jeder findet sich selbst als diesen Willen, in welchem das innere Wesen der
Welt besteht, so wie er sich auch als das erkennende Subjekt findet, dessen
Vorstellung die ganze Welt ist, welche insofern nur in Bezug auf sein
Bewußtsein, als ihren nothwendigen Träger, ein Daseyn hat. Jeder ist also in
diesem doppelten Betracht die ganze Welt selbst, der Mikrokosmos, findet
beide Seiten derselben ganz vollständig in sich selbst. Und was er so als sein
eigenes Wesen erkennt, das Selbe erschöpft auch das Wesen der ganzen
Welt, des Makrokosmos…«

Die für den Mystiker typische Aussage von der Identität des eigenen Selbst mit der
äußeren Welt, diese gegenseitige Spiegelung von Makro- und Mikrokosmos, wird
von Schopenhauer in einer wunderbaren, heute wie damals berührenden Sprache
zum Ausdruck gebracht. Und ebenso hebt Schopenhauer wie vor ihm die großen
Mystiker die Bedeutung des Innehaltens und des Sich-selbst-in-den-Dingen-
Verlierens hervor.

149
»Da wir nun also als Individuen keine andere Erkenntnis haben, als die dem
Satz vom Grunde unterworfen ist, diese Form aber die Erkenntnis der Ideen
ausschließt; so ist gewiss, dass wenn es möglich ist, dass wir uns von der
Erkenntnis einzelner Dinge zu der der Ideen erheben, solches nur geschehn
kann dadurch, dass im Subjekt eine Veränderung vorgeht, welche jenem
großen Wechsel ... entsprechend und analog ist ...Wenn man, durch die Kraft
des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtung der Dinge fahren
lässt, ...also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den
Dingen betrachtet, sondern einzig und allein das Was; /wenn man/ die ganze
Macht seines Geistes der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt
und das ganze Bewußtsein ausfüllen lässt durch die ruhige Kontemplation
des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft,
ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer, indem man nach
einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand
verliert, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen, vergisst und nur noch als
reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; so dass es ist,
als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt,
und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen
kann, sondern Beide Eines geworden sind, indem das ganze Bewusstsein
von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen
ist, ...dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als
solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare
Objektivität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der
in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum:... sondern er ist
reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis.«

Anders als Spinoza, der in dieser Hinsicht den Standpunkt der naiven Mystik
vertritt, erblickt Schopenhauer in der uns durch die Sinne vermittelten Welt den
Widerschein eines tiefer liegenden Seins. Das läuft aber umgekehrt darauf hinaus,
dass die Erkenntnisse, die wir in dieser Welt des Scheins gewinnen, nur ihre
Oberfläche betreffen können:

»Daher erkennt denn auch die dem Willen dienende Erkenntnis von den
Objekten eigentlich nichts weiter, als ihre Relationen, erkennt die Objekte
nur, sofern sie zu dieser Zeit, an diesem Ort, unter diesen Umständen, aus
diesen Ursachen, mit diesen Wirkungen dasind, mit einem Wort, als einzelne
Dinge: und höbe man alle diese Relationen auf, so wären ihr auch die
Objekte verschwunden, eben weil sie übrigens /sonst/ nichts an ihnen
erkannte. - Wir dürfen auch nicht verhehlen, dass Das, was die
Wissenschaften an den Dingen betrachten, im Wesentlichen gleichfalls
nichts Anderes als alles Jenes ist, nämlich ihre Relationen, die Verhältnisse
der Zeit, des Raumes, die Ursachen natürlicher Veränderungen, die

150
Vergleichung der Gestalten, Motive der Begebenheiten, also lauter
Relationen. Was sie von der gemeinen Erkenntnis unterscheidet, ist bloß ihre
Form, das Systematische, die Erleichterung der Erkenntnis durch
Zusammenfassung alles Einzelnen, mittelst Unterordnung der Begriffe, ins
Allgemeine, und dadurch erlangte Vollständigkeit derselben«.

Doch weil der Philosoph Schopenhauer sich in diesem Punkt von Kant nicht
loszureißen vermochte, hat er anders als die großen Mystiker der Vergangenheit
der sichtbaren Welt, an die wir durch unser Ego und den Nutzen gebunden sind,
keine unsichtbare Welt gegenüberzustellen vermocht, die das Selbst von Ego und
Nutzen erlöst. Zwar feiert er die »Vorstellung« als einen den Menschen aus dem
Alltag heraushebenden und befreienden Zustand, aber die Vorstellung bleibt dabei
auf eine Welt gerichtet, die, so weit wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen
können, nur mechanisches Uhrwerk ist und die, soweit sie sich unserer
Beobachtung entzieht, von Schopenhauer zum Reich eines sinnlosen, blinden und
bösen Willens erklärt wird. Mit seiner Entwertung der Welt in ihrer sichtbaren wie
unsichtbaren Gestalt geht Schopenhauer sogar über Kant noch hinaus. Bei diesem
war die intelligible Welt der philosophische Ersatz für den Himmel der Theologen
gewesen, zwar ein unerkennbares X für die Erkenntnis, doch dadurch aufgewertet,
dass der Philosoph unter der Hand die Freiheit hineingeschmuggelt hatte.
Schopenhauer hingegen verwandelte diesen ursprünglichen Himmel in eine Hölle,
denn er setzte Kants intelligible Welt mit dem Reich Satans gleich, einem sinnlos
wütenden Willen. So sind bei Schopenhauer das Dies- und das Jenseits
gleichermaßen verdüstert. Hören wir zunächst, was Schopenhauer über die
sichtbare Welt zu sagen hat.

...die Physik verlangt Ursachen...da muss z. B. jede Bewegung ...eine


Ursache haben, auf der sie in Beziehung auf bestimmte Zeit und Ort, d.
h...als einzelne Erscheinung zu erklären ist. Die Ursache ist eine
mechanische beim Stein, ist ein Motiv bei der Bewegung des Menschen:
aber fehlen kann sie nie...Die Kette der Ursachen und Wirkungen wird...nie
durch eine ursprüngliche Kraft, auf die man sich zu berufen hätte,
abgebrochen, läuft nicht etwan auf diese, als auf ihr erstes Glied
zurück; ...Die Ätiologie /Kausaldeutung/ der Natur und die Philosophie der
Natur tun einander nie Abbruch; sondern gehn neben einander, den selben
Gegenstand aus verschiedenem Gesichtspunkte betrachtend.

Und noch deutlicher an anderer Stelle:

Ist er /der Wille/, wie es sowohl Kants Lehre, als meine ganze Darstellung
notwendig macht, als Ding an sich, außer der Zeit und jeder Form des Satzes
vom Grunde; so muss nicht allein das Individuum in gleicher Lage stets auf
gleiche Weise handeln, und nicht nur jede böse Tat der feste Bürge für

151
unzählige andere sein, die es vollbringen muss und nicht lassen kann;
sondern es ließe sich auch, wie Kant sagt, wenn nur der empirische
Charakter und die Motive vollständig gegeben wären, des Menschen
Verhalten, auf die Zukunft, wie eine Sonnen- und Mondfinsternis
ausrechnen. Wie die Natur konsequent ist, so ist es auch der Charakter: ihm
gemäß muss jede einzelne Handlung ausfallen, wie jedes Phänomen dem
Naturgesetz gemäß ausfällt...

In der Welt der Erfahrung sind die Menschen also übel dran, denn es bleibt ihnen
nichts anderes übrig, als dort die Rolle bloßer Marionetten an den Fäden der
Notwendigkeit zu spielen. Das philosophische Jenseits aber bietet ihnen schon gar
keinen Trost: An der Wurzel des Daseins, dieses beherrschend und es bedingend,
lauert Leviathan, ein furchtbares Ungeheuer. Schon bei Schopenhauer kündigt sich
der Existenzialismus an, der den Menschen als einen unendlich kleinen und
einsamen Funken hinaustreibt in die Dunkelheit einer vollkommen leeren und
sinnlosen Welt. Der Existenzialismus aber ist, wie wir sahen, die Antimystik
schlechthin, denn mit einer solchen nur mit Abscheu ertragenen Welt kann sich der
Mensch nicht verbunden fühlen. Kants Reich der »Dinge an sich«, dieser sinnlich
und intellektuell nicht erkennbare Urgrund, war immerhin noch von aller
Bewertung frei geblieben. Bei Schopenhauer aber, wo das »Ding an sich« zum
Willen mutiert, wird die negative Wertung ausdrücklich vorgenommen.
So treffen bei Schopenhauer zwei die Wirklichkeit gleichermaßen
beschädigende Tendenzen zusammen. Einmal die Maschinensicht der Wirklichkeit,
wie sie seit dem 17. Jahrhundert zum Durchbruch gelangte und die Natur zu einem
seelenlosen Gehäuse machte, und zweitens das Gedankengut des die Welt radikal
entwertenden Hinayana-Buddhismus. Aber vielleicht war etwas anderes
ausschlaggebend. Schopenhauer verachtete den flachen Optimismus der zu seiner
Zeit tonangebenden hegelschen Philosophie, in der er nichts als Scharlatanerie zu
sehen vermochte. Dem Weltgeist, der im Prozess seiner Selbsterkenntnis die Welt
zunehmend vernünftiger macht, setzte er den Willen als ewig gleichförmiges
Prinzip der Unvernunft entgegen. Auch Philosophen sind eben nicht frei von
persönlichen Aversionen, die ihre Lebensanschauung zutiefst beeinflussen können.
Dennoch hat Schopenhauer sich selbst und seine Philosophie in der
Tradition der großen Mystik gesehen. Das bezeugt die nachstehende Stelle:

Die Lehren dieser echten Christlichen Mystiker [Eckhart, Tauler usw.


verhalten] sich zu denen des Neuen Testaments, wie zum Wein der
Weingeist. … was im Neuen Testament uns wie durch Schleier und Nebel
sichtbar wird, tritt in den Werken der Mystiker ohne Hülle, in voller Klarheit
und Deutlichkeit uns entgegen. Endlich auch könnte man das Neue
Testament als die erste, die Mystiker als die zweite Weihe betrachten.

152
So der Philosoph, der mit seiner Philosophie den eigenen Neigungen widerspricht.
Denn seine Philosophie der radikalen Weltentwertung durch einen kosmischen
Willen, der sich als Prinzip des Bösen manifestiert, passt nicht in die großartige
Tradition der mystischen Einheitsschau. Schopenhauer bietet das merkwürdige
Beispiel eines verengten, man kann auch sagen, verhinderten Mystikers, der mit
der einen Hand aufbaut, was er mit der anderen sogleich wieder zerstört. Seine
Identifikation mit der Welt, sein Sich-Verlieren in die Dinge, das er in so schönen
Worten beschreibt, vermögen nicht zu überzeugen, weil er diese Welt im Grunde
nicht ertragen und nicht akzeptieren konnte. Was nützt es dem Menschen als ein
Betrachtender frei zu sein, wenn diese Freiheit und diese Betrachtung ihm nur zu
der Überzeugung verhelfen, dass eine blinde und sinnlose Macht an der Wurzel der
Dinge und seines eigenen Daseins liegt? Der Widerspruch dieser verhinderten
Mystik liegt darin, dass ein subjektives Gefühl – die Entwertung der Welt – der
mystischen Identifikation ständig im Wege steht. Im Gegensatz zu Spinoza hat sich
Schopenhauer nie aus dieser Abhängigkeit von den eigenen Gefühlen befreien
können.

153
Mystik und Tod
Wahre Erkenntnis wird in der Mystik als Erlösung von der Sterblichkeit gepriesen.
Doch darf man sich diese von der Mystik gefundene Unsterblichkeit nicht in dem
gleichen Sinne vorstellen, wie man sie in den historischen Religionen gewöhnlich
versteht. Ein Paradies, das mit allen John Bulls, Müllers, Duponts und Meiers
bevölkert wäre, die sich in der Welt jemals getummelt haben, wäre kein sonderlich
erholsamer Ort. Auch die Vorstellung eines Paradieses, in dem Dutzende von
Jungfrauen den wahrhaft Gläubigen erwarten, um ihn auf recht irdische Art zu
beglücken, verliert viel von ihrem Charme, wenn man sich vorstellt, dass die so im
Himmel Logierten außer diesen leiblichen Gelüsten auch ihre sonstigen
menschlich-allzumenschlichen Eigenschaften in das überirdische Reich mitbringen.
Ein Weiterleben der Menschen in ihrer Individualität läuft darauf hinaus, dass die
hiesige Welt im Wesentlichen in einem Phantasiereich fortgesetzt wird, wobei
schwer zu begreifen ist, warum dann nicht auch Katzen, Hunde und Wanzen sich
gleichfalls dort oben tummeln. Wieder sind es die Bilder der gewohnten, also der
Mittleren Welt, die man in größter Naivität in eine jenseitige verpflanzt.
Die Besonderheit mystischer Erfahrung ist demgegenüber darin zu finden,
dass diese das Selbst vom individuellen Ich befreit, so dass sich der Mensch,
entgrenzt von seinem Alltagsdasein, auf einer höheren Ebene wiederfindet, von der
aus er auf seine Individualität und persönliche Geschichte wie auf etwas weit unter
ihm Liegendes blickt. Er wird sich bewusst, dass erst diese höhere Ebene jenseits
des Individuums jenen Urgrund repräsentiert, dem er ebenso wie alle Menschen
und Dinge entstammt. So ewig wie die Dinge aus dieser veränderten Sicht für ihn
werden, so ganz der Zeit enthoben erlebt er auch sich selbst in solchen Momenten,
aber eben nicht als das besondere Individuum, das er gewöhnlich repräsentiert,
sondern als Schwingung, Energie und unbestimmbares Etwas, das seine und
zugleich die Wurzel des ihn umgebenden Kosmos ist.
Im Unterschied zu allen Versprechungen auf eine jenseitige Welt und ein
ewiges Leben, wovon die historischen Religionen in mehr oder weniger üppigen
Bildern erzählen, lässt diese Unsterblichkeit keine Fixierung auf Alltagsbegriffe zu.
Wäre sie so zu begreifen, so könnte sie auch nicht mehr als ein Reflex unserer
Wirklichkeit sein, getränkt mit den Wunschvorstellungen, die uns im Alltagsleben
begleiten. Die mystische Erfahrung lässt von solchen Bildern nichts übrig, doch
braucht man in diesem Versagen der Alltagsbegriffe keinesfalls einen Mangel zu
sehen. Ist das Glück des Musikerlebens, dieser einfachsten Form mystischer
Entrückung, deswegen weniger real, weil wir es nicht beschreiben, fixieren,
etikettieren und anderen wie einen handelbaren Artikel weitervermitteln können?
Sind Sehnsucht und Ich-Entgrenzung, die der Mensch in der Liebe erlebt,
deswegen weniger real, weil Wort und Begriff davon immer nur stammeln
konnten? Die Ich-Entgrenzung selbst ist bereits eine Art der Unsterblichkeit, denn
sie befreit von jenen Teilen des Selbst, die zu-fällig, dem Wandel unterworfen und
deshalb zeitlich sind. Der Polyhistor und literarische Mystiker Borges findet dafür
die folgenden Worte: »Unser Ich ist für uns das Unwichtigste. Was bedeutet es,

154
wenn wir Ich fühlen? Worin kann der Unterschied liegen zwischen der Weise, in
der ich mich als Borges empfinde und Sie sich als A, B oder C? In absolut nichts.
Dieses Ich ist, was wir miteinander teilen, was in der einen oder anderen Form in
allen Kreaturen gegenwärtig ist.«[71] Mit anderen Worten, auf einer tieferen Ebene
als der des Ich stehen wir außerhalb der Grenzen von Raum und Zeit.

155
Rückblick (Unsterblichkeit):
Das Glück der Unsterblichkeit, das aus der Einsicht erwächst, dass die äußere Welt
für den Erkennenden kein feindliches Gegenüber ist sondern Fleisch von seinem
Fleisch und Geist von seinem Geiste, wird in den frühesten Texten der Mystik
beschworen. So in der Brhadāranyaka:

Doch wer sich als das Selbst erfasst hat in Gedanken,


Wie mag der wünschen noch, dem Leibe nachzukranken?
Wem in des Leib's abgründlicher Befleckung
Geworden ist zum Selbste die Erweckung,
Den als allmächtig, ab der Welten Schöpfer wisst;
Sein ist das Weltall, weil er selbst das Weltall ist.

Und ähnlich in der Chāndogya-Upanishad.

Wenn einer [außer sich] kein andres sieht, kein andres hört, kein andres
erkennt, das ist die Unbeschränktheit; wenn er ein andres sieht, hört, erkennt,
das ist das Beschränkte. Die Unbeschränktheit ist das Unsterbliche, das
Beschränkte ist sterblich.

Und in der Îshā-Upanishad:

Doch wer die Wesen hier alle


Wiedererkennt im eignen Selbst
Und sich [selbst] in allem, was lebet,
Der ängstigt sich vor keinem mehr.

In Buch III, Erzählung XVII der Mathnawi-Sammlung findet Djalal od-Din


Rumi zu einer Ausdrucksweise, die dem intuitiven Verstehen vielleicht am
nächsten kommt.

Ich starb als Gestein und wurde Pflanze. Ich starb als Pflanze und wurde Tier.
Ich starb als Tier und wurde Mensch. Wovor soll ich mich fürchten? Wann
hat mich der Tod vermindert? Auch als Mensch werde ich sterben, um mit
den heiligen Engeln emporzufliegen. Doch selbst die Engel muss ich
verlassen, denn außer Gott unterliegt alles dem Wandel. Wenn ich meine
Engelseele geopfert habe, dann werde ich sein, was kein [menschlicher]
Geist jemals zu fassen vermochte.

Wie Rumi beschreibt auch Eckhart das Fortbestehen dessen, was bei allen
Verwandlungen ewig ist.

156
In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller
Unterschiedenheit ist, dort war ich selber… Und darum bin ich Ursache
meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden
nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren und nach der Weise
meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben… Da bin ich, was ich war.
Da nehme ich weder ab noch zu… Hier hat der Mensch wieder errungen,
was er ewiglich gewesen ist und immer bleiben wird.

Und aus dieser Gewissheit erwächst dem Mystiker eine überwältigende Freude:

Ich habe euch öfter schon gesagt, dass eine Kraft in der Seele ist, die weder
Zeit noch Fleisch berührt; sie fließt aus dem Geiste und bleibt im Geiste und
ist ganz und gar geistig… Da ist so herzliche Freude und so unbegreiflich
große Freude, dass niemand erschöpfend davon zu künden vermag.

157
Mystik und Moral - Jenseits von gut und böse?
In allem Beieinander von Menschen zählt nichts so sehr wie die Kategorien von
Gut und Böse. Sie sind maßgebend für Glück oder Unglück, ob sie sich also das
Leben gegenseitig zur Hölle machen oder sich zu einer friedlichen Gemeinschaft
zusammenfinden. Als soziales Wesen kann der Mensch gar nicht anders, als sein
eigenes Verhalten in positiver oder negativer Art gegen andere auszurichten.
Immer fragen die anderen danach, »will er mir nützen oder will er mir schaden«?
Aber so durchgehend die Kategorien von Gut und Böse in ihrem nach Zeit
und Raum unterschiedlichen Verständnis die menschliche Wirklichkeit auch
beherrschen, gibt es doch besondere Momente, in denen solche Gesichtspunkte als
oberflächlich, nebensächlich und zweitrangig erscheinen. Wenn der Mensch zum
Himmel aufblickte – und die Zeiten sind ja noch nicht lange her, da sah man dort
statt des heutigen Smogs ein tausendfach flimmerndes Gewölbe – fühlte er sich mit
einer überwältigend großen Welt konfrontiert, angesichts deren alle Alltagssorgen
ihre Bedeutung einbüßten. Immer wieder riefen Philosophen wie z. B. die Stoiker
ihre Mitmenschen dazu auf, sich über die kleinen Wünsche und Verwundungen
des Alltags zu solchen Betrachtungen zu erheben – auf eine beinahe zwangsläufige
Weise führten solche Aufschwünge dann aber auch dazu, dass dem Menschen
angesichts der erhabenen Ordnung, die ihm aus den Sternen entgegenblickte, jenes
bedrückend kleinliche Regelwerk aus Ge- und Verboten, das er unter
seinesgleichen befolgen musste, nur noch als zweitrangig und unwesentlich
erschien.
Solche Relativierungen der menschlichen angesichts einer umgreifenden
kosmischen Ordnung sind weltweit verbreitet, und gerade dem Mystiker sind sie
am wenigsten fremd. Dort oben gibt es eine von der Ewigkeit und ihren Gesetzen
beherrschte Welt, sinken die wandelbaren Vorstellungen des Menschen, auch wenn
sie die Kategorien von gut und böse betreffen, damit nicht zu völliger
Bedeutungslosigkeit herab? Der Gedanke lag nahe - und immer wieder wurde er
auch offen ausgesprochen -, dass Gut und Böse für den Weisen nur die Oberfläche
berühren. Dem Mystiker, der das Wesentliche von allem Vergänglichen trennt,
erschienen die Regeln zwischenmenschlichen Verhaltens oft nur als
Ausdrucksformen der Unwesentlichkeit und des Vergänglichen.
Eine solche Abwertung der ethischen Dimension ergibt sich fast
zwangsläufig, sobald die außermenschliche Natur ins Zentrum der
Aufmerksamkeit rückt. Aus diesem Grund ist es ja auch bezeichnend für die
Naturwissenschaften, dass sie keinen Platz für Fragen von gut und böse haben. In
keinem Lehrbuch der Physik oder Chemie ist von ethischem Handeln die Rede.
Und das natürlich mit vollem Recht. Die Bewegung eines Steins, der Zug der
Wolken oder die Genese von Himmelskörpern folgt Gesetzen oder dem Zufall,
aber in jedem Fall verläuft sie unabhängig von den moralischen Vorstellungen und
ethischen Kategorien der sie beobachtenden Menschen. Diese Unabhängigkeit
drängt sich auch dem Mystiker auf, der sich der unbelebten Natur zuwendet. Er ist
sich bewusst, dass die Kategorien von Gut und Böse nur in ihm selbst existieren,

158
aber weder in einer Gebirgskette noch über ihm im gestirnten Himmel. Eine
Mystik, die sich in erster Linie der Naturbetrachtung zuwendet und den Menschen
dabei sozusagen an den Rand des Kosmos drängt, ist daher, wie Albert
Schweitzer in seinem Buch Die großen Denker Indiens betonte, immer in Gefahr,
die ethische Dimension überhaupt für nebensächlich zu halten. Sie neigt dazu, den
Weisen jenseits von gut und böse anzusiedeln.

159
Rückblick (weder gut noch böse):
In den Upanishaden wird nicht nur der höchst moderne Gedanke geäußert, dass
sich aus der Beobachtung des Universums keine ethischen Maßstäbe ableiten
lassen, sondern in einigen Passagen gehen die damaligen Seher und Denker noch
einen Schritt weiter. Unmissverständlich klingt der Gedanke an, dass der Weise
einen Standpunkt jenseits von Gut und Böse bezieht. So in der Kaushītakī-
Upanishad:

gleichwie einer, auf einem Wagen schnell fahrend, auf die Wagenräder
hinabblickt [deren Speichen ihm verschwimmen], so blickt er hinab auf Tag
und Nacht, so auf gute und böse Werke und auf alle Gegensätze; er aber, frei
von guten und bösen Werken, als Brahmanwisser, geht zu dem Brahman ein.

Oder in der Maitrāyana-Upanishad:

Der Gesinnung zur-Ruh-Kommen


Hebt gutes Werk und böses auf,
Wer, ruhig selbst, im Selbst feststeht,
Erlangt Glück, unvergängliches.

In der Mundaka-Upanishad:

Dann schüttelt der Weise Gutes ab und Böses,


Eingehend fleckenlos zur höchsten Einheit.

Noch deutlicher wird die Befreiung des Wissenden von den Folgen weltlichen
Handelns an einer anderen Stelle derselben Upanishad ausgedrückt:

Wer jenes Höchst-und-Tiefste schaut,


Dem spaltet sich des Herzens Knoten,
Dem lösen alle Zweifel sich,
Und seine Werke werden Nichts.

Ähnlich äußerte sich etwa zur selben Zeit Laotse, der freilich eher darauf abzielt,
dass alles Gerede von Sinn, von moralischem Handeln, von Klugheit etc. ein
Zeichen dafür sei, dass all dies in Wahrheit nicht länger vorhanden ist und also nur
noch im Munde der Heuchler lebt.

Geht der große SINN [Weg] zugrunde,


so gibt es Sittlichkeit und Pflicht.
Kommen Klugheit und Wissen auf,
so gibt es die großen Lügen.

160
Meister Eckhart setzt den Akzent wieder an eine etwas andere Stelle. Er weist den
Gebrauch der Bilder aus der Mittleren Welt zurück, wenn man das Göttliche damit
bezeichnen will. Gott werde von keinem Bild richtig erfasst, deshalb dürfe man
ihm nicht einmal die Kategorie »gut« anheften. Da Gott in jedem Menschen wohnt,
nimmt diese Feststellung bei Eckhart eine umfassende Bedeutung an.

Gott ist namenlos, denn von ihm kann niemand etwas aussagen oder
erkennen… Gott ist weder Sein noch Gutheit. Gutheit haftet am Sein und
reicht nicht weiter als das Sein.

Gegenüber Eckermann sagt Goethe am 31.Dezember 1823:

Die Leute traktieren den göttlichen Namen, als wäre das unbegreifliche, gar
nicht auszudenkende höchste Wesen nicht viel mehr als ihresgleichen. Sie
würden sonst nicht sagen. der Herr Gott, der liebe Gott, der gute Gott. Er
wird ihnen, besonders den Geistlichen, die ihn täglich im Munde führen, zu
einer Phrase, zu einem bloßen Namen, wobei sie gar nichts denken. Wären
sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn
vor Verehrung nicht nennen mögen.

Viel weiter geht der indische Mystiker aus Bengalen Ramakrishna (1836 –1886):

Das Absolute hat mit dem Guten ebenso wenig wie mit dem Bösen gemein…
Ich sehe und erkenne, dass alle drei dieselbe Substanz besitzen: das Opfer,
der Richtblock und der Opferer.[72]

Diese Worte könnten wortwörtlich auch von dem faszinierenden, unergründlichen


Jorge Luis Borges stammen, dem großen amoralischen Mystiker des zwanzigsten
Jahrhunderts, der in seinen Geschichten immer wieder zu zeigen versucht, dass der
Verfolgte und der Verfolger, der Dogmatiker und der Ketzer ihre Rollen auch
vertauschen könnten, weil sie sich - zumindest in gewissen außergewöhnlichen
Momenten - einer im anderen wiedererkennen.[73]

161
Mystik und das Gute
Für einen Naturwissenschaftler versteht sich von selbst, dass er seine Objekte – die
Phänomene der sichtbaren Welt – nicht mit Vorstellungen vermengt, die sich dort
auf keine Art nachweisen lassen. Ein Vulkanausbruch ist für ihn weder gut noch
böse und kann es nicht sein, denn alles, was er an Gesetzmäßigkeiten an seinen
Ursachen und seinem Verlauf nachzuweisen vermag, und alles, was er aus solchem
Wissen für die Vorhersage solcher und anderer Ereignisse ableiten kann, besteht
völlig unabhängig von moralischen Wertungen. Der kritische Wissenschaftler und
vollends der Mystiker aber sollte – obwohl das, wie eben gezeigt, keineswegs
immer der Fall ist – eine andere Perspektive einnehmen. Zunächst einmal ist ihm
bewusst, dass alle Nutzung von Gesetzmäßigkeiten nur um eines Zweckes willen
geschieht: nämlich, um damit zum Guten oder Bösen zu wirken. Wissenschaften
sind von Menschen zu moralischen Zwecken gemacht. Auch hier sind die
Kategorien von Gut und Böse schlechthin fundamental. Auch wenn der Flug einer
Kanonenkugel, den wir nach den Gesetzen der Ballistik berechnen, an sich weder
gut noch böse ist, hat der Mensch diese Gesetze doch einzig und allein deshalb
erforscht, um eine Kugel oder Rakete zielgenau abzuschießen, also um kraft seiner
freien Entscheidung zu guten oder bösen Zwecken zu wirken. Auch die Bücher
von Physik- und Chemie, in denen mit keinem Wort von menschlicher Ethik die
Rede ist, verdanken ihre Existenz ganz allein dieser Ethik. Ohne sie, d. h. ohne den
Zweck, dem sie dienen, wären sie nie entstanden.
Eine andere Ausdrucksweise wäre in diesem Zusammenhang daher ebenso
richtig: Nicht eine unethische Natur zwingt dem Menschen ihre Erforschung auf,
sondern der ethisch bestimmte Mensch wendet sich ihr überhaupt nur deswegen zu,
weil er für sich und für andere das Gute oder das Böse will.
Selbst die stille Versenkung in die Natur, die eckhartsche
»Abgeschiedenheit« und das »Loslassen« (Tyāga) der indischen Mystiker, dient
immer noch dazu, einen dem Wohl des Menschen dienlichen Zustand
herbeizuführen: Harmonie und Seelenfrieden. Alles Hinschauen auf die
Wirklichkeit, gleichgültig ob in der Gemeinschaft oder in einsamer Versenkung, ist
stets an diesen Bezug auf den Menschen gebunden.
Welch überragende Bedeutung der ethischen Perspektive aber gerade in
Bezug auf Empathie zukommt: dem Einfühlen und Einssein mit anderen Menschen
(und sogar anderen außermenschlichen Lebewesen), das belegen neuere
Forschungen. Lange Zeit galt das von Descartes zuerst vor vierhundert Jahren
verkündete Credo, dass wir über das Innenleben anderer Lebewesen nichts wissen
können, weil sich unser unmittelbares Bewusstsein immer nur auf die jeweils
eigenen Gedanken, Empfindungen und Gefühle erstrecke. Was sich im Inneren
unserer Mitgeschöpfe ereigne, das sei für uns Terra incognita. Ein Hund jault vor
Schmerz - der gesunde Menschenverstand schließt daraus, dass er leidet, wie wir
selbst in einer ähnlichen Situation leiden würden. Aber ein dogmatisch versperrtes
Denken beharrt darauf, dass ein solcher Schluss nicht zu beweisen und daher völlig
ungerechtfertigt sei, denn wir könnten absolut nicht wissen, was im Inneren dieses

162
Tieres vor sich gehe. Bekanntlich hat Descartes die Tiere deshalb überhaupt zu
Maschinen erklärt, denen Regungen, wie wir sie empfinden, so unbekannt wären
wie einem aufgezogenen Uhrwerk, das sich ja ebenfalls mit Geklingel zu äußern
vermag, ohne dass wir deshalb bei ihm das Gefühl der Freude vermuten. Aufgrund
einer solchen Beweisführung hätte Descartes folgerichtig aber auch von einem sich
unter Schmerzen windenden Mitmenschen sagen müssen, dass jeder Schluss auf
dessen Gefühle eine unbeweisbare Hypothese bleibe und uns deshalb sein Schmerz
auch nichts angehen müsse.
Der gesunde Menschenverstand hat solche Absurditäten nie akzeptiert.
Neuerdings – aber bis dahin mussten immerhin beinahe vierhundert Jahre vergehen
- hat die hirnphysiologische Forschung die Intuition glänzend bestätigt. Denn sie
konnte beweisen, dass unser Bewusstsein über die Vorgänge im Gehirn eines
anderen Menschen sehr wohl Aufschluss erhält. Wenn sich das Gesicht unseres
Gegenübers vor Schmerz verzerrt, weil ihm eine Flamme die Hand versengt, dann
werden gleichzeitig damit in unserem eigenen Gehirn dieselben Areale in
Spannung versetzt – sogenannte Spiegelneuronen sorgen dafür, dass sich in
unserem Bewusstsein ähnliche Vorgänge der Freude, des Schmerzes, der
Befriedigung, der Aversion etc. vollziehen wie in dem von uns intensiv
wahrgenommenen Gegenüber. Wir sind also biologisch so ausgestattet, dass wir,
ohne einen besonderen Akt der geistigen Anstrengung zu vollziehen, die Vorgänge
im Inneren eines anderen Menschen mehr oder weniger intensiv miterleben.
Angelegt dazu sind in uns allerdings nur die biologischen Voraussetzungen. Wir
können dieses Vermögen der Empathie wie jede andere biologische
Programmierung verfeinern und steigern, sie über die uns unmittelbar umgebenden
Menschen hinaus weiter und weiter ausgreifen lassen – oder sie im Gegenteil
unterdrücken und schließlich verkümmern lassen. Es gibt Menschen, die das
Mitgefühl und Mitleiden, die Mitfreude und das geistige Mitempfinden im
höchsten Maße in sich entwickelt haben, und es gibt andere, die es so abstumpfen
ließen, dass sie ihre Mitmenschen foltern können. Für eine Theorie des Bösen ist
das von größter Bedeutung.i
Die Spannung zwischen aktivem und abgeschaltetem Mitgefühl bleibt auch
im Umgang mit außermenschlichen Lebewesen erhalten. Eine Katze, die sich vor
Schmerzen krümmt, stimuliert vermutlich dieselben Hirnareale, die auch das
Mitleiden mit einem Menschen in ähnlicher Situation aktiviert. Aber bei Tieren
fällt es uns leichter, diese Sensibilität allmählich zum Schweigen zu bringen oder
sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Je niedriger die Tiere auf der
Evolutionsskala stehen, umso eher gelingt es uns, jedes Mitgefühl überhaupt
auszuschalten. Denn um des eigenen Überlebens willen, sind wir gezwungen, das
sogenannte »Ungeziefer« oder auch Tiere, von denen wir uns ernähren, von aller
Empathie auszunehmen. Erneut sind wir hier mit der Tatsache konfrontiert, dass
wir in unserer Alltagsexistenz den Zwängen des Überlebens nie ganz entgehen
können.

163
Der Mystiker ist sich bewusst, dass diese Zwänge ihn wie alle anderen
Menschen beherrschen, doch weiß er gleichfalls, dass er sich ihnen wenigstens
zeitweise im Innehalten und der Betrachtung zu entziehen vermag. Auch wenn er
sich in seiner physischen Existenz den Imperativen des Überlebens zu beugen hat,
in dem Augenblick, wo er sich an die Dinge »verliert«, braucht er der Empathie
keine Grenzen zu setzen. In solchen Momenten weiß er sich mit allen lebenden
Wesen in Leiden und Lebenslust einig. Daher kann seine Absicht nur dahin zielen,
den größtmöglichen Schutz aller Lebewesen zur wichtigsten Pflicht zu machen.
Empathie heißt verstehen und schützen, weil Freude und Schmerz anderer Wesen
in ihm einen Widerhall von eigenem Schmerz und eigener Freude auslösen. Die
überethische Haltung, die sich so leicht aus der Betrachtung des
außermenschlichen Universums ergibt, lässt sich daher nur als vorläufiges und
vorübergehendes Stadium der Mystik begreifen. Das Einssein mit allen anderen
Wesen verlangt vom Mystiker, diese anderen wie sich selbst zu lieben, weil diese
anderen im Grunde nichts anderes sind als die Spiegelbilder des eigenen Selbst.
Alle Ethik hat hier ihren Ausgangspunkt.

164
Rückblick (Gutes tun, Böses lassen):
In der indischen Mystik ist ein deutliches Schwanken zwischen dem ethischen
Imperativ des Mitgefühls und einer abgehobenen Haltung zu bemerken. Aber man
trifft in den Upanishaden auch auf Stellen, die sich eindeutig im Sinne des
Mitgefühls äußern, so in der Brhadāranyaka:

Fürwahr, gut wird einer durch gutes Werk, böse durch böses.

Und:

Wer Gutes tat, wird als Guter geboren, wer Böses tat, wird als Böser geboren,
heilig wird er durch heiliges Werk, böse durch böses.

Sehr viel eindeutiger, wenn auch nicht ganz widerspruchsfrei, bezieht die deutsche
Mystik eines Eckhart hier Stellung. Es ist zwar wahr, dass alle Bestimmungen von
gut und böse auf die Gottheit nicht zutreffen können. Doch als Mensch unterliegt
jeder von uns selbstverständlich diesen Kategorien:

Der Gerechte ist Gott gleich; denn Gott ist die Gerechtigkeit. Darum, wer in
der Gerechtigkeit ist, der ist in Gott und der ist selbst Gott.

Aber Eckhart warnt vor dem Missverständnis:

Nun sagen gewisse Leute: »Habe ich Gott und die Gottesliebe, so kann ich
recht wohl alles tun, was ich will«. Die verstehen das Wort nicht recht.
Solange du irgendetwas vermagst, das wider Gott und wider sein Gebot ist,
solange hast du die Gottesliebe nicht; du magst die Welt wohl betrügen, als
habest du sie.

Und an anderer Stelle:

Daher sage ich: Einen Heiligen, dem Pein nicht wehe täte und Liebes nicht
wohl, hat es noch nie gegeben, und niemals wird es einer dahin bringen.

Es ist das große Verdienst des verhinderten Mystikers Schopenhauer, dass er, in
diesem Punkt ganz dem Buddhismus und dem Christentum des Neuen Testamentes
verpflichtet, dem Mitleid eine so hervorragende Stelle in seiner Philosophie
einräumt.

Denn Jenem, der die Werke der Liebe übt, ist der Schleier der Maja
durchsichtig geworden, und die Täuschung des principii individuationis hat
ihn verlassen. Sich, sein Selbst, seinen Willen erkennt er in jedem Wesen,
folglich auch in dem Leidenden.

165
und an anderer Stelle:

dann folgt von selbst, dass ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein
Innerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles
Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt
sich zueignen muss.

Die von einem sinnlosen und blindwütigen Willen beherrschte Welt ist zwar böse,
doch gerade darum soll sich die verängstigte Menschenherde wenigstens gegen
sich selbst nobel betragen. Das Mitleid wird bei Schopenhauer zu einem rettenden,
beinahe sinngebenden Mitgefühl. Die verlorene Erkenntnis in das Einssein von
Mensch und Dingen, die ihm durch seine Sicht auf den satanischen Willen verstellt
ist, wird in gewisser Weise dadurch ersetzt, dass Schopenhauer umso mehr das
volle Mitgefühl mit den anderen Menschen verlangt.

166
Mystik und das Böse
Warum ist das Böse in der Welt? Wer hat es dort hingebracht? Solche Fragen
haben den Menschen zu allen Zeiten beschäftigt, und sie führten zu sehr
unterschiedlichen Lösungsversuchen.
Eine einfache Antwort lieferte ihm die Einsicht, dass Böse und Gut erst in
und durch die menschliche Gesellschaft entstanden sein können. Diese Einsicht
gab dem Universum zwar seine Unschuld zurück, aber sie beantwortete nicht die
Frage, warum es unter den Menschen das Böse gab und wie es mit der Vorstellung
des Göttlichen zu vereinbaren war. Diese Frage wurde fast immer so entschieden,
dass man seinen Ursprung irgendwo außerhalb des Menschen lokalisierte. Gewisse
Geister oder Götter personifizierten das Gute, andere sannen vor allem darauf,
Böses zu tun. Die polytheistischen Religionen hatten noch die geringsten
Schwierigkeiten, mit dem Problem fertig zu werden, sie konnten die Eigenschaften
von gut und böse an bestimmte Akteure ihres übermenschlichen Personals
verteilen. Wirklich schwierig wurde das Problem erst im Monotheismus. Wenn
Gott ein Alleinherrscher ohne Rivalen ist – also auch ohne Satan -, weshalb duldet
er dann das Böse? Hätte er nicht die Macht gehabt, auf Erden nur das Gute
zuzulassen? Musste es nicht dem Begriff eines liebenden Gottes ganz und gar
widersprechen, dass er - direkt oder indirekt, denn letztlich hatte er ja die
Verantwortung für die gesamte Schöpfung zu tragen – auch Urquell des Bösen
war?
Hatte der Mensch Gott einmal an den Anfang der Schöpfung gesetzt und ihn
zum Prinzip des Guten gemacht, dann handelte er sich derart verstörende Fragen
zwangsläufig ein. Die »Theodizee« oder Rechtfertigung Gottes, war ein Problem,
dem er sich aufgrund dieses Gottesentwurfs nicht zu entziehen vermochte.
Es ist ein Problem, das er bis heute nicht löste, weil es grundsätzlich unlösbar
ist. Der nach dieser Logik erdachte Gott war entweder Prinzip des Guten, dann war
die Existenz des Bösen nicht zu erklären. Oder man akzeptierte die Existenz des
Bösen als unleugbares Faktum, dann war die Konstruktion eines ausschließlich
liebenden Gottes nicht haltbar. Da half es auch nichts, dass man mit intellektuellen
Tricks zu arbeiten versuchte, indem man das Böse als bloße Abwesenheit des
Guten umzudeuten und so zu verharmlosen suchte. Zu meinen, dass man das
Grauen einer bewussten Folterung mit der Unterlassung einer guten Tat
gleichsetzen kann, ist eine Absurdität, zu der sich nur weltfremde Theoretiker
verirren. Das Problem der Theodizee lässt sich mit derartigen Gedankenspielen
nicht überwinden.
Für die Mystik stellt sich das Problem gar nicht erst, denn
Gotteskonstruktionen haben in ihr keinen Platz. Jede Gottesidee, die das
menschliche Hirn ersinnt, hält sie von vornherein für ungeeignet, die Wirklichkeit
des Göttlichen darin in angemessener Art zu erfassen. Denn Gott ist für sie eben
»weder dieses noch jenes«: Das Göttliche lässt sich in keiner wie immer gearteten
Konstruktion der menschlichen Vernunft dingfest machen. Oder, um es modern zu
sagen, menschliche Vernunft ist außerstande, das Universum jenseits der Mittleren

167
Welt zu erfassen, ja sogar diese selbst ist ihrer Deutung und ihrem
Herrschaftsanspruch nur teilweise unterworfen. Wenn das Göttliche aber an die
Begrenztheit menschlicher Vernunft nicht gebunden ist, dann lässt es sich auch
nicht in ihren Konstruktionen einfangen. Versuchen wir es doch, dann verstricken
wir uns zwangsläufig in unendliche Paradoxien und Widersprüche. Das klassische
Problem der Theodizee ist nur eines von ihnen.
Die Mystik akzeptiert die Existenz von Gut und Böse.[74] Sie akzeptiert, dass
der Mensch selbst deren Ursprung ist. Das geht bis zu dem Eingeständnis, dass wir
einen deutlichen Begriff vom Guten nur dadurch gewinnen können, dass uns das
Böse als dessen Gegenpol ständig bewusst bleibt. Ohne die Existenz oder
zumindest das Wissen vom Bösen würden wir weder einen Begriff des Guten
haben noch würde es uns als ein besonderes Verdienst erscheinen, es praktisch zu
tun. Gut und Böse sind komplementäre Begriffe. Immer lässt uns unsere Freiheit
die Wahl unter Handlungen, von denen die einen unseren Mitmenschen schaden,
während die anderen ihr Wohlergehen befördern. Die vollbrachten Handlungen
selbst können dabei identisch sein. Wenn ich einem Menschen einmal von hinten
einen Fausthieb versetzte, damit er vor einer Gefahr flüchten kann, dann ist dies
offensichtlich ein gutes Werk, während derselbe Fausthieb, mit dem ich ihn k. o.
schlagen will, ebenso offensichtlich einer bösen Absicht gehorcht. Das
entscheidende Kriterium für die Bewertung als gut und böse liegt deshalb ganz
außerhalb der betreffenden Handlungen selbst. Allein die Absicht, die ich damit
verfolge, verleiht ihnen einen bestimmten ethischen Wert. Doch genau diese
Absicht unterliegt meinem freien Willen. Ich habe stets die Möglichkeit, zwischen
gut und böse zu wählen.
Daher liegt beides weder in Gott noch bei Satan oder in irgendeiner von mir
unterschiedenen Instanz. Gut und böse liegen in meiner Konstitution als Mensch
und nirgendwo sonst. Sie sind Bestandteil eben dieses meines eigenen Selbst und
sind deshalb der unmittelbare Ausdruck der eigenen Freiheit. Bis hin zu allem
Grauen, das jeder von uns anderen Menschen anzutun vermag, und bis hin zu allen
Opfern, zu denen Liebe den Menschen bewegen kann, sind Gut und Böse ein
integraler Bestandteil des Selbst. Zwar vermögen wir diesen Gegensatz in der
unbelebten Natur nicht aufzufinden, aber andererseits existiert diese Welt nur für
ein Bewusstsein, sonst existiert sie nicht (siehe S. 74). Und deshalb dürfen wir
auch sagen, dass sie immer schon für ein Bewusstsein da ist, das in sich auch das
Gute und Böse umgreift. Der Mystiker weiß um diese umfassende Wirklichkeit. Er
versucht nicht, für das Böse ferne Sündenböcke in göttlicher oder dämonischer
Gestalt zu erfinden, sondern erkennt dessen fortwährende Präsenz in einer Welt, in
der Bewusstsein und Freiheit herrschen. Vor allem aber hat er den Mut, es in seiner
eigenen Brust zu erkennen.

168
Rückblick (das Böse gehört zum Menschen):
Djalal od-Din Rumi:

Wenn du den Teufel nicht gesehen hast, schau in dein eigenes Herz.

Eckhart:

Sie schauen alles, nicht in seinem Werden, sondern in seinem Sein. Und sie
schauen sich selbst in dem anderen.

Leo Tolstoi:

Jeder trägt die Keime zu allen menschlichen Eigenschaften in sich, von


denen mitunter die einen mitunter die anderen stärker in Erscheinung treten
und den betreffenden Menschen, der doch ein und derselbe geblieben ist,
kaum wiedererkennen lassen.[75]

Und so darf er in »Krieg und Frieden« auch sagen:

Alles verstehen heißt alles verzeihen![76]

Aber weiter als wohl irgendein anderer Autor ist Fjodor Dostojewski darin
gegangen, im Nächsten – auch und gerade im Verbrecher – das eigene Selbst zu
sehen. In der berühmten Parabel vom Großinquisitor verabschiedet sich Jesus von
diesem mit einem Kuss: der Antwort des Verstehenden und Verzeihenden auf
dessen flammende Anklage.

Mystik gleich Selbstvergottung?


Immer wieder hat man dem Mystiker vorgeworfen, dass er das Maß für die
Stellung des Menschen verliere, indem er sich selbst zum Gott aufblähe. Doch
dieser Vorwurf geht an den Tatsachen vorbei. Die Selbstvergottung ist, streng
genommen, nur in den theistischen Religionen möglich, weil nur sie einen
anthropomorph gedachten Gott konzipieren. Schon Xenophanes hatte im sechsten
vorchristlichen Jahrhundert diese Selbstvergottung des die Götter nach dem
eigenen Bilde erschaffenden Menschen verspottet, indem er sie auf die Tiere
übertrug:

Doch wenn die Ochsen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen
könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden
die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen
und solche Körper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte.

169
Ludwig Feuerbach hat diesen Gedanken zweieinhalb Jahrtausende später nur
fortgesponnen, aber ihm nichts wesentlich Neues hinzugefügt. Mit der Vorstellung
von Gott spaltet der Mensch alles, was er an sich selbst für erhaben und
vollkommen hält, von sich ab und versetzt es dabei wie ein Kind, das sich selbst
nur in der Spiegelung zu begreifen vermag, als äußere Macht in den Himmel.

Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit. Das Kind sieht sein
Wesen, den Menschen, außer sich - als Kind ist der Mensch sich als ein
anderer Mensch Gegenstand. Die Religion bejaht, heiligt, vergöttert, d. i.
vergegenständlicht das menschliche Wesen.

Und an anderer Stelle:

Die Religion ist die Reflexion, die Spiegelung des menschlichen Wesens in
sich selbst... Gott ist der Spiegel des Menschen.

Und daher gilt für diese Gotteskonstruktionen:

Soviel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. Das
Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis
Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen.

Weshalb Feuerbach dann auch in aller Folgerichtigkeit schließen kann:

Wir haben...bewiesen, dass auch die göttliche Weisheit menschliche


Weisheit, dass das Geheimnis der Theologie Anthropologie...ist.

Der nach dem Maßstab menschlicher Intelligenz konstruierte Gott führt notwendig
zur Selbstvergottung, da der Mensch das eigene Spiegelbild zum Gegenstand
seiner Verehrung macht.
Die Machtwissenschaft hat es in dieser Hinsicht der Machtreligion von
Anfang an gleich getan. Mit dem Anspruch, alles erklären und im Prinzip auch
beherrschen zu können, hat sie für sich selbst die Rolle des Weltenherrschers in
Anspruch genommen. Der Umweg über die Projektion des Menschen in einem
fernen Himmel konnte dann freilich entfallen. Es ist dieser alles erklärende, alles
beherrschende Mensch selbst, der für die Machtwissenschaft zur Gottheit wird und
damit alle Götter der Religion ins Abseits drängt. Für Dawkins und den typischen
Machtwissenschaftler ist der Himmel von Göttern leergefegt, weil das perfekte
Wissen sich auf der Erde inkarniert: in der rationalen Vernunft des erkennenden
Menschen. Zwischen diesen beiden Arten der Selbstvergottung – in der Religion
der Anbetung einer Projektion der Vernunft und in der Wissenschaft die Anbetung
dieser Vernunft selber – war Krieg unausweichlich. In der europäischen Neuzeit

170
wütet er seit dreihundert Jahren. Nur kritische Wissenschaftler von Hume über
Kant bis zu Popper haben dieser Selbstvergottung der Ratio gegenüber skeptisch
Distanz bewahrt.
Die Mystik kennt keine Selbstvergottung des Menschen, weil sie sich alle
Definitionen des Göttlichen außer der einen verboten hat, dass dieses sich in
menschlichen Begriffen und Bildern nicht einfangen lasse. Für den Mystiker geht
das Göttliche über alles hinaus, womit Vernunft es erfassen kann. Der Mystiker
lässt die Welt in sich einströmen, im Zustand der höchsten Empathie fühlt er sich
eins mit der Welt – eins mit dem Geheimnis, das die Welt für ihn ist. Das ist weder
Selbstaufblähung noch Selbsterhöhung, sondern die Heiligung eines Makrokosmos,
der mit dem Mikrokosmos des eigenen Selbst letztlich identisch ist.

171
Wahr- und Unwahrheit der Religionen
Die kritische Vernunft hat im Laufe der menschlichen Geschichte zahllose
Religionen und deren Dogmen sterben lassen. Ja, man könnte im Wandel der
Kulturen vor allem ein großes Sterben der Religionen sehen. Wer glaubt heute
noch an Isis oder Osiris, wer an Marduk oder Baal, gar nicht zu reden von der
großen Fülle an Religionen, die unter den sogenannten primitiven Gesellschaften
verbreitet waren und die heute, wenn überhaupt, nur noch in blassen Umrissen
bekannt sind. Und wer nimmt heute noch die unendlich vielen Ge- und Verbote
ernst, die ihre jeweiligen Priester im Namen der Götter dem Menschen auferlegt
hatten? Wer etwa glaubt noch daran, dass man den Sonnengott mit blutigem
Menschenfleisch füttern müsse, damit er seinen regulären Dienst am Himmel
versieht? Wer hält heute noch daran fest, dass der Genuss von Bohnen der Seele
heillosen Schaden bringe, weil sie mit Dung bedeckt 40 Tage später menschliche
Gestalt annehmen? Wer glaubt (außer den Gläubigen) daran, dass Schweinefleisch
schade oder das Essen koscher sein müsse und dass eine Kuh heilig sei, während
man sehr wohl andere Tiere verzehren dürfe? Und wer wird, so können wir weiter
fragen, in zwei- oder drei Jahrhunderten noch an die skurrilen Auffassungen der
Kreationisten glauben, wonach die Welt vor sechstausend Jahren in sieben Tagen
erschaffen wurde? Die Geschichte ist ein einziger Friedhof von Dogmen und
Glaubensartikeln, die doch alle zu ihrer Zeit dem Menschen mit Schwert,
Scheiterhaufen und Folter in Leib und Seele eingebrannt wurden. Denn solange
eine dogmenbewehrte Religion an der Macht war, ist es ihr stets gelungen, das
menschliche Gehirn zwischen die Buchdeckel ihrer jeweiligen Offenbarungen zu
klemmen. Ungläubig blickt der Historiker auf das groteske Schauspiel, dass
dieselben Lehren, vor denen die Massen sich einmal niederwarfen, einen
Wimpernschlag der Geschichte danach, hinweggefegt von der kritischen Vernunft
(oder einer rivalisierenden Religion), in jenem weiten Ruinenfeld der Geschichte
versinken, wo wir all den Überresten gescheiterter Gedankengebäude begegnen.
Vom Standpunkt der Mystik gesehen, ist ihnen ein solches Schicksal
zwangsläufig beschieden. Wahrheiten, die nur um den Preis geglaubt werden
können, dass die Vernunft auf ihr besseres Wissen und ihre besseren Einsichten
verzichtet, sind es nicht wert, zum dauerhaften Erbe der Menschheit zu zählen.
Zweifelhaft muss man vor allem jene Wahrheiten nennen, die angeblich
irgendwann in der Vergangenheit unmittelbar aus dem Munde von Geistern,
Göttern oder Dämonen kamen. Stets wurden diese Wahrheiten aus überirdischer
Quelle von menschlichen Ohren gehört, und es waren Menschen, die sie dazu
benutzten, um andere Menschen durch sie zu beherrschen. Jeder Denkbefehl, der
mit dem Gütezeichen der Offenbarung versehen war, galt absolut, und wurde dann
in kürzester Frist auch absolut dazu missbraucht, das Denken in Fesseln zu
schlagen. Es waren Menschen, die auf andere Menschen einwirkten, es war Macht,
die die Vernunft unterjochte und ihren Bedürfnissen fügsam machte.

172
Die Mystik hat sich immer gegen die Macht aufgelehnt und sich stattdessen
auf die Evidenz des unabhängigen, denk- und erlebensfähigen Menschen berufen.
Wie schwach auch immer das Seelenfünklein - das Licht der Wahrheit leuchtet in
jedem Menschen, weil jeder den gleichen Abstand zur Realität des Göttlichen
besitzt. Alles was nur überliefert ist, kann demgegenüber nur untergeordnete
Evidenz besitzen. Überliefert ist, dass Gott diese oder jene Natur besitze, diese
oder jene Namen trage, diese oder jene Ver- und Gebote erlasse und auf diese oder
jene Art zu verehren sei. Aber das Göttliche ist für die Mystik viel zu umfassend,
um in menschengemachte Definitionen gepresst zu werden. Und es ist viel zu groß
und übermächtig, um sich den Zwängen menschlicher Macht zu fügen. Das
Göttliche liegt für die Mystik jenseits und über allen Definitionen, es liegt vor
allem auch jenseits der Geschichte mit ihren von menschlichen Ohren
aufgenommenen Offenbarungen und von Menschen geschriebenen heiligen Texten.
Die Mutasiliten im Bagdad des Kalifen Al-Mamun (786 – 833) haben diese
Wahrheit kurzfristig anerkannt. Gegenüber den fanatischen Orthodoxen waren sie
kühn genug, nur Gott Ewigkeit zuzuschreiben, aber nicht dem Koran, der nur ein
von Menschen geschaffenes Werk sei.
Die Skepsis gegenüber allen voreiligen Deutungen musste jedoch keineswegs
dazu führen, dass die Mystik offen mit jenen Inhalten brach, mit denen sie durch
die jeweils überkommene Religion konfrontiert war. Tatsächlich hat sie es weder
im Christentum noch im Islam oder Hinduismus getan. Shankara, Eckhart oder
Rumi bedienten sich der zu ihrer Zeit bestehenden religiösen Bilder und
Vorstellungen, sie interpretierten diese nur auf eine besondere Weise, wobei sie
sich dadurch freilich der Gefahr ausgesetzt haben, den Argwohn der Ketzerei
wachzurufen. Doch so groß das Misstrauen der Machtreligion auch von jeher
gegenüber einer Mystik sein musste, die sich ihren Denkbefehlen nicht fügte, so
groß war gewöhnlich die Bereitschaft der Mystiker, sich in den Begriffen und
Anschauungen ihrer Zeit auszudrücken und die überzeitliche Wahrheit nur so weit
hindurchschimmern zu lassen, dass jene Wenigen sie zu erkennen vermochten, die
dazu bereit und fähig waren. Denn gerade weil der Mystiker die Sprache und
Ambitionen der Macht verwarf, musste es ihm als unsinnig erscheinen, gegen die
Macht anzukämpfen. Irrtum, Kurzsichtigkeit, Unwissen und Maya akzeptierte er
als Erbteil der Welt und ihrer Menschen.
Und es gab für ihn noch einen tiefer liegenden Grund, jene Nachsicht
gegenüber der Religion zu üben, die diese ihm weit weniger oft gewährte. Denn
der Mensch musste sich notwendigerweise einer bestimmten konkreten Sprache
bedienen, um den Gefühlen der Verehrung, der Liebe, der Andacht Ausdruck zu
verleihen. Wenn er die Erfahrung des Göttlichen nicht nur als inneren Zustand
erleben wollte, dann brauchte er Ziegel, Farben, Formen und Bilder, um diese
Gefühle nach außen sinnlich zu manifestieren. Hier liegt die Ursache dafür, dass
die Religion – auch in ihren absurdesten und menschenfeindlichsten
Manifestationen - eine so gewaltige Macht über die Seelen gewinnen konnte. Ihre
höchsten und besten Gefühle gehen eine unlösbare Verbindung mit all jenen

173
Versen, Tönen und sichtbaren Formen ein, die den Inbegriff der jeweils eigenen
Kultur und ihrer Traditionen bilden. Die historischen Religionen sind
Machtorganisationen, und als solche waren sie für alles Grauen verantwortlich, das
Macht den Ohnmächtigen nur zufügen kann. Doch ist diese Seite, die von
Karlheinz Deschner in seiner »Kriminalgeschichte des Christentums« mit
wissenschaftlicher Akribie aufgezeigt worden ist – eben nur eine Seite. Denn die
Kirchen haben den Gläubigen zugleich auch jene konkreten Ausdrucksformen zur
Verfügung gestellt, in denen sich unendlich viel Liebe, Andacht, Verehrung
ausdrücken konnte. Was der Mystiker als inneren Zustand erfährt, das konnte sich
hier in einem nicht abreißenden Strom ständig erneuerter Schöpfung zur sichtbaren
Gestaltung verdichten. Historische Religionen kommen dem Bedürfnis des
Menschen nach, seiner Verehrung und Ergriffenheit in gemeinsamem Ritus, in
Gesang, Gebet Ausdruck zu verleihen und ihm in Bau- und Kunstwerken ein die
Zeit überdauerndes Zeugnis zu setzen.[77]
Angesichts dieser Ambiguität ist das Verhältnis des Mystikers zu den
historischen Religionen notwendig komplex. Es erscheint ihm ganz natürlich, dass
Menschen ihre Verehrung mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in Wort,
Gesang, Bauwerken, Riten, Geschichten zum Ausdruck bringen. Wenn sie etwa an
Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit denken, tauchen in ihrer Vorstellung wie von
selbst Gestalten wie Christus oder Gandhi auf, wenn von mütterlicher Liebe die
Rede ist, dann denken viele sogleich an die Maria der heiligen Schrift. Der
abstrakte Gedanke will sich zu konkreten Symbolen verdichten, zunächst in
Menschen aus der Vergangenheit, die einerseits nah genug sind, um als Freunde
und Helfer für die Vorstellung erreichbar zu bleiben, andererseits aber weit genug
entfernt, um aller sie beschädigenden Kritik entrückt zu bleiben, schließlich in
Göttergestalten, die noch menschenähnlich genug sind, um als Gegenüber für das
Gebet zu taugen und doch so weit entrückt, dass das Menschlich-Allzumenschliche
sie nicht verkleinert.[78] Jede Art der gemeinschaftlichen Verehrung drängt danach,
solche Zeichen zu setzen und in ihnen die eigenen Gefühle so auszudrücken, dass
sie für jedermann sicht- und greifbar werden. Die Erfahrung des Göttlichen bildet
keine Ausnahme von diesem Bestreben, im Gegenteil, sie hat zu allen Zeiten den
Kern gebildet, um den sich das Bedürfnis des Menschen kristallisierte, seiner
Gewissheit von einem gotterfüllten, höheren Sein Ausdruck zu verleihen. Ohne
dieses kollektive Bedürfnis nach materieller Darstellung innerer Zustände wären
die großen Kathedralen, Moscheen, Tempel, Schreine und alle Kunst in ihrem
Dienst nie entstanden. Ohne das Verlangen danach, sich gegenseitig diese
Verehrung durch Zeichen sichtbar zu machen, hätten die Völker nicht den größten
Reichtum und gewaltige Energien an etwas scheinbar Nutzloses verschwendet: die
Verherrlichung einer unsichtbaren Wirklichkeit.
Nicht anders als der gewöhnliche Gläubige wird der Mystiker von diesen
Zeichen angerührt und ergriffen. Ihr Zweck, die Präsenz einer höheren
Wirklichkeit zu beschwören, gelingt ihnen nicht selten auf wunderbare Weise. Und
es gelingt ihnen ganz über die Grenzen der eigenen Religion hinaus. Der Hain um

174
die Schreine von Ise, die Kathedrale von Chartres, die Freitagsmoschee von Delhi
oder der Kailashnathtempel von Kanchipuram lassen einen für das
Außerordentliche empfänglichen Menschen durch ihre geheimnisvolle Schönheit
erschauern. Es sind Zeugnisse des steingewordenen Innehaltens – einer Besinnung,
die frei von jedem Bezug auf die physischen Zwänge der Daseinserhaltung nichts
anderem dient als dem Ausdruck des religiösen Erschauerns und der Verehrung.
Diese Monumente sind, was sie sein wollen: menschenerdachte Gefäße des
Göttlichen.
Aber sie sind es nicht – und darauf besteht die Mystik - insofern sie dieses in
bestimmte Formen gezwängt, kodifiziert und mit Etiketten versehen haben. Sie
sind es als Chiffren,[79] in denen der Mensch seine Kunst, sein Können und sein
sprachgewordenes Wissen dazu benutzt, um auf eine Wirklichkeit hinzudeuten, die
letztlich jenseits von Kunst, Können und Sprache liegt. Solange die historischen
Religionen nicht mehr sein wollen als unbeholfen-kindliche Versuche, das
Unsagbare in Bildern so zu vermitteln, dass sich daran Gefühle und kollektiver
Verehrungswille kristallisieren, sind sie für den Mystiker gültige Zeugnisse für
göttliche Gegenwart. Doch der Mystiker weiß um die Gefahr, die mit ihnen
unlösbar einhergeht. Chiffren können sich jederzeit in Herrschaftssymbole
verwandeln. Der Übergang findet schleichend und oftmals unmerklich statt. Auf
einmal ist das Göttliche mit den Geschichten und Fabeln identisch, die sich darum
gelagert haben. Auf einmal trägt es einen bestimmten Namen und verlangt nach
diesen und keinen anderen Riten. Auf einmal wird es gegen das Göttliche, wie es
sich beim Nachbarn manifestiert, mit Dogmen und Schwertern verteidigt. Auf
einmal ist es zu einer Wahrheit geworden, in deren Namen man Menschen
verbrennt, verfolgt – mit anderen Worten, auf einmal trägt es das Molochgesicht
der Macht.
Der Mystiker weiß um diese unheimliche Verwandlung, bei der aus Chiffren
Machtinsignien werden. Er weiß, dass dies der Grund dafür ist, warum all diese
Chiffren und die mit ihnen verbundenen historischen Religion allesamt sterblich
sind. Mit einem Mal kann es passieren, dass Kathedralen und Tempel, vor denen
Menschen erschauerten und erbebten, plötzlich zu Pferdeställen und Marktplätzen
umgebaut werden. Wenn Macht die Symbole des Erhabenen missbraucht, dann
weicht aller Zauber aus ihnen. Zu Recht lässt man ihre abgelebten und
missbrauchten Hüllen verkommen und macht sie zu Zielscheiben von Spott und
Verachtung – ein Schauspiel, das die französische Revolution ganz Europa in
unferner Vergangenheit bot.
So erklärt sich das gespaltene Verhältnis des Mystikers zu den historischen
Religionen. Er kann in ihnen großartige Chiffren erblicken, Gefäße der Wahrheit,
aber sie können ihm ebenso als unheilvolle Insignien der Macht erscheinen. Bis
zum heutigen Tag sind sie immer beides zugleich gewesen.

175
Dawkins Heil und …
Wissenschaft ist eine Menschheitssprache, aber sie betrachtet Wirklichkeit, als
wenn es den Geist, das Neue, das Wunder in ihr nicht gäbe. In ihrer praktischen
Tätigkeit ist sie zu diesem Vorgehen auch gezwungen, denn für jedermann überall
auf die gleiche Weise beobachtbar ist nur jener Bereich des Wirklichen, der
unabhängig von den Eingriffen des Geistes besteht, also unabhängig von
menschlichem Wollen und Wünschen. Diese Fiktion einer Wirklichkeit, die
unabhängig vom Prinzip Geist funktioniert, erweist sich als überaus fruchtbar –
und das ist letztlich der Grund dafür, dass Wissenschaft seit dem
einundzwanzigsten Jahrhundert zur Weltsprache aller Menschen wurde. Ihre
Versprechungen sind real, nie hat der Mensch im Guten wie im Bösen so viel
Macht über die Welt ausgeübt.
Und doch muss man auch darin letztlich einen Beweis für die Macht des
Geistes erblicken, denn die Kenntnis von Naturvorgängen, die sich unabhängig
von menschlichem Wollen und Wünschen abspielen, verfolgt, wie in diesem Buch
immer wieder betont, nur den einen Zweck, die aus ihnen abgeleiteten Gesetze
anschließend abhängig von menschlichem Wollen und Wünschen einzusetzen,
also durch den Geist in die Materie einzugreifen. Wir sahen, dass die
Naturwissenschaft auf diese Weise selbst den Beweis gegen den Determinismus
oder die Irrlehre von der Welt als Uhrwerk liefert: Die einzige Relevanz von
Kausalgesetzen liegt für den Menschen darin, dass er in das Geschehen
einzugreifen vermag, sofern es nicht determiniert ist.
Die Anerkennung des Geistes als wirklichkeitsgestaltende Macht ist die
befreiende Tat einer kritischen Vernunft, die sich aller dogmatischen Vorurteile
entledigt. Auch die Weltsprache Wissenschaft ist eine Heilsbotschaft – jede neue
Entdeckung gleicht ja einer Erweiterung unseres Bewusstseins. Der menschliche
Geist hat ein Stück Wirklichkeit in sich aufgenommen, wenn er diese Wirklichkeit
richtig erkennt und seine Erkenntnis in der Aufstellung neuer Gesetze ihren
Niederschlag findet. Die Entdeckerfreude, die solche Erkenntnisse zu begleiten
pflegt, ist ein geistiges Erbeben, ein mehr oder weniger deutlicher Abglanz jenes
mystischen Einheitserlebens, das nichts anderes ist als ein Ausgreifen des Ich über
die eigenen Grenzen hinaus in eine Welt, in der es sich selbst wiedererkennt. Diese
Freude der Wiedererkennung hat freilich als solche nichts mit Wissenschaft, ihren
Methoden und Zielen, zu tun. In keinem Lehrbuch der Physik oder Chemie ist
davon die Rede. Aber so wie die Anwendung von Gesetzen gemäß menschlichem
Wünschen und Wollen das letzte Ziel und der Sinn aller Suche nach Vorgängen ist,
die sich unabhängig von Wünschen und Wollen ereignen, so ist für den einzelnen
Forscher die Freude (in Gestalt sozialer Anerkennung und materieller Entlohnung)
die eigentliche Motivation für sein Handeln. Vor einem halben Jahrtausend und
früher konnte es Wissenschaft im heutigen Sinn noch nicht geben, weil sie nichts
bedeutete und daher auch keine Freude machte. Es ist der Geist einer Zeit, welcher
den Forscher hervorbringt, denn dieser existiert als geistiges Wesen und seine

176
Belohnungen sind letztlich geistiger Art, auch wenn sich die Anerkennung dann in
sozialem Prestige und materiellen Vorteilen bekundet.
Deshalb ist es durchaus kein terminologischer Fehlgriff vom Heil des
Wissenschaftlers und der Wissenschaften zu sprechen. Dieses gründet jedoch in
einem seltsamen Widerspruch. Der Wissenschaftler kann sich nur dann den
größten Erfolg versprechen, wenn er den Geist aus der Wirklichkeit ganz vertreibt.
Nur wenn diese eine Maschine, d. h. geistloses Getriebe ist, kann er hoffen, sie
ganz zu erkennen. Räumt er dagegen dem Geist einen Platz ein, so schränkt er den
Bereich der Maschine und damit auch die Reichweite seiner Erkenntnisse ein. Der
Determinismus, der die Welt zu einer geistlosen Maschine erklärt, ergibt sich daher
auf ganz zwanglose Weise aus einer geistigen Wunschvorstellung des auf
Allmacht und Allwissen abzielenden Wissenschaftlers. Dieser negiert das Walten
des Geistes, um seiner geistigen Erkenntnis maximalen Raum zu gewähren.
Aus diesem Grunde kann die Machtwissenschaft gar nicht anders, als sich
gegen die Religion aufzulehnen, denn in dieser bekämpft sie den Geist, den sie in
der »Welt als Maschine« nicht dulden will. Wie vor ihm schon Holbach (1723 -
1789) oder Büchner (1824 - 1899), die zu ihrer Zeit dieselben Bestsellererfolge
errangen, bietet Dawkins seinen ganzen Spott und Scharfsinn auf, um den
Aberglauben zu demontieren und bloßzustellen. Doch dabei entgeht ihm völlig,
dass er als Exponent der Machtwissenschaft den Aberglauben im Namen des
Aberwissens bekämpft. Die wissenschaftliche Totalerklärung, die er als alternative
Weltsicht an die Stelle der religiösen setzt, ist genauso anfechtbar wie der
Gegenstand seiner Attacke. Das Heil, das er verspricht, überzeugt weder, wenn er
es mit seinen persönlichen Ansichten über das egoistische Gen begründet, noch
wenn er die Wissenschaft überhaupt als Heilsbringer zu etablieren versucht.
Kritische Wissenschaft hat sich nie als Heilsbringer verstanden. Sie ist ein
Instrument, das uns die Beherrschung der äußeren Welt erlaubt, zugleich aber die
ebenso wichtige Rolle erfüllt, uns über die Reichweite menschlichen Wissens und
Könnens aufzuklären. Kritische Wissenschaft unterwirft sich ebenso wenig den
Dogmen der Machtwissenschaft wie die Mystik denen der Machtreligion. Sie
erkennt, dass all ihre konkreten Errungenschaften immer Mittel zu geistigen
Zwecken sind, selbst wenn diese Zwecke in stumpfsinnigem Konsum, im
Vernichten der Natur und im Töten bestehen. Denn es ist der Mensch mit seinem
Wollen und Wünschen, der diese Zwecke vorgibt, Wissenschaft selbst vermag
nichts über die Ziele des individuellen wie des gemeinschaftlichen Lebens zu
sagen. Sie gibt uns keine Richtschnur an die Hand, was der Einzelne oder was eine
Gemeinschaft in dieser Welt aus sich machen soll. Gerade über dasjenige, was
jeder Mensch dringlicher als alles andere wissen möchte: über Sinn und Zweck des
Lebens, liefert sie keinerlei Auskunft. Die einzige Auskunft, die eine fehl geleitete
Wissenschaft, eben die Machtwissenschaft, zu diesem Punkt abgibt, besteht in
einem dogmatischen Beharren auf der ganz abwegigen Auffassung, dass alles
worüber sie nichts zu sagen weiß, eben deshalb auch wertlos sei oder überhaupt
inexistent. Da Sinn- und Zweckfragen durch empirische Beobachtung nicht zu

177
entscheiden seien, dürfe man sie von vornherein als sinnlos verwerfen. Wir haben
gesehen, welche verheerenden Folgen diese Einstellung der Machtwissenschaft auf
die Weltsicht des modernen Menschen ausübte. Sie hat ihm ein totes und
seelenloses Universum beschert.
Aber das Universum ist weder tot noch seelenlos, es ist von Geist erfüllt und
- was wir bereits an unserem eigenen Handeln ablesen können - von geistigen
Zwecken und Zielen gelenkt. Materie an sich gibt es nicht, d. h. Materie
unabhängig von einem Bewusstsein. Sagen wir etwa, dass die Welt existiert oder
existieren müsse, selbst dann noch wenn der letzte Mensch auf ihr verschwunden
wäre, so kann der Begriff »existieren« hier nur bedeuten, dass die Welt sich
weiterhin in irgendeinem Bewusstsein spiegelt, denn das ist der einzige Sinn, den
wir dem Begriff der Existenz geben können. Die kritische Vernunft stößt an dieser
Stelle an Grenzen, die sie nicht zu überschreiten vermag. Sie stößt an das
Undenkbare. Das ist auch dann der Fall, wenn sie nach der Reichweite von Geist
und Bewusstsein fragt. Diese gehören zu jenen Eigenschaften, von denen wir
weder sagen können, dass sie in der Materie von vornherein angelegt seien noch
dass sie es nicht sind (vgl. S. 72). Wie immer wir uns entscheiden, stößt rationales
Denken hier an unüberwindbare Grenzen. Dawkins und die Machtwissenschaft
wissen nichts von solchen Grenzen und leugnen sie. Solange sie sich mit der Fülle
und den Herausforderungen des Konkreten befassen, brauchen sie davon ja auch
nichts zu wissen. Unannehmbar wird diese Haltung erst dann, wenn sie in eine
dogmatische Weltsicht einmündet, wie sie Dawkins und seine Vorgänger vertreten.
Dann wird kritische Wissenschaft – ein Instrument der Erkenntnis um die
Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität bis an die Grenzen des Undenkbaren
auszuloten – zu einem Machtinstrument umgedeutet, das zu einer Scheuklappe und
zu einem Hindernis für komplexe Erkenntnis wird.

… das Heil des Mystikers


Mit der Vorstellung eines sinnlos waltenden Willens wollte Schopenhauer die
Antwort auf eine Frage geben, welche die Philosophie nicht beantworten kann: die
Frage nach dem Urgrund der Welt. Die Ratio kann uns aber nur über denjenigen
Teil der Wirklichkeit Auskunft erteilen, der sich der rationalen Alltagserfahrung
erschließt. Jenseits der für die Mittlere Welt gemachten Alltagserfahrung beginnt
die Begriffslosigkeit. Sie ergibt sich als zwangsläufige Folge angesichts eines
Umgreifenden, das wir mit den Versatzstücken aus dem Umgriffenen nicht »in den
Griff« bekommen. Aber der rationale Zugriff ist nicht der einzige Zugang zur
Wirklichkeit. Das Innehalten, Loslassen, die zeitweise Befreiung von den Zwängen
des Nützlichen ermöglichen noch eine andere Zuwendung zur uns umgebenden
Welt, doch lässt sich diese, die mystische Versenkung, nicht beliebig festhalten
und nicht erzwingen. Sie stellt sich in gewissen Momenten ein und verflüchtigt

178
sich wieder, weil wir im gewöhnlichen Leben handelnde und entscheidende
Menschen sind, die den Anforderungen ihrer physischen und sozialen Existenz zu
genügen haben. Es sind immer nur Momente der temporären Befreiung von
Daseinszwängen, in denen sich mehr oder weniger flüchtig der Blick auf die ganze
Wirklichkeit öffnet. Zudem erreichen solche Momente ganz unterschiedliche
Grade der Intensität. »Die meisten unter uns«, so drückte es der amerikanische
Philosoph, Psychologe und Religionskritiker William James in einer trefflichen
Passage aus:

»erinnern sich der seltsam anrührenden Kraft mancher Zeilen in bestimmten


Gedichten, als wir diese in unserer Jugend lasen. Da waren Tore des
Irrationalen geöffnet, durch die sich das Geheimnis der Dinge, die Wildheit
und der Schmerz des Lebens in unsere Herzen stahlen und sie verzauberten
… Vielleicht halten uns die Wörter mittlerweile nur noch ihre glänzenden
Oberflächen entgegen, aber lyrische Dichtung und die Musik bleiben nur in
dem Maße lebendig und bedeutsam wie sie etwas von den unbestimmten
Ausblicken auf dieses mit unserem eigenen verbundene Leben bewahren,
aus dem sie uns geheimnisvolle, lockende Zeichen zusenden… Je nachdem
ob wir diese mystische Empfänglichkeit in uns bewahren, stehen wir dieser
ewigen Botschaft der Künste als Tote oder Lebendige gegenüber«.

Nicht die Größe der Anlässe ist entscheidend, auch nicht ob diese an unsere
Empfänglichkeit für das Schöne oder für den Schrecken appellieren. Denn auch
das Erlebnis des Furchtbaren: ein plötzlich unter unseren Füßen zuckender Boden
oder der Ausbruch eines Vulkans kann zu einer augenblicklichen
Bewusstseinserweiterung führen. Ausschlaggebend für die Wirkung solcher
Erfahrungen ist nicht ihre objektive Qualität sondern die subjektive Spur, die sie in
uns hinterlassen. Gemeinsam ist all diesen Ereignissen, dass sie die fest gefügte
Routine des Alltagsdaseins durchbrechen und damit auch den Panzer des Ich mit
seinen bis zur Stereotypie eingeübten Reaktionen. Es ist auch nicht verwunderlich,
dass solche Momente in der Jugend gewöhnlich häufiger auftreten als in späteren
Jahren. Damals hatte sich unser Ich noch weniger stark verfestigt, es war weniger
eindeutig auf ein bestimmtes Verhalten festgelegt, anders gesagt, offener für die
Wirklichkeit. Statt jede Reaktion von vornherein so zu berechnen, dass sie dem
Selbsterhalt und damit der Herrschaft über Mensch und Natur die besten Chancen
erteilt, ist das Ich in diesem Stadium noch offen für die Verzauberung. Statt jeden
äußeren Reiz mit einer fertigen Antwort zu quittieren, wie es die behavioristische
Theorie eines Skinner ausdrücklich von den in ihr vorausgesetzten
Menschenautomaten verlangt, stellt sich das Erleben vor allem des jungen
Menschen auf ganz andere Weise dar. Viel eher ist es einem inneren Echo zu
vergleichen, in dem das Geheimnis der Dinge sich, wie James es ausdrückt, voller
Ahnungen in die Seele drängt.

179
Das mystische Erleben ist aber in jedem Menschen als Möglichkeit angelegt,
und viele haben es zumindest in ihrer Jugend gekannt. Es ist eine Erkenntnisform,
die denselben Grad von Evidenz und Überzeugungskraft aufweisen kann wie
diskursives Denken. Dennoch besteht zwischen beiden ein deutlicher Unterschied.
Das rationale Denken steht ständig zu unserer Verfügung. Mit seinem
instrumentellen Charakter dient es unserer Selbsterhaltung ebenso zuverlässig wie
etwa unser Sehvermögen oder die Muskeln von Armen und Beinen. Mit beliebigen
anderen Menschen können wir uns über Strategien zur Förderung unseres
physischen Daseins verständigen Die gespeicherten Erinnerungen, auf die unser
Denken bei solchen Gelegenheiten zurückgreift, sind dabei stets willkürlich
abrufbar. Das diskursive Denken – das sich in strengster Form in den
Wissenschaften manifestiert – bildet die breiteste Basis für eine über alle
nationalen und anderen Grenzen hinausreichende Verständigung.
Dagegen treten wir mit dem mystischen Erleben nur in mehr oder weniger
seltenen Momenten über die Grenzen der mitteilbaren Erfahrung hinaus. Weder in
Arbeitskreisen noch in Konferenzen können wir uns seiner Inhalte und seiner
Botschaften vergewissern. Auch Universitätskurse zu diesem Gegenstand sind
aussichtslos, weil keine Diplome und Prüfungen in diesem Fach sinnvoll
erscheinen. Erfahrungen, die uns keine abrufbaren Begriffe liefern, mögen noch so
real und von noch so großer Bedeutung sein, sie können dennoch nie Gegenstand
des diskursiven Begreifens sein. Das gilt für das Erleben eines Konzerts, dessen
Wirkungen unter Umständen in Tausenden von Köpfen weitgehend die gleichen
sind, wie für die Erschütterung durch ein großartiges Gedicht oder eine
überwältigende Landschaft. Zwar lässt sich über alles endlos reden, dennoch ist die
Sache selbst umso weniger auf den Begriff zu bringen, je tiefer der Eindruck
reichte. Intensität und Nennbarkeit der Erfahrung stehen hier in einem
umgekehrten Verhältnis. Wir haben es mit einer Form der Erkenntnis zu tun, die,
angefangen beim musikalischen Miterleben bis zur höchsten mystischen Intuition,
weltweit verbreitet ist und die dennoch von Philosophie und Literatur nur in
Andeutungen und Umschreibungen benannt werden kann. Wir haben es - anders
als im Fall der historischen Religionen – mit einer wirklichen Menschheitssprache
zu tun, der einzigen Lingua franca neben den Wissenschaften, dennoch gehört sie
ganz dem Bereich der inneren Erfahrungen an.
Mystisches Erleben und rationales Denken der Wissenschaft sind die beiden
einzigen echten Menschheitssprachen. Das wissenschaftliche Begreifen stattet den
Menschen mit dem unerlässlichen Instrument zur Bemeisterung der Umwelt aus,
und zwar im Sinne der Erhaltung von Ich und Gesellschaft. Doch entfremdet es ihn
zwangsläufig von dem großen Ganzen einer Natur, der er doch letztlich als eine
ihrer Manifestationen angehört. Der selbstbehauptende Kampf verlangt von ihm
Entgegenstellung, Objektivierung, Individuation, Teilung, Unterscheidung. All das
ist bis zu einem gewissen Grade notwendig und doch immer wieder aufs Äußerste
schmerzhaft. Das mystische Erleben löscht diesen Kampf zumindest zeitweise aus
und lässt so die ursprüngliche Einheit wieder in das Bewusstsein rücken. Es hat

180
eine versöhnende Funktion. Für Augenblicke entreißt es den Menschen dem
bloßen Daseinskampf, um ihn in etwas Höheres einzubetten, den Strom des ganzen
ihn umgebenden Lebens. Das mystische Erleben öffnet ihm die Augen dafür, dass
dieser Kampf sich nur im Vordergrund der Lebensbühne ereignet. Nur dort steht
der Mensch tatsächlich als dieses kleine, ohne seine Einwilligung in die Welt
katapultierte Ich inmitten einer feindlichen Umwelt aus fremden Dingen und
Menschen, gegen die er sich lebenslänglich behaupten muss. Doch ist das nur der
geringere, der auf Überleben und Nutzen abgestellte Teil der Wahrheit. Jenseits
aller diskursiven Begrifflichkeit erfährt der Mensch im Einssein mit den Dingen
seine wahre Natur, die ihn zum Teil des Göttlichen macht.
Mystik steht ganz auf Seiten der kritischen Wissenschaft, sie ist ihre
natürliche Verbündete. Manchmal fallen Mystiker und kritischer Wissenschaftler
auch in ein und derselben Person zusammen. Wir sahen, dass dies etwa bei Albert
Einstein der Fall ist. Doch der Mystiker geht einen Schritt weiter, er begnügt sich
nicht mit der nüchternen Analyse. Für ihn wird die Welt, die sich an ihren Grenzen
dem rationalen Zugriff entzieht, wieder zu jenem Hort von Geheimnis und Wunder,
der sie für das naive Welterleben schon immer gewesen ist. Das Heil des Mystikers
ist ein Erleben jenseits des diskursiven Denkens, eine von diesem unabhängige und
dennoch ebenso reale Form der Erkenntnis. Ein Zustand, womit er die Grenzen des
eigenen Ich überschreitet, ein Glückzustand, der ihn außerhalb von Raum und Zeit
für Momente seinem Alltagsdasein entrückt und ihm die Verbundenheit mit allem
Sein zu Bewusstsein bringt. Das mystische Erleben ist Erfahrung des Göttlichen
jenseits von allen theologischen Konstruktionen. Es ist religiöses Erleben im
Urzustand, wie es sich seit Beginn der menschlichen Geschichte ereignet, bevor
sich Religion zu bestimmten Göttern, Geistern und Dämonen kristallisiert,
verhärtet, veräußerlicht. Mystik ist, was Menschen in fernen Kulturen nach dem
Gotteserleben suchen lässt, in der Esoterik, im Aufruhr gegen die Vernunft, selbst
noch in Drogen und im offenkundigen Unsinn. Mystik ist die Sehnsucht selbst und
die damit verbundene Gewissheit, dass es noch etwas Anderes gibt. Mystik ist jene
Bereitschaft, sich für dieses Andere zu opfern, das dann dazu führen kann, dass
man sich zuletzt nur noch anderen Menschen opfert, ihren Vorschriften, Satzungen,
ihrer Herrschaft. Mystik ist der Urgrund einer Sehnsucht, in dem alle Menschen
sich selbst erkennen, weil sie darin ihre Unterschiede verlieren. Mystik ist daher
auch die einzige Religion, die Gegensätze versöhnt wie in einem Spiegel der alle
Menschen vereint. Sie ist die einzige universale Sprache des religiösen Erlebens,
die Stammzellenform der Religion, bevor diese die eine Wahrheit in Tausende von
Scherben zersplittert und unüberwindbare Barrieren zwischen den Menschen
errichtet.

181
Rückblick (die andere Art der Erkenntnis):
Laotse, der chinesische Mystiker, spricht von einer Seele, deren Vermögen darin
liegt, auch ohne praktischen Zweck im Einklang mit den Dingen zu leben:

Kannst du mit deiner inneren Klarheit und Reinheit alles durchdringen, ohne
des Handelns zu bedürfen? Erzeugen und ernähren, erzeugen und nicht
besitzen, wirken und nicht behalten, mehren und nicht beherrschen: das ist
geheimes LEBEN.

Der deutsche Mystiker Eckhart unterscheidet zwischen dem rationalen und einem
anderen überrationalen Erkennen:

Die Seele hat etwas in sich, ein Fünklein der Erkenntnisfähigkeit, das
nimmer erlischt… Nun gibt es aber in unseren Seelen auch ein auf äußere
Dinge gerichtetes Erkennen, nämlich das sinnliche und verstandesmäßige
Erkennen, das ein Erkennen in Vorstellungsbildern und in Begriffen ist und
das uns jenes [höhere Erkennen] verbirgt.

Der französische Denker Blaise Pascal gelangt zu ähnlichen Schlüssen:

Das Herz hat eine Vernunft, die die Vernunft übersteigt. Das zeigt sich in
Tausenden von Dingen.

Der flämische Mystiker Jan van Ruysbroek findet dafür die folgenden Worte:

Entleertes, bilderloses Denken, ein klares Schauen im göttlichen Lichte und


eine reine Entrückung des Geistes vor das Antlitz Gottes, - diese drei
zusammen bilden das wahrhaft schauende Erleben, darin sich niemand irren
kann.

Vielleicht ist die scheinbar naivste letztlich auch die tiefste Art der Mystik. In den
Versen Rumis berührt sie auf unvergleichliche Weise:

Ich bin das Sonnenstäubchen, ich bin der Sonnenball.


Zum Stäubchen sag' ich: bleibe! und zu der Sonn': entwall!

Ich bin der Morgenschimmer, ich bin der Abendhauch.


Ich bin des Haines Säuseln, des Meeres Wogenschwall.

Ich bin der Mast, das Steuer, der Steuermann, das Schiff;
Ich bin, woran es scheitert, die Klippe von Korall'.

Ich bin der Baum des Lebens und drauf der Papagei;

182
Das Schweigen, der Gedanke, die Zunge und der Schall.

Ich bin der Hauch der Flöte, ich bin des Menschen Geist,
Ich bin der Funk' im Steine, der Goldblick im Metall.

Ich bin der Arzt, die Krankheit, das Gift und Gegengift,
Das Süße und das Bittre, der Honig und die Gall'.

Ich bin der Krieg, der Friede, die Walstatt und der Sieg,
Die Stadt und ihr Beschirmer, der Stürmer und der Wall.

Ich bin der Wesen Kette, ich bin der Welten Ring,
Der Schöpfung Stufenleiter, das Steigen und der Fall.

Ich bin, was ist, und nicht ist. Ich bin, o der du's weißt,
Dschelaleddin, o sag' es, ich bin die Seel' im All.

183
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Personenverzeichnis

Augustinus 138

Bauer, Joachim 6, 86
Bergson, Henri 53, 139
Berkeley, George 74
Bohm, David 22, 62, 94
Bohr, Niels 94
Borges, Jorge Luis 114, 119, 138
Brahmana-Texte 36
Büchner, Ludwig 52, 138
Burtt, Edwin A. 81, 139

Camus, Albert 34
Carter, Brandon 74
Comte, Auguste 56

Darwin, Charles 60
Dawkin, Richard 90
Descartes, René 139
Deschner, Karlheinz 28, 129
Dostojewski, Fjodor 126
Durkheim, Emile 140

Eckhart von Hochheim 12, 21, 25, 31, 39, 42, 47, 66, 77, 103, 106, 115, 118, 122, 126, 136
Einstein, Albert 7, 20, 22, 44, 100, 138
Emerson, Ralph W. 17
Epikur 21

Feuerbach, Ludwig 21, 126


Freud, Siegmund 103, 139

Galilei, Galileo 139


Gandhi 16
Glasenapp, Helmuth von 139
Goethe, Johann Wolfgang von 43, 106, 118

187
Gonda, Jan 36
Grillparzer, Franz 29

Hegel, Friedrich 79, 139


Heine, Heinrich 110
Heisenberg, Werner 61
Herder, Johann Gottfried 140
Holbach, Paul Henri de 52, 138
Hölderlin, Friedrich 43, 102
Horkheimer, Max 14, 82
Hume, David 58
Huxley, Aldous 33

James, William 17, 54, 81, 133, 139


Jammer, Max 96
Jaspers, Karl 20, 63, 97, 138, 140
Jonas, Hans 138, 139

Kant, Immanuel 45, 68, 110


Kepler, Johannes 139
Koestler, Arthur 138, 139
Kolakowski, Leszekt 108
Kues, Nikolaus von 62, 63, 66, 107
Kuhn, Thomas S. 86, 138
Küng, Hans 23, 53, 138

Lange, Albert 110


Laotse 42, 77, 118, 136
Laplace, Pierre-Simon 59
Leibniz, Gottfried Wilhelm 33, 139
Lévi, Sylvain 138
Libet, Benjamin 138
Loyola, Ignatius von 30

Marx, Karl 28, 60


Mutasiliten 128

Nietzsche, Friedrich 37

Oldenberg, Hermann 138, 139


Otto, Rudolf 31, 138, 139

Pascal, Blaise 17, 32, 37, 61, 63, 84, 136


Plato 42
Plotin 47, 105
Popper, Karl 13, 58, 86, 91, 138, 139
Prinz, Wolfgang 138
Proust, Marcel 44

Rahner, Karl 19
Raleigh, John W. S. 53
Ramakrishna 17
Ramakrishna, Paramahamsa 119
Richet, Charles 53
Riedl, Rupert 138, 139
Rigveda 69
Rolland, Romain 99, 103, 139
Rose, Steven 86, 138, 139
Roth, Gerhardt 138
Rumi, Djalal od-Din 16, 43, 101, 115, 126

188
Russell, Bertrand 58
Ruysbroek, Jan van 136
Ryonen 43

Sartre, Jean Paul 138


Schelling, Friedrich 17
Schiller, Friedrich 21, 62, 138
Schleiermacher, Friedrich 101
Schopenhauer, Arthur 16, 45, 66, 95, 111, 122
Schrödinger, Erwin 20, 25, 29, 94, 98, 139
Schweitzer, Albert 84, 117
Shankara 16, 19, 31, 39, 42
Silesius, Angelus 12, 16, 66, 77, 106
Skinner, Burrhus F. 60
Spencer, Herbert 138
Spinoza, Baruch de 22, 31, 58, 95, 100
Strauss, Claude im 36

Tolstoi, Leo 126

Upanishaden 16, 19, 21, 25, 29, 36, 39, 47, 66, 77, 105, 115, 118, 122

Vedanta 19
Vollmer, Gerhard 138
Voltaire 58

Watson, John B. 60
Weischedel, Wilhelm 139
Whitman, Walt 12, 101
Wilson, Edward O. 138

Xenophanes 21, 126

Zhuangzi 42, 66, 73

Anmerkungen

[1]
Daneben lässt sich noch ein weiterer Frontenverlauf erkennen. Auch dieser stellt nicht die
Wissenschaft der Religion entgegen, sondern konfrontiert Machtwissenschaft und Machtreligion
auf der einen mit kritischer Wissenschaft und kritischer Religion (Mystik) auf der anderen Seite.
[2]
Wie außerordentlich stark dieser Druck von jeher war, dass lässt sich daraus ermessen, dass
selbst in einer an Liberalität kaum zu überbietenden Zeit wie der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts ein Theologe wie Hans Küng, der bestimmt nicht im Verdacht steht seine Kirche in
Misskredit bringen zu wollen, in das Visier der geistigen Zensoren geriet.
[3]
Küng, Gott, 692, wo der Schweizer Theologe den personalen Gott, ganz im Sinne von Karl
Jaspers, als bloße Chiffre bezeichnet (eine Annäherung an die Mystik, die sich allerdings nicht
ohne Widerspruch mit den Ausführungen auf Seite 663f vereinbaren lässt). Folgt man dem
Tübinger Theologieprofessor, so ist die Doktrin der Kirche weit und tief genug angelegt, um alle

189
Einwände zu parieren. Küngs »Nicht zurück« hinter diese oder jene Gegner (Feuerbach,
Nietzsche, Marx, Freud, Russell) wird dabei allerdings zu einer sanft erdrückenden geistigen
Umarmung. Die Tatsache, dass die realen Umarmungen einer über Jahrhunderte das Denken
entmündigenden Machtreligion höchst unsanft und nicht selten äußerst brutal verliefen,
verschwindet ganz unter den alles verdeckenden Nebelbänken einer großen Gelehrsamkeit, die
im Leser den Eindruck erwecken soll: »Seht, wie wir alle unsere Kritiker so souverän verstehen,
müssen wir ihnen da nicht noch weit überlegen sein«? Wie wohltuend empfindet man nach einer
solchen alles relativierenden Dialektik den scharfen Wind, mit dem Männer wie Russell oder
auch Dawkins den Nebel zur Seite blasen und den Blick auf die wirkliche Wirklichkeit öffnen!
Wie wohltuend selbst dann, wenn man in grundsätzlichen Fragen anderer Meinung ist.
[4]
Vgl. Leben, 70ff.
[5]
Karl Jaspers (Glaube, 83) in Bezug auf die »geistigen Methoden der Kirche«: »Es gibt nur
eine Wahrheit des Glaubens, die christliche… Was mit dem gleichen Anspruch der
Unbedingtheit auftritt, ist Unwahrheit, Blindheit, Bosheit. Es muss durch Verkündigung… und
schließlich durch Zwang und Gewalt… überwunden werden.
[6]
Auch Wissenschaft spielt sich allerdings in menschlichen Organisationen ab – und diese sind
grundsätzlich durch den Einfluss von Macht gefährdet. Deshalb können sich auch in ihnen
Paradigmen verhärten, die nach Analogie religiöser Dogmen mehr oder weniger lange Zeit
gegen Kritik abgeschirmt werden. Vgl. Thomas Kuhn, »Die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen«.
[7]
Zu ihrer Zeit war die vorherrschende Religion die Magie der Brāhmanatexte: ein
weltumspannendes System der theoretischen und praktischen Zauberei.
[8]
Siehe Otto über die Nachfolger Shankaras (Mystik, S. 36)
[9]
Diesen Zusammenhang hatte schon Hans Jonas gesehen (Organismus, 314): »Diese
existentialistische Entwertung der Natur spiegelt offenbar ihre spirituelle Entleerung durch die
moderne Naturwissenschaft wider… Nie hat eine Philosophie sich so wenig um die Natur
gekümmert wie der Existenzialismus, für den sie keine Würde hat.«
[10]
Im Existenzialismus sehe ich die autistische Reaktion auf den Zusammenbruch menschlicher
Gemeinschaft in einem Jahrhundert bestialischer Kriege und geplanter Menschenvernichtung.
Doch gebührt dieser Philosophie immerhin das Verdienst - insbesondere bei Sartre - die Freiheit
des Menschen ohne Wenn und Aber in den Mittelpunkt gerückt zu haben.
[11]
Jan Gonda 1960; I, 190.
[12]
Der Indologe Hermann Oldenberg hat im Hinblick auf dieses magische Weltbild von einer
»vorwissenschaftlichen Wissenschaft« gesprochen.
[13]
Lévi, Sacrifice; 9 und 164.)
[14]
Die Literatur ist reich an ähnlichen Schilderungen, viele davon finden sich in den
Erzählungen des argentinischen Dichters und Mystiker Borges, der auch persönliche Erlebnisse
dieser Art beschreibt (Essays, 189).
[15]
»Wie kann kosmische Religiosität von Mensch zu Mensch mitgeteilt werden, wenn sie doch
zu keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie führen kann? Es scheint mir, dass es
die wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft ist, dies Gefühl unter den
Empfänglichen zu wecken und lebendig zu erhalten«.
[16]
Wenn Augustinus die seiner Auffassung nach vom lateinischen Wort »religare« (verbinden)
abgeleitete wahre Religion als diejenige definiert, »durch die sich die Seele mit dem einen Gott,
von dem sie sich gewissermaßen losgerissen hat, in der Versöhnung wieder verbindet«, so streift
er die erste, alle Unterschiede zwischen den Religionen überwindende Definition, um jedoch
gleich in die zweite überzuwechseln, weil er erstens vom einen Gott spricht und zweitens
Wahrheit nur für eine, d. h. die christliche, Religion zulässt.
[17]
»Wenn jemand restlos von einer durchgehend herrschenden Kausalität überzeugt ist, dann
kann er auch nicht einen Augenblick die Idee eines überweltlichen Wesens zugeben, das diese

190
Kausalität aufheben könnte«, sagt Albert Einstein und erneuert damit (im gleichen Sinne wie
Bertrand Russell) die klassische Position der Physik, wie sie gegen Ende des achtzehnten
Jahrhunderts schon von Laplace formuliert worden war.
[18]
Dawkins, Delusion, 87.
[19]
Das »System der Natur« des Baron von Holbach ist noch heute lesenswert, weil der in diesem
Werk mit größter Konsequenz auf sämtliche Erscheinungen bezogene Mechanismus sich
vielleicht nirgendwo sonst auf so offensichtliche Art ad absurdum führt. Ludwig Büchner, der
jüngere Bruder des Dichters Georg, lässt sich gleich in mehrfacher Hinsicht als Vorläufer von
Richard Dawkins verstehen. Auch er stellte eine mechanistische Vererbungslehre auf und
veröffentlichte mit »Kraft und Stoff« zu seiner Zeit (1855) einen Weltbestseller.
[20]
Dawkins, Delusion, 126-129.
[21]
Siehe Koestler, Roots, 33.
[22]
Küng, Gott, 661.
[23]
James, Varieties, 299.
[24]
Dawkins, Delusion, 123.
[25]
Vgl. Saint Simons Newtonrat, Riedl, Spaltung 140.
[26]
Die Mystik gibt darauf die einzig einleuchtende Antwort: Die Denkschemata aus der
menschlichen Welt lassen sich nicht auf die Sphäre des Göttlichen bezeihen: »neti, neti«.
[27]
Weshalb der kritische Wissenschaftler Popper ja auch ganz zu Recht bemerkt, dass die
Annahme einer generellen Kausalität metaphysisch sei. Hume hatte sich zwei Jahrhunderte
früher in Bezug auf den Gesetzesbegriff schon in ähnlichem Sinn geäußert.
[28]
In ähnlichem Zusammenhang bemerkt Hans Jonas dazu (Organismus, 184): »Wir haben es
hier… mit einer Art Theoretisieren zu tun, die ich das Theoretisieren der gespaltenen
Persönlichkeit nennen möchte...«
[29]
Nachträglich habe ich bei einem englischen Philosophen des 19. Jahrhundert, bei Herbert
Spencer, ein ganz ähnliches Bild gefunden. »Regarding Science as a gradually increasing sphere,
we may say that every addition to its surface does but bring it into wider contact with
surrounding nescience.« Und Spencer zieht daraus ähnliche Schlüsse: »Hence if knowledge
cannot monopolize consciousness -- if it must always continue possible for the mind to dwell
upon that which transcends knowledge, then there can never cease to be a place for something of
the nature of Religion« (First Principles, 2nd Ed., p. 17).
[30]
Edward O. Wilson, Sociobiology: »Hat sich die neue Neurobiologie erst einmal die
Psychologie einverleibt, wird sie der Soziobiologie ein dauerhaftes Netz aus übergeordneten
Prinzipien bescheren«. Mit anderen Worten, die komplexen und in der Evolutionsfolge höheren
sozialen Beziehungen werden aus dem einfacheren und in der Evolutionsfolge früheren
organischen Substrat abgeleitet werden können.
[31]
Im Zentrum dieser Diskussionen stehen die Versuche von Benjamin Libet, in denen dieser
die zeitliche Abfolge von Willensakt und Bereitschaftspotential in der Auslösung einer
Muskelaktivität in genauen Messungen feststellte. „Es zeigte sich in Libets Experiment, dass das
Bereitschaftspotential im Durchschnitt 550-350 Millisekunden ... dem Willensentschluss
vorausging, niemals mit ihm zeitlich zusammenfiel oder ihm etwa folgte.“ Der „Willensakt tritt
in der Tat auf, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat, welche Bewegung es ausführen
wird.“ Damit steht für den prominenten Neurobiologen Gerhard Roth fest, dass das Gefühl der
Probanten, eine freie Entscheidung getroffen zu haben, eine Illusion ist. „Wir tun nicht, was wir
wollen, sondern wir wollen, was wir tun“, ist auch die Überzeugung von Wolfgang
Prinz (Psychologe am Max-Planck-Institut Leipzig). Ist der aufgrund solcher
Forschungsergebnisse gezogene Schluss von der Unfreiheit des menschlichen Willens
unausweichlich? Keineswegs. Wenn beides, der subjektive Eindruck des Wollens und sein
physiologisches Merkmal, nur unterschiedliche Erscheinungsformen einer gleichen, tiefer
liegenden Ursache sind, so ist damit gar nichts bewiesen. Diese Ursache selbst - der Anfang

191
eines Willensaktes oder die menschliche Freiheit - bleibt dabei freilich im Dunkeln. Sie ist, wie
oben gesagt, undenkbar.
[32]
Hans Jonas bemerkt in ähnlichem Zusammenhang hierzu: »Es zeugt für die irrationale Macht
des rationalen Glaubens, dass kein noch so hartnäckiges Scheitern in der Ausführung dieses
Programms jemals dessen Anhänger entmutigt oder an dem Programm selbst irregemacht hat.«
[33]
Hierzu vgl. Rose, Erben, 91.
[34]
»Der Mensch... hat das Vorrecht... in den Ring der Notwendigkeit... durch seinen Willen zu
greifen und eine ganz frische Reihe von Erscheinungen in sich selbst anzufangen. Der Akt, durch
den er dies wirkt, heißt vorzugsweise eine Handlung... Da die Natur dem Menschen zwar die
Bestimmung gibt, aber die Erfüllung derselben in seinen Willen stellt, so kann das gegenwärtige
Verhältnis seines Zustandes zu seiner Bestimmung nicht Werk der Natur, sondern muss sein
eigenes Werk sein«. (Schiller: Über Anmut und Würde)
[35]
Dieser Begriff wurde von Gerhard Vollmer geprägt. Der Sache nach, wenn auch nicht als
fester Begriff, findet er sich auch schon bei Pascal. Vgl. Zitat auf Seite 63.
[36]
Mit dem zweiten und dritten Aspekt der dreifachen Verschachtelung wende ich den Begriff
der Mittleren Welt in einem allgemeineren Sinne an als Gerhard Vollmer.
[37]
Die Idee der Reduktion alles Wirklichen auf das Allerkleinste war allerdings schon sehr viel
früher geboren als ihre empirische Anwendung, sie existierte schon in der ionischen
Naturphilosophie bei Leukipp und Demokrit.
[38]
»Das Buch [der Natur]«, meinte Galilei, »ist in der mathematischen Sprache geschrieben und
seine Zeichen sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren…«. Kepler glaubte, dass
»die ganze Natur und der holde Himmel in der Wissenschaft der Geometrie symbolisiert sind»,
und Leibniz notierte: »Wenn Gott rechnet, entsteht die Welt«. Zit. aus Jonas, Organismus, S. 109,
110.
[39]
Aber Popper hatte in der Logik der Forschung schon festgestellt, dass die Uniformität der
Natur eine metaphysische Annahme sei: »And the ‚principle of the uniformity of nature’ can
again be regarded as a metaphysical interpretation of a methodological rule – like its near
relative, the ‚law of nature’« (London 1980, S. 253).
[40]
Vgl. auch Riedl, Genesis, 105.
[41]
Hierzu vgl. Rose, Erben, 103ff.,
[42]
Vgl. hierzu die Stelle bei Schrödinger, Leben, 70.
[43]
Berkeley stellt fest: »Sage ich: der Tisch, an dem ich schreibe, existiert, so heißt das: ich sehe
und fühle ihn … Dies ist der einzige verständliche Sinn dieser und aller ähnlichen Ausdrücke«
(Erkenntnis, 22). Das leuchtet ein, nur halte ich den darauf begründeten Idealismus Berkeleys für
unzulässig und unbeweisbar (vgl. Kapitel: Real oder ideal?).
[44]
Hegel hat das Problem auf seine Weise gelöst, indem er die Existenz eines göttlichen
Bewusstsein annahm, dass sich selbst in der kosmischen Entwicklung verwirklicht. Er hat
versucht, dem Undenkbaren auf diese Art den Anschein der Denkbarkeit zu verleihen.
[45]
Schrödinger, Weltansicht, 121ff.
[46]
Diese Bezeichnung geht auf den Indologen Hermann Oldenberg zurück, der sich damit vor
allem auf die Brāhmanatexte bezieht. Der Sache nach schließt sich Lévi-Strauss der Auffassung
Oldenbergs von der vorwissenschaftlichen Wissenschaft an. »Aber ist es denn nicht so, dass das
magische Denken, diese gigantische Variation über das Thema des Kausalitätsprinzips... sich
von der Wissenschaft allenfalls durch die Voraussetzung eines noch herrischeren, noch
unnachgiebigeren Determinismus unterscheidet? ... Und könnte man nicht noch einen Schritt
weitergehen, indem man die Strenge und Genauigkeit des magischen Denkens sowie seiner
rituellen Praktiken in dem Sinne auffasst, dass sie eine unbewusste Einsicht in die Wahrheit des
Determinismus als Daseinsform der wissenschaftlichen Phänomene darstellen? Dann wäre der
Determinismus bereits erahnt und umfassend ins Spiel gebracht, bevor man ihn richtig erkannt

192
und respektiert hätte. Die magischen Riten und Glaubensinhalte erscheinen als Äußerungen des
Glaubens an eine Wissenschaft, die erst noch geboren werden soll (Pensées, 18).
[47]
Das Wesen aller Magie... beruht darauf, dass die beabsichtigten Wirkungen mit
Zwangsläufigkeit eintreten müssen... Dabei können die Vorstellungen... aber sehr verschieden
sein: indem man das Herz eines gefallenen Feindes verzehrt, gewinnt man die Tapferkeit, die
diesem Krieger innewohnte; indem man mit einem Zauberstab etwas berührt, überträgt man auf
dieses die im Stab wirksamen Kräfte; indem man das Bild eines Gegners durchbohrt, bewirkt
man, dass dieser ... sein Leben verliert (Helmuth von Glasenapp 1959; 244.).
[48]
James, Varieties, 15
[49]
Burtt, Newton, 236. Oder auch 173: »Galileo und Descartes hatten es darauf abgesehen, den
Menschen aus der mathematisch gedeuteten Welt der Natur in einen zweitrangigen und
unwirklichen Bereich zu verbannen; gewiss hatte Descartes die Selbständigkeit der denkenden
Substanz aufrechterhalten, aber die Gesamtwirkung seines wie auch des Werkes von Galileo
bestand darin, den Platz und die Bedeutung des Menschen sehr klein, zweitrangig und abhängig
erscheinen zu lassen. Die wirkliche Welt war das mathematische und mechanische Reich von
Ausdehnung und Bewegung, dem der Mensch nur als unerheblicher Zusatz und unbedeutender
Zuschauer beigesellt war«.
[50]
Nicht dass der Glaube, dem allein man solche Kräfte zuvor zugeschrieben hatte, völlig
wirkungslos war. Hat er auch keine nachweisbaren Wirkungen auf die Natur ausgeübt, so waren
und sind seine Auswirkungen auf den Menschen doch unbestreitbar. Sie gehören zu den am
besten belegten empirischen Tatsachen. Der Glaube, vor allem in seiner äußersten Ausprägung
als Fanatismus, kann zwar keine physischen Berge in Bewegung versetzen wohl aber ganze
Völker, deren freies Wollen eben durch diesen Glauben in eine bestimmte Richtung gelenkt wird.
Das Christentum, dass nach drei Jahrhunderten und der Islam, der innerhalb weniger Jahrzehnte
die halbe Welt zu erobern vermochten, sind ebenso ein Beweis für diese den Menschen
bewegende Kraft des Glaubens wie der moderne Terrorismus kleiner und kleinster Gruppen.
[51]
Diesen Titel hatte Arthur Koestler einem seiner Bücher gegeben.
[52]
Wir schaffen das Problem des Neuen natürlich auch dadurch nicht aus der Welt, dass wir uns
den Prozess in unendlich viele Schritte zerlegt vorstellen, wie das Dawkins für den Prozess der
Entfaltung des Lebens tut.
[53]
Der große französische Philosoph Henri Bergson hatte bereits gesehen, dass die Erklärung
der Welt weder mechanistisch-kausal von unten her noch finalistisch von oben her, also durch
Planen und Zwecke, möglich sei. Mit anderen Worten, er hat auf die Undenkbarkeit beider
Welterklärungsmodelle verwiesen (Evolution, S. 42). »Der radikale Mechanismus umschließt
eine Metaphysik, für welche die Totalität des Realen ein für alle Mal gegeben ist. Die scheinbare
Veränderung der Dinge in der Zeit läuft dann einfach auf ein Unvermögen des menschlichen
Geistes hinaus, der nicht imstande ist, alles auf einmal in sich zu erfassen... Der radikale
Finalismus ist für uns aber ebenso unannehmbar, und zwar aus demselben Grund. Die Doktrin
des Finalismus, wie wir sie zum Beispiel bei Leibniz finden, setzt voraus, daß Dinge und
Lebewesen nicht mehr als ein vorgeplantes Programm realisieren. Wenn es jedoch nichts
Unvorhersehbares gibt, keine Erfindung und keine Neuschöpfung, wird die Zeit abermals
überflüssig. Ebenso wie im Falle der mechanistischen Hypothese, geht man auch hier von der
Voraussetzung aus, alles sei gegeben. Ein so verstandener Finalismus ist aber nichts als ein
umgekehrter Mechanismus. Er beruht auf demselben Postulat, nur mit dem Unterschied, daß er
das Licht, womit er unsere begrenzten Intelligenzen angesichts der offenkundigen Veränderung
der Dinge in der Zeit zu erhellen trachtet, nicht hinter uns aufstellt, sondern vor uns plaziert. Er
ersetzt den Antrieb der Vergangenheit durch die Anziehung der Zukunft.«
[54]
Schweitzer, Ethik, 191.

193
[55]
Bauer, Prinzip, 97. »Neue Arten entstehen nach Ansicht namhafter Biologen am ehesten
durch Genduplikation sowie durch verschiedene Arten des Gen-Austausches, so etwa über Viren,
Endosymbiose oder Bastardbildungen.«
[56]
Popper, Quest, 171: »Der Darwinismus kann die Entwicklung der Vielfalt nicht wirklich
voraussagen. Er kann sie daher auch nicht erklären«. Siehe auch Rose, Erben, 63 und 90.
[57]
Rose, Erben, 90.
[58]
Es gibt nur eine einzige Möglichkeit unserer prinzipiellen Blindheit für alles Neue zu
entkommen – und diese liegt in der metaphysischen Annahme einer durchgehenden
Determination aller Erscheinungen, so dass sich alles Künftige aus dem Vergangenen ableiten
lässt. Hier liegt denn auch die tiefere Ursache dafür, warum die Machtwissenschaft an dieser
Fiktion so lange festhielt – und dieser Gedanke auch heute immer wieder fröhliche Urständ feiert,
zuletzt in der Hirnforschung (siehe Anmerkung 31).
[59]
Dawkins, Gotteswahn, S. 193.
[60]
Popper, Quest, S. 178.
[61]
Bohr, Physics, 20. Bohm, Wholeness. Schrödinger, Weltsicht, 121ff.
[62]
»Der Buddhismus besitzt, wie wir aus den wundervollen Schriften Schopenhauers wissen,
besonders viel davon [von dieser kosmischen Religiosität]«.
[63]
Jaspers, Glaube, 265.
[64]
Schrödinger, Leben, 149.
[65]
Nach der Lektüre von Freuds Die Zukunft einer Illusion (1927) schrieb Rolland an diesen in
einem Brief vom 5. Dezember 1927: »Was ich unter religiösem Gefühl verstehe – ganz
unabhängig von Dogmen, Credo, Kirche, Heiligen Schriften oder der Erwartung auf persönliche
Erlösung – ist das einfache und unmittelbare Fühlen des ‚Ewigen’ (das natürlich durchaus nicht-
ewig sein kann, aber dennoch ohne wahrnehmbare Grenzen und gleichsam ozeanisch). Dieses
Gefühl ist in Wahrheit von subjektiver Art. Es ist eine Anrührung« (Vermorel and Vermorel, S.
304).
[66]
Auszug aus Walt Whitmans »Song of Myself« übersetzt von Hans Reisiger.
[67]
Diese weitgehende Ähnlichkeit hat Rudolf Otto in seinem Werk West-Östliche Mystik auf
klassische Art beschrieben.
[68]
Weischedel, Gott, 166.
[69]
Kolakowski, Mythos, 98.
[70]
Lange, II, 139, vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Hans Jonas, Organismus, 195.
[71]
Borges, Essays, 308.
[72]
Rolland, Ramakrshna, 206.
[73]
Beispielhaft sei hierfür die Erzählung Die Theologen genannt. Borges, Werke, Bd. 2, 31.
[74]
Daher trifft auch die Kritik Schopenhauers in diesem Punkt ganz daneben: »Aller
Pantheismus nämlich muß an den unabweisbaren Forderungen der Ethik, und nächst dem am
Uebel und dem Leiden der Welt, zuletzt scheitern. Ist die Welt eine Theophanie; so ist Alles, was
der Mensch, ja, auch das Thier thut, gleichgöttlich und vortrefflich: nichts kann zu tadeln und
nichts vor dem Andern zu loben seyn: also keine Ethik« (Schopenhauer-ZA Bd. 4, S. 691).
[75]
Tolstoi, Auferstehung, 259.
[76]
‘Tout comprendre, c’est tout pardonner’ (Alles verstehen, heißt alles vergeben): Sprichwort
ungeklärter Herkunft erscheint in »Krieg und Frieden« (1868), Bd. 1, Teil 1, letztes Kapitel und
bei Theodor Fontane in einem Brief an seine Frau vom 18. August 1876. Es wird auch Madame
de Stael zugeschrieben.
[77]
Emile Durkheim hat die Funktion der Religion als Ausdruck kollektiver Selbstwahrnehmung
und Selbsterlebens in seinem Buch «Les formes élémentaires de la vie religieuse« besonders
eindringlich beschrieben.
[78]
In dem Sinne darf man dann auch den folgenden Bemerkungen Herders beipflichten: »Und
so siehet man auch, warum in allen Religionen der Erde mehr oder minder Menschenähnlichkeit

194
Gottes habe stattfinden müssen, entweder daß man den Menschen zu Gott erhob oder den Vater
der Welt zum Menschengebilde hinabzog. Eine höhere Gestalt als die unsre kennen wir nicht,
und was den Menschen rühren und menschlich machen soll, muß menschlich gedacht und
empfunden sein. Eine sinnliche Nation veredelte also die Menschengestalt zur göttlichen
Schönheit; andre, die geistiger dachten, brachten Vollkommenheiten des Unsichtbaren in
Symbole fürs menschliche Auge. Selbst da die Gottheit sich uns offenbaren wollte, sprach und
handelte sie unter uns, jedem Zeitraum angemessen, menschlich“ (Herder, Ideen, S. 161).
[79]
Karl Jaspers spricht in »Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung« von
Chiffern.

i
Die Suche nach biologischen Voraussetzungen des Bösen, die heute von Neurologen unter
größtem technologischen Aufwand (wie Kernspintomografie etc.) betrieben wird, verfolgt das
Ziel, möglichst früh aufgrund messbarer Strukturen des Gehirns (oder gar der Gene) die späteren
moralischen Neigungen eines Menschen vorherzusagen. Das wäre tatsächlich möglich, wenn die
einen zu Mördern, Folterern und Vergewaltigern geboren werden, während die anderen
neurologisch als Gutmenschen auf die Welt gelangen. Aber die bloße Annahme einer
biologischen Prädisposition mutet seltsam an, wenn man die historische Tatsache in Betracht
zieht, dass sich seit Beginn dokumentierter Geschichte im Krieg praktisch alle Männer unter
entsprechendem Gruppendruck zu professionellen Mördern, Folterern und Vergewaltigern an
ihren Feinden abrichten ließen. Ganz zu schweigen von der bekannten Tatsache, dass gerade die
Anhänger sittlich anspruchsvoller Religionen sich bereitwillig zu den größten Scheußlichkeiten
hergaben – man denke nur an die Verbrennung von Ketzern und die systematische Folterung
wehrloser Frauen durch eine von der Hexerei besessene Kirche – Folterungen, die an
bestialischer Grausamkeit die schlimmsten Verbrechen des Menschen in den Schatten stellen.
Möglich, dass im Laufe solcher Fremd- und Eigenkonditionierung zum Bösen auch neurologisch
nachweisbare Veränderungen in den Gehirnen stattfinden. Aber eben erst nach und durch diese
Abrichtung.
Was also wird durch derartige Forschungen bewiesen? Gewiss nicht die biologische
Verankerung des Bösen, die man beweisen möchte – oder glaubt man wirklich, dass in
bestimmten Menschheitsepochen alle Männer genetisch abnorm gewesen waren? Solche
Ansichten sind nicht nur abwegig sondern ausgesprochen gefährlich. Wenn sie die Hirne
vernebeln, ist höchster Alarm angesagt, denn in etwas abgewandelter Form feiert der biologische
Rassenwahn hier fröhliche Urständ. Diesmal sind es nicht wie unter Hitler vermeintliche äußere
Kennzeichen, die eine Barriere zwischen Unter- und Übermenschen errichten, sondern die
Siebung zwischen Guten und Bösen möchte man am liebsten gleich in die Gene vor der Geburt
verlegen.

195

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