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SWP-Studie

Volker Stanzel (Hg.)

Die neue Wirklichkeit


der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert

Stiftung Wissenschaft und Politik


Deutsches Institut für
Internationale Politik und Sicherheit

SWP-Studie 23
November 2018
Kurzfassung

Die moderne Diplomatie ist mit fundamentalen Veränderungen konfron-


tiert, die in beispielloser Geschwindigkeit auf sie einstürmen: Technische
Entwicklungen, insbesondere die Digitalisierung, wirken sich darauf aus,
wie sie agiert. Es treten auf nationaler wie internationaler Bühne immer
mehr Akteure auf, deren Tätigkeit die Diplomatie berührt; dabei geraten
zunehmend auch innenpolitische Politikfelder auf die außenpolitische
Agenda. Die Öffentlichkeit sensibilisiert sich für solche Fragen und strebt
über soziale Medien oder andere Plattformen nach Einfluss auf die Diploma-
tie. Zwischenstaatlicher Austausch nimmt ebenso zu wie die innerstaatliche
Interdependenz von Regierungshandeln. Inwieweit kann Diplomatie dann
noch als legitime Repräsentantin einer in sich schlüssigen Außenpolitik
wahrgenommen und entsprechend effektiv tätig werden? Nicht zuletzt
ändern sich als Erstes die Ansprüche an Qualifikation und Persönlichkeits-
profil des diplomatischen Korps. Diese Tendenzen, allesamt Ausdruck all-
gemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen, wird die Diplomatie verarbeiten
und in Regierungshandeln übersetzen müssen.
Vier Bereiche sind dafür ausschlaggebend:
1. das Spannungsverhältnis zwischen individuellen Befindlichkeiten und
staatlichen Erfordernissen, das ohne Nachteil für den Staat zu nutzen ist;
2. ein Einsatz der Digitalisierung, der so erfolgt, dass die Gewinne an Effi-
zienz nicht zu Lasten der Effektivität gehen;
3. neue Formate des Interessenausgleichs, die es Regierungen erlauben,
unter Einbindung von Einfluss und Potenzial anderer Akteure immer noch
als souveräne Staaten tätig zu werden;
4. neue Formen offener staatlicher Tätigkeit, die dem emotionalisierten
Ausdruck von Teilhabewünschen gerecht werden, ohne die Prinzipien reprä-
sentativer Demokratie preiszugeben.
SWP-Studie

Volker Stanzel (Hg.)

Die neue Wirklichkeit


der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert

Stiftung Wissenschaft und Politik


Deutsches Institut für
Internationale Politik und Sicherheit

SWP-Studie 23
November 2018
Alle Rechte vorbehalten.
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Stiftung Wissenschaft und
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nur mit vorheriger schriftlicher
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SWP-Studien unterliegen einem


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legen und durch die Instituts-
leitung (peer review), sie werden
zudem einem Lektorat unter-
zogen. Weitere Informationen
zur Qualitätssicherung der
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Website unter https://
www.swp-berlin.org/ueber-uns/
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SWP-Studien geben die Auf-
fassung der Autoren und Auto-
rinnen wieder.

© Stiftung Wissenschaft und


Politik, Berlin, 2018

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Politik
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Internationale Politik und
Sicherheit

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10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-200
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org

ISSN 1611-6372

Problemstellung, Einleitung,
Schlussfolgerungen und der
Beitrag Voigt sind deutsche
Originalbeiträge. Die restlichen
Beiträge wurden aus der eng-
lischen Version (SWP Research
Paper 11/2018) übersetzt von
Ina Goertz.

Die Stiftung Wissenschaft und Politik


dankt der ZEIT-Stiftung und dem
Auswärtigen Amt für die finanzielle
Unterstützung des SWP-Projekts
»Diplomatie im 21. Jahrhundert«,
aus dem diese Publikation her-
vorgegangen ist.
Inhalt

5 Problemstellung und Empfehlungen

7 Einleitung: Auf Holzwegen oder Trittsteinen –


Wohin geht die Diplomatie?
Volker Stanzel

13 Diplomaten und der Einsatz von


Wirtschaftssanktionen
Sascha Lohmann

19 Populismus und die innenpolitische Herausforderung


für die Diplomatie
Andrew Cooper

22 Diplomatische Repräsentation:
Staaten und andere Akteure
Christer Jönsson

29 Trends und Gegentrends in der digitalen Diplomatie


Corneliu Bjola

37 Kritische digitale Diplomatie und der Einfluss der


Theorie auf die Praxis
Emillie V. de Keulenaar / Jan Melissen

43 Ständiger Wandel: Anmerkungen zur Entwicklung der


Diplomatie in der Europäischen Union
Karsten D. Voigt

46 Innenpolitische Herausforderungen für die


geoökonomische Diplomatie in Europa
Kim B. Olsen

55 Autismus in der Außenpolitik


Hanns W. Maull

63 Digitale Diplomatie als diplomatischer Ort:


Emotion, Identität und Do-it-Yourself-Politik
R. S. Zaharna

69 Schlussfolgerungen – Eine offene Diplomatie

72 Anhang
72 Abkürzungen
73 Auswahlbibliografie
75 Die Autorinnen und Autoren
Problemstellung und Empfehlungen

Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:


Diplomatie im 21. Jahrhundert

Die moderne Diplomatie dehnt einerseits ihren


Wirkungskreis aus, andererseits sieht sie sich in ihrer
Tätigkeit Einflüssen und Beschränkungen unterwor-
fen, die früher kaum bestanden oder weniger wirk-
mächtig waren. So haben sich Rahmen und Themen-
bereiche der traditionellen multilateralen Diplomatie
erweitert: Die Klimakonferenz der Vereinten Nationen
(UN) 2017 in Bonn ist ein Beispiel; Themen wie Klima
oder Gesundheit werden heute mit Selbstverständlich-
keit diplomatisch bearbeitet. Zugleich findet in Teil-
bereichen der internationalen Beziehungen eine Ab-
kehr vom Multilateralismus statt. Schließlich wendet
sich die Öffentlichkeit ihrerseits direkter und unmittel-
barer – oft vermittelt durch die sozialen Medien –
mit Forderungen an die Diplomatie, ob zur Einstellung
des Walfangs oder zur Beendigung des Flüchtlings-
stroms.
Solcher Wandel hat sich erst in den Jahrzehnten
seit Ende des Kalten Kriegs vermehrt bemerkbar
gemacht. Er verdient genauere Betrachtung, schon
wegen seines Einflusses auf die Politik moderner Staa-
ten. Es ist daher angebracht, die moderne Diplomatie
einer umfassenderen Prüfung zu unterziehen. Die-
ser Aufgabe hat sich in den Jahren 2016 bis 2018 die
Arbeitsgruppe »Diplomatie im 21. Jahrhundert« mit
finanzieller Unterstützung des Auswärtigen Amts und
der ZEIT-Stiftung an der Stiftung Wissenschaft und
Politik (SWP) angenommen. Ihre Ergebnisse werden
mit dieser Studie vorgelegt.
Die moderne Diplomatie befindet sich in einem
Wandlungsprozess; dessen Geschwindigkeit dürfte
jener der Veränderungen der modernen Industrie-
gesellschaften insgesamt entsprechen. Dennoch
werden die Antworten der Diplomatie darauf von
Regierungen und Öffentlichkeit oft nicht wahrgenom-
men, weil sie sich nicht mit dem decken, was tradi-
tionell als typisch diplomatisch verstanden wird.
Gleichzeitig sind sie jedoch von einschneidender Wir-
kung – auf das Handeln und das Selbstverständnis
von Regierungen ebenso wie auf das öffentliche Ver-
ständnis von Außenpolitik.
Wer im diplomatischen Betrieb aktiv, davon
betroffen ist oder ihn beobachtet, der bemerkt die
raschen Veränderungen sehr wohl. Und die Tatsache,

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Problemstellung und Empfehlungen

dass Diplomatinnen und Diplomaten die Folgen dieses ren beteiligen sich transnational tätige Unternehmen
Wandels zu steuern versuchen, zeigt sich an verschie- und Nichtregierungsorganisationen (NGO). Während
denen Entwicklungen aus jüngerer Zeit. Es gibt in- also die Personen, die im diplomatischen Dienst
zwischen unterschiedliche Reformanstrengungen – stehen, dank der digitalen Revolution als Individuen
nach der umfassenden »Review« des Auswärtigen Amts in der Öffentlichkeit sichtbarer auftreten, werden
im Jahr 2014 auch in Deutschland –, die den Aus- sie zugleich von anderen, neuen außenpolitischen
tausch zwischen den Außenministerien der Mitglied- Akteuren überschattet. Das Gleiche gilt, zumindest
staaten der Europäischen Union (EU) über Reform- partiell, für die Diplomatie als solche.
bedarf und in der Umsetzung befindliche Reformen Nicht zuletzt bilden sich unablässig neue, oft hoch
betreffen. Bezeichnend für die Bedeutung der sich ab- emotionalisierte Befindlichkeiten von Öffentlichkeiten,
zeichnenden Wesensveränderung der Diplomatie ist die – ebenfalls vermittelt über die sozialen Medien
auch, dass sich selbst China damit auseinandersetzt. – mit Forderungen an Regierungen herantreten.
Welche dieser Veränderungen werden längerfristige Versuchen Letztere, diesen entgegenzukommen, wird
Wirkung haben? Wie sollten Regierungen sich darauf damit unmittelbar das Problem der demokratischen
einstellen? Bei der Beantwortung dieser Fragen sind vier Legitimation solcher Öffentlichkeiten und ihrer
Aspekte von zentraler Bedeutung: (1) die Persönlichkeit Forderungen aufgeworfen.
von Diplomatinnen und Diplomaten, (2) fundamen- Alle diese Faktoren gewinnen durch fortschreiten-
tale Wandlungsprozesse durch technische Entwick- den interstaatlichen Austausch und innerstaatliche
lungen, insbesondere aufgrund der Digitalisierung, Verknüpfung von staatlichem Handeln und individu-
(3) eine größere Zahl diplomatischer Akteure und (4) eller Befindlichkeit zunehmend an Wucht – und
neue Befindlichkeiten verschiedener Öffentlichkeiten. schwächen den Einfluss der traditionellen Diploma-
Die Heterogenität und der Pluralismus im Denken tie. Diese Tendenz muss, da sie gesamtgesellschaft-
über moderne Gesellschaften kennzeichnen und liche Entwicklungen spiegelt, von der Diplomatie
beeinflussen wie alles andere auch die Diplomatie. aufgenommen und so gesteuert werden, dass sie dem
Deren Einsatz sozialer Medien beispielsweise sendet künftigen Handeln von Regierungen und den Gesell-
eine »Botschaft« der von ihnen vertretenen Gesell- schaften, die sie repräsentieren, dienlich ist. Daher:
schaft an die Außenwelt, die jenseits dessen liegen ∎ sind diplomatische Dienste gefordert, das Span-
kann, was eine Regierung offiziell kommunizieren nungsverhältnis zwischen individueller Befindlich-
möchte. Dadurch verändern sich das Erscheinungsbild keit und staatlichen Erfordernissen ohne Nachteil
und vermutlich auch die Orientierung von Diploma- für den Staat zu nutzen;
tie. Das muss bei Rekrutierung, Ausbildung und Ver- ∎ ist die Digitalisierung so einzusetzen, dass der Zu-
wendung von Diplomatinnen und Diplomaten mit- gewinn an Effizienz nicht zulasten der Effektivität
berücksichtigt werden. geht;
Regierungen haben sich schon immer neuer tech- ∎ gilt es ferner, Formen des Interessenausgleichs und
nischer Instrumente bedient. Die Digitalisierung etwa der -abstimmung zu entwickeln, die Regierungen
greift in die Funktionsweise administrativen Han- ein Vorgehen als souveräne Staaten erlauben und
delns ein. Auf die Diplomatie wirkt sie hinderlich zugleich den Einfluss und das Potenzial anderer
oder beschleunigend, beispielsweise bei der Erfassung Akteure nutzen;
und Verarbeitung von Informationen. Zudem be- ∎ wirft der Umgang mit den neuen Öffentlichkeiten
einflusst die Digitalisierung über die sozialen Medien vermutlich die schwerwiegendsten Probleme auf
die Wahrung, den Gewinn und den Verlust von Ver- und bedarf der Entwicklung neuer und offenerer
trauen in den Öffentlichkeiten eines Landes und Formen staatlicher Tätigkeit als bisher, die der Art
seiner internationalen Partner. und Weise gerecht werden, wie emotionalisierte
Neue Akteure mischen sich aus eigenem Antrieb in Teilhabewünsche zum Ausdruck kommen.
das diplomatische Geschehen ein und/oder werden Die Prinzipien der repräsentativen Demokratie
bewusst zur Erledigung der neuen Aufgaben der gilt es bei all dem unbedingt zu wahren; anderenfalls
Diplomatie einbezogen. Dabei handelt es sich zum wird die Legitimität staatlichen Handelns Schaden
einen um innerstaatliche Einrichtungen wie Minis- nehmen. Das ist die entscheidende Frage: Wie lassen
terien, deren Aufgaben in die Außenpolitik hinein- sich Effektivität, Effizienz und damit Legitimität von
reichen, um internationale Organisationen oder, für Regierungsseite so gewährleisten, dass sie in der Lage
Europäer wichtig, Einrichtungen der EU. Zum ande- ist, den staatlichen Bedürfnissen zu genügen?

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Einleitung

Volker Stanzel

Einleitung: Auf Holzwegen oder Tritt-


steinen – Wohin geht die Diplomatie?

Die Diplomatie ist wie alle anderen Bereiche der Deutschland begrenzt. Die zentrale Frage an Praktiker
öffentlichen Verwaltung auch von den großen Um- wie Akademiker in der Arbeitsgruppe lautet, ob die
brüchen des 21. Jahrhunderts betroffen. Die Erschüt- weltweiten Umbrüche des 21. Jahrhunderts einen
terungen im Gefüge der internationalen Ordnung, grundlegenden Wandel der Diplomatie erfordern,
die Revolution der über das Internet vermittelten damit sie als Werkzeug außenpolitischen Regierungs-
und davon befeuerten globalen Kommunikation, handelns mit Effektivität und Effizienz funktions-
die Legitimationsprobleme der liberalen Regierungs- fähig bleibt und ihre Legitimität bewahrt. Die mit
formen – all das scheint eine grundlegend neue diesem Band vorgelegten Aufsätze spiegeln das weite
Ausrichtung der Instrumente der Außenpolitik not- Themenspektrum der Arbeitsgruppe wider. Wir
wendig zu machen. Otto von Bismarck beschrieb die haben sie nach vier Aspekten geordnet: (1) persönlich-
Diplomatie als nie endende Aushandlung wechsel- keitsbezogenen, (2) instrumentellen, (3) institutio-
seitiger Zugeständnisse zwischen Staaten. Welchen nellen und (4) globalen.
Sinn aber hat eine so zeitraubende Kunst der Gestal- Jenseits von Bismarcks einfacher Beschreibung
tung internationaler Beziehungen heute noch? wird es allerdings kompliziert. Die SWP-Arbeits-
Anfang des Jahres 2016 wurde an der Stiftung gruppe beschränkte sich deshalb als Ausgangspunkt
Wissenschaft und Politik (SWP) die Arbeitsgruppe für ihre Erörterungen auf eine nur grobe Definition
»Diplomatie im 21. Jahrhundert« mit finanzieller von Diplomatie (die also nicht die Sicht jedes Grup-
Unterstützung des Auswärtigen Amts und der ZEIT- penmitglieds vollständig wiedergibt). Wir verstehen
Stiftung eingerichtet. Diplomaten, Beobachter und sie als pragmatischen Ansatz zur Handhabung der
Forscher aus Australien, China, Dänemark, Deutsch- Beziehungen zwischen Staaten und anderen Ein-
land, Frankreich, Großbritannien, Indien, Kanada, richtungen im zwischenstaatlichen Raum mit dem
den Niederlanden, Norwegen, Russland, Schweden Ziel, friedliche Konfliktlösungen zu finden. Sascha
und den Vereinigten Staaten (USA) arbeiten darin Lohmann geht in seinem Beitrag in diesem Band näher
mit. Anders als bei der »Review«1 des Auswärtigen auf die Problematik der Definition ein, wenn er die
Amts aus dem Jahr 2014, die der Überprüfung der Entwicklung des Einsatzes von wirtschaftlichen
deutschen Außenpolitik und der Strukturen des Aus- Maßnahmen auf den »Schlachtfeldern« der Märkte
wärtigen Amts diente, ist der Forschungsansatz der durch die moderne Diplomatie darlegt. Veränderun-
SWP-Arbeitsgruppe thematisch enger gefasst, aber gen in der Struktur der internationalen Staatenwelt
nicht auf Erkenntnisse zur modernen Diplomatie in haben in der Vergangenheit immer wieder Anpas-
sungen des diplomatischen Handelns erfordert. Ein
Beispiel ist der Wechsel von nur auf Zeit durch eine
1 Nach dem Beginn seiner zweiten Amtszeit als Außen-
Regierung entsandten Botschaftern zur Institution
minister initiierte Frank-Walter Steinmeier Ende 2013 eine
dauerhaft residierender Botschafter im 15. Jahrhun-
einjährige Debatte zwischen deutschen und internationalen
dert. Ähnlich weitreichende Anpassungen können
Experten und interessierten Beobachtern über die Ziele und
Instrumente deutscher Außenpolitik, aus der mehrere große
heute erneut erforderlich sein, da nicht nur die
strukturelle Veränderungen im Ministerium folgten. Vgl. öffentliche Aufmerksamkeit für das diplomatische
Auswärtiges Amt (Hg.), Review 2014. Krise – Ordnung – Europa, Geschehen wächst, sondern auch der Wunsch von
Berlin 2014, <https://www.auswaertiges-amt.de/blob/269656/ Öffentlichkeiten nach Teilhabe an Bereichen, die
d26e1e50cd5acb847b4b9eb4a757e438/review2014- traditionell dem diplomatischen Personal und Regie-
abschlussbericht-data.pdf> (eingesehen am 18.6.2018). rungen vorbehalten waren. Neue Kommunikations-

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Volker Stanzel

mittel sind ebenso hinzugekommen wie eine stetig kenntnisse sind heute verbreiteter, digital natives
zunehmende Zahl von staatlichen und nicht-staat- handhaben die neuen Technologien mit Selbst-
lichen Akteuren. Sie alle nehmen Einfluss auf die verständlichkeit, während Funktionsträger aus ver-
Außenpolitik. gangenen Tagen damit kämpfen, die neuen Kommu-
nikationswege zu verstehen und zu benutzen. Das
Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit und der
1. Das persönliche Element Werte des Familienlebens prägt die Kommunikation
eines Individuums mit seiner Umgebung und spiegelt
Diplomaten – gleich welchen Geschlechts, welchen zugleich die Werte seiner Gesellschaft wider. Und
sozialen Hintergrunds oder welchen Alters – sind dies sind nur einige wenige Beispiele. Alles in allem
Bürokraten, deren persönliche Eigenschaften bei sind persönliche Werte eine »Botschaft« des diploma-
der Ausübung ihrer Tätigkeit eine außergewöhnlich tischen Individuums, die das Bild seines Landes eben-
große Rolle spielen. Verhandlungen erhalten ihren so wie die Reaktionen des Gastlands beeinflussen.
Charakter auch durch ihren offiziellen Gestus; die So wichtig präzise aufgestellte Kriterien heute für die
informelle Kommunikation zwischen Personen selbst Rekrutierung künftiger Diplomatinnen und Diplo-
aber erhält das Maß ihrer Wirksamkeit aus Verhal- maten auch sind, fragt sich doch – und dies führt
tensformen, welche die Komplexität von Verhand- Christer Jönsson in seinem Aufsatz aus –, inwieweit
lungen, die Notwendigkeit von Vertraulichkeit und diese als Persönlichkeit ihre mittlerweile vielfach
Diskretion, von Formlosigkeit ebenso wie von Form- auseinanderfallenden Gesellschaften noch vollständig
bewusstsein reflektieren. Charme, Überzeugungskraft repräsentieren können.
oder Zurückhaltung klingen nach Klischees, sind In einer Gesellschaft, die fragt, inwieweit büro-
aber als Bestandteile kommunikativen Verhaltens kratische Apparate ihrer Aufgabe mithilfe rationaler
unverzichtbar und hängen eher mit dem Charakter Auswahl von Information und Wissen noch gerecht
einer Person als mit ihrer Ausbildung zusammen. werden, um politische Entscheidungen sinnvoll zu
Auch die moralischen Standards hängen in den säku- befördern, ist die Versuchung für die politische Ebene
laren und pluralistischen Gesellschaften der heutigen groß, die traditionelle Beamtenschaft als unzeit-
Zeit eher von Charakter und Erziehung ab als von gemäß und inhärent fehleranfällig zu stigmatisieren.
gezieltem Training. Aufgrund moderner Migrations- Damit beschäftigt sich Andrew Cooper in seinem Auf-
bewegungen und Globalisierung verflechten sich satz. Aber werden Entscheidungen, die Personen an
diverse Kulturen, die zuvor durch Ozeane und Kon- der Spitze der Hierarchie treffen, von den Beamten
tinente getrennt waren, stärker als in der Vergangen- auf der operativen Ebene nicht erst kompatibel mit
heit. Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen den Bedürfnissen der Gesellschaft gemacht? Hier-
finden sich heute im gleichen öffentlichen Raum, archisierung und Bürokratisierung sind immer schon
und es gibt schlicht mehr Stimuli, Probleme wie die Mittel gewesen, um Machtakkumulation zu beschrän-
Ungleichbehandlung von Personen aufgrund von ken. Das hohe Maß an externen Einflüssen neben der
Geschlecht, Alter, Herkunft oder anderen Unter- Regierung oder sogar von außerhalb des Staates min-
schieden persönlich zu beobachten und darüber dert aber die Einflussmöglichkeiten des individuellen
nachzudenken. Durch die zunehmende soziale Diver- Diplomaten und bedroht daher unter Umständen das
sifizierung können moralische Konflikte leichter als demokratische Prinzip der Verantwortlichkeit von
in den homogenen Gesellschaften der Vergangenheit Regierungshandeln.
zu Gewissensfragen werden, und der individuelle
Beamte mag die Pflicht zum Widerstand empfin-
den – im Falle Deutschlands gemäß Artikel 20 des 2. Instrumentelle Ebene: Digitalisierung
Grundgesetzes2 – und zum Whistleblower werden.
Heute reicht diese soziale Diversifikation, in man- Die Fortschritte bei den modernen Kommunikations-
cher Hinsicht auch Fragmentierung, weit. Sprach- technologien wirken sich folgenreich auf diploma-
tisches Handeln aus; Corneliu Bjola spricht in seinem
2 Artikel 20 (4) Grundgesetz zur verfassungsmäßigen Ord- Aufsatz davon, dass die Digitalisierung »in den Kern
nung: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu der diplomatischen DNA« vordringe und damit Krea-
beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, tivität fördern, aber auch bestehende Staturen zerstö-
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« ren könne. Emillie V. de Keulenaar und Jan Melissen argu-

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Einleitung

mentieren, dass bestehende, gleichsam analoge Diplo- men oder zivilgesellschaftlichen Organisationen,
matie nicht nur von Technologien überlagert wird, die die mit Regierungen konkurrieren, die Möglichkeit
ein Umfeld schaffen, das Praktiken der digital natives eröffnet, eigenständig und womöglich früher als
fördert. Ihre Analyse bietet auch Empfehlungen für eine Regierung zu handeln. Diplomatie muss daher
Diplomaten, die neue Technologien, einschließlich Informationen mit hoher Kompetenz brauchbar
sozialer Medien, immer noch als lediglich offene und destillieren, statt sie nur zu sammeln. Diplomatie
frei verfügbare »Dienste« ansehen. Wegen der Bedeu- umfasst – unter anderem – die »Bereitstellung
tung dieser Aspekte werden wir hier von allen Instru- von Wissen«.3 Doch heute muss sie noch mehr sein:
menten der Diplomatie ausschließlich die Digitalisie- Wissensdestillation – und das in Echtzeit. Nur so
rung betrachten, und zwar in dreierlei Hinsicht: mit können Informationen im Rahmen vernünftig argu-
Blick auf die Beschränkung verfügbarer Zeit für mentativ unterfütterter Handlungsvorschläge für die
Entscheidungsfindung, auf die Notwendigkeit, ein- politischen Entscheider aufbereitet werden. Es droht
gehende Information verantwortlich zu destillieren, die Gefahr, dass Entscheidungsprozeduren dem tech-
und auf die Integration sozialer Medien. nologischen Fortschritt unterworfen werden, ohne
(1) Die steigende Geschwindigkeit der Informa- dass ausreichend geprüft wird, wie sich Informationen
tionsübermittlung zwischen Botschaften im Ausland schneller verfügbar machen ließen – was lebens-
und dem Außenministerium sowie zwischen anderen wichtig sein kann –, ohne das Risiko von Oberfläch-
außenpolitischen Akteuren verkürzt den Zeitraum lichkeit einzugehen. Die moderne digitalisierte diplo-
für eine Reaktion auf ein Ereignis. Daraus resultiert matische Kommunikation zielt darauf, die Reaktion
eine zunehmende Belastung für die handelnden Per- auf Geschehnisse in Echtzeit zu ermöglichen; tatsäch-
sonen sowohl an der Spitze der Hierarchien als auch lich aber muss zwischen der Effizienzsteigerung durch
dort, wo die Entscheidungsvorschläge erarbeitet größere Geschwindigkeit und der Effektivitätssteige-
werden. Quantifizieren ließe sich diese Belastung als rung durch Berechenbarkeit eine Balance gefunden
Zeitspanne, die für das Lesen oder Hören einer Infor- werden. Sofern das gelingt – und der Versuch mag
mation sowie die Beratung darüber zur Verfügung scheitern –, setzt diese Balance sich in Vertrauens-
steht: Je weniger Zeit es dafür gibt, desto größer ist gewinn aufseiten der »Endverbraucher« von Außen-
der Druck auf die Entscheidungsträger. Geschwindig- politik um. Mit »Herstellung von Vertrauen« ist des-
keitsbedingt erreicht nur noch ein begrenztes Spek- halb moderne diplomatische Tätigkeit ebenfalls
trum von Themen die Ebene der Verantwortungs- adäquat umschrieben.
träger. So entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen (3) Regierungshandeln unterliegt heute der fort-
der Erwartung, dass rasch, aber umfassend infor- dauernden Beobachtung und Kommentierung durch
miert, dass gehandelt wird, und der Notwendigkeit, die Öffentlichkeit. Die sozialen Medien lösen diese
verantwortungsbewusst auf der Basis durchdachter Beobachtung nicht aus, aber sie transportieren sie
Information zu agieren. Durch physisch relevante und die daraus folgende Konversation. Damit sind
Faktoren wie langandauernde nächtliche Konferen- die sozialen Medien selbst als Instrumente diploma-
zen, Reisen über mehrere Zeitzonen und überladene tischer Arbeit zu betrachten. Diese Arbeit ist nicht
Terminkalender wird diese Spannung noch ver- mehr wie in der Vergangenheit monologisierende
schärft. Außer der Aufstockung des Personenkreises, Öffentlichkeitsarbeit, sondern sie strebt einen Dialog
der mit der Destillation der Informationen befasst ist, mit Öffentlichkeiten im In- und Ausland an. Un-
und der Verknappung der zur Kenntnis zu nehmen- vermeidlich sehen moderne Diplomaten sich daher
den Informationen ist bisher keine Lösung für diese dem Druck ausgesetzt, soziale Medien zu nutzen,
Belastung der Entscheidungsfindung gefunden. Damit ansprechbar und damit angreifbar durch die Öffent-
steigt das Risiko, dass falsche Entscheidungen getrof- lichkeiten zu sein. Dieser Austausch mit offiziellen
fen werden, nicht durch fehlerhaftes Verständnis Gesprächspartnern wie mit interessierten Öffentlich-
der bekannten Fakten (ein Risiko, das, da menschlich, keiten schafft ein weitreichendes Netzwerk von Ver-
immer besteht), sondern durch ein unzureichendes bindungen mit bekannten und unbekannten, ein-
Zeitbudget für die Reflexion von Fakten und Hand- flussreichen und machtlosen Akteuren, Zuschauern
lungsoptionen.
(2) Informationen bewegen sich heute häufig auf 3 Vgl. Iver B. Neumann, At Home with the Diplomats: Inside a
nicht-diplomatischen Wegen – wie in den sozialen European Foreign Ministry, Ithaca, NY/London: Cornell Univer-
Medien –, was Kräften wie zum Beispiel Unterneh- sity Press, 2012, S. 7.

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und Beteiligten, unterliegt gleichzeitig aber den Auswärtige Dienst (EAD) illustriert dies vorzüglich. Er
sprachlichen und formalen Bedingungen der neuen arbeitet Seite an Seite mit den nationalen auswärti-
Medien. Unabhängig von den Kriterien ihres tatsäch- gen Diensten und stellt insbesondere für kleinere Mit-
lichen Mehrwerts für den diplomatischen Betrieb gliedstaaten kollektive Wissensressourcen bereit. So
beeinflussen soziale Medien jene, die sie konsumie- hat die Notwendigkeit globaler Steuerung eine Diplo-
ren, ganz allgemein – wenn sich darin etwa nur matie hervorgebracht, die sowohl nationalstaatliche
mehr Häme über einige Politiker ergießt – und spe- Interessen vertritt als auch supranationale Ziele ver-
zifisch, wenn die Nutzer beispielsweise diplomatische folgt.
Maßnahmen infrage stellen. Durch kommerziell oder Diplomatie kann auch als Vermittlung zwischen
anders motivierten Sensationalismus, durch verzerrte Gesellschaften im Zuge eines weit gefassten Diskurses4
Berichterstattung oder Falschmeldungen (hierin nicht verstanden werden – das meint nicht notwendig eine
viel anders als traditionelle Medien) können soziale freundschaftliche Konversation, sondern manchmal
Medien sogar Pseudokrisen schaffen, die erhebliche genau das Gegenteil. Ob es um den Einsatz von hard
Ressourcen verzehren. power – der Ausübung von Zwang –, soft power –
Ein gravierenderes Risiko, das mit dem Einsatz gesellschaftlichem Einfluss – oder um symbolische
sozialer Medien in der Diplomatie verbunden ist, liegt Macht geht, Regierungen und andere international
in den Veränderungen, die sie im öffentlichen Den- interagierende Akteure sehen sich heute gezwungen,
ken über Außenpolitik nach sich ziehen. Politik muss ihr Tun nicht nur ihren offiziellen Gesprächspartnern
heute für viele Öffentlichkeiten präsentabel und ver- zu erklären, sondern oft auch ihren eigenen Öffent-
ständlich sein. Außenpolitik droht damit zum Nach- lichkeiten sowie nicht-staatlichen Beobachtern und
teil ihrer Komplexität formuliert zu werden. Damit Akteuren jenseits der eigenen Grenzen. Die Gefahren,
werden möglicherweise Entscheidungen so getroffen, die vor diesem Hintergrund durch den technologischen
dass sie leichter konsumierbar sind. Im Krisen- Fortschritt und zusehends höhere Erwartungen entste-
management dürfte diese Gefahr die weitreichend- hen und bis zu »außenpolitischem Autismus« führen
sten Folgen haben, schließlich wirken sich außen- können, beschreibt Hanns W. Maull in seinem Beitrag.
politische Maßnahmen hier unmittelbar auf das Entgegen der Hoffnung national-populistischer
Leben von Menschen aus. Dennoch: Die Effekte der Bewegungen, dass Nationalstaaten ihren früheren
sozialen Medien sind dort am schwerwiegendsten, Status als souveräne Akteure zurückgewinnen, setzt
wo Diplomatie und Außenpolitik formuliert und ent- sich in der Realität der Prozess der Auflösung von
worfen werden. Denn hier lauern die größten Risiken physischen und nicht-physischen Grenzen mit großer
in Gestalt von Fehlinformation, Missverständnissen Geschwindigkeit fort. Während Staaten ihren forma-
und Verlust an Vertrauen in die Entscheider. len Status als letzte Quelle der Legitimität nationaler
und internationaler Regierungsführung zu bewahren
suchen, öffnen sich für nicht-diplomatische inter-
3. Institutionelle Aspekte national aktive Regierungseinrichtungen, Parlamente,
international tätige Unternehmen, Medien, Nicht-
Diplomatie agiert grundsätzlich im Rahmen einer regierungsorganisationen (NGOs) oder auch das orga-
Gemeinschaft souveräner Nationalstaaten. Doch in nisierte Verbrechen Wege der Einwirkung auf eine
der Realität zerfasert Souveränität, und globale Pro- Gesellschaft und die Staatengemeinschaft. Karsten D.
bleme müssen auch global gelöst werden. Vor diesem Voigt beschreibt das in seinem Aufsatz für die EU. Das
Hintergrund sind neue Foren für (Konferenz-)Diplo- Interesse, das Unternehmen daran haben, die Bedin-
matie entstanden und werden immer neue internatio- gungen anderswo mitzugestalten, verleiht ihnen Ein-
nale und supranationale Organisationen geschaffen. fluss auf Regierungen, die Investitionen einwerben
Die Europäische Union (EU) ist dafür ein herausragen- und Arbeitsplätze schaffen wollen. Die Politik dem
des Beispiel. Sie besitzt Instrumente, die gewöhnlich Namen nach souveräner Staaten hängt vom Fluss von
nur Nationalstaaten zur Verfügung stehen, doch Aktivitäten ab, die kaum noch der Regierungskontrolle
wird sie in allen Angelegenheiten, denen die Mitglied-
staaten wesentliche Bedeutung beimessen, durch 4 Ein Gedanke von Michael Koch, »Wozu noch Diploma-
die intergouvernemental arbeitenden Institutionen ten?«, in: Enrico Brandt/Christian Buck (Hg.), Auswärtiges Amt:
gelenkt. Das hat Auswirkungen auf die Diplomatie Diplomatie als Beruf, Opladen: Leske und Budrich, 2002,
zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Der Europäische S. 350–359 (357).

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Einleitung

unterliegen und traditionelle Grenzen überschreiten. Diplomaten zusammenarbeiteten, nicht erzielt


Die offizielle Politik ist reduziert auf Versuche, Situa- werden können (womöglich hätte die Konferenz nicht
tionen zu verwalten, die aus Ereignissen außerhalb einmal stattgefunden). Viele der UN-Nachhaltigkeits-
ihrer Einflusssphäre resultieren. Politische Teilhabe ziele wiederum lassen sich ohne den Einsatz trans-
findet über Grenzen hinweg statt, und zwar nicht nur national tätiger Unternehmen nicht erreichen.
in Zeiten von Krisen und Kriegen. Der Diskurs über Die Zivilgesellschaft ist aber auch Ursache von Be-
Außenpolitik in Eliten und Öffentlichkeiten ent- wegungen, die globalen Problemen nicht zur Lösung
grenzt sich ebenfalls. Dadurch entstehen Grauzonen, verhelfen, sondern sie im Gegenteil verschärfen. Die
die in unterschiedlichem Maße mit Außenpolitik zu antiislamische Pegida-Bewegung in Deutschland ist
tun haben und sich der Verhandlungsmoderation dafür ein Beispiel. In den meisten Fällen aber ist die
durch Außenministerien weitgehend entziehen. Da- Frage, ob eine zivilgesellschaftliche Bewegung posi-
her sind diplomatische Institutionen eher das der tiven oder negativen Einfluss hat, von der politischen
Außenwelt zugewandte »Gesicht« der Diplomatie als Einstellung des Betrachters abhängig, wie sich etwa
den Weltenlauf beeinflussende Entscheider. In den beim Konflikt über die Tätigkeit von ausländischen
auswärtigen Ämtern und den Botschaften entsteht NGOs in China zeigt. Diplomatie, die sich dieser
durch diese Vielfalt ein Problem der Kohärenz diplo- neuen Realität anpasst, muss zwischen ihren eigenen
matischer Arbeit. Dies wird noch verschärft durch die Zielen als demokratisch legitimierte Vertretung der
zunehmende Zahl von Vertretern anderer Regierungs- gesamten Bevölkerung eines Landes und zugleich den
einrichtungen oder Institutionen mit jeweils eigenen Partikularinteressen zivilgesellschaftlicher Organisa-
Agenden und Prioritäten, die den Botschaften »atta- tionen einen Ausgleich finden. Durch solche Anstren-
chiert« sind. Diplomatische Einrichtungen, die mit gungen und konfrontiert mit komplexeren operativen
derartig schwer kontrollierbaren Aufgaben konfron- Aufgaben und höheren öffentlichen Erwartungen als
tiert sind, mögen in Versuchung geraten, sich in tech- je zuvor, wird aus Diplomatie weniger Verwaltungs-
nokratische Verfahrensmodi zu flüchten und sich tätigkeit und zunehmend »Politik«. Das bedeutet, dass
mit Arbeitsergebnissen zufriedenzugeben, die gerade die Öffentlichkeiten Diplomatie dann auch wie Poli-
noch »gut genug« sind. Das Risiko, Verantwortung tik behandeln – was in Vertrauensverlust münden
unter dem Stress der neuen Entwicklungen zu ver- kann.
meiden, kann dazu führen, dass die Quellen diplo-
matischer Stärke und diplomatischen Einflusses aus-
trocknen, wie Andrew Cooper ausführt. 4. Globale Aspekte
Die Zivilgesellschaft ist sich vermutlich nur selten
der vollen Auswirkungen der Globalisierung auf das Wie jede Form von Regierungsführung will Diplo-
internationale Geschehen bewusst. Wenn sie sie aller- matie erfolgreich sein. Ihr Erfolg misst sich an einer
dings bemerkt, formuliert sie oft Forderungen an die vorab festgelegten Orientierungslinie und an der
Außenpolitik und übt Handlungsdruck auf Politiker Bedeutung der erreichten und nicht erreichten Ziele.
aus, die deren politische Möglichkeiten überschreiten. Es ist vorstellbar, dass eine Außenpolitik trotz diplo-
Dadurch sehen sich nicht nur Politiker, sondern auch matischer Fehlschläge erfolgreich ist. Die Definition
Diplomaten gezwungen, Maßnahmen vorzuschlagen, von diplomatischem Erfolg muss daher auch die glo-
die der Zivilgesellschaft befriedigende Lösungen ver- balen Umstände und Zukunftsaussichten sowie die
sprechen. Der modernen Konferenzdiplomatie gelingt von internationalen Erfordernissen verursachten
es immerhin noch, der alten bismarckschen Strategie Erwartungen berücksichtigen. Zumindest Teile der
zu folgen, um einen Konflikt so lange wie möglich zu nationalen Öffentlichkeiten identifizieren sich mit
vermeiden. Oft versuchen aber Zivilgesellschaft und den Nationalstaaten der Vergangenheit. Sie erwarten
andere Akteure, die Dinge in die eigene Hand zu neh- erfolgreiche Außenpolitik von ihren nationalen
men, heute zumeist durch Institutionalisierung und Regierungen, sie erwarten, dass diese sie repräsen-
Organisierung der Öffentlichkeiten. Dadurch gelingt tieren, und akzeptieren, dass diese Vertretung ihrer
es manchmal, Ziele zu erreichen, bei denen die tra- Interessen womöglich zu erheblichen Konflikten mit
ditionelle Diplomatie aufgeben muss. Der Erfolg der anderen Nationalstaaten führt. Das kann eine starke
Pariser Klimakonferenz im Jahr 2015 hätte, wie R. S. emotionaler Wirkung auf die staatliche Handhabung
Zaharna darlegt, ohne die Lobbyarbeit überaus aktiver von diplomatischen Instrumenten entfalten; R. S.
NGOs, die über lange Zeiträume mit Politikern und Zaharna befasst sich in ihrem Beitrag für diese Studie

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

11
Volker Stanzel

mit Emotion als einem (mit-)bestimmenden dyna-


mischen Element von Außenpolitik. Es geht um das
Problem der öffentlichen Erwartungen, die sich an
einen Nationalstaat richten, und gleichzeitig um die
Notwendigkeit, die Interessen einer Nation in einer
Welt der Interdependenzen zu vertreten.
Die Frage, ob die gesellschaftlichen und globalen
Veränderungen Katalysator von Homogenisierung
oder Heterogenisierung der Diplomatie sind, bleibt
auch in den vorliegenden Texten unbeantwortet.
Staaten lernen voneinander, heute auch von den
neuen internationalen Einrichtungen. Zusätzlich
spielen ihre eigenen Traditionen eine Rolle. Die
USA etwa werden beeinflusst durch ihre Stellung als
Supermacht, in Russland und China hat die von der
Kommunistischen Partei geführte Regierung durch
den Primat der Ideologie über den Pragmatismus der
Diplomatie Akzente gesetzt. Wie Kim B. Olsen vor dem
Hintergrund solcher unterschiedlichen politisch-öko-
nomischen Hinterlassenschaften erklärt, fehlt es Staa-
ten, die sich des Einflusses regierungsfremder Akteure
auf die Transformation ökonomischer Macht in diplo-
matischen Einfluss nicht bewusst sind, grundlegend
an Verständnis für die heute herrschende geoökono-
mische Unterfütterung diplomatischer Arbeit.
Die Rolle der Diplomatie hat in der Welt des
21. Jahrhunderts an Profil verloren; der Einfluss des
diplomatischen Betriebs auf die Gestaltung der inter-
nationalen Ordnung geht zurück. Die Diplomatie
befindet sich in ständiger Auseinandersetzung mit
den neuen technischen Erfordernissen und Chancen,
mit den Erwartungen neuer Akteure und Öffentlich-
keiten und mit innergesellschaftlichen Veränderun-
gen. Zugleich muss die Diplomatie eines National-
staats immer noch mit ihrem überkommenen außen-
politischen pragmatischen Rationalismus5 effektive,
effiziente und (rechtlich sowie moralisch) legitime
Strategien im internationalen Umfeld verfolgen. Die
Fragen nach einem neuen normativen Rahmen für
eine dergestalt signifikant veränderte Diplomatie und
danach, ob eine solche überhaupt möglich ist, blei-
ben auch für die SWP-Arbeitsgruppe vorläufig offen.
Eine Antwort wird wesentlich davon abhängen, ob
und wie das für demokratische Regierungsarbeit un-
abdingbare Vertrauen der Bürger in die repräsenta-
tiven Institutionen der Außenpolitik gewonnen oder
neu begründet werden kann.

5 Vgl. John Robert Kelley, »The New Diplomacy: Evolu-


tion of a Revolution«, in: Diplomacy & Statecraft, 21 (2010) 2,
S. 286–305 (286).

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Diplomaten und der Einsatz von Wirtschaftssanktionen

Sascha Lohmann

Diplomaten und der Einsatz von


Wirtschaftssanktionen

Die Diplomatie ist unmittelbar an der Androhung die Durchführung verantwortlichen Akteure detail-
und schließlich Verhängung von Wirtschaftssanktio- liert aufgeführt werden. Angesichts der Tatsache, dass
nen beteiligt – einer Maßnahme, mit der die »Fähig- militärische und wirtschaftliche Macht zwei Seiten
keit zur Unterbrechung des Handelsverkehrs«1 zum derselben Medaille sind,2 ist dieses gedankliche Un-
Ausdruck gebracht wird. Bisher wurde die Rolle von gleichgewicht kaum zu rechtfertigen. In einer Zeit,
Diplomaten bei der Anwendung dieses spezifischen in der die Verhängung selektiver oder umfassender
Instruments wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen Handels- und Finanzsanktionen zu einer gängigen
aber noch nie systematisch untersucht. Ehemals im Option für Entscheidungsträger auf beiden Seiten
diplomatischen Dienst Stehende beschäftigen sich in des Atlantiks geworden ist, um der von staatlichen
ihren autobiografischen Berichten eher mit der gra- wie nicht-staatlichen Akteuren ausgehenden, ständig
vierenderen Problematik von Krieg und Frieden. Und steigenden Zahl an vermeintlichen außenpolitischen
wenn sie doch einmal einzelne Fälle erörtern, in Bedrohungen und Gefährdungen für die nationale
denen zur Erwirkung von Zugeständnissen auf Wirt- Sicherheit entgegenzuwirken, könnte sich das, was
schaftssanktionen zurückgegriffen wurde, tun sie das bislang lediglich als beklagenswerte Lücke gilt, bald
in der Regel auf eher anekdotenhafte Weise. Wissen- als strategischer Nachteil erweisen.
schaftler wiederum bedienen sich verschiedener theo- Vor diesem Hintergrund untersuche ich die sich
retischer Perspektiven und empirischer Nachweise, wandelnde Rolle von Diplomaten bei der Verhängung
um das Thema kontextübergreifend zu generalisie- von Wirtschaftssanktionen, wobei ich mich auf em-
ren, womit sie wenig praktische Einblicke liefern, wie pirische Belege aus der Außen- und Sicherheitspolitik
in konkreten Fällen zu verfahren ist. der USA und der EU stütze. Im ersten Abschnitt dieses
Diplomaten aus den Vereinigten Staaten (USA) und Aufsatzes gehe ich kurz auf die Ursachen für die ge-
den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) ver- stiegene Bedeutung von Wirtschaftssanktionen nach
fügen über nur recht unpräzise praktische Kenntnisse dem Zweiten Weltkrieg ein und weise auf die nach-
von der Anwendung wirtschaftlicher Zwangsmaßnah- teiligen Folgen hin, dass Diplomaten hier in der
men; daher haben sie Mühe, mit dem Rückgriff auf heutigen Diplomatie an den Rand gedrängt werden.
zusehends komplexere Wirtschaftssanktionen Schritt Im zweiten Abschnitt befasse ich mich kursorisch mit
zu halten, die immer häufiger zur Verfolgung außen- der vorliegenden politikwissenschaftlichen Literatur,
und sicherheitspolitischer Ziele verhängt werden. die nur unzulänglich auf die Beziehung zwischen
Bis heute existiert keine einzige offizielle US-amerika- Diplomaten und dem Einsatz von Wirtschaftssank-
nische oder europäische Doktrin, die bei der Anwen- tionen eingeht. Schließlich erläutere ich im dritten
dung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen Orien- Abschnitt, warum die Rolle von Diplomaten bei der
tierung bieten könnte. Dieser Mangel an systema- Verhängung von Wirtschaftssanktionen gestärkt
tischem Denken steht in krassem Gegensatz zu den werden sollte, und schlage einige praktische Schritte
ausgefeilten Militärdoktrinen, mit denen die Grund- in diese Richtung vor.
sätze für den Einsatz militärischer Gewalt festgelegt
werden, in denen sowohl die auslösenden Bedingun-
gen als auch das zweckmäßige Vorgehen und die für 2 »Power is indivisible; and the military and economic
weapons are merely different instruments of power.« Edward
H. Carr, The Twenty Years’ Crisis, 1919–1939: An Introduction to
1 Robert Gilpin, The Political Economy of International Relations, the Study of International Relations, Edinburgh: R. & R. Clarke,
Princeton, NJ: Princeton University Press, 1987, S. 76. 1946, S. 119.

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Sascha Lohmann

Eine sich rasant entwickelnde Praxis Streitkräfte sollten sich später ohnehin als ein eher
stumpfes und damit ineffektives Instrument erwei-
Die Herrschenden haben sich in ihren grenzübergrei- sen, wenn es galt, mit unkonventionellen Bedrohun-
fenden politischen Beziehungen Wirtschaftssanktio- gen fertig zu werden, die von begrenzter oder kolla-
nen zur Einschränkung von Handels- und Finanz- bierender Staatlichkeit, transnationalem gewalttäti-
interaktionen bedient, lange bevor der Begriff »Diplo- gem Extremismus und organisiertem Verbrechen
matie« im späten 18. Jahrhundert erstmals Eingang ausgehen. Das heißt nicht, dass überhaupt keine
in die französischen und englischen Wörterbücher militärische Gewalt mehr angewendet wird, wie die
fand.3 Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Fortsetzung verdeckter Operationen und anderer
kamen derartige Sanktionen im Kreis der sich als Formen eines eingeschränkten Einsatzes von Streit-
Nationen im modernen Sinn konsolidierenden Staa- kräften wie Drohnen oder Cyber-Kriegsführung bis
ten Nordamerikas und Europas zumeist nur als ergän- zum heutigen Tag mehr als deutlich veranschaulicht.
zende Maßnahmen bei militärischen Einsätzen zur Zweitens wird die einseitige Androhung und tatsäch-
Anwendung, entweder in Form von Belagerungen zu liche Anwendung von militärischer Gewalt moralisch
Land oder von Seeblockaden.4 Die Überwachung und geächtet und rechtlich nur noch als Ultima Ratio
Durchsetzung der entsprechenden Einschränkungen gebilligt, wenn sie im Rahmen der UN-Charta als
erforderten physische Kontrollen wie das Verbot von Selbstverteidigung gilt oder von der Staatengemein-
Gütertransporten per Zug oder Schiff – eine Auf- schaft im Sicherheitsrat abgesegnet wird. Und drittens
gabe, die von Angehörigen der Streitkräfte übernom- fanden Wirtschaftssanktionen auch deshalb verstärkt
men wurde.5 Erst als die neu geschaffenen internatio- Anwendung, weil sich in allen westlichen Ländern
nalen Institutionen, zuerst der Völkerbund und postheroische Gesellschaften herausbildeten, in
später die Vereinten Nationen (UN), aber auch allein denen die damit verbundenen postmateriellen Werte
oder gemeinsam handelnde Nationalstaaten den Ein- seither fast allergische Reaktionen auf Kriegsopfer
satz von bewaffneter Macht seit der zweiten Hälfte auslösen.6 Die Verhängung von Wirtschaftssanktio-
des 20. Jahrhunderts allmählich durch Wirtschafts- nen ermöglicht es den Entscheidungsträgern in den
sanktionen ersetzten, lösten Diplomaten die Soldaten USA und Europa, ihren Gegnern genauso hohe poli-
als Vermittler für die Anwendung wirtschaftlicher tische und wirtschaftliche Kosten wie mit einem
Zwangsmaßnahmen ab. Kriegseinsatz aufzuerlegen, um deren Entscheidungs-
findung zu beeinflussen – ohne Soldaten ins Un-
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind glück schicken zu müssen. Aufgrund ihrer hohen
die Märkte zu einem der wichtigsten Zweckmäßigkeit im Vergleich zu anderen politischen
Schlachtfelder geworden. Instrumenten machten auch die chinesischen und
russischen Regierungen Gebrauch von wirtschaft-
Diese Abkehr von militärischer Gewalt und Hin- lichen Zwangsmaßnahmen.7 Die Veränderung im
wendung zu wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen ist Muster der Druckausübung führte dazu, dass zu
vor allem auf drei technologische und gesellschaft- Beginn des 21. Jahrhunderts die Märkte zu einem
liche Entwicklungen zurückzuführen: Erstens stellte der wichtigsten Schlachtfelder geworden sind.8
das Aufkommen von Atomwaffen schnell die Zweck- Diese Verlagerung in der Staatskunst ist in den
mäßigkeit von militärischer Gewalt infrage, da ihr USA besonders ausgeprägt; hier spielt das Finanz-
Einsatz zwischen den Großmächten mit Sicherheit ministerium jetzt eine entscheidende Rolle in der
deren gegenseitige Zerstörung bedeutet hätte. Die
6 Herfried Münkler, Der Wandel des Krieges: Von der Symmetrie
3 Halvard Leira, »A Conceptual History of Diplomacy«, in: zur Asymmetrie, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2006,
Costas M. Constantinou/Pauline Kerr/Paul Sharp, The SAGE S. 310–354.
Handbook of Diplomacy, London: SAGE, 2016, S. 28–38. 7 William J. Norris, Chinese Economic Statecraft: Commercial
4 »[T]he struggle to secure and deny supplies is a common Actors, Grand Strategy, and State Control, Ithaca, NY: Cornell
feature of ancient as well as modern warfare.« Michael University Press, 2016; Adam N. Stulberg, Well-Oiled Diplomacy:
Walzer, Just and Unjust Wars: A Moral Argument with Historical Strategic Manipulation and Russia’s Energy Statecraft in Eurasia,
Illustrations, London: Allen Lane, 1977, S. 170. Albany: State University of New York Press, 2007.
5 Lance E. Davis/Stanley L. Engerman, Naval Blockades in 8 Robert D. Blackwill/Jennifer M. Harris, War by Other Means:
Peace and War: An Economic History since 1750, Cambridge, MA: Geoeconomics and Statecraft, Cambridge, MA: The Belknap Press
Cambridge University Press, 2006. of Harvard University Press, 2016.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Diplomaten und der Einsatz von Wirtschaftssanktionen

Außen- und Sicherheitspolitik und überwacht ein nommenen Aufgaben unterminieren die Führungs-
riesiges Regime an einseitigen Wirtschaftssanktionen, position von Diplomaten bei der Ausführung der US-
die gegen staatliche und nicht-staatliche Akteure Außen- und Sicherheitspolitik. Zwar befürchteten
in aller Welt verhängt wurden. Während das Außen- Diplomaten auch schon in der Vergangenheit, von
ministerium wesentlich am Aufbau enger Finanz- anderen bürokratischen und nicht-staatlichen Akteu-
und Handelsbeziehungen zu anderen Nationen und ren in ihrer diplomatischen Tätigkeit an den Rand
– nach dem Zweiten Weltkrieg – durch internatio- gedrängt zu werden, aber die aktuelle Ausgrenzung
nale Institutionen beteiligt war, manipulierte das des Außenministeriums ist wahrlich beispiellos.10
Finanzministerium diese Beziehungen zunehmend, Wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, so wird doch
um darüber Druck auf Gegner und Verbündete aus- auch innerhalb der EU deutlich, dass die Diplomaten
zuüben. Innerhalb des Finanzministeriums ist das in den Hintergrund getreten sind. In der EU beschlie-
Amt für die Kontrolle von Auslandsvermögen (Office ßen ebenfalls die Regierungschefs im Europäischen
of Foreign Assets Control, OFAC) die leitende Behörde, Rat immer häufiger Wirtschaftssanktionen, die dann
die Finanz- und Handelssanktionen einführt und von den Bürokraten in der Europäischen Kommission
durchsetzt. Möglich ist das aufgrund von Handlungs- und den nationalen Regierungen umgesetzt werden,
befugnissen in Dringlichkeitsfällen, die der Kongress wobei Diplomaten in beiden Phasen dieses politi-
dem Präsidenten in Übereinstimmung mit zwei wich- schen Prozesses lediglich eine unterstützende Rolle
tigen Gesetzen gewährte: dem Gesetz über den Han- spielen. Tatsächlich entspricht die Zahl der Personen,
del mit dem Feind (Trading with the Enemy Act) von die in der für Sanktionen zuständigen Abteilung des
1917 und dem Gesetz über wirtschaftliche Befugnisse Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) tätig sind,
bei einer internationalen Notlage (International Emer- in keiner Weise der stetig zunehmenden Bedeutung
gency Economic Powers Act) von 1977. Jeder US-Präsi- »restriktiver Maßnahmen«, die von der EU in den
dent seit Franklin D. Roosevelt hat in seiner Außen- letzten beiden Jahrzehnten zur Durchsetzung ihrer
und Sicherheitspolitik Wirtschaftssanktionen ein- Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
gesetzt. In der Regierung von George W. Bush waren beschlossen wurden. Angesichts der Eingriffe anderer
Finanzsanktionen das vorrangige Mittel im »globalen bürokratischer Akteure in das traditionell dem diplo-
Krieg gegen den Terrorismus«. Gleichzeitig griffen matischen Korps vorbehaltene Recht, sich um aus-
die Kongressmitglieder wieder verstärkt in die Außen- ländische Angelegenheiten zu kümmern, war es kein
politik ein, indem sie Wirtschaftssanktionen als Mit- Zufall, dass vorwiegend Wirtschafts- und Finanz-
tel der Legislative nutzten, die Regierung durch die minister zugegen waren, als der UN-Sicherheitsrat am
Ausweitung der Anwendungskriterien zum Handeln 17. Dezember 2015 die Resolution 2253 verabschie-
zwangen und die Exekutive in ihrer Macht beschränk- dete, mit der das bestehende multilaterale Sanktions-
ten, Wirtschaftssanktionen aufzuheben – wie im Fall regime gegen Al-Qaida auf den »Islamischen Staat in
von Russland und dem Iran geschehen. Irak und der Levante« (ISIL) ausgeweitet wurde.
Der verstärkte Rückgriff auf Handels- und Finanz-
sanktionen wertete die Position leitender Beamter des
Finanzministeriums auf, da sie jetzt diplomatische Eine hinterherhinkende Theorie
Aufgaben übernahmen, um sich Unterstützung für
einseitig von den USA verhängte Wirtschaftssanktio- Der rasant zunehmende Einsatz von Wirtschafts-
nen zu sichern und um Hauptstädte und Konzern- sanktionen durch Entscheidungsträger in den USA
hauptsitze im Ausland vor der Nichteinhaltung dieser und der EU zur Verfolgung einer wachsenden Zahl
Sanktionen zu warnen.9 Diese immer häufiger über-
Issues, Actors, Techniques since the 1920s«, in: Andrew F.
9 Juan C. Zarate, Treasury’s War: The Unleashing a New Era of Cooper/Jorge Heine/Ramesh Thakur (Hg.), The Oxford Handbook
Financial Warfare, New York: PublicAffairs, 2013. Zuvor of Modern Diplomacy, Oxford: Oxford University Press, 2013,
hatten Beamte des Finanzministeriums und vor allem der S. 160–175.
Zentralbank in multilateralen Verhandlungen ihre themen- 10 Dean Acheson, »The Eclipse of the State Department«,
spezifischen Kenntnisse über die Bereitstellung öffentlicher in: Foreign Affairs, 49 (Juli 1971) 4, S. 593–606; George F.
Güter durch internationale Institutionen eingebracht. Seit Kennan, »Diplomacy without Diplomats?«, in: Foreign Affairs,
den 1920er Jahren wurde das Finanzministerium von der 76 (März 1997) 5, S. 198–212; Ronan Farrow, War on Peace:
Regierung bei immer mehr Themen zurate gezogen. Siehe The End of Diplomacy and the Decline of American Influence, New
Eric Helleiner, »Financial Officials as Diplomats: Evolving York: W. W. Norton & Company, 2018.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Sascha Lohmann

an außen- und sicherheitspolitischen Zielen erfordert fest in den Händen von Diplomaten vermutet wird.
entsprechende Kenntnisse darüber, wie Finanzmärkte Diese fragwürdige analytische Unterscheidung zwi-
und das globale Handelssystem funktionieren. Dieses schen low politics und high politics könnte darauf
Wissen war vor allem in den Finanz- oder Handels- zurückzuführen sein, dass im diplomatischen Korps
ministerien, den Zentralbanken und im privatwirt- des 19. Jahrhunderts eine beachtliche Geringschät-
schaftlichen Sektor vorhanden. In den USA wurde ein zung für Wirtschaftsfragen gang und gäbe war.
neuer bürokratischer Stab gebildet, um die Nachfrage Traditionell waren die Angehörigen dieses Korps
nach diesen spezifischen Kenntnissen zu bedienen. vorwiegend Aristokraten, die für die Emanzipation
Dessen Mitarbeiter sind weder Diplomaten noch Sol- der mittelständischen Kaufleute nichts als tiefe
daten und übernehmen dennoch Aufgaben, die zuvor Verachtung übrighatten.13 Diese analytische Unter-
ausschließlich Diplomaten übertragen wurden: zum scheidung könnte indes auch auf die Vorherrschaft
Beispiel Verhandlungen mit ausländischen Regierun- der liberalen Lehrmeinung in der wissenschaftlichen
gen und mit in den jeweiligen Ländern ansässigen Beschäftigung mit Wirtschaft und Politik zurück-
Unternehmen über eine Zusammenarbeit bei der gehen sowie auf den durch den Einsatz von Wirt-
Gestaltung, Verhängung und Durchsetzung von Wirt- schaftssanktionen zutage tretenden offensichtlichen
schaftssanktionen. Seit den 1990er Jahren sind die Widerspruch zu gleich zwei ihrer Grundannahmen:
Stabsmitarbeiter auch immer wieder direkt gegen erstens derjenigen, dass Märkte unabhängig von
staatliche und nicht-staatliche Widersacher und deren staatlichen Eingriffen arbeiten, und zweitens jener,
jeweilige Unterstützer vorgegangen. Diese Aktivitäten dass wirtschaftliche Verflechtungen Konflikte redu-
kann man als Wirtschaftskrieg ohne offizielle Kriegs- zieren. Nachdem der Merkantilismus als vorherr-
erklärung bezeichnen,11 die Mitarbeiter des neuen schendes Paradigma der internationalen politischen
bürokratischen Stabs entsprechend als Finanzkrieger. Ökonomie entthront worden war, übten liberale
Dokumentiert ist das Aufkommen dieser Finanz- Ideen einen nachhaltigen Einfluss auf Entscheidungs-
krieger bisher ausschließlich in autobiografischen träger aus, wie aus den Worten des ehemaligen
Berichten ehemaliger Protagonisten.12 Ansonsten US-Außenministers Cordell Hull deutlich wird, der
blieb diese Entwicklung in den vorliegenden Schrif- erklärte: »Wenn Güter die Grenzen überschreiten,
ten über Diplomatie und Wirtschaftssanktionen weit- werden Soldaten dies nicht tun müssen.« Aber un-
gehend unerwähnt. Ein Grund dafür könnte sein, geachtet ihrer Ursache wird die in der Forschung
dass sich unter denjenigen, die sich praktisch und zu internationalen Beziehungen und Diplomatie
theoretisch mit internationalen Beziehungen beschäf- getroffene analytische Unterscheidung zwischen
tigen, hartnäckig die irrige Meinung hält, dass Wirt- high und low politics durch die empirische Evidenz
schaftspolitik zur low politics zähle, während das Be- konterkariert. Insbesondere die Verhängung von
treiben von Außen- und Sicherheitspolitik den Thron Wirtschaftssanktionen reicht schon bis zu den Stadt-
der high politics einnehme, wobei Letztere immer noch staaten des antiken Griechenlands zurück. Später ent-
wickelten sich Wirtschaft und Diplomatie Hand in
Hand als Aufgaben des Außenhandels. Diese waren
11 Keith Kendrick, »In Economic Battle, Soldiers Fight on
sowohl Ursache als auch Folge der Etablierung offi-
Carpet«, in: The Washington Post, 19.9.1990, <https://www.
zieller diplomatischer Beziehungen zwischen den
washingtonpost.com/archive/politics/1990/09/19/in-economic-
Regierungen im 18. und 19. Jahrhundert.
battle-soldiers-fight-on-carpet/1c39d1e6-93c8-43aa-a129-
eec28d15fe83/?noredirect=on&utm_term=.2f43f51e7abd>
In der Vergangenheit vernachlässigten Wissen-
(eingesehen am 18.7.2018). schaftler weitgehend die den Diplomaten zur Ver-
12 John B. Taylor, Global Financial Warriors: The Untold Story fügung stehenden wirtschaftlichen Instrumente.
of International Finance in the Post 9/11 World, New York: W. W. Stattdessen untersuchten sie eingehend die enge Ein-
Norton & Company, 2007; Orde F. Kittrie, »New Sanctions for beziehung von Diplomaten bei der Planung militä-
a New Century: Treasury’s Innovative Use of Financial Sanc- rischer Gewaltanwendung (»andere Mittel« in der
tions«, in: University of Pennsylvania Journal of International Law,
30 (Frühjahr 2009) 3, S. 789–822; Juan C. Zarate, »Harness-
ing the Financial Furies: Smart Financial Power and National 13 Als höchst anschauliches Beispiel für das geringe
Security«, in: The Washington Quarterly, 32 (2009) 4, S. 43–59. Ansehen, das der Wirtschaft im Gegensatz zur high politics
Eine Kritik findet sich in Ibrahim Warde, The Price of Fear: sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten zukam, siehe
Al-Qaeda and the Truth behind the Financial War on Terror, Lon- Werner Sombart, Händler und Helden: Patriotische Besinnungen,
don: I. B. Tauris, 2007, S. 14. München: Duncker & Humblot, 1915.

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Diplomaten und der Einsatz von Wirtschaftssanktionen

Diktion Carl von Clausewitz’ und »Diplomatie des kaum mit den wirtschaftlichen Mitteln, die Diploma-
Zwangs« bei ihren heutigen akademischen Anhän- tinnen und Diplomaten bei der Verfolgung außen-
gern).14 Einige Wissenschaftler aus der Unterdisziplin und sicherheitspolitischer Ziele zur Verfügung
Diplomatische Studien haben kürzlich begonnen, stehen.18
Theorien über die wirtschaftlichen Ziele der Außen-
und Sicherheitspolitik aufzustellen, und dafür den Die Diplomatie muss sich mit der
Oberbegriff »Wirtschaftsdiplomatie« gewählt.15 Dieser Abkehr von militärischer Gewalt-
recht unscharfe Terminus umfasst eine Vielzahl an anwendung und der Hinwendung zu
manchmal auch als Industrie- oder Handelsdiploma- wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen
tie bezeichneten Bemühungen im Zusammenhang auseinandersetzen.
mit der Förderung und Unterstützung von Wirt-
schaftsinteressen im Ausland, der Aushandlung von Während die Machttheorie unter der Bedingung
Handelsabkommen und internationalen Instituten wirtschaftlicher Verflechtungen ein zentrales Thema
einer Wirtschaftsordnung16 sowie mit Entwicklungs- der realistischen Denkschule war und ist,19 fehlt es
zusammenarbeit und anderen Arten von Finanz- immer noch an systematischen Untersuchungen über
hilfen.17 Aber auch diese Literatur beschäftigt sich die Anwendung wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen
durch die Diplomatie. David A. Baldwin kam einer
14 Thomas C. Schelling, Arms and Influence, New Haven, CT: solchen Untersuchung ziemlich nahe, aber letztlich
Yale University Press, 1966, S. 3; Alexander L. George, Forceful scheute er sich doch davor, seine bahnbrechende
Persuasion: Coercive Diplomacy as an Alternative to War, Washing- Analyse wirtschaftlicher Staatskunst mit der beson-
ton, D.C.: United States Institute of Peace Press, 1991; Ale- deren Rolle von Diplomaten in Zusammenhang zu
xander L. George/William E. Simons (Hg.), The Limits of Co- bringen. Er argumentierte, dass ein solcher Schritt,
ercive Diplomacy, 2. Ausg., Boulder: Westview Press, 1994; »den Begriff ›Diplomatie‹ so sehr erweitern würde,
Christer Jönsson, »Diplomacy«, in: Keith M. Dowding (Hg.), dass es schwerfiele, Unterschiede zwischen ›diploma-
Encyclopedia of Power, Thousand Oaks, CA: SAGE, 2011,
tischen‹ und ›wirtschaftlichen‹ Methoden festzuma-
S. 188–190; Peter Viggo Jakobsen, »Coercive Diplomacy«, in:
chen«.20 Das ist äußerst bedauerlich, denn sein Buch
Constantinou/Kerr/Sharp (Hg.), The SAGE Handbook of Diplomacy
hat unser Denken über die Möglichkeiten und Fall-
wie Fn. 3, S. 476–486; Tarak Barkawi, »Diplomacy, War,
and World Politics«, in: Ole Jacob Sending/Vincent Pouliot/
stricke des Einsatzes von Wirtschaftssanktionen
Iver B. Neumann (Hg.), Diplomacy and the Making of World erheblich geschärft.
Politics, Cambridge, MA: Cambridge University Press, 2015,
S. 55–79.
15 Maaike Okano-Heijmans, »Conceptualizing Economic Die Lücke schließen
Diplomacy: The Crossroads of International Relations, Eco-
nomics, IPE and Diplomatic Studies«, in: The Hague Journal Um ihre Relevanz auch für die Diplomatie im 21. Jahr-
of Diplomacy, 6 (Januar 2011) 1–2, S. 7–36; dies., »Economic hundert unter Beweis zu stellen, muss sich die Diplo-
Diplomacy«, in: Constantinou/Kerr/Sharp (Hg.), The SAGE Hand- matie mit der grundlegenden Abkehr von militärischer
book of Diplomacy wie Fn. 3, S. 552–563. Als frühen Beitrag
Gewaltanwendung und Hinwendung zu wirtschaft-
dazu siehe John Pinder, »Economic Diplomacy«, in: James N.
Rosenau/Kenneth W. Thompson/Gavin Boyd, World Politics:
An Introduction, New York: Free Press, 1976, S. 312–336. Framework«, in: International Journal of Diplomacy and Economy,
16 Leonard Seabrooke, »Economists and Diplomacy: Pro- 1 (2012) 2, S. 119–133.
fessions and the Practice of Economic Policy«, in: International 18 Nicholas Bayne/Stephen Woolcock, »What Is Economic
Journal, 66 (September 2011) 3, S. 629–642 (641); ders., Diplomacy?«, in: dies. (Hg.), The New Economic Diplomacy: Deci-
»Diplomacy as Economic Consultancy«, in: Sending/Pouliot/ sion-Making and Negotiation in International Economic Relations,
Neumann (Hg.), Diplomacy [wie Fn. 14], S. 195–219. 4. Aufl., Abingdon: Routledge, 2016, S. 1–14 (2–5).
17 Donna Lee, »The Growing Influence of Business in U.K. 19 Jonathan Kirshner, »The Political Economy of Realism«,
Diplomacy«, in: International Studies Perspectives, 5 (Februar in: Ethan Kapstein/Michael Mastanduno (Hg.), Unipolar Politics:
2004) 1, S. 50–54; Donna Lee/David Hudson, »The Old and Realism and State Strategies after the Cold War, New York: Colum-
New Significance of Political Economy in Diplomacy«, in: bia University Press, 1999, S. 88–102; Rawi Abdelal/Jonathan
Review of International Studies, 30 (Juli 2004) 3, S. 343–360; Kirshner, »Strategy, Economic Relations, and the Definition of
Paul Sharp, Diplomatic Theory of International Relations, Cam- National Interests«, in: Security Studies, 9 (1999) 1, S. 123–162.
bridge, MA: Cambridge University Press, 2009, S. 222–242; 20 David A. Baldwin, Economic Statecraft, Princeton, NJ:
Olivier Naray, »Commercial Diplomacy: An Integrative Princeton University Press, 1985, S. 35.

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Sascha Lohmann

lichen Zwangsmaßnahmen auseinandersetzen – Eine sinnvolle Lösung könnte eine


eine Verschiebung, die für sie die Gefahr birgt, bei zweite Laufbahn sein, mit dem Fokus
der Umsetzung von Außen- und Sicherheitspolitik in auf der Gestaltung und Umsetzung
den USA und EU-Mitgliedstaaten von anderen büro- von Handels- und Finanzsanktionen.
kratischen Akteuren weiter an den Rand gedrängt zu
werden. Aufgrund ihres umfangreichen Spezial- und Um die Funktion des diplomatischen Personals
Allgemeinwissens als Ergebnis ihrer systematischen beim Einsatz von Wirtschaftssanktionen vor allem
Aus- und Weiterbildung muss dem diplomatischen seitens der Regierungen von EU-Mitgliedstaaten, allen
Korps weiterhin eine maßgebliche Rolle bei der voran Deutschland, auszubauen, sollte die diploma-
Gestaltung, Verhängung und Durchsetzung von Wirt- tische Laufbahn nicht nur zur Ausbildung von Gene-
schaftssanktionen zukommen. Auch wenn im Bereich ralisten führen, die sich jeder Aufgabe anpassen kön-
der staatlichen Politik weder ein allgemein akzep- nen. Statt das gesamte diplomatische Korps dazu
tierter erkenntnistheoretischer Kanon vorgibt, was zu verpflichten, für festgelegte Zeiträume an immer
wirtschaftliche Staatskunst ausmacht, noch in den wieder neuen Einsatzorten zu arbeiten (eine gängige
meisten westlichen Ländern eine institutionalisierte Praxis, die im Hinblick auf die Verhängung von Wirt-
Struktur besteht, die darauf ausgerichtet wäre, diese schaftssanktionen mit ungeheuren, aber unnötigen
Staatskunst möglichst wirkungsvoll zur Anwendung Opportunitätskosten einhergeht), könnte eine zweite
zu bringen, sind Diplomaten und Diplomatinnen Laufbahn mit dem Fokus auf einer speziellen Aus-
anerkanntermaßen besonders geeignet, beim Einsatz bildung für spezifische Aufgaben wie etwa die Gestal-
von Wirtschaftssanktionen als wichtigste Vermittler tung und Umsetzung von Handels- und Finanz-
zu fungieren. Und das ist ihrer Fähigkeit geschuldet, sanktionen eine sinnvolle Lösung sein. In den USA
miteinander konkurrierende politische Ziele im Stre- leitete die damalige Außenministerin Hillary Rodham
ben nach diplomatischen Lösungen in Bezug auf ihre Clinton Ende 2011 und im Jahr 2012 im Rahmen
kurz- und langfristigen Auswirkungen zu gewichten. ihrer Economic Statecraft Initiative Schritte in diese
Ihre umfassende Sichtweise, die auf fundierten Kennt- Richtung ein. Auch wenn ihrer Initiative seinerzeit
nissen der Zusammenhänge beruht – erworben kaum Aufmerksamkeit zuteilwurde, führte sie doch
durch ihren kontinuierlichen Umgang mit verschie- zu dauerhaften organisatorischen Veränderungen im
denen kulturellen Bedingungen –, zeichnet sie Außenministerium, die auf einer Würdigung der
gegenüber ihren Kollegen in den Finanz- und Han- entscheidenden Rolle beruht, die Wirtschaftskraft für
delsministerien aus, die häufig auf kurzsichtige Weise die US-Diplomatie spielt.22 Als Experten bei der An-
begrenztere politische Ziele verfolgen. Im Hinblick wendung von Wirtschaftssanktionen könnten Diplo-
auf die Verhängung von Wirtschaftssanktionen könnte matinnen und Diplomaten die Regie übernehmen
Letzteres bedeuten, dass ein höherer wirtschaftlicher und andere bürokratische Akteure in der eigenen
Druck ausgeübt und mit rigorosen Mitteln eine welt- Regierung anleiten und mit den nötigen Spezial-
weite Einhaltung von Sanktionen durchgesetzt wird, kenntnissen vertraut machen, statt sich von diesen
ohne überhaupt zu überlegen, was die andere Seite in der diplomatischen Arbeit kaltstellen zu lassen.
eigentlich will und warum. Sir Robert F. Cooper
äußerte einmal: »Diplomatie ist zum Teil Newtonsche
Physik – Kraft, Druck und Hebelwirkung –, aber sie
dreht sich auch darum, was die Menschen wollen.«21
So besteht der Vorteil der Diplomatie vielleicht
manchmal darin, Zeit zu gewinnen – für Verhand-
lungen, aber auch für notwendige gesellschaftliche
Veränderungen.

21 Robert Cooper, »Ukraine and Iran Vindicate Ashton’s 22 Hillary R. Clinton, »Economic Statecraft«, Rede vor dem
Deft Diplomacy«, in: Financial Times, 12.12.2013, <https:// Economic Club of New York, New York City, 14.10.2011,
www.ft.com/content/a4baf248-5ea9-11e3-8621-00144fe <https://2009-2017.state.gov/secretary/20092013clinton/rm/
abdc0> (eingesehen am 18.7.2018). 2011/10/175552.htm> (eingesehen am 24.7.2018).

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Populismus und die innenpolitische Herausforderung für die Diplomatie

Andrew Cooper

Populismus und die innenpolitische


Herausforderung für die Diplomatie

In zahlreichen westlichen Ländern steht die Diploma- Ein Dilemma besteht darin, dass
tie inzwischen im Wesentlichen vor innenpolitischen populistische Kräfte die Diplomatie
Herausforderungen. Zwar bestehen hinsichtlich der anfechten und stigmatisieren.
globalen institutionellen Architektur noch immer
ernsthafte Spannungen, aber sie stellen keine so exis- Das aktuelle Dilemma dreht sich im Kern also
tenzielle Bedrohung dar wie in den 1930er Jahren. nicht darum, dass die Diplomatie (und das diploma-
Anders als in der damaligen Zeit kommt es heute tische Personal in den Außenministerien) auf der
nicht zu einer vollständigen Abkehr von internatio- Weltbühne im Verschwinden begriffen wäre, son-
nalen Organisationen, wofür seinerzeit vor allem das dern darum, dass solche staatlichen Institutionen
Scheitern des Völkerbundes ein deutliches Zeichen und Mechanismen innenpolitisch von populistischen
war. Heute verschwinden die internationalen Orga- Kräften angefochten und stigmatisiert werden. Ähn-
nisationen nicht, sondern sie vermehren sich, wenn lich wie andere, ebenso infrage gestellte Institutionen
auch mit einer Tendenz zu informellen, sich selbst wird die Diplomatie als restriktives Instrument ange-
organisierenden Foren wie der G20 und dem Finanz- sehen, als Teil des eigennützigen herrschenden Estab-
stabilitätsrat. Im heutigen geopolitischen Umfeld gibt lishments. In Anlehnung an die Theorie von Ernesto
es auch keine Häufung totalitärer Staaten, die erpicht Laclau1 könnte sich die populistische Logik in einem
darauf wären, ihre Territorien mit militärischen Mit- wesentlichen Aspekt von der nationalistischen abhe-
teln zu vergrößern. In vielerlei Hinsicht herrscht ben. Während die Nationalisten horizontal zwischen
weiterhin ein liberaler Internationalismus, zumindest denjenigen inner- und außerhalb des Nationalstaats
nach dem Ausmaß an komplexen Wechselbeziehun- (den anderen) unterscheiden, verläuft die Trennlinie
gen zu urteilen. Das 21. Jahrhundert zeichnet sich für Populisten zwischen unten und oben, wobei sich
nicht durch Autarkie aus (mit nationalistisch gepräg- Elite und »das Volk« als Underdog feindselig gegen-
ten Staaten, die in ihren Einflussbereichen die allei- überstehen.
nige Kontrolle ausüben), sondern ist von einer Hyper- Besonders deutlich wurde die sich gegen die Diplo-
Globalisierung geprägt. Davon profitieren nicht nur matie und das Außenministerium richtende Stim-
die gigantischen Konzerne, sondern auch große Nicht- mung in der Brexit-Kampagne mit ihrer Abneigung
regierungsorganisationen (Oxfam, Ärzte ohne Gren- gegen Insider und Gefühlsgemeinschaften sowie gegen
zen) und philanthropische Körperschaften (Gates- Interessen, die über die nationalen hinausgehen. Kon-
Stiftung). Diese Art von Pluralismus belegt, dass wir troversen wie diese sind jedoch auch anderenorts zu
nicht länger in einem Zeitalter der Hegemonie oder finden. Vor allem im Zusammenhang mit Fragen der
Unipolarität leben. Stattdessen haben jetzt vor allem Migration wettern in verschiedenen Teilen Europas
die großen nicht-westlichen staatlichen Akteure populistische Bewegungen gegen die Abwägungen
(allen voran die BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, diplomatischer Solidarität. Zu all dem kommt natür-
Indien, China und Südafrika) viele Einflussmöglich- lich die ungeheure Herausforderung, die US-Präsident
keiten außerhalb des seit langem etablierten Rah- Donald Trump für die gegenwärtige diplomatische
mens der G7/8 hinzugewonnen. 2018 positionierten Kultur darstellt. In gewisser Hinsicht kann Trump
sich die BRICS-Staaten auf ihrem Treffen in Johan-
nesburg eindeutig als Befürworter einer multilatera-
1 Ernesto Laclau, »Populism: What’s in a Name?«, in:
len Wirtschaftsordnung.
Francisco Panizza (Hg.), Populism and the Mirror of Democracy,
London: Verso, 2005, S. 32–49.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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19
Andrew Cooper

wohl als Rückkehrer zu einer älteren Form der Diplo- Fünf-Sterne-Bewegung, der sich auf Innenpolitik
matie bezeichnet werden. Er zieht Ad-hoc-Prozesse konzentrierte, um bei einer großen Wählerschaft gut
vor, um damit jegliche Institutionalisierung zu um- anzukommen) eher mit Populismus verknüpft.
gehen, sei sie formeller (Vereinte Nationen, internatio- In einer Reihe von Ländern bröckelt das Ansehen
nale Finanzinstitute, WTO, Nato) oder informeller Art der Außenministerien. Die Ansicht, dass Diplomaten
(G20, Kontaktgruppen usw.). Gleichzeitig pflegt Trump und/oder Beamte des Auswärtigen Dienstes eine ein-
einen personalistischen Politikstil, distanziert sich von zigartige Befähigung zur Auslegung des nationalen
jeglicher starren Ideologie, verfolgt in Verhandlungen Interesses hätten, ist zwar fest verankert und wird –
einen Alles-oder-Nichts-Ansatz, bevorzugt Zweier- als Vermächtnis einer kulturellen Abgrenzung –
gespräche in bilateralen Beziehungen, sorgt immer durch deren Sonderstellung nicht nur gegenüber
wieder für Überraschungen und ist für die direkte anderen Teilen der staatlichen Verwaltung, sondern
Kommunikation mit »seinen« Anhängern in Kombi- auch gegenüber den Bürgern allgemein noch unter-
nation mit seinen unberechenbaren Tweets berühmt. strichen. Diplomatie entwickelte sich, »um [als Ver-
Diese geballte Herausforderung für die Diplomatie mittlerin] zwischen Staaten und Gesellschaften zu
und die Außenministerien im Besonderen kommt fungieren, die sich durch Institutionen, Recht, Kultur,
also nicht von der Peripherie des globalen Systems, Wirtschaft und die Sprache voneinander unterschei-
wie man es eigentlich erwarten könnte. Denn schließ- den.«4 Solange die Außenministerien diesen Sonder-
lich gehören die kleinen Staaten zu denen, die in status hatten (verbunden mit der Kompetenz, weit-
der globalen Finanzkrise die schwerwiegendsten gehend als oberste Instanz für Außenbeziehungen
diplomatischen Verluste erlitten. Zudem bleiben viele zu agieren), verlieh dieser Umstand auch der ihnen
kleine Staaten bei den neuen Institutionen außen angegliederten »Zunft« der Diplomatie beachtliche
vor, nicht nur bei der G20, sondern auch bei Partner- Stärken. Nun aber drängen zunehmend erregte und
schaften wie BRICS oder MIKTA.2 Und nicht zuletzt mobilisierte Bürgerinnen und Bürger darauf, diese
wurde der Raum für diplomatische Initiativen nor- Komponente des Establishments zu umgehen, wie sie
mativen Inhalts beschnitten, die zu einem beträcht- es auch in der Auseinandersetzung zwischen reprä-
lichen Teil kleine Staaten beispielsweise am Inter- sentativer und partizipatorischer Demokratie tun.
nationalen Gerichtshof in die Wege geleitet haben. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass
Dass die Diplomatie und das diplomatische Korps die Diplomatie und das diplomatische Korps nicht-
stattdessen gerade in Ländern besonders umstritten westlicher Länder vor noch viel gewaltigeren Heraus-
sind, die den Kern des internationalen Systems aus- forderungen stehen, wenn ein ganzer Staat durch
machen, schafft eine Dynamik, die nur im Zusam- eine Kombination aus Prominenz und Populismus
menhang mit einer Gegenreaktion auf ein breiteres gekapert wird. Venezuela unter Präsident Hugo
Segment einer etablierten institutionellen Kultur zu Chávez (1999–2013) ist dafür ein gutes Beispiel: Hier
verstehen ist – was sich zu einem gewissen Grad im wurde charismatische Führung mit einer sogenann-
Aufkommen einer Prominentenkultur widerspiegelt, ten Diplomatie der Völker (diplomacia de los pueblos)
die eher einem personalistischen Spektakel als einer vermengt. Cardozo zufolge hängt der Verfall der
Leistungskultur verpflichtet ist. Neu und anders ist professionellen Diplomatie zugunsten persönlicher
allerdings, dass sich nun Prominenz mit Populismus Beziehungen und der »Diplomatie der Mikrophone«
statt mit einer Institution verbündet. Während man mit der »Definition von Diplomatie im Sinne von
Prominente wie George Clooney, Angelina Jolie und Unterstützung für das Regime«5 zusammen und ist
vielleicht auch Bill Gates oder Ted Turner mit den Ver- nicht auf den Beruf des Diplomaten an sich zurück-
einten Nationen und/oder globalen Initiativen asso- zuführen. Serbin und Serbin Pont erklären:
ziiert, die sich für die Bereitstellung globaler öffent-
licher Güter einsetzen,3 sind prominente Politiker wie 4 Georg Haynal, DOA: Diplomacy on the Ascendant in the Age
insbesondere Donald Trump, aber auch Boris Johnson of Disintermediation, Cambridge, MA: Wheatherhead Center
und Beppe Grillo (der ehemalige Vorsitzende der for International Affairs, Harvard University, 2002, <https://
programs.wcfia.harvard.edu/files/fellows/files/haynal.pdf?
m=1357530295> (eingesehen am 7.5.2018).
2 MIKTA steht für eine informelle Partnerschaft zwischen 5 Elsa Cardozo, »La política exterior del gobierno bolivariano
Mexiko, Indonesien, Südkorea, der Türkei und Australien. y sus implicaciones en el plano doméstico«, ildis, August
3 Andrew F. Cooper, Celebrity Diplomacy, Boulder, CO/Lon- 2010, S. 3f, <http://library.fes.de/pdf-files/bueros/caracas/
don: Paradigm Publishers, 2007. 08796.pdf> (eingesehen am 8.8.2018).

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Populismus und die innenpolitische Herausforderung für die Diplomatie

»Der diplomatische Dienst wurde in den Jahren rien nach wie vor ernst. Angesichts des großen Ver-
2000 und 2005 umstrukturiert. Dazu gehörten auch lusts an Bedeutung der Diplomaten ist es für einige
veränderte Anforderungen an der Diplomatischen Opportunisten unter den aufstrebenden führenden
Akademie Pedro Gual: Anwärter für den diploma- Politikern – selbst denen, die sich im internationalen
tischen Dienst müssen auch einen sozialen Dienst System betätigen – offenbar reizvoll, im Rahmen
leisten und die Strukturen der sozialen Aufgaben in einer weitergehenden Kampagne zur Stigmatisierung
Bolivien persönlich erleben sowie deren Auswirkun- des traditionellen Establishments »ihre« eigenen
gen auf die Revolution anerkennen.«6 Diplomaten noch weiter herabzuwürdigen.
Die populistische Herausforderung unterstreicht die Unter diesem intensiven Druck ist es nur konse-
Kluft zwischen einer als festgefahren wahrgenomme- quent für die Angehörigen diplomatischer Dienste,
nen Elite und »dem Volk«, das übermächtige Einzel- ihren Wert zu demonstrieren. In diesem Prozess
personen als Fürsprecher annimmt. Der Personenkult könnten einige Arbeitsweisen in den Hintergrund
ist nicht länger auf die Spitze bestimmter politischer rücken, etwa die öffentlichkeitswirksamen Bemü-
Parteien beschränkt. Stattdessen ist der Prominenten- hungen von Botschaftern und Delegationen, sich an
kult frei von Loyalität gegenüber bestimmten Verhal- öffentlichen Kampagnen zu beteiligen, um autokrati-
tensmustern. Selbst die zynischsten Bürgerinnen und sche Regime zu kritisieren oder gar zu destabilisieren.
Bürger sind von der Ausstrahlung eigenständiger Indi- In diese Kategorie fallen beispielsweise die Twitter-
viduen angezogen, die für das genaue Gegenteil des- Nachrichten Michael McFauls, des damaligen US-Bot-
sen stehen, was die diplomatische Kultur repräsentiert. schafters in Russland (2012–2014), der 60 000 Fol-
Was die Herausforderung noch vergrößert, ist die lower hat. Ein weiteres Beispiel dieser Art ist der US-
Fähigkeit dieser übermächtigen Einzelpersonen, sich Botschafter in Syrien, Robert Ford, der schon 2011 (zu
als Fahnenträger für die Frustrationen der einfachen Beginn der Syrienkrise) Kontakt zu Oppositionskräften
Bürgerinnen und Bürger darzustellen. Sie operieren aufnahm und Städte besuchte, die von den Sicher-
als Außenseiter durch die Benutzung loser Netzwerke heitskräften der Assad-Regierung belagert wurden.
anstatt der geschlossenen von Insidern. All das soll
nicht heißen, dass die durch den Bedeutungsverlust Angesichts der Anfechtungen durch
der Vermittler gestärkte Gegenbewegung die gesamte populistische Kräfte müssen
Diplomatie und alle Diplomaten als unzweckmäßig Diplomatie und Diplomaten
abtäte. Ganz im Gegenteil: Es besteht ein auffälliger wesentlich mehr Reaktion zeigen.
Gegensatz zwischen der allgemeinen Infragestellung
der Diplomatie und der Hochachtung für bestimmte Angesichts der Anfechtungen durch populistische
Diplomaten, wie die vielen Ehrenbezeugungen für Kräfte müssen Diplomatie und Diplomaten wesent-
Botschafter Chris Stevens und andere Diplomaten lich mehr Reaktion zeigen. In diesen destabilisieren-
belegen, die 2012 bei dem Anschlag auf die amerika- den Zeiten scheint es für die Erhaltung der Organisa-
nische Botschaft in Bengasi ums Leben kamen. Im bri- tion am besten zu sein, wenn sich die Institutionen
tischen Fall ist nicht klar, ob Angriffe auf die Diplo- und der Apparat der Diplomatie auf den Dienst an
matie seitens populistischer Politiker wie Nigel Farage den Bürgerinnen und Bürgern ausrichten. Das ist mit-
ernst gemeint sind oder einfach nur eine Reaktion nichten eine völlig neue Strategie, aber eine, die dem
auf die Bereitschaft einiger Diplomaten wie Sir Ivan Mantra einer »öffentlichen« Diplomatie mit innen-
Rogers, bezüglich des Brexit »den Mächtigen die Wahr- politischer Ausrichtung eingepflanzt werden muss.
heit zu sagen«. Schließlich genoss der Brexit-Befürwor- Die Diplomatie und das diplomatische Personal soll-
ter sein inoffizielles Treffen mit Trump, vor allem als ten bei jeder Gelegenheit dem Bild der »Entnationali-
dieser äußerte, er, Farage, würde einen »großartigen« sierung« entgegenwirken – was in den Zwischen-
britischen Botschafter in den USA abgeben. kriegsjahren ursprünglich Sir Harold Nicolson als Sorge
Aber trotz dieser Widersprüche ist die Heraus- geäußert hatte,7 ist unter den Bedingungen des 21. Jahr-
forderung für die Diplomatie und die Außenministe- hunderts ein Konzept, das wieder in den Vordergrund
des Denkens und Handelns gerückt werden muss.

6 Andrés Serbin/Andrei Serbin Pont, »The Foreign Policy of


the Bolivarian Republic of Venezuela: The Role and Legacy
of Hugo Chávez«, in: Latin American Policy, 8 (Dezember 2017) 7 Derek Drinkwater, Sir Harold Nicolson and International Rela-
2, S. 232–248. tions, Oxford: Oxford University Press, 2005.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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21
Christer Jönsson

Christer Jönsson

Diplomatische Repräsentation:
Staaten und andere Akteure

Repräsentation, verstanden als Vertretung anderer weil mit ihnen umgegangen werden musste, »als
und Handeln in ihrem Auftrag, ist eine Kernfunktion seien sie der Souverän höchstpersönlich«.2 Heute hat
der Diplomatie. Früher vertraten Diplomaten einzelne die diplomatische Repräsentation, die Vertretung
Herrscher, heute repräsentieren sie Staaten. Ihre von jemandem oder etwas, einen symbolischen Sta-
repräsentative Rolle hängt von der Vormachtstellung tus. Der Diplomat ist daher in dem gleichen Sinne
des Staates in internationalen Beziehungen ab. für einen Staat repräsentativ wie die Nationalflagge.
»Wenn Staaten schwächer werden, so gilt das Repräsentation beinhaltet nicht nur Status (Vertre-
auch für diejenigen, die sie repräsentieren und tung anderer), sondern auch Verhalten (Handeln im
von ihnen ihre Autorität ableiten. Da sich einerseits Auftrag anderer). Wirtschafts- und Politikwissenschaft-
der Trend fortsetzt, die großen globalen Fragen auch ler untersuchen die Beziehungen zwischen Repräsen-
auf globaler Ebene zu entscheiden, und andererseits tierten und Repräsentanten als jene zwischen Prinzi-
ein höheres Maß an Regionalisierung und Individua- pal (Auftraggeber) und Agent (Beauftragtem). Prinzipal-
lisierung Einzug hält, wo ist da noch Platz für einen Agenten-Verhältnisse kommen immer dann zustan-
Repräsentanten des Staates?«1 de, wenn eine Partei (Prinzipal) bestimmte Aufgaben
Die Repräsentation eines Staates ist im 21. Jahr- an eine andere Partei (Agent) delegiert. Diplomaten
hundert keineswegs unproblematisch. Im ersten Teil und gewählte Politiker sind offenkundige Beispiele
dieses Beitrags werde ich mich mit den wichtigsten für Agenten, die von ihren Prinzipalen (Regierungen/
gegenwärtigen und zukünftigen Fragen zur staat- Wählerschaft) mit bestimmten Aufgaben betraut wur-
lichen Repräsentation durch Diplomatinnen und den. Aufgrund gegensätzlicher Präferenzen oder einer
Diplomaten beschäftigen. Da allerdings im 21. Jahr- Informationsasymmetrie könnten die Beauftragten
hundert auch andere Akteure Anspruch auf diplo- andere Interessen als die ihrer Auftraggeber verfolgen.
matische Vertretung erheben, die jener von Staaten Darum geht die Aufgabenübertragung in der Regel mit
entspricht, werde ich im zweiten Teil des Beitrags die Mechanismen der Kontrolle und Überprüfung einher.
Auswirkungen und Herausforderungen dieser wei- Das angemessene Verhalten von Repräsentanten
tergefassten diplomatischen Repräsentation erörtern. ist immer wieder Gegenstand intensiver Debatten, vor
allem in der Literatur über die repräsentative Demo-
kratie. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob die
Staatliche Repräsentation Agenten ein »imperatives Mandat« haben, also streng
an die Weisungen ihrer Prinzipale gebunden sind,
Von der Antike bis ins Mittelalter repräsentierten oder über ein »freies Mandat« verfügen, das ihnen
Diplomaten souveräne Herrscher, wobei sie als Ver- das Recht einräumt, im Namen ihrer Auftraggeber
körperung dieser Herrscher galten, wenn sie an aus- zu handeln.3 Sie zieht die Bewertung nach sich,
ländischen Höfen vorstellig wurden. Auch wenn diese ob Rechenschaftspflicht oder Bevollmächtigung
Sichtweise heute fremd erscheint, so ist das nach wie
vor geltende Prinzip der diplomatischen Immunität
tief in dieser Idee persönlicher Repräsentation ver- 2 Grant V. McClanahan, Diplomatic Immunity: Principles,
wurzelt. Die frühen Gesandten waren unantastbar, Practices, Problems, London: Hurst, 1989, S. 28.
3 Marek Sobolewski, »Electors and Representatives: A Con-
tribution to the Theory of Representation«, in: J. Roland
1 Tom Fletcher, The Naked Diplomat: Power and Statecraft in the Pennock/John W. Chapman (Hg.), Representation, New York:
Digital Century, London: William Collins, 2016, S. 14. Atherton Press, 1968, S. 95–107 (96).

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Diplomatische Repräsentation: Staaten und andere Akteure

der Schlüssel zur Charakterisierung der Beziehung zwischenstaatlichen Beziehungen im Großen und
zwischen Beauftragtem und Auftraggeber ist. Ganzen weiterhin aufrechterhalten werden, hat sich
Auf den ersten Blick scheint es, als hätten Diplo- die öffentliche Wahrnehmung von Diplomaten in
maten als Staatsdiener im Vergleich zum freieren den letzten Jahrzehnten verändert. In dem Maße, in
Mandat gewählter Politiker ein eingeschränktes oder dem sie als Symbole missliebiger Länder, Religionen
»imperatives« Mandat. Das wäre jedoch eine zu starke oder »-ismen« gesehen werden, gilt für sie nicht län-
Vereinfachung. Wenn auch mit unterschiedlichen ger das Grundprinzip der diplomatischen Immunität;
Einschränkungen versehen, lassen die Anweisungen ihre repräsentative Funktion ist vielmehr zu einer
und das Verhandlungsmandat von Diplomatinnen Begründung für politische Gewalt geworden. Statt un-
und Diplomaten diesen häufig innerhalb eines gewis- antastbar zu sein, sind Diplomaten immer mehr zu
sen Rahmens durchaus Spielraum für Eigeninitiative. hochgradig gefährdeten Symbolen geworden.
Die diplomatische Repräsentation fußt auf einer In einer polarisierten Welt dienen Diplomaten und
Zwei-Wege-Kommunikation und wechselseitiger Be- diplomatische Einrichtungen heute als soft targets für
einflussung. Unter Anwendung ihres diplomatischen Terroranschläge. Von allen zwischen 1969 und 2009
Talents in der Interaktion mit ihrem eigenen Außen- gegen die Vereinigten Staaten (USA) verübten Terror-
ministerium nehmen Diplomaten Einfluss auf die anschlägen richteten sich 28 Prozent direkt gegen
Anweisungen, die ihnen erteilt werden, was ihnen diplomatisches Personal. Allein im Jahr 2012 gab es
eine beträchtliche Handlungsfreiheit verschafft. 95 Angriffe auf diplomatische Einrichtungen, davon
Kurz gesagt gehen die Vertretung anderer und das über ein Drittel auf UN-Personal.4 Infolgedessen ist
Handeln im Auftrag anderer konstant mit Dilemmata die Sicherheit von Botschaften zu einem vordring-
und Problemen in Bezug auf die symbolische Rolle lichen Anliegen avanciert. Einige der heutigen Bot-
von Diplomaten und dem Balanceakt zwischen den schaften wirken mit Stacheldrahtzaun und hohen
Extremen des imperativen und freien Mandats ein- fensterlosen Mauern wie Festungen oder Gefängnisse.
her. Aber gibt es auch spezifische Probleme, die sich Videoüberwachung, Personenschleusen, Metalldetek-
konkret auf die diplomatische Repräsentation im toren und aufprallsichere Barrieren sind nur einige
21. Jahrhundert beziehen? Im Folgenden werde ich Beispiele für Sicherheitsvorkehrungen für Botschaf-
einige Veränderungen und Tendenzen herausarbeiten ten und Konsulate. Ein altgedienter US-Diplomat
und Fragen über die damit einhergehenden Auswir- spricht von einer »schleichenden Militarisierung«,
kungen aufwerfen. Hinsichtlich der symbolischen da die Sicherheit von Botschaften heute von mili-
Repräsentation werde ich zum einen den Wandel von tärischen Prioritäten und Anforderungen bestimmt
Immunität zu Angreifbarkeit erörtern und zum ande- werde.5 Die Verbindung zum Militär spiegelt sich
ren der Frage nachgehen, ob Diplomaten die Gesell- auch in der Tatsache wider, dass Botschaften und
schaft widerspiegeln sollten, die sie repräsentieren. Diplomaten von Staaten und Regierungen, die gerade
Des Weiteren werde ich drei miteinander zusammen- in militärische Operationen verwickelt sind, beson-
hängende Fragen zur Prinzipal-Agenten-Beziehung ders gefährdet sind.
und zum diplomatischen Verhalten diskutieren: Das wirft die Frage auf, ob Schutz und Sicherheit
Welche wichtigen Unterschiede gibt es zwischen der von Diplomaten – beides über Jahrhunderte Marken-
Repräsentation eines demokratischen und der eines zeichen der Diplomatie – nicht auch durch nicht-
autoritär regierten Staates? Wie können Diplomaten militarisierte Herangehensweisen wiederhergestellt
gespaltene Gesellschaften repräsentieren? Und welche werden könnten. Die Tendenz in Richtung zuneh-
Probleme werden mit der Repräsentation eines popu- mender Unsicherheit und Gefährdung beeinträchtigt
listischen Regimes assoziiert? nicht nur die diplomatische Arbeit, sondern erschwert
auch die Rekrutierung von qualifiziertem Personal.
Von der Immunität zur Angreifbarkeit

Der Umstand, dass sie ehrwürdige Prinzipale reprä-


sentierten – von mächtigen Monarchen zu etablier- 4 Muhammad-Basheer A. Ismail, Islamic Law and Transnational
ten Staaten –, garantierte den Diplomaten jahr- Diplomatic Law, New York: Palgrave Macmillan, 2016, S. 139.
5 James L. Bullock, »Keeping Embassy Security in Perspec-
hundertelang einen geschützten und privilegierten
tive«, in: The Foreign Service Journal, 92 (Mai 2015) 4, S. 33–38,
Status. Während die traditionellen Regeln der diplo-
<http://www.afsa.org/keeping-embassy-security-perspective>
matischen Immunität und die Privilegien in den
(eingesehen am 25.3.2018).

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Christer Jönsson

Spiegel der Gesellschaft tische Einrichtungen immer noch durch männliche


Dominanz, ein homogenes soziales Umfeld und eine
Repräsentation lässt sich auch in einem anderen, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aus.6
wörtlicheren Sinn verstehen. Inwieweit sollten Diplo-
maten die soziale und ethnische Zusammensetzung Demokratisch versus autoritär regierte
der Gesellschaft widerspiegeln, die sie repräsentieren? Staaten als Auftraggeber
Seit Beginn der schriftlichen Überlieferung haben
diplomatische Gesandte eher einzelne Herrscher als In Abhängigkeit vom Prinzipal ändert sich auch
ganze Gemeinwesen repräsentiert und kamen nicht die Art und Weise der Repräsentation. Es macht ins-
einmal notwendigerweise aus demselben Land wie besondere einen Unterschied, ob der diplomatische
ihre Prinzipale. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein Vertreter von einem einzelnen Prinzipal Anweisun-
waren Diplomaten in der Regel Aristokraten, die pro- gen erhält oder von einem Gemeinwesen. Die Prin-
blemlos von einem monarchischen Arbeitgeber zum zipal-Agenten-Theorie richtet ihre Aufmerksamkeit
anderen wechseln konnten. Die Idee, dass Diploma- auf die Probleme im Zusammenhang mit einem Auf-
ten ein genaues Abbild oder typisch für die Gesell- traggeber-Kollektiv oder mehreren Prinzipalen, vor
schaft sein sollten, die sie repräsentieren, ist relativ allem mit Blick auf die zunehmende Autonomie, die
neu. Mit zunehmender Migration werden viele – Agenten möglicherweise aufgrund rivalisierender
wenn nicht gar die meisten – Staaten im Laufe des Präferenzen unter den Prinzipalen genießen könnten.
21. Jahrhunderts multiethnisch und multikulturell Die eindeutigen Anweisungen eines einzelnen Sou-
geprägt sein. In Ländern mit erheblicher Zuwande- veräns in früheren Zeiten ließen den Diplomaten
rung, wie beispielsweise Schweden, haben Regierun- weniger Handlungsspielraum als die häufig vagen
gen kürzlich Anstrengungen unternommen, die Ein- Instruktionen, die sich in heutigen Demokratien aus
stellungsstrategien zu verändern, damit das diploma- Verhandlungen zwischen verschiedenen Akteuren
tische Korps den multiethnischen Charakter dieser und Behörden ergeben. In demokratischen Staaten
Gesellschaften besser wiedergibt. stehen die Diplomaten also am Ende vieler Ketten
Der übliche Einwand gegen Maßnahmen, die von Prinzipalen und Agenten, während Diplomaten,
diesen Aspekt der Repräsentation garantieren sollen, die gegenwärtig autoritär regierte Staaten mit einem
lautet, dass Diplomaten die Politik und Werte eines eindeutig erkennbaren Prinzipal repräsentieren,
Staates repräsentieren sollen und nicht die soziale restriktivere Mandate erhalten.
oder ethnische Zusammensetzung der Gesellschaft,
aus der sie kommen. Es muss jedoch die Frage gestellt Die unterschiedlichen Parameter
werden, wie wichtig der symbolische Wert einer diplomatischer Repräsentation von
genauen Spiegelung ihrer Gesellschaft in der Wahr- Demokratien und Autokratien und
nehmung relevanter Zielgruppen ist. Eine andere deren Konsequenzen sollten genauer
Überlegung ist, inwieweit es in diplomatischen Ver- untersucht werden.
handlungen von Nutzen sein kann, wenn Individuen
mit multikulturellem Hintergrund und Verständnis Die zahlenmäßige Verschiebung zwischen demo-
diese Verhandlungen mit dem entsprechenden kratischen und autoritär regierten Staaten im 21. Jahr-
Gegenüber führen. Könnten beispielsweise Diplo- hundert steht im Widerspruch zu den optimistischen
maten, die aus der muslimischen Bevölkerungs- Vorhersagen eines endgültigen Siegs liberaler Demo-
gruppe in Deutschland oder Schweden angeworben kratien, die nach dem Ende des Kalten Kriegs getrof-
wurden, eine konstruktive Rolle in Verhandlungen fen wurden. Das sollte uns veranlassen, die unter-
mit arabischen Ländern spielen? schiedlichen Parameter diplomatischer Repräsenta-
Ein weiterer Aspekt in der Repräsentationsdebatte tion von Demokratien und Autokratien und die sich
ist die Geschlechterfrage. In vielen diplomatischen daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen
Einrichtungen in aller Welt gibt es Bestrebungen, die genauer zu untersuchen. Ob beispielsweise Verein-
offiziellen und inoffiziellen Barrieren zu beseitigen barungen demokratisch durch zivilisierte Diskussion
und für eine Geschlechterparität zu sorgen – ein
Bestreben, das sicherlich noch das gesamte 21. Jahr- 6 Siehe Karin Aggestam/Ann E. Towns (Hg.), Gendering Diplo-
hundert durchziehen wird. Trotz positiver Entwick- macy and International Negotiation, Basingstoke: Palgrave Mac-
lungen in den letzten Jahren zeichnen sich diploma- millan, 2018.

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Diplomatische Repräsentation: Staaten und andere Akteure

zustande gekommen oder durch Diktat erzwungen demokratische Repräsentation ein Problem dar. Die
worden sind, hat auch Auswirkungen auf die Diplo- Populisten beanspruchen für sich, »das wahre Volk«
matie. Eine neue Facette in der Diplomatie des bzw. »die schweigende Mehrheit« zu vertreten. Im
21. Jahrhunderts ist die Nutzung digitaler Plattformen Umkehrschluss würde das bedeuten, dass diejenigen,
zur Informationskriegsführung durch Autokratien. die nicht die von den Populisten verkündeten Ansich-
Gleichzeit bietet die digitale Diplomatie demokra- ten und Ideen »des Volkes« teilen, keine legitimen
tischen Staaten ein effektives Instrument, um die Mitglieder der Gesellschaft sind. Populismus ist sei-
kontrollierten Medien in autoritär regierten Staaten nem Wesen nach antipluralistisch, was im Wider-
zu umgehen.7 spruch zur Formel des Zusammenlebens steht, auf
der Demokratie und Diplomatie beruhen: »Leben
Die Repräsentation gespaltener und leben lassen.«
Gesellschaften Eine kontroverse Vorstellung von demokratischer
Repräsentation auf innenpolitischer Ebene mündet in
Ein Sonderfall von Repräsentationsdilemmata im ein externes Problem diplomatischer Repräsentation.
21. Jahrhundert tritt in gespaltenen Gesellschaften Unter Ausnutzung eines zunehmenden Misstrauens
auf. Zwei hervorstechende Beispiele sind Großbritan- und wachsenden Argwohns in der Wählerschaft rich-
nien nach dem Brexit-Referendum und die USA nach ten sich führende Populisten gegen unbestimmte und
der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten. Diese undefinierte Kräfte wie »das Establishment« oder
Länder sind politisch in zwei etwa gleich große Hälf- »Experten«, die angeblich das demokratische System
ten geteilt, die gegensätzliche Sichtweisen zu Fragen unterminiert haben. Neben Journalisten gehören in
vertreten, mit denen Diplomaten zu tun haben. Auf der Regel auch Diplomaten in diese Kategorie. Dass
der einen Seite scheint dies die Handlungsfreiheit von Fremdenfeindlichkeit häufig eine Komponente des
Diplomaten zu vergrößern. Aber auf der anderen Seite Populismus ist, macht die Situation für Diplomaten
erschwert das Fehlen von entschiedenen und konse- nicht leichter. Das wirft die Frage auf, wie man einen
quenten politischen Linien, Standpunkten und An- Prinzipal repräsentieren kann, der einem misstraut.
weisungen den Diplomaten das Leben ganz erheblich. Ein typisches Beispiel dafür ist die USA unter Trump.
Das Fehlen eines verbindlichen Konsenses kann in Der Präsident hat öffentlich sein mangelndes Ver-
internationalen Verhandlungen eine ernsthafte Belas- trauen ins Außenministerium erklärt und will die
tung sein, da die andere Seite versuchen mag, die Ausgaben für dieses Ministerium erheblich kürzen.
internen Auseinandersetzungen und gegensätzlichen Zudem wurden zahlreiche Ernennungen von Bot-
Standpunkte auszunutzen. Eine häufige und aus dem schaftern verschoben, darunter in Ländern wie
Kalten Krieg wohlbekannte Dynamik läuft darauf Mexiko, Saudi-Arabien und der Türkei. Unter den
hinaus, dass Hardliner auf beiden Seiten dazu neigen, US-Diplomaten breitet sich eine gewisse Verzweiflung
sich gegenseitig in ihren Positionen zu bestärken. aus, und viele haben sich entschlossen, den diplo-
Die Brexit-Verhandlungen werden einen bedeuten- matischen Dienst zu verlassen.
den Testfall dafür darstellen, ob die alten Muster Wie das aktuelle Beispiel veranschaulicht, hängt
sich auch unter den neuen Rahmenbedingungen des das Problem der Repräsentation populistischer Regime
21. Jahrhunderts noch halten. Hier trifft eine zutiefst eng mit dem Thema unterschiedlicher Interessen von
gespaltene Gesellschaft auf ein Bündnis aus vielen Prinzipal und Agent sowie mit der Schwierigkeit zu-
ungleichen Staaten – eine einzigartige Situation, die sammen, gespaltene Gesellschaften zu repräsentieren.
uns interessante Beobachtungen über die Repräsenta-
tion in der gegenwärtigen Welt erlauben wird.
Nicht-staatliche Repräsentation
Die Repräsentation populistischer Regime
Diplomatische Anerkennung ist das »Ticket für eine
Eine andere Schwierigkeit betrifft das Aufkommen generelle Zulassung auf die internationale Bühne«,8
populistischer Regime. Populismus stellt für die die Staaten oder staatenähnlichen Einheiten gewährt
wird, nicht aber anderen einflussreichen Organisatio-

7 Eytan Gilboa, »Digital Diplomacy«, in: Costas M. Constan-


tinou/Pauline Kerr/Paul Sharp (Hg.), The SAGE Handbook of 8 Stephen D. Krasner, Sovereignty: Organized Hypocrisy, Prin-
Diplomacy, London: Sage, 2016, S. 540–551 (542). ceton, NJ: Princeton University Press, 1999, S. 16.

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Christer Jönsson

nen wie multinationalen Konzernen oder Finanz- können. Zudem trägt die Rekrutierung von Diploma-
akteuren. Wird sich das staatenzentrierte Muster der ten aus den Mitgliedstaaten zur Heterogenität und
diplomatischen Anerkennung und Repräsentation im damit zu möglichen Spannungen bei. Ein anderer
21. Jahrhundert erhalten, oder gibt es Anzeichen für problematischer Aspekt der supranationalen euro-
mögliche Veränderungen? päischen Diplomatie hängt mit dem Fortbestehen der
Eine neuere bemerkenswerte Ausnahme vom traditionellen, nationalen diplomatischen Repräsen-
staatszentrierten Muster ist die Anerkennung der tation in den Mitgliedstaaten zusammen. Die EU als
Europäischen Union (EU) als diplomatische persona. diplomatische persona hat die traditionelle Diploma-
Das wirft die Frage auf, ob diese »supranationale tie in Europa nicht ersetzt, sondern ihr lediglich eine
Herausforderung« Vorbote für den Auftritt weiterer neue Ebene hinzugefügt. Einen Zusammenschluss
regionaler Organisationen auf der diplomatischen aus verschiedenen Staaten zu vertreten, die alle ihre
Bühne ist. Da immer mehr Städte den Anspruch jeweils eigene diplomatische Repräsentation haben,
erheben, auf der internationalen Bühne vertreten ist keine einfache Angelegenheit. Und es deutet auch
zu sein, könnte man auch von einer »subnationalen nichts darauf hin, dass neben der EU in absehbarer
Herausforderung« sprechen. Am wichtigsten ist aller- Zukunft anderen supranationalen Einheiten ein ähn-
dings die »transnationale Herausforderung« durch licher diplomatischer Status verliehen und eine ge-
Organisationen und Gruppierungen, die grenz- meinsame Vertretung gewährt wird.
übergreifend arbeiten, aber nicht von Regierungen
kontrolliert werden. Subnationale Repräsentation

Supranationale Repräsentation Traditionelle Diplomatie setzt eine zentralisierte


Kontrolle der Interaktion über Staatsgrenzen hinweg
Die EU ist in der heutigen Welt das Paradebeispiel für voraus. Regionen und Städte sind daher nicht als
einen supranationalen Akteur. Mit dem Inkrafttreten diplomatische personae mit eigener Repräsentation
des Vertrags von Lissabon im Dezember 2009 erhielt anerkannt. Und das gilt auch für Bundesländer oder
die EU als Ganze, und nicht nur die Kommission, Bundesstaaten in föderativen Staaten. Allerdings
den Status einer diplomatischen persona. Die »Außen- werden subnationale Einheiten immer aktiver. Für
ministerin« der EU, die Hohe Vertreterin der EU deren grenzübergreifende Aktivitäten werden gele-
für Außen- und Sicherheitspolitik, wird vom Euro- gentlich die Begriffe »Mikrodiplomatie« und »Para-
päischen Auswärtigen Dienst (EAD) unterstützt. Der diplomatie« verwendet.
Rekrutierungsprozess war nicht ganz unproblema- Heute sprechen einige Autoren von einer Wieder-
tisch. Im Januar 2011 wurden rund 1600 Mitarbeiter geburt der Städte als internationale Akteure.10 Die
und Mitarbeiterinnen aus der Kommission und dem »Regierungen großer Städte und Ballungszentren
Ratssekretariat zum EAD versetzt. Weiteres Personal beteiligen sich immer häufiger direkt an diploma-
wurde unter den Diplomaten der Mitgliedstaaten tischen Aktivitäten, eröffnen Repräsentanzen in
rekrutiert. Die Repräsentationsfunktion der EU-Dele- ausländischen Hauptstädten oder anderen großen
gationen ist bereits etabliert, und die Diplomatinnen Weltstädten und schicken ihre Bürgermeister immer
und Diplomaten der EU übernehmen eine aktive häufiger auf ›Staatsbesuch‹ zu ihren ausländischen
Rolle im corps diplomatique vor Ort. Dennoch bleiben Amtskollegen.«11 Stadtregierungen betätigen sich
einige organisatorische Fragen zu klären.9 immer öfter auf der internationalen Bühne und erhal-
Einige davon betreffen die Doppelfunktion, die ten auch immer häufiger Anerkennung für ihre Rolle.
der Dienst mit seiner Außenministerin teilt. Skeptiker Besondere Aufmerksamkeit wurde dem zunehmen-
fragen sich, wie die beiden Laufbahnen in der Kom- den Engagement von Lokalregierungen in friedlichen
mission und im Ratssekretariat verschmolzen werden Gegenden oder Ländern zur Unterstützung ihrer Pen-

9 Siehe Joachim A. Koops/Gjovalin Macaj (Hg.), The European 10 Siehe Janne E. Nijman, »Renaissance of the City as
Union as a Diplomatic Actor, Basingstoke: Palgrave Macmillan, Global Actor«, in: Gunther Hellmann/Andreas Fahrmeir/
2015; Petar Petrov/Karolina Pomorska/Sophie Vanhoonacker, Miloš Vec (Hg.), The Transformation of Foreign Policy, Oxford:
»The Emerging EU Diplomatic System: Opportunities and Oxford University Press, 2016, S. 209–241.
Challenges after ›Lisbon‹«, in: The Hague Journal of Diplomacy, 11 Geoffrey Allen Pigman, Contemporary Diplomacy, Cam-
7 (Januar 2012) 1, S. 1–9. bridge: Polity Press, 2010, S. 47.

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Diplomatische Repräsentation: Staaten und andere Akteure

dants in Problemregionen auf der ersten weltweiten NGOs hat sich inzwischen auch auf andere Teile des
Konferenz über Städtediplomatie 2008 in Den Haag UN-Systems übertragen. Nach und nach entsteht ein
zuteil.12 Die Stadtregierungen haben sich in der NGO Muster, wonach nur noch wenige oder gar keine UN-
United Cities and Local Governments zusammen- Organe für TNAs völlig verschlossen sind.14
geschlossen, die Beobachterstatus bei den Vereinten Staaten und internationale Institutionen beschäfti-
Nationen (UN) hat. gen TNAs als Politikexperten, Dienstleister, Kontroll-
Einen Sonderfall bildet die subnationale Ebene organe und Aktionärsvertreter. Eine Datensammlung
föderativer Staaten. US-Bundesstaaten von Kalifornien mit Informationen über den offiziellen Zugang von
über Florida und New York bis hin zu Massachusetts TNAs zu 298 Gremien fünfzig internationaler Organi-
haben Repräsentanzen in verschiedenen ausländi- sationen im Zeitraum 1950 bis 2010 zeigt, dass 1950
schen Hauptstädten. Gleiches gilt für kanadische Pro- kaum eine dieser Organisationen offen für TNAs war,
vinzen wie British Columbia, Quebec und Ontario. 2010 lag die Zahl bereits bei über 75 Prozent.15
Schottland, Wales, Katalonien und Bayern sind wei- Neben dem Zugang zu diplomatischen Foren kön-
tere Beispiele regionaler Repräsentanzen. Öffentliche nen TNAs auch über informelle Netzwerke diploma-
Diplomatie, das Aushandeln von Verträgen, trans- tisch tätig werden. Zu den berühmtesten Beispielen
nationale Partnerschaften und Beteiligung an multi- von Netzwerkarbeit zwischen Staaten, NGOs und
lateralen Organisationen und Netzwerken veran- internationalen Organisationen gehören die Prozesse,
schaulichen, wie sich föderale politische Einheiten die zum Abkommen über das Landminen-Verbot
diplomatisch betätigen.13 (Ottawa-Vertrag) von 1997 und zur Einrichtung des
Die diplomatische Repräsentation subnationaler Internationalen Strafgerichtshofs im Jahr 2002 führ-
Akteure ist zwar noch eher eine Randerscheinung, ten. Im Bereich einer globalen Gesundheitsordnung
aber aufgrund ihrer wichtigen Rolle in der Welt- ist die Stiftung von Bill und Melinda Gates als wich-
wirtschaft ist die Annahme nicht weit hergeholt, dass tige Akteurin in Erscheinung getreten. Und die hinter
sie auch in der Diplomatie des 21. Jahrhunderts an populären digitalen Plattformen steckenden Akteure
Bedeutung gewinnen wird. wie Google und Facebook haben über die Art und
Weise, wie sie unseren Zugang zu Informationen or-
Transnationale Repräsentation ganisieren, einen beträchtlichen politischen Einfluss.
Sie sind zwar bisher noch nicht aktiv an diplomati-
Angesichts der immer gewichtigeren Rolle von trans- schen Prozessen beteiligt, aber ihre zentrale Position
nationalen Akteuren (TNAs) aller Art – NGOs oder in der heutigen Welt wird sie zwangsläufig noch in
zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unterstützer- diesem Jahrhundert auch in den Bereich der Diploma-
netzwerken, Parteiverbänden, gemeinnützigen Stif- tie locken. Auf passive Weise wirken sich diese Platt-
tungen sowie multinationalen Konzernen – bean- formen ohnehin schon auf diplomatisches Handeln
spruchen diese Akteure die Vertretung in verschie- und das internationale Ansehen von Diplomaten aus.
denen diplomatischen Foren, was ihnen auch immer
häufiger gewährt wird. Beispielsweise haben heute Insgesamt lässt sich von einer
rund 3000 NGOs einen Beraterstatus beim Wirt- transnationalen Wende in der
schafts- und Sozialrat der UN (ECOSOC) – gegenüber Diplomatie sprechen.
gerade mal 41 im Jahr 1948. Die Offenheit gegenüber
Insgesamt könnte man von einer transnationalen
12 Alexandra Sizoo/Arne Musch, »City Diplomacy: The Role Wende in der Diplomatie sprechen. Erfahrene Diplo-
of Local Governments in Conflict Prevention, Peace-Building maten räumen ein, dass die traditionelle bilaterale
and Post-Conflict Reconstruction«, in: Arne Musch/Chris
van der Valk/Alexandra Sizoo/Kian Tajbakhsh (Hg.), City Diplo- 14 Vgl. Jonas Tallberg/Christer Jönsson, »Transnational
macy, Den Haag: VNG International, 2008, S. 7–25 (7), Actor Participation in International Institutions: Where,
<http://bibalex.org/baifa/Attachment/Documents/480503.pdf> Why, and with What Consequences?«, in: Christer Jönsson/
(eingesehen am 25.3.2018). Jonas Tallberg (Hg.), Transnational Actors in Global Governance,
13 Vgl. David Criekemans, »Regional Sub-State Diplomacy Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2010, S. 1–21.
from a Comparative Perspective: Quebec, Scotland, Bavaria, 15 Siehe Jonas Tallberg/Thomas Sommerer/Theresa Squa-
Catalonia, Wallonia and Flanders«, in: The Hague Journal of trito/Christer Jönsson, The Opening Up of International Organiza-
Diplomacy, 5 (Januar 2010) 1/2, S. 37–64; Pigman, Contem- tions: Transnational Access in Global Governance, Basingstoke:
porary Diplomacy [wie Fn. 11], S. 47. Palgrave Macmillan, 2010.

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Christer Jönsson

und multilaterale Diplomatie »nach und nach durch nen, die mit der Repräsentation gespaltener Staaten
transnationale Fragen ergänzt wurde, die mal zwischen und populistischer Regime einhergehen.
einzelnen Regierungen ausgehandelt werden und mal Was die nicht-staatliche Repräsentation betrifft,
nicht«.16 Eine Repräsentation durch TNAs ist jedoch wird es von der ungewissen Entwicklung der EU
problematisch. Auch wenn sie in der Regel behaup- abhängen, welche Bedeutung der supranationalen
ten, eine »globale Zivilgesellschaft« zu vertreten, Herausforderung in Zukunft zukommen wird. Wei-
so kommt doch ein überproportionaler Anteil von tere regionale diplomatische Akteure sind derzeit
ihnen aus Nordamerika oder Europa. »Mit Stand 2007 nicht in Sicht. Subnationale Repräsentation wird aller
stammten 66 Prozent der damals 3050 NGOs mit Wahrscheinlichkeit nach weiterhin eine untergeord-
Beraterstatus beim ECOSOC aus Nordamerika und nete Rolle spielen, es sei denn, die Staaten nehmen
Europa.«17 Dieses Ungleichgewicht mindert ganz ihre diplomatischen Aufgaben nicht mehr wahr. Bei-
erheblich die Legitimität ihres Anspruchs, die Unter- spielsweise hat der Ausstieg der USA aus dem Pariser
privilegierten zu vertreten und den Stimmlosen eine Klimaabkommen einzelne US-Bundesstaaten dazu
Stimme zu geben. Die entscheidende Frage ist, ob veranlasst, eine aktivere Rolle beim internationalen
TNAs aus der ärmeren Hälfte der Welt die Ressourcen Klimaschutz zu spielen. Die transnationale Heraus-
aufbringen werden, um im 21. Jahrhundert in inter- forderung hat dagegen transformatives Potenzial,
nationalen Foren vertreten zu sein. weil sie die exklusive grenzübergreifende Autorität
von Staaten unterminiert.
Repräsentation ist kurz gesagt am ehesten als Pro-
Schlussbemerkung zess und nicht als statische Beziehung zu verstehen. Es
ist ein Prozess wechselseitiger Interaktion zwischen
Repräsentation ist kein einfaches und statisches, son- Prinzipalen und Agenten.18 Der Begriff »plastische Kon-
dern ein komplexes und dynamisches Konzept. Ver- trolle«, den Karl Popper zur Beschreibung der Bezie-
änderungen bei den Parametern der diplomatischen hung zwischen zwei interagierenden und indetermi-
Repräsentation im 21. Jahrhundert erfordern von nierten Systemen einführte, könnte nach Ansicht
Praktikern wie Theoretikern Reflexion. In diesem Bei- einiger Autoren dazu beitragen, diese wechselseitige
trag habe ich auf einige, aber keineswegs alle aktuel- Beziehung zu verstehen – ein Vorschlag, der gleich-
len Probleme der Repräsentation hingewiesen. Dabei zeitig auf die Schwierigkeiten hinweist, Repräsenta-
habe ich Fragen aufgeworfen, aber keine Antworten tion mit präziseren Begriffen zu definieren.19
geliefert. Mir lag vor allem daran, dass in einer Dis-
kussion über die Entwicklung der Diplomatie im
21. Jahrhundert neben den dramatischeren Verände-
rungen durch die Informationstechnologie auch die
subtileren Verschiebungen angesprochen werden.
Als symbolische Repräsentanten von Staaten sind
die diplomatischen Vertreterinnen und Vertreter vor
allem mit zwei Herausforderungen konfrontiert:
Einerseits sind sie zunehmend gefährdet, andererseits
wird gefordert, dass sie ihre multiethnischen Gesell-
schaften widerspiegeln. Die hier diskutierte Schwie-
rigkeit, im Auftrag anderer zu handeln, hängt mit der
veränderten Eigenart der Prinzipale zusammen: dem
Unterschied zwischen demokratischen und autoritär
regierten Staaten sowie den spezifischen Komplikatio-

16 Keith Hamilton/Richard Langhorne, The Practice of Diplo-


macy: Its Evolution, Theory and Administration, 2. Aufl., London/
New York: Routledge, 2011, S. 267. 18 Sobolewski, »Electors and Representatives« [wie Fn. 3],
17 Charlotte Dany, Global Governance and NGO Participation: S. 106f.
Shaping the Information Society in the United Nations, London/New 19 J. Roland Pennock/John W. Chapman, »Preface«, in: dies.
York: Routledge, 2013, S. 8. (Hg.), Representation [wie Fn. 3], S. xiii–xv (xiv).

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Trends und Gegentrends in der digitalen Diplomatie

Corneliu Bjola

Trends und Gegentrends in der


digitalen Diplomatie*

Der faszinierendste und bemerkenswerteste Aspekt von besonderer Bedeutung. Der erste Megatrend fördert
technologischer Umwälzungen ist ihre gleicher- die Digitalisierung und wird von zwei Prozessen an-
maßen zerstörerische wie kreative Kraft. Durch die getrieben: zum einen vom schnellen Voranschreiten
Marginalisierung oder sogar Abschaffung bestimmter des technologischen Umbruchs und zum anderen von
Arbeitsweisen in spezifischen Tätigkeitsfeldern rufen dem entschlossenen Willen der Außenministerien,
neue Technologien einerseits ein weitverbreitetes in einem zunehmend von Wettbewerb geprägten
Abwehrverhalten hervor, einen gegen diese Techno- Umfeld erfolgreich zu arbeiten. Während das Telefon
logien gerichteten aktiven und andauernden Wider- 75 Jahre brauchte, bevor es weltweit auf 100 Millio-
stand. Andererseits bilden sie die Grundlage für neue nen Nutzer kam, benötigten Handys und deren popu-
wirtschaftliche und gesellschaftliche Chancen und lärste App Facebook nur 16 bzw. viereinhalb Jahre,
stimulieren dadurch neues Denken und innovative um diese Marke zu überschreiten.1 Der technolo-
Praktiken, die diese Technologien auf lange Sicht gische Fortschritt setzt daher die Außenministerien
stärken und erhalten. Inwieweit umwälzende Tech- erheblich unter Druck, ihre Kompetenzen zu ver-
nologien in der Gesellschaft verankert werden, hängt bessern, um das Potenzial digitaler Technologien
daher davon ab, wie sich die Balance zwischen den für ihre Arbeit zu verstehen und Strategien zu ent-
von ihnen ausgelösten Trends und Gegentrends letzt- wickeln, diese Technologien zu etablieren und auf
lich entwickelt. Diese Beobachtung könnte sich als die kurz- und langfristigen Ziele der Außenpolitik
besonders nützlich erweisen, wenn es darum geht, zuzuschneiden. Sollten die Außenministerien diesen
die Entwicklung digitaler Diplomatie und die Aus- Schritt nicht vollziehen, liefen sie möglicherweise
wirkungen der unlängst erfolgten Einführung digi- Gefahr, die Ergebnisse internationaler politischer
taler Technologien in Außenministerien zu verste- Prozesse nicht länger nennenswert beeinflussen zu
hen: Werden sich Gepflogenheiten und Arbeitsweisen können. Angesichts der immer schneller voranschrei-
der Diplomatie substanziell oder nur unwesentlich tenden technologischen Umwälzungen sollten die
verändern? Außenministerien vor allem drei Bereiche genauer
analysieren: den Kontext, den Ablauf und die Struk-
Die Organisationskultur des Außen- tur der digitalen Umgestaltung in der Diplomatie.
ministeriums kann maßgeblich
beeinflussen, ob das diplomatische
Personal digitale Technologien als Kontext: Von institutionell basierten hin
Bedrohung oder Bereicherung zu ökosystemischen Ansätzen
wahrnimmt.
Aus institutioneller Sicht bildet die Organisations-
Bei der Erkundung, welche Veränderungen digitale kultur des Außenministeriums eine kritische Schnitt-
Technologien für diplomatische Beziehungen mit sich stelle für die Digitalisierung und kann maßgeblich
bringen können, sind zwei gegensätzliche Megatrends

1 Ralf Dreischmeier/Karalee Close/Philippe Trichet, »The


* Eine spanische Übersetzung dieses Artikels ist erschienen Digital Imperative«, The Boston Consulting Group, 2.3.2015,
unter dem Titel »Diplomacia digital 2.0: tendencias y resis- <https://www.bcgperspectives.com/content/articles/digital_
tencias« in der Zeitschrift Revista Mexicana de Política Exterior, economy_technology_strategy_digital_imperative/> (eingese-
113 (Mai–August 2018), S. 35–52. hen am 18.7.2018).

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Corneliu Bjola

matie eine wichtige Rolle spielen oder die künstliche


Worin besteht der Unterschied zwischen Intelligenz bei Konsulatsdienstleistungen.
AR, VR und MR? Wie Sandre feststellt, hat die Zukunft tatsächlich
schon begonnen.3 So ließ das italienische Ministerium
Die erweiterte Realität (ER) fügt einem realen Livebild
für auswärtige Angelegenheiten und internationale
digitale Elemente hinzu, häufig mittels einer Smart-
Zusammenarbeit im Mai 2016 verlauten, dass es sich
phone-Kamera. Beispiele für die erweiterte Realität sind
die Snapchat-Brille und das Pokémon-Go-Spiel. Virtuelle dem Google Art & Culture Project angeschlossen habe
Realität (VR) bedeutet ein komplettes Eintauchen in eine – einer von Google entwickelten Online-Plattform
andere Realität unter Aussperrung der physischen Welt. zur Förderung und zum Schutz von Kulturgütern –
Mit VR-Geräten wie HTC Vive, Oculus Rift oder Google und seine Kunstsammlung von 176 Werken virtuell
Cardboard kann sich der Nutzer in eine Reihe realis- ausstellen werde.4 Im Juli 2016 organisierte das
tischer und phantastischer Umgebungen versetzen lassen, zur Nato gehörende Euroatlantische Koordinierungs-
beispielsweise mitten in eine piepsende Pinguinkolonie zentrum für Katastrophenhilfe (EADRCC) in Zusam-
oder sogar auf den Rücken eines Drachens. menarbeit mit Rumänien und mit Unterstützung von
Bei der Gemischten Realität (GR), in der ER- und VR-
Nato-Strukturen, die für Gesundheit und Ernährung
Elemente kombiniert werden, interagieren die reale Welt
(JHAFG) und Zivilschutz (CPG) zuständig sind, eine
und digitale Objekte miteinander. Diese Technologie
Katastrophenschutzübung, bei der mithilfe von VR
steht noch ganz am Anfang; die HoloLens von Microsoft
eine Notsituation größeren Ausmaßes mit vielen
ist eines der bekannteren ersten GR-Geräte.
Opfern und der Evakuierung einer großen Zahl von
Quelle: siehe https://www.fi.edu/difference-between-ar-vr- Menschen simuliert wurde.5 Die erweiterte Realität
and-mr setzt sich in der Öffentlichkeit etwas langsamer durch
als die VR, aber diese Technologie entwickelt sich
ebenfalls rasant6 und dürfte relativ schnell in der
beeinflussen, ob das diplomatische Personal digitale Lage sein, kontinuierlich neue Apps zu generieren,
Technologien als Bedrohung oder Bereicherung seiner auch für den diplomatischen Bereich.
Arbeit wahrnimmt.2 Da jedoch Erfolg oder Misserfolg
technischer Neuerungen auch von der Beschaffenheit Ob die zweite Welle des techno-
des sie stützenden weitergefassten Ökosystems ab- logischen Umbruchs Erfolg hat, wird
hängig sind, müssten Außenministerien auch den entscheidend von der Verlässlichkeit
technologischen Kontext, in dem sie operieren, besser des Ökosystems abhängen.
verstehen, um zu erkennen, welchen digitalen Trends
sie folgen und welche sie ignorieren sollten. Die 3G- Immersive ER-Systeme könnten sich beispielsweise
Mobiltechnologie ermöglichte beispielsweise die Ent- für ausgesprochen interaktive Kampagnen öffent-
wicklung und Verbreitung der Social-Media-Netz- licher Diplomatie oder für individuell zugeschnittene
werke. Die 5G-Technologie, die in nur wenigen Jah- Konsulatsdienstleistungen als nützlich erweisen, mög-
ren verfügbar sein soll, wird den technologischen licherweise in Kombination mit der iBeacon-Techno-
Umbruch höchstwahrscheinlich auf eine ganz neue
Ebene heben, was zur massenhaften Einführung
einer breiten Palette technischer Hilfsmittel führen
3 Andreas Sandre, »2016 in Review: Virtual Reality for
mag, die für die Diplomatie von großer Relevanz Digital Diplomacy«, Digital Diplomacy, 2016, <https://medium.
wären: Virtuelle (VR) und Erweiterte Realität (ER) com/digital-diplomacy/2016-in-review-virtual-reality-for-
beispielsweise könnten in der öffentlichen Diplo- digital-diplomacy-b461ac2ff16> (eingesehen am 4.9.2017).
4 Italian Ministry of Foreign Affairs, »Collezione Farne-
sina«, 2016, <https://www.google.com/culturalinstitute/beta/
partner/ministero-affari-esteri> (eingesehen am 4.9.2017).
2 Corneliu Bjola, Adapting Diplomacy to the Digital Age: Manag- 5 »Romania Hosts NATO Exercise in a Virtual World«, Nato
ing the Organisational Culture of Ministries of Foreign Affairs, Ber- 2016, <https://www.youtube.com/watch?v=dZ3S4OpKlFs&
lin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2017 (Working feature=youtu.be> (eingesehen am 3.9.2017).
st
Paper, Project »Diplomacy in the 21 Century«), <https:// 6 Tim Perdue, »Applications of Augmented Reality«, in: Life-
www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/arbeits wire, aktualisiert am 20.6.2018, <https://www.lifewire.com/
papiere/WP_Diplomacy21_No9_Corneliu_Bjola_01.pdf> applications-of-augmented-reality-2495561> (eingesehen am
(eingesehen am 22.6.2017). 18.7.2018).

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Trends und Gegentrends in der digitalen Diplomatie

logie.7 Auch künstliche Intelligenz (KI) spielt in Kon- Anschluss an technische Neuerungen hin zu deren
sulatsangelegenheiten eine immer größere Rolle. Antizipation und möglicherweise der Setzung neuer
Am unteren Ende der Komplexitätsskala assistieren Trends. Durch ihr Reagieren auf den Aufstieg der
Chatbots inzwischen bei Visumanträgen, bei Rechts- sozialen Medien haben es die Außenministerien bei-
beistand für Flüchtlinge und bei konsularischen spielsweise geschafft, sich den Einfluss dieser Werk-
Meldeangelegenheiten.8 Ausgeklügelte Algorithmen zeuge zunutze zu machen, um ihre Rolle in der
werden von Außenministerien gegenwärtig für die öffentlichen Diplomatie und der Krisenkommunika-
Verbreitung positiver Narrative oder die Verhinde- tion sowie ihr Engagement für Diasporagruppen
rung von Online-Desinformation und -Propaganda auszubauen. Durch die Vorwegnahme neuer Trends
entwickelt.9 Kurzum: Die zweite Welle des techno- wären sie in einem zunehmend leistungsorientierten
logischen Umbruchs ist bereits im Gange, aber ihr digitalen Umfeld indes noch handlungsfähiger und in
Erfolg wird entscheidend von der Verlässlichkeit des der Lage, Regeln und Normen für die digitale Praxis
Ökosystems abhängen, in dem die diplomatischen aufzustellen, bevor andere dies tun. Auch das Setzen
Vertretungen operieren. Dazu gehören die Verfüg- neuer Trends könnte sich als hilfreich erweisen, denn
barkeit superschneller Breitbandverbindungen, eine der Vorteil, »Erstanbieter« zu sein, vermag ihnen als
klare strategische Vision, eine hohe Nachfrage nach Digitalpionieren zusätzliche Anerkennung und grö-
digitalen Diensten, Kosteneffektivität und qualifizier- ßeren Einfluss zu verschaffen und als Führenden und
tes Personal. Neuerern im diplomatischen Bereich mehr Glaub-
würdigkeit als soft power zu verleihen.
Der Weg zur Pro-Aktivität ließe sich horizontal
Ablauf: Von Re-Aktion zu Pro-Aktion entwickeln, indem erfolgreiche digitale Praktiken von
einem diplomatischen Bereich auf andere übertragen
Um mit der technischen Entwicklung Schritt zu werden (wenn beispielsweise das Krisenmanagement
halten oder ihr sogar einen Schritt voraus zu sein, von der öffentlichen Diplomatie Techniken des digi-
muss ein Umdenkungsprozess stattfinden: vom talen Zuhörens übernähme), oder vertikal, indem der
Eingabe-Ausgabe-Wert digitaler Technologien maxi-
miert wird (etwa durch die effektivere Nutzung gro-
7 Beacons sind Schaltflächen oder Links zur natürlichen
Welt: Genauso wie Schaltflächen für Webseiten das wich-
ßer Datenmengen mittels prognostischer Analysen
tigste Mittel für die Interaktion mit Nutzern sind, werden und Algorithmen). So konnte beispielsweise das von
Beacons von Apps genutzt, um Ereignisse auszulösen oder der Intelligence Advanced Research Projects Activity
zu Aktionen aufzufordern, was es den Nutzern ermöglicht, (IARPA) finanzierte Embers-Projekt durch die Gewin-
mit digitalen oder natürlichen Dingen zu interagieren, bei- nung frei zugänglicher Daten aus sozialen Netz-
spielweise mit Türschlössern, Sonderangeboten, Automati- werken, Satellitenbildern und Blogs seit 2012 sehr
sierungssystemen oder einfachen Benachrichtigungen. Zu genaue Vorhersagen zu den Fallzahlen grippe-
Einzelheiten über Beacons siehe »What Is iBeacon?«, 2016, ähnlicher Erkrankungen, zu Ausbrüchen seltener
<http://www.beaconsandwich.com/what-is-ibeacon.html> Krankheiten, Bürgerunruhen, innenpolitischen Kri-
(eingesehen am 1.9.2017).
sen und Wahlausgängen treffen.10 Die Analyse von
8 »Immigration Attorney 2.0«, Visabot 2016, <https://
Big Data könnte für diplomatische Vertretungen
visabot.co> (eingesehen am 1.6.2017); Elena Cresci, »Chatbot
somit zum unverzichtbaren Hilfsmittel werden, in
That Overturned 160,000 Parking Fines Now Helping Refu-
gees Claim Asylum«, in: The Guardian, 6.3.2017, <https://
Echtzeit einen umfassenden, fundierten und verläss-
www.theguardian.com/technology/2017/mar/06/chatbot- lichen Einblick in die lokalen Gegebenheiten ihres
donotpay-refugees-claim-asylum-legal-aid> (eingesehen am jeweiligen Einsatzortes zu erhalten, was sie wiederum
7.9.2017); »Most Singaporeans Do Not E-register before Tra- in die Lage versetzen würde, ihren bilateralen diplo-
velling«, Channel New Asia, 3.3.2017, <http://www.channel matischen Ansatz zu verfeinern und auf die aktuelle
newsasia.com/news/singapore/most-singaporeans-do-not-e- Situation abzustimmen.
register-before-travelling-mfa-8775352> (eingesehen am
6.9.2017).
9 Simon Cocking, »Using Algorithms to Achieve Digital
Diplomacy«, Irish Tech News, 19.9.2016, <http://irishtech
news.ie/using-algorithms-to-achieve-digital-diplomacy-a- 10 »Embers«, Discovery Analytics Center an der Virginia
conversation-with-elad-ratson-director-of-rd-at-ministry-of- Tech, 2016, <http://dac.cs.vt.edu/research-project/embers/>
foreign-affairs/> (eingesehen am 8.9.2017). (eingesehen am 9.9.2017).

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Corneliu Bjola

Struktur: Von der Zentralisierung zum Diplomatische Vertretungen bei internationalen


»Netzwerk der Netzwerke« Organisationen würden beispielsweise von engen
Kooperationen profitieren, die das Potenzial digitaler
Ein engmaschiges digitales Netz mit einem hohen Technologien in multilateralen Zusammenhängen
Grad an technologischer Innovation bevorzugt und erkunden und erproben. Ebenso könnten sich Bot-
belohnt Kreativität und Experimentierfreudigkeit schaften und Konsulate in konfliktträchtigen Regionen
statt Hierarchien und festgelegte Verfahrensweisen. über Erfahrungen und bewährte Vorgehensweisen
Um technologischen Herausforderungen wirkungs- beim Einsatz digitaler Technologien in Krisensituatio-
voller begegnen zu können, müssten Außenminis- nen austauschen. Die dritte Ebene ist technologie- und
terien demzufolge die Beschränkungen der institu- praxisorientiert und darum bemüht, die digitale Er-
tionellen Zentralisierung lockern und stattdessen neuerung und die Verbreitung bewährter digitaler
Formen und Modi digitaler Interaktion fördern, die diplomatischer Vorgehensweisen voranzutreiben.
auf das spezifische Profil der sie konstituierenden Digitale Wegbereiter, die in Botschaften tätig sind,
diplomatischen Netzwerke zugeschnitten sind. Wie Wissenschaftler, die digitale Praktiken der Diplomatie
die Autoren des »Future of Diplomacy Report« fest- erforschen, und private IT-Firmen sind höchstwahr-
stellen, verändert sich das Wesen des nationalen scheinlich die Knotenpunkte dieses Netzwerks. Die
diplomatischen Umfelds von einem System, in dem drei Ebenen des DDS sind flexibel strukturiert. Ihre
das Außenministerium eine Vorrangstellung hatte, Aufgabenbereiche kollidieren oder kreuzen sich viel-
zu einem System, in dem dieses Ministerium in ein leicht hier und da, aber sie können in den Außen-
größeres Gefüge eingebunden ist: das Nationale ministerien für einen dringend notwendigen Kreativi-
Diplomatiesystem (NDS). Dieses besteht aus einem tätsschub, vorwärtsgewandtes Denken und Ambi-
komplexen Netz von Regierungs- und Nichtregie- tionen in Bezug auf Ziele und Strategien digitaler
rungsorganisationen (NGO), welche die internatio- Diplomatie sorgen, und zwar auf eine Weise, die
nalen politischen Ziele eines Landes prägen und keine grundsätzliche Neuordnung der institutionel-
beeinflussen.11 Auf diesem Verständnis aufbauend len Struktur erfordert.
könnte man argumentieren, dass sich die digitale Der zweite Megatrend weist in die entgegengesetzte
Architektur der Außenministerien am besten mit Richtung und befördert den Widerstand gegen den
dem Konzept des Digitalen Diplomatiesystems (DDS) Einsatz digitaler Technologien. Anders als im zuvor
erfassen ließe. Damit ist das »Netzwerk der Netzwer- beschriebenen Fall, wo Außenministerien fürchten,
ke« gemeint, das Botschaften, Konsulate, Denkfabri- Möglichkeiten zu verpassen, die sich durch techno-
ken, privatwirtschaftliche Unternehmen, internatio- logische Durchbrüche eröffnen, wirft dieser Gegen-
nale Organisationen und zivilgesellschaftliche Grup- entwurf die Frage auf, ob der Preis für die Digitalisie-
pierungen umfasst, die das digitale diplomatische rung nicht höher sei als ihr Nutzen. Paradoxerweise
Profil eines Landes mitbestimmen und mitgestalten. könnte der Erfolg der Digitalisierung einen starken
Das DDS besteht aus drei Hauptebenen. Die erste Gegentrend zu den Bestrebungen von Außenminis-
Ebene ist nachfrageorientiert und verbindet institutio- terien auslösen, digitale Technologien weiter in ihre
nelle Akteure, Gruppen und Stakeholder, die un- Arbeit zu integrieren und zu institutionalisieren.
mittelbar von digitalen Diplomatieprogrammen profi- Emotionale Ansteckung, algorithmischer Determinis-
tieren. Dazu können Diasporagruppen zählen, die mus und strategische Entropie sind drei Formen, in
gute digitale Konsulatsdienste benötigen, Botschaften, denen sich dieser Gegentrend am ehesten manifestie-
die an kritischen Orten vor diplomatischen Heraus- ren wird.
forderungen stehen, sowie Denkfabriken, die Außen-
ministerien in digitalen Angelegenheiten beraten.
Die zweite Ebene ist funktional und aufgabenorientiert. Post-Wahrheit: Von faktenbasiertem Den-
ken zur Kommodifizierung von Gefühlen
11 Brian Hocking/Jan Melissen/Shaun Riordan/Paul Sharp,
st
Futures for Diplomacy: Integrative Diplomacy for the 21 Century, Die diplomatische Tätigkeit erfordert ein Mindest-
Den Haag: Netherlands Institute of International Relations maß an gemeinsamem Verständnis und gegenseitiger
»Clingendael«, 2012, S. 53, <https://www.clingendael.org/ Offenheit. Die Chancen darauf können sich verrin-
sites/default/files/pdfs/20121030_research_melissen.pdf> gern, wenn der meinungsbildende Online-Diskurs
(eingesehen am 3.5.2018). übermäßig mit Emotionen befrachtet ist und Fakten

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Trends und Gegentrends in der digitalen Diplomatie

nur eine untergeordnete oder marginale Rolle spie- 1. Emotionen akkurat wahrzunehmen und zu
len. Die Kommodifizierung von Gefühlen – die erleben,
gezielte Verstärkung emotionaler Inhalte im Online- 2. emotionale Informationen zu nutzen, um
Diskurs – ist zu einer üblichen Form der Mitwirkung Gedanken und Handlungen zu erleichtern,
auf Social-Media-Plattformen geworden, da sie es digi- 3. Bedeutung und Relevanz von Emotionen zu
talen Influencern erleichtert, Rahmen und Richtung verstehen,
der Online-Diskussion zu kontrollieren. Beiträge, die 4. mit Emotionen bei sich selbst und anderen
heftige Emotionen auslösen, ganz gleich, ob positive umzugehen.15
oder negative, haben ein größeres virales Potenzial als Die DEI kann die Bildung von Echokammern oder
jene, die nur in geringen Umfang Emotionen bedie- die Verbreitung digitaler Propaganda nicht verhin-
nen.12 Gleichzeitig kann die emotionale Valenz – der dern, aber Nutzern sozialer Medien helfen, besser
Grad an Positivität oder Negativität einer Emotion – damit zurechtzukommen. So kann die DEI digitalen
durch übermäßige Präsenz die gewünschten Reaktio- Nutzern beispielsweise beibringen, besser zwischen
nen beim Publikum auslösen.13 Die Kommodifizie- echten und falschen Emotionen zu unterscheiden,
rung von Gefühlen wirkt sich aus zwei Gründen ihnen ein tieferes Verständnis dafür vermitteln, wie
negativ auf die digitale Diplomatie aus. Zum einen Emotionen ihr Denken beeinflussen, sie befähigen,
ermöglicht sie die Entstehung von Echokammern, die Ursprünge und Auswirkungen ihrer Emotionen
wodurch die Außenministerien und Botschaften zu erkennen und den Grad ihrer Distanz oder Nähe
letztlich nur noch die ihnen wohlgesinnten Follower zu einem emotionalen Auslöser in einer bestimmten
erreichen, aber niemanden außerhalb dieser sich Situation zu steuern. Durch genaues Beobachten, wie
selbst bestätigenden »digitalen Blase« von Gleich- echt und intensiv die Gefühle der Menschen in einer
gesinnten.14 Zum anderen fördert sie eine Kultur der bestimmten Online-Kommunikationssituation sind,
»Post-Wahrheit«, in der »Fake News« und Desinforma- lassen sich peinliche Momente mit potenziell stören-
tion florieren, was es digital agierenden Diplomaten den Auswirkungen auf bilaterale Beziehungen ver-
schwerer macht, ihren Anliegen Ausdruck zu ver- meiden. Kurz gesagt könnte die DEI das sorgfältige
leihen und auf ihr Publikum einzugehen oder sich digitale Navigieren durch emotionsgeladene Situatio-
gegen diffamierende Äußerungen zur Wehr zu setzen. nen erleichtern und die Konversation zurück auf
Aber da die Verbindung zwischen Emotionen und einen Weg führen, der von faktenbasierten Argumen-
sozialen Medien immer enger und komplexer wird, ten bestimmt ist. Daher sollten Außenministerien
lässt sich die Frage nicht länger ignorieren, wie sich und Regierungen in die Fortbildung ihres Personals
auf dem digitalen Parkett bewegende Diplomaten an investieren, um besser für die Navigation in diesem
eine emotional aufgeladene Form der sozialen Kom- digitalen Umfeld gerüstet zu sein.
munikation anpassen können. Das Konzept der Digi-
talen Emotionalen Intelligenz (DEI) könnte hier eine
Lösung bereithalten. Das von Salovey und Sluyter Automatisierung: Vom Beziehungsaufbau
entwickelte Konzept deckt vier verschiedene Dimen- zum Robotrolling
sionen ab, nämlich die Fähigkeiten:
Das Interesse der Außenministerien an digitalen
Technologien gründet sich in erster Linie auf deren
12 Neil Davidson, »What Are the Key Emotional Triggers
Potenzial, Online-Influencer zu erreichen und ver-
for Online Video?«, MWP Digital Media, 4.12.2013, <https:// schiedene Netzwerke aufzubauen, um mit den
mwpdigitalmedia.com/blog/key-emotional-triggers-online- unterschiedlichsten Personenkreisen in Kontakt zu
video/> (eingesehen am 18.7.2018). treten. Durch die Digitalisierung wurde die einst
13 Emilio Ferrara/Zeyao Yang, »Measuring Emotional Con- geheimnisvolle und exklusive Domäne der Elite zu
tagion in Social Media«, in: PLOS ONE, 10 (November 2015) einem Instrument für die Massen; Diplomaten sind
11, <http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/ gefordert, sich regelmäßig vor ihren einst verschlos-
journal.pone.0142390> (eingesehen am 18.7.2018). senen Türen umzusehen, und, vielleicht wichtiger
14 Corneliu Bjola, »Digital Diplomacy and the Bubble
Effect: The NATO Scenario«, Los Angeles: USC Center on Pub-
lic Diplomacy, 8.3.2016, <http://uscpublicdiplomacy.org/ 15 Peter Salovey/David J. Sluyter, Emotional Development and
blog/digital-diplomacy-and-bubble-effect-nato-scenario> (ein- Emotional Intelligence: Educational Implications, New York: Basic
gesehen am 17.6.2017). Books, 1997.

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33
Corneliu Bjola

noch: Sie müssen sich von den Bürgerinnen und leichter machen könnte, Bündnisse zu spalten und zu
Bürgern zum ersten Mal über die Schulter schauen demoralisieren, indem sie beispielsweise Misstrauen
lassen.16 Die Möglichkeit, Millionen Menschen un- zwischen Staaten sät, die auf der gleichen Seite ste-
mittelbar und in Echtzeit zu erreichen, stellt somit hen, und deren Nachrichtendienste diskreditiert.19
für die Außenministerien eine außergewöhnliche Diese Entwicklungen beziehen sich zwar vorwiegend
Gelegenheit dar, sich im digitalen Zeitalter neu zu auf nachrichtendienstliche und militärische Angele-
definieren, auch durch den Aufbau stabiler Bezie- genheiten, haben jedoch auch bedeutende Auswir-
hungen zu ausländischen Öffentlichkeiten. Diese kungen auf die Diplomatie, denn dieser Einsatz von
Fähigkeit könnte jedoch durch den zunehmenden KI ist primär auf die Zerstörung und nicht den Auf-
Einsatz von Algorithmen als Werkzeug der Konversa- bau politischer Institutionen und diplomatischer
tionsüberwachung, Themensetzung und Nachrich- Beziehungen ausgerichtet.
tenverbreitung auf eine harte Probe gestellt und
beeinträchtigt werden. Neuere Studien belegen, Digitale Diplomatie ist kein
dass bis zu 15 Prozent der Twitter-Konten nicht von Selbstzweck, sondern soll
Menschen, sondern von Bots betrieben werden, und außenpolitischen Zielen dienen.
dieser Anteil wird in Zukunft sicherlich noch stei-
gen.17 Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Robotrolling (also die Anwendung von Algorith-
sich die Chancen von Außenministerien und Bot- men zur Verbreitung und/oder Störung von Online-
schaften, sinnvolle Beziehungen mit Online-Öffent- Inhalten) gehört inzwischen zur digitalen Landschaft,
lichkeiten aufzubauen, drastisch verringern werden, und solange keine Regeln für die Aufhebung der
sobald die Zahl der mit künstlicher Intelligenz betrie- Anonymität von Nutzern sozialer Medien eingeführt
benen Accounts im Netz die der menschlichen Nutzer werden, bleibt dies wohl auch so. Digital arbeitende
übersteigt. Diplomaten können daher vielleicht nicht gänzlich
Aber nicht nur die Präsenz von Algorithmen kann verhindern, dass künstliche Intelligenz ihre Bemü-
die digitale diplomatische Interaktion behindern, hungen um Beziehungsaufbau untergräbt, aber sie
sondern auch der Zweck ihrer Verwendung. Interes- sind möglicherweise in der Lage, die negativen Aus-
santerweise zeigt sich die »dunkle Seite« der Digital- wirkungen zumindest teilweise einzudämmen. Bei-
technik (wie Desinformation, Propaganda und Infor- spielsweise sollten die »drei As« (Aktivität, Anonymi-
mationskrieg) als äußerst fruchtbarer Boden für die tät, Amplifikation) zur Entlarvung und Identifizie-
Verbreitung von Bots. So geht beispielsweise aus rung von Bots und Bot-Netzen20 in der Diplomatie
einem aktuellen Bericht des Nato-Exzellenzzentrums allgemein bekannt gemacht werden, um das Bewusst-
für strategische Kommunikation in Lettland hervor, sein für und den Widerstand gegen mögliche Mani-
dass bei der »Twitter-Konversation« über Nato-The- pulationsquellen zu stärken. Gleichzeitig stünden
men hauptsächlich Bots mit anderen Bots diskutie- Außenministerien ihrerseits KI-Hilfsmittel (wie der
ren, dass Bots Inhalte von Drittparteien verbreiten Google-Service »Perspective«) zur Verfügung, um ihre
und dass sie nach und nach immer glaubwürdigere begrenzten Mittel für die Erkennung und Filterung
Profile aufbauen.18 Es bestehen auch Befürchtungen, beleidigender, ihre Online-Diskussion störender Kom-
dass künstliche Intelligenz es Widersachern bald mentare zu erweitern.21 In gravierenderen Fällen,

16 Corneliu Bjola/Jennifer Cassidy, »Gone Digital: Digital 19 Tomáš Valášek, »How Artificial Intelligence Could
Diplomacy at the University of Oxford«, in: Border Crossing, Disrupt Alliances«, Carnegie Europe, 31.8.2017, <https://
1 (2015) 2, S. 10–12 (10). medium.com/@Carnegie_Europe/how-artificial-intelligence-
17 Michael Newberg, »As Many as 48 Million Twitter could-disrupt-alliances-9fdb98b4c11d> (eingesehen am
Accounts Aren’t People, Says Study«, CNBC, 10.3.2017, 18.7.2018).
<https://www.cnbc.com/2017/03/10/nearly-48-million-twitter- 20 Ben Nimmo, »#BotSpot: Twelve Ways to Spot a Bot«,
accounts-could-be-bots-says-study.html> (eingesehen am Atlantic Council’s Digital Forensic Research Lab, 2017,
12.9.2017). <https://medium.com/dfrlab/botspot-twelve-ways-to-spot-a-
18 Donald N. Jensen/Michal Harmata, »What to Expect bot-aedc7d9c110c> (eingesehen am 11.9.2017).
When You’re Expecting Bots?«, Washington, D.C.: Center for 21 Jigsaw, »Perspective«, 2017, <https://www.perspective
European Policy Analysis, 2017, <http://infowar.cepa.org/EN/ api.com> (eingesehen am 11.9.2017); Murgia Madhumita,
what-to-expect-when-youre-expecting-bots> (eingesehen am »Google Launches Robo-tool to Flag Hate Speech Online«,
9.9.2017). in: Financial Times, 23.2.2017, <https://www.ft.com/content/

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Trends und Gegentrends in der digitalen Diplomatie

wenn das Robotrolling sich nicht auf Desinformation in beiden Fällen das gleiche sein: ein mittelmäßiger
beschränkt, sondern in aggressive Propaganda und Ansatz, der weder den von den Enthusiasten ge-
Informationskrieg ausartet, wären komplexere Maß- wünschten innovativen digitalen Output erzeugt
nahmen der digitalen Eindämmung in Betracht zu noch zuverlässig zu den außenpolitische Ergebnissen
ziehen. Diese müssten darauf zielen, die Medien- beiträgt, die die Skeptiker erzielen wollen.
kompetenz und kritische Beurteilung von Quellen zu Entschärfen ließe sich diese Spannung durch den
verbessern, die institutionelle Widerstandsfähigkeit Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen Ergebnis
zu untermauern und ein klares, schlüssiges strate- und Wirkung in der politischen Analyse, um die
gisches Narrativ zu fördern, das imstande ist, die Mittel (das, was digitale Diplomatie macht) von den
Bedrohung durch widersprüchliche Gegennachrich- Ergebnissen (dem, was digitale Diplomatie erreicht)
ten im Zaum zu halten.22 zu trennen.23 Das Ergebnis spiegelt die fortwährenden
Folgen digitaler Aktivitäten wider, während es bei der
Wirkung um die weitergehenden Einflüsse des digi-
Strategische Entropie: Vom digitalen talen Outputs auf politische Ziele geht. Wie an ande-
Output zu politischen Resultaten rer Stelle erläutert, ist es sinnvoll, den Auswirkungen
des digitalen Outputs dann eine höhere Priorität ein-
Wir sollten uns außerdem darauf besinnen, dass digi- zuräumen als politischen Ergebnissen, wenn die digi-
tale Diplomatie kein Selbstzweck ist, sondern außen- talen Aktivitäten – wie es in der digitalen öffent-
politischen Zielen dienen soll. Die von technologi- lichen Diplomatie häufig der Fall ist – auf komplexe
schen Neuerungen verursachten Umbrüche können Operationen, eine große Zielgruppe und lange Um-
allerdings zumindest in der Anfangsphase dazu füh- setzungszeiträume ausgelegt sind.24 Wird in solchen
ren, dass sich die digitale Diplomatie von der Außen- Fällen konsequent ein umfangreicher Output (Inhalte,
politik abkoppelt. Eine übereilte Einführung digitaler Reichweite, Engagement) generiert, ist zu erwarten,
Hilfsmittel ohne eine übergreifende Strategie, wie dass irgendwann auch positive politische Resultate
sich damit konkrete außenpolitische Ziele erreichen folgen, etwa Wahrnehmungsveränderungen bei der
lassen, würde voraussichtlich zu Problemen bei der Zielgruppe. Dagegen trägt das digitale Engagement
Koordinierung und Umsetzung politischer Strategien effektiver zur Prägung ergebnisorientierter Strategien
führen. In Botschaften tätige Digitalenthusiasten bei, wenn es auch konventionelle Kommunikations-
bemühen sich möglicherweise besonders in der formen einbezieht, die sich an ein kleines oder mittel-
öffentlichen Diplomatie darum, Experimente und großes Publikum richten und kurzfristig implemen-
Neuerungen voranzutreiben – mal mehr und mal tieren lassen. Diese Vorgehensweise eignet sich ins-
weniger erfolgreich. Gleichzeitig könnten die unter besondere für die konsularische Krisenkommunika-
finanziellem und organisatorischem Erfolgsdruck tion, denn die Versorgung der Bürger bei Terror-
stehenden »Bürokraten« der Außenministerien ver- angriffen oder Naturkatastrophen mit aktuellen und
suchen, den Prozess der Digitalisierung zu verlang- akkuraten Informationen (Output) darüber, wie man
samen und ihn dem Tempo der außenpolitischen sich während des Krisenfalls vor Schaden schützen
Entscheidungsfindung anzugleichen. Dieses »Tau- kann (Resultat), ist eine relativ geradlinige Strategie,
ziehen« zwischen Digitalenthusiasten und -skeptikern bei der der digitale Output von greifbaren politischen
setzt Außenministerien dem Risiko aus, entweder Zielen beeinflusst und anhand dieser Ziele beurteilt
unterfinanzierte Digitalisierungskampagnen ohne wird. Unter dem Strich beruht die Handhabung stra-
klare Richtung und strategischen Kompass zu initi- tegischer Entropie auf dem Verständnis, wie zwischen
ieren oder sich unkritisch starre »diplometrische« digitalem Output und politischen Resultaten die Prio-
Modelle anzueignen und den Erfolg digitaler Akti- ritäten zu setzen und wie die beiden gegeneinander
vitäten primär anhand von quantitativen Kriterien zu gewichten sind.
zu messen und zu bewerten. Das Ergebnis wird wohl

23 Peter Knoepfel/Corinne Larrue/Michael Hill/Frédéric


8786cce8-f91e-11e6-bd4e-68d53499ed71> (eingesehen am Varone, Public Policy Analysis, Bristol: Bristol University Press,
11.9.2017). 2011, S. 11.
22 Corneliu Bjola/James Pamment, »Digital Containment: 24 Corneliu Bjola, »Getting Digital Diplomacy Right: What
Revisiting Containment Strategy in the Digital Age«, in: Quantum Theory Can Teach Us about Measuring Impact«,
Global Affairs, 2 (2016) 2, S. 131–142. in: Global Affairs, 2 (2016) 3, S. 345–353.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

35
Corneliu Bjola

Abschließend sei festgehalten, dass die Zukunft


der digitalen Diplomatie von der Fähigkeit der Außen-
ministerien abhängt, die Chancen der technologi-
schen Umwälzungen zu nutzen und sich gleichzeitig
gegen die Fallstricke zu wappnen, die mit deren
schnellem Erfolg verbunden sein können. Wenn der
technologische Fortschritt als Gelegenheit zur öko-
systembasierten, pro-aktiven und netzwerkorientier-
ten Anpassung begriffen wird, kann digitale Diploma-
tie wahrscheinlich bis zum Kern der diplomatischen
DNA vordringen. Gelingt es im Rahmen der Digitali-
sierung jedoch nicht, emotionale Ansteckung, algo-
rithmischen Determinismus und strategische Entro-
pie einzuschränken, werden sich die Außenminis-
terien wohl eher zögerlich um eine Einbindung digi-
taler Technologien in ihre Arbeit bemühen.

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Kritische digitale Diplomatie und der Einfluss der Theorie auf die Praxis

Emillie V. de Keulenaar / Jan Melissen

Kritische digitale Diplomatie und der


Einfluss der Theorie auf die Praxis

In den meisten diplomatischen Diensten der Welt schaftlichen und politischen Bereich vor Augen führte.
wird derzeit eine Debatte über die Auswirkung der Mehr als sieben Jahre nach der Phase des Optimismus,
Digitalisierung auf die diplomatische Praxis geführt. der im Kontext des Arabischen Frühlings in Bezug auf
Diese Debatte erinnert auch daran, wie wichtig es ist, soziale Medien herrschte, mögen sich einige Außen-
sich die politische Bedeutung der digitalen Technolo- ministerien, die damals zu den Erstanwendern der
gie für die Diplomatie zu vergegenwärtigen und sich sozialen Medien zählen wollten, heute fragen, ob sie
mit der aufkommenden Realität eines diplomatischen sich nicht vielleicht ohne ausreichende kritische
Engagements in einer digitalisierten Welt auseinan- Überprüfung in diese Domäne gestürzt haben.
derzusetzen, anstatt das Augenmerk ausschließlich Dieser Beitrag soll aber kein weiterer Kommentar
darauf zu richten, wie sich die bisherigen Verfahrens- zum Zeitgeschehen und den Auswirkungen der sozia-
weisen mit digitalen Mitteln erledigen lassen. In den len Medien auf die internationale Politik sein. Statt-
Jahren 2016 und 2017 verschafften rechtswidrige dessen versuchen wir, die Rolle der digitalen Techno-
elektronische Eingriffe in demokratische Wahlen und logien als Mittel und Infrastruktur für aktuelle diplo-
Referenden in Europa und den USA dem Argument matische Prozesse besser zu verstehen. Wir wollen
Schlagzeilen, dass digitale Diplomatie zu einer Waffe sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis mit den
geworden sei. wesentlichen theoretischen Erkenntnissen und Kon-
zeptualisierungen vertraut machen. Abschließend
Inzwischen herrscht eine düstere geben wir einige allgemeine Politikempfehlungen für
Stimmung, in der »Fake News«, Bots Außenministerien.
und Trolle, die von autoritär
regierten Ländern gesteuert werden,
die Hauptrolle spielen. Technologie und diplomatische Praxis

Binnen weniger Jahre hat sich der vorherrschende Einhelligkeit über die wesentlichen Begriffe und ein
Ton im Narrativ über digitale Diplomatie vollkom- gemeinsames Verständnis von den zentralen Ideen
men verändert: Der Optimismus angesichts des Mobi- und Konzepten ist nicht nur für Wissenschaftler von
lisierungspotenzials der sozialen Medien und den Bedeutung. Ähnlich vage, wie der Begriff soft power in
dadurch ermöglichten Demokratisierungsschub ist den letzten 25 Jahren in Politik, Diplomatie und Wis-
einer düsteren Stimmung gewichen, in der »Fake senschaft benutzt wurde, wird auch die grundlegende
News« und die schleichende Durchdringung der Kon- Terminologie in der Debatte über digitale Diplomatie
versationen in den sozialen Medien durch Bots und verwandt. In diesem Kontext sich wandelnder Arbeits-
Trolle, die von autoritär regierten Ländern gesteuert weisen müssen wir die Tiefe und das Ausmaß digitaler
werden, die Hauptrolle spielen. Tech-Riesen aus den Technologie untersuchen, und zwar zum einen in
USA werden beschuldigt, ethisch fragwürdigen Han- ihrer Rolle für Staaten und andere internationale Ak-
del mit persönlichen Daten zu treiben, die sie über teure als neues Medium für deren Kommunikation und
die sozialen Netzwerke einsammeln, während das in Beziehungspflege, zum anderen als Gegebenheit. Digi-
Großbritannien ansässige Unternehmen Cambridge tale Technologie durchdringt das Leben und die Arbeit
Analytica mit seinen Datenmanipulationen Politik der neuen Generationen in immer höherem Maße.
und Öffentlichkeit auf alarmierende Weise das kom- Bevor man Aussagen über die Auswirkung des
merzielle Treiben von Webentwicklern im gesell- technologischen Wandels auf die Praxis der inter-

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

37
Emillie V. de Keulenaar / Jan Melissen

nationalen Beziehungen trifft, muss man sich mit auswirkt, die den internationalen und nationalen
den Fähigkeiten dieser neuen Technologien befassen. öffentlichen Konsens beeinflusst. Auch der russische
Man kann wohl davon ausgehen, dass vielen Initia- militärische Nachrichtendienst machte sich in seinen
tiven von Außenministerien zur Nutzung sozialer neuen Taktiken der Kriegsführung dieses Wechsel-
Medien nur eine unzureichende Analyse dessen vor- spiel von Metriken der Popularität und Aufmerksam-
ausging, was digitale Technologien an Kompetenzen keit zunutze, als er im US-Präsidentschaftswahlkampf
erfordern und welche Auswirkungen sie auf die Um- von 2016 sensationelle Falschnachrichten verbreitete,
stände haben, unter denen heute Diplomatie prak- die zur parteilichen Spaltung auf Facebook, Twitter
tiziert wird. Zu Letzteren gehören auch die grund- und YouTube beitrugen. Der Einfluss digitaler Platt-
legenden Techniken, die digitale Technologien formen auf Kultur und soziale Beziehungen könnte
ausmachen, seien es die allgemein als Algorithmen auch bedeuten, dass sie für zusehends »vergesellschaf-
bezeichneten oder andere computerbasierte Systeme, tete« diplomatische Praktiken an Relevanz gewinnen,
einschließlich Suchmaschinen, Empfehlungsdienste die diverse Interessengruppen einbeziehen und eine
oder Newsfeeds. Diese von der Vermittlungsfähigkeit Vielfalt nicht-traditioneller Themen auf der inter-
der Digitalisierungs- und Datafizierungsprozesse pro- nationalen Agenda behandeln. Konkret führt eine
fitierenden Techniken sind zu allgegenwärtigen solche »vergesellschaftete« Diplomatie zu einer neuen
Zugriffspunkten auf kulturelle, politische und wirt- Dynamik in den Beziehungen zwischen Regierung
schaftliche Aktivitäten geworden. Die Entwicklung und Gesellschaft und wird die Außenministerien ver-
dieser und anderer Zugriffspunkte verschafft den mutlich dazu veranlassen, sich in höherem Maße als
Tech-Akteuren insofern einen großen politischen bisher an der Innenpolitik auszurichten.
Einfluss, als sie heute Informationen und kulturelles Viele internationale Herausforderungen unserer
Kapital formalisieren, organisieren und weiterverwen- Zeit haben inzwischen eine digitale Dimension, deren
den können. jeweilige Technologien eine Plattform für soziale,
Damit ist für das Gebiet der digitalen Diplomatie politische und wirtschaftliche Aktivitäten bieten, die
zu hinterfragen, wie die digitalen Technologien den als rechnergestützt formalisiert aufgefasst werden
Zugang zu Prozessen umgestalten, die für die digitale könnten. Es ist eine Sache, Facebook als Überbringer
Diplomatie relevant sind. Genauso wie Facebook das diplomatischer Botschaften einzustufen. Eine andere
Sozialleben, das politische Handeln und den Markt- wäre es, dieselben politischen Aussagen teilweise als
platz der Ideen für die Nutzer veränderte, haben Produkt der Plattformmechanismen zu bewerten, die
andere Tech-Akteure und ihre Plattformen Möglich- sie als Daten verarbeiten und organisieren – oder gar
keiten der Einflussnahme auf die Umgestaltung zahl- Plattformmechanismen und andere Algorithmen als
reicher Prozesse, die internationale Beziehungen eigenständige politische Prozesse zu betrachten. Das
betreffen. Das Potenzial neuer Technologien, zum nämlich könnte Diplomaten dazu einladen, Themen
Wissensmanagement beizutragen, wird sich zusam- von außenpolitischer Bedeutung in ihrem jeweiligen
men mit dem Potenzial von Big Data hinsichtlich technischen Zusammenhang anzupeilen. Inwieweit
heikler Themenfelder und Prognosezwecke zwangs- folgen beispielsweise Datenfiltersysteme wie YouTubes
läufig erheblich auf die Hauptaufgabe der Diplomatie Empfehlungsdienst den EU-Richtlinien, wonach
auswirken: internationale Verhandlungen. Von Videos auf eine pluralistische und vielfältige Weise
Menschen getroffene Entscheidungen werden nach zu verbreiten und zu »empfehlen« sind? Mögliche
wie vor wichtig sein, und Daten sprechen nicht. Las- Antworten darauf berühren unmittelbar die Frage,
sen sich Diplomaten aber davon leiten, wie Daten inwiefern sich die systematische Organisation von
und die Ideen, die darin zum Ausdruck kommen, von Daten durch Algorithmen auf die politischen Lösun-
wichtigen algorithmischen Systemen organisiert gen anwenden lässt. Facebook und Google haben be-
werden, oder sich vom Angebotscharakter der Platt- reits versucht, Probleme wie Filterblasen und Falsch-
formen beeinflussen, so mag dies in die »Kunst des informationen mit technischen Mitteln zu bekämp-
Verhandelns« einfließen und umfangreiches Kom- fen – allerdings könnten sie erheblich von der Sicht-
plexitätsmanagement erfordern. weise derjenigen profitieren, die sich darauf spezia-
Genau das erleben wir im weitergefassten Bereich lisiert haben, das Wesen von Konflikten und Falsch-
kultureller Beziehungen, wo sich die digitale Kultur informationen zu identifizieren und entsprechende
auf den transnationalen Austausch und die Bedingun- Lösungen zu suchen. Diplomaten sind da in einer
gen für die Schaffung neuer Ideen auf eine Weise einzigartigen Position. Denn sie haben nicht nur

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

38
Kritische digitale Diplomatie und der Einfluss der Theorie auf die Praxis

Fachkenntnis zu bieten, sondern können ihre poli- man Einfluss darauf gewinnt, inwieweit Nutzer Zu-
tische Auffassung von computergestützter Außen- gang zu den Programmen bekommen und in welcher
politik so formulieren, dass sie die ihrem Feld an- Form sie aktiv werden können.
gemessenen Werte, Strategien und Prozesse als Daten Die sogenannte digitale Kluft besteht dann
in Datenorganisationssysteme einfließen lassen. möglicherweise nicht nur zwischen Bevölkerungs-
Solche Initiativen mögen naiv anmuten, da sie zu gruppen, die Zugang zu diesen Technologien haben,
viel von Unternehmen erwarten, die mit ihren Platt- und anderen, bei denen dies nicht der Fall ist, son-
formen nach Profit und besonderen Geschäftsmodel- dern auch zwischen Bürgerinnen und Bürgern sowie
len streben. Aber eben dieses Problem treibt politi- Regierungen, die mal mehr, mal weniger »digital
sche Entscheidungsträger dazu an, die öffentliche kompetent« sind. Großmächte, kleine Nichtregie-
Verantwortung der Tech-Akteure und ihre paten- rungsorganisationen (NGOs) und diplomatische
tierten Systeme – beide zumeist aus den USA stam- Akteure jeder Art könnten Programmiersprachen als
mend – unter einen Hut zu bringen, indem sie die Werkzeug für die Operationalisierung von Daten ein-
Akteure, die diese Systeme entwerfen, dazu einladen, setzen – in Abhängigkeit von Interessen und Zielen
eine kontinuierliche Verantwortungsgemeinschaft entweder in Form für die Öffentlichkeit nutzbarer
mit ihren staatlichen Pendants aus dem Ausland ein- Software oder für interne Zwecke bestimmter Tech-
zugehen. Einer solchen, auf Zusammenarbeit basie- niken, ob zu Referenz- (beispielsweise mit Daten-
renden Verantwortungsgemeinschaft könnten Diplo- analyse), Kommunikations- oder anderen program-
maten, die sich mit den technischen und politischen mierbaren Zwecken. Es gibt Unternehmen, die sich
Dimensionen der Themen auskennen, die diese Sys- Vergesellschaftung, Transport- oder Absatzwesen als
teme reproduzieren, den Weg bereiten. Daten- oder Informationssysteme vorstellen. Genauso
könnte die digitale Diplomatie die Politik dazu ver-
anlassen, die für Diplomatie relevanten Entitäten,
Digitale Kompetenz und Wahrnehmung Prozesse, Strategien und Werte zumindest teilweise
in der Diplomatie als computergestützte Einheiten zu denken. Digitale
Kompetenz bezöge sich dann auch auf die Fähigkeit,
Wie oben bereits angedeutet, scheinen sich in den sich auf digitale Berechnungen als eine Form von
Debatten über digitale Diplomatie Pessimismus und Regierungshandeln einzulassen, die auf aktuelle
Sorgen über das Ausmaß breitzumachen, in dem der Machtinstrumente wie Software hin orientiert ist. Die
Missbrauch sozialer Medien die internationalen Bezie- Einbeziehung solcher Methoden in die digitale Kom-
hungen kompliziert. Wir vertreten jedoch nach wie petenz ermöglicht es einer Institution wie der Diplo-
vor die Auffassung, dass digitale Technologien in matie, mit technischen Akteuren Entscheidungen zu
erster Linie als eine Quelle der Kreativität für Diplo- treffen sowie Einfluss auf die Programme und Daten
matinnen und Diplomaten gesehen werden sollten, zu nehmen, die ihre Arbeit betreffen.
weil sie zusätzliche Chancen eröffnen, Ideen und
politische Strategien in (technische) Praxis umzuset- Zu den Herausforderungen zählt der
zen. Ihre Relevanz gründet vor allem auf ihren Mög- Ausgleich zwischen den Interessen
lichkeiten als Medium, und in diesem Sinne sind sie der Tech-Akteure und denen der
Anlass für die Herausbildung neuer Kompetenzen. Sie staatlichen Akteure.
haben weit mehr zu bieten als die bloße Nutzung ver-
fügbarer Dienste wie E-Mail, Twitter und Facebook. Digitale Kompetenz meint damit auch die Fähig-
Digitale Technologien sind insofern mit Schreiben keit der und des Einzelnen, zu einer sachkundigen
und Sprechen vergleichbar, als sie es den Nutzern Einschätzung dessen zu kommen, wie diese Techno-
oder Verfassern erlauben, Informationen zu verschie- logien entwickelt wurden und in welcher Form sich
denen Aspekten der Realität – seien es Daten zu oder Diplomaten an diejenigen wenden können, die sie
von einzelnen Nutzern, Objekten, Institutionen oder entwickeln: Tech-Akteure. Der Wert der Gespräche
zu komplexeren Prozessen – zu sammeln, zu organi- mit den Tech-Akteuren liegt darin, Informationen
sieren und weiterzuverwenden. Digitale Kompetenz über die Funktionsweise ihrer Systeme zu erhalten,
würde sich dann nicht auf die Nutzung schon fertiger zu erfahren, wie sie mit Daten zu Themen umgehen,
Software beschränken, sondern auf weitere Fähig- die für die Außenministerien von großer Bedeutung
keiten bis hin zur Programmierung erstrecken, sodass sind, mit ihnen über eine Veränderung ihrer Systeme

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Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik:
Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Emillie V. de Keulenaar / Jan Melissen

zu verhandeln sowie darüber, die von den Platt- taler Technologien und die Anwendung von Software
formen generierten Daten in einer Art und Weise für diplomatische Zwecke erfordern daher die Ein-
zu sammeln und zu pflegen, die für alle von diesen sicht in die politische Bedeutung dessen, was die tech-
Themen betroffenen Akteure von Vorteil ist. Zu den nische Besonderheit ausmacht. Das Verhältnis, das
Herausforderungen zählt hier der Ausgleich zwischen die heute im diplomatischen Dienst Beschäftigten zur
den Interessen der Tech-Akteure, die in erster Linie digitalen Technologie haben, legt einen grundsätzlich
über Produktdesign nachdenken, und denen der staat- anderen Zugang nahe als die Art und Weise, wie sich
lichen Akteure, die in der Regel die Lösung normati- ihre Vorgänger an die Nutzung des Telefons (zum
ver Fragen vorantreiben wollen. Letztlich dürfte die Anrufen), der Schreibmaschine (zum Schreiben), des
Beratung durch digitale Diplomaten darauf hinaus- Telegrafen (zur Versendung verschlüsselter Botschaf-
laufen, die wesentlichen technischen und politischen ten) und des PC (zum Schreiben, Speichern, Organisie-
Grundlagen zu kombinieren. Dieser Prozess beinhal- ren und Versenden von Informationen) gewöhnten.
tet unter anderem Vorschläge, wie Tech-Akteure Das Aufkommen der sozialen Medien hat zweifel-
die normativen Werte formalisieren können, die als los zu einer völlig neuen Dynamik in der Beziehung
computergestützte Werte die diplomatische Agenda zwischen Diplomatie und Technologie geführt. In den
bestimmen – ein Unterfangen, das Diplomaten und letzten Jahren haben viele Außenministerien einen
Tech-Akteuren durchaus zusammenbringen könnte. großen Aufwand betrieben, um sich mit dem Phäno-
Die Außenministerien denken daher verstärkt men der sozialen Medien vertraut zu machen, selbst
darüber nach, was der digitale Umbruch für die phy- aktiv zu werden und deren Potenzial in immer mehr
sischen Strukturen an ihren Hauptsitzen und Bot- Bereichen der Außenpolitik zu nutzen. In der Folge
schaften bedeutet. Nach dem Privatsektor und ande- des Arabischen Frühlings konnten Regierungen eine
ren Regierungsbehörden weiten auch sie jetzt ihre Vielzahl an internationalen Krisen zwischen 2011
Kapazitäten aus, um die Vorteile der Auswertung gro- und 2015 als wichtige Lernanlässe begreifen. Inner-
ßer Datenmengen für die Findung außenpolitischer halb einer relativ kurzen Zeitspanne wurden die
Entscheidungen zu nutzen. Allerdings fehlt es den sozialen Medien unabdingbar für die Erfüllung wich-
durch jahrhundertealte diplomatische Traditionen tiger Aufgaben der Außenministerien, etwa der
geprägten außenpolitischen Bürokratien an dem, was öffentlichen Diplomatie und der Hilfe für Landsleute
einige der im Bereich der Anlage und Verwaltung von im Ausland.
Daten florierenden NGOs und Unternehmen auszeich- Die Art und Weise, in der digitale Technologie der-
net: an der Wertschätzung von intuitivem Vorgehen, zeit in der diplomatischen Praxis genutzt wird, ähnelt
Postdisziplinarität, »Ursprünglichkeit«. Dennoch: häufig sehr stark der Einbeziehung verschiedener
Möglicherweise werden die Außenministerien Diplo- »Maschinen« in die diplomatische Arbeit des 19. und
matie eines Tages nicht mehr nur als Management 20. Jahrhunderts: Diplomaten nutzen das, was die
internationaler Beziehungen betrachten, sondern als Technologie bietet und wofür sie bestimmt ist. Wie
Management von Komplexität neu konzipieren. bereits erwähnt, ermöglichen die digitalen Dimensio-
nen der heutigen Diplomatie jedoch den Einsatz digi-
taler Technologien als Metamedien: als Medien, die
Die »Softwarisierung« der aktiv und kreativ zur Schaffung neuer Medien wie
diplomatischen Praxis beispielsweise Software genutzt werden können.
Sie bieten einsatzbereite Produkte wie Computer und
Viele Praktiker scheinen »digitale Diplomatie« nahezu andere praktische Geräte, aber sie liefern auch die
ausschließlich als eine Erweiterung der öffentlichen Mittel zur Entwicklung von Software, die auf die
Diplomatie zu begreifen – so gesehen stellen der internen oder pro-aktiven diplomatischen Bedürfnisse
Verlust des Vertrauens in Informationen, die Daten- zugeschnitten ist. So scheint es anderswo funktioniert
schutzbefürchtungen der Internetnutzer und die zu haben: bei Uber im Bereich Transportwesen,
Mobilität der jungen Generationen quer über alle bei Airbnb im Bereich Unterkünfte, bei Google im
Plattformen nur die Kommunikationsabteilungen der Bereich Dokumentationen, bei YouTube im Video-
Außenministerien vor neue Herausforderungen. Es ist Bereich, bei Spotify im Musik-Bereich sowie bei Face-
jedoch nötig, den Blickwinkel zu erweitern und digi- book und Twitter im Bereich persönlicher Beziehun-
tale Technologien daraufhin zu analysieren, inwieweit gen, politischer Karrieren und politischem Aktivis-
sie politische Prozesse vermitteln. Der Einsatz digi- mus. Der große Einfluss dieser Plattformen ist teil-

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Kritische digitale Diplomatie und der Einfluss der Theorie auf die Praxis

weise auf ihre Organisation und Systematisierung Die technischen Aspekte von allem
digitalisierter Daten und die transnationale Übermitt- Digitalen sind zutiefst politisch.
lung von Inhalten zurückzuführen, ganz gleich, ob
es sich dabei um Kultur, Ideen, Wissen, Beziehungen Die technischen Aspekte von allem Digitalen sind
oder Kapital handelt. Darin besteht die Macht der zutiefst politisch, wie die Debatten über die ausländi-
geschlossenen Plattformen, mit denen Google (unter sche Einmischung in Wahlkämpfe in den USA und
Anwendung seines PageRank-Algorithmus), Twitter Europa in den Jahren 2016 und 2017 sowie die öffent-
(mit dem Verkauf von Algorithmen an Kunden aus liche Empörung im Jahr 2018 über die Praktiken von
der Privatwirtschaft, die wiederum personenbezogene Cambridge Analytica sehr deutlich gemacht haben.
Daten an Regierungen verkaufen), YouTube (die Und in dem sich ausbreitenden Bereich, in dem sich
zweitgrößte Maschine im Internet) und Facebook (im Diplomatie und Geheimdienste immer mehr über-
Mittelpunkt der Debatte über die Ethik der von den schneiden, ist noch viel mehr verborgen. Im digitalen
kommerziellen Tech-Riesen angewandten Praktiken Zeitalter gebietet es daher der gesunde Menschen-
und über die Notwendigkeit, den Einfluss des Unter- verstand, dass Diplomaten kritisch bleiben gegenüber
nehmenssektors zu bändigen) ihr täglich Brot verdie- den realen Akteuren hinter der Software, ihren Ab-
nen. Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, sichten und der Art, wie und mit welchen Auswir-
dass die Vermittlungsfähigkeit dieser Plattformen als kungen sie ihre Ziele verfolgen. Politisch sind schon
kontrollierte Informationsumgebungen für die Welt die ersten Schritte der Entwicklung einer Software,
der Diplomatie genauso relevant ist wie für den ge- die im Zusammenhang mit internationalen Beziehun-
werblichen Bereich. gen genutzt wird. In den letzten Jahren haben einige
Eine wichtige Konsequenz dieser rasanten Entwick- westliche Regierungen ihre relative Unschuld ver-
lungen lautet, dass die Regulierung des digitalen loren: Sie folgen dem Beispiel raffinierter vorgehen-
Bereichs den Anschluss finden muss. Auch wenn wir der Länder – von Russland bis zum Sudan, von Israel
das Thema hier nicht genauer unter die Lupe neh- bis zum Iran – und von nicht-staatlichen Akteuren,
men, ist festzuhalten, dass es in der gemeinsamen die sich für eine bessere Welt einsetzen oder wie Ter-
Verantwortung von nationalen Regierungen, digita- rorgruppen und Rebellenbewegungen aus dubiosen
len Plattformen und Endnutzern liegt, unerwünschte Motiven in gewaltsame Auseinandersetzungen ver-
Praktiken einzudämmen. Dafür sind innovative For- wickelt sind.
men der Steuerung gefordert.
Der Diplomat braucht Konzepte,
anhand deren er das Technische als
Mehr als das Streben nach Medium für diplomatische Strategien
Aufmerksamkeit im Internet und Politikimplementierung
hinterfragen kann.
Mit Blick auf die Kompetenzen der außenpolitischen
Akteure bestehen kaum Zweifel, dass der Facetten- Digitale Diplomatie dreht sich mithin weniger um
reichtum der Digitalisierung in der diplomatischen aktives und kontinuierliches Streben nach Aufmerk-
Praxis in die größte Weiterqualifizierungsmaßnahme samkeit im Internet, als es im Falle der öffentlichen
in der Geschichte der Diplomatie münden wird. In Diplomatie zu beobachten ist – die durch die Prak-
der Ausbildung vieler Diplomatinnen und Diploma- tiken der digitalen Kommunikation und das Bemü-
ten werden die Fachkenntnis und Anwendung von hen, ausländische wie einheimische Öffentlichkeiten
Software sowie andere technische, aber auch poli- zu erreichen, in einem Maße beeinträchtigt wurde,
tische Elemente, die digitale Technologie ausmachen, das dringend untersucht werden müsste. Kritische
die Hauptrolle spielen. Von benutzerfreundlichen digitale Diplomatie dagegen meint die diplomatische
Oberflächen über Kodierungen bis hin zu Algorith- Auseinandersetzung damit, wie Kultur, Informatio-
men – es dreht sich immer um dieses Design, das nen und Beziehungen in Software systematisiert
sie zum Ausbau der politischen Kapazitäten unter- werden, zum Beispiel damit, wie sich Algorithmen
suchen, kritisch betrachten und verbessern müssen. entgegenwirken lässt, die den eigenen Interessen
zuwiderlaufen. Die Mechanismen hinter den digi-
talen Technologien können aktiv als Instrumente zur
Operationalisierung politischer und diplomatischer

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Emillie V. de Keulenaar / Jan Melissen

Interessen eingesetzt werden. Die Aufgabe für


Außenministerien lautet daher, das ganze Spektrum
zu erkunden und in die Praxis umzusetzen. Der
einzelne Diplomat braucht Konzepte, anhand deren
er das Technische als Medium für diplomatische
Strategien und Politikimplementierung hinterfragen
und verstehen kann. Denn schließlich findet die
zeitgenössische Diplomatie bereits in sich rasant
verändernden Umfeldern statt, in denen sich neue
technologische Werkzeuge auf die internationalen
Beziehungen auswirken.

Fünf Politikempfehlungen

1. Diplomaten sollten erkennen, dass digitale Diplo-


matie die Auseinandersetzung damit bezeichnet, wie
Kultur, Informationen und Beziehungen in Software
systematisiert werden, beispielsweise damit, wie sich
Algorithmen entgegenwirken lässt, die den eigenen
Interessen zuwiderlaufen.
2. Da Diplomatie sich zunehmend in einer digi-
talen Umgebung abspielt, sollten Diplomaten kritisch
bleiben gegenüber den realen Akteuren hinter der
Software, ihren Absichten und der Art, wie und mit
welchen Auswirkungen sie ihre Ziele verfolgen.
3. Außenministerien, die in der Lage sind, Software
für diplomatische Zwecke zu entwickeln, dies aber
nicht tun, geraten ins Hintertreffen gegenüber Gegen-
spielern und nicht-staatlichen Akteuren, die dies
klüger handhaben.
4. Die Mechanismen hinter digitalen Technologien
lassen sich aktiv als Instrumente zur Operationalisie-
rung politischer und diplomatischer Interessen ein-
setzen.
5. Diplomatinnen und Diplomaten können als
Vermittler zwischen Plattform-Akteuren und allen
von den Systemen und Daten der Plattformen Betrof-
fenen auftreten und dadurch die Fähigkeit verfeinern,
zum Dialog über technische und normative Interes-
sen anzuregen.

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Ständiger Wandel: Anmerkungen zur Entwicklung der Diplomatie in der Europäischen Union

Karsten D. Voigt

Ständiger Wandel:
Anmerkungen zur Entwicklung der
Diplomatie in der Europäischen Union*

Die Anzahl der organisierten und institutionalisierten einbezogen werden müssen, eher die Regel als die
Akteure, die im internationalen Bereich tätig sind, Ausnahme. Welche Hauptstädte daran jeweils betei-
nimmt stetig zu. Gleichzeitig vernetzen sich Teile ligt werden, hängt von der Relevanz des jeweiligen
einer Öffentlichkeit national sowie international, die Staates für die Problemlösung ab. In der europäischen
sich traditionell nicht mit Außenpolitik befasst haben. Realität wird Berlin in den meisten Fällen zu den
Auch neue teil-, pseudo- oder quasi-staatliche Akteure Hauptstädten zählen, die involviert werden.
kommen hinzu. Hierzu möchte ich auf der Grundlage In Anbetracht seines politischen Gewichts wird
meiner persönlichen Erfahrungen mit der diploma- Berlin künftig sogar noch mehr mit anderen Haupt-
tischen Praxis sechs Beobachtungen beisteuern, die städten und auch mit den EU-Institutionen kommu-
sich überwiegend auf die Außenpolitik der Mitglied- nizieren. Aber schon aus zeitlichen Gründen wird es
staaten der Europäischen Union (EU) beziehen. Das ist nicht immer möglich sein, alle Mitgliedstaaten der
kein Zufall, denn zwischen den EU-Mitgliedstaaten EU gleichermaßen zu informieren. Die Berliner Diplo-
findet eine besonders intensive Kommunikation statt, matie ist sich der damit verbundenen Schwierigkeiten
und zwar eine, in der sich die Grenzen zwischen bewusst. Sie bemüht sich deshalb darum, insbesondere
Innen- und Außenpolitik und zwischen nationaler, die kleineren Staaten während des Prozesses oder im
zwischenstaatlicher und internationaler Politik Nachhinein einzubeziehen, um das Problem einer
immer mehr verwischen. Damit wird sie zum Träger Einflussasymmetrie zwischen größeren und kleineren
eines fortschreitenden Veränderungsprozesses, den Staaten in der EU zu schmälern. Behoben wird es
die Diplomatie innerhalb der EU vielleicht deutlicher dadurch nicht.
erlebt als anderswo. Neue Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail,
Videoanrufe oder auch Direktnachrichten, der ins-
gesamt zunehmende Gesprächsbedarf sowie der
1. Neue Formen von Kommunikation Zeitdruck führen dazu, dass der Meinungsaustausch
insbesondere in Krisenzeiten außerhalb der formellen
Die außenpolitische Lage verändert sich ständig. Dies Berichtswege mündlich erfolgt. Das verändert die
verlangt insbesondere bei Krisen und Konflikten allen Arbeitsweise innerhalb der Außenministerien und
Beteiligten intensive Kommunikation ab. In einer mit dem Kanzleramt ebenso wie mit anderen Minis-
solchen Lage ist der tägliche Gedankenaustausch zwi- terien. Es verändert innerhalb der EU insbesondere
schen den Hauptstädten, die in eine Problemlösung die Rolle der Botschaften. Da sich die Kommunikation
zu aktuellen und zeitkritischen Problemen immer
häufiger direkt zwischen den Hauptstädten abspielt,
* In der SWP-Arbeitsgruppe kamen auch Praktiker zu
werden die bilateralen Botschaften an diesen Pro-
Wort, die ihre Tätigkeit mit dem diplomatischen Bereich
in Berührung bringt und die sich daher immer wieder mit
zessen häufig nur am Rande oder überhaupt nicht
Fragen der Diplomatie im 21. Jahrhundert befassen. Der beteiligt, was sich innerhalb der EU auf deren Funk-
Autor des folgenden Beitrags war Mitglied des Deutschen tionen auswirkt: Einerseits begleiten sie nur mehr,
Bundestags, Mitglied der Parlamentarischen Versammlung was direkt zwischen den Regierungen verhandelt
der Nato sowie Koordinator der Bundesregierung für wird, andererseits übernehmen sie zum Teil bisherige
deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Stabsarbeit. So bereiten sie die Gespräche inhaltlich

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Karsten D. Voigt

vor, eine Aufgabe, die früher den Büros der Ministe- Regierung vertreten. Häufig bekennen sich Mitglieder
rien zufiel. der Europäischen Kommission zu einer dieser Partei-
familien. Die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten
des Europäischen Parlaments gehört einer Fraktion
2. Neue Kompetenzen der Chefebene an, die sich als parlamentarischer Arm einer solchen
»Parteifamilie« versteht.
Innerhalb der EU treffen sich die Regierungschefs, die Die Rolle der Parteienverbände auf europäischer
Außenminister und die Fachminister außerordentlich Ebene ist wesentlich schwächer als die der nationalen
häufig. Dabei denke ich nicht nur an die formellen Parteien. Aber als transnationale Netzwerke und
Treffen auf Chef- oder Fachministerebene, sondern Instrumente einer transnationalen Überwölbung von
auch an die zahlreichen anderen formellen und infor- weiterhin vorwiegend nationalen Politiken sind sie
mellen, bi- und multilateralen Begegnungen. Bei verhältnismäßig effektiv. Sie beeinflussen insbeson-
diesen Treffen werden Meinungen geäußert und Ab- dere Entscheidungen über Personal für die Euro-
machungen getroffen, die die koordinierende Funk- päische Kommission und andere europäische Institu-
tion des Außenministeriums in der Europapolitik tionen, was nationalen und europäischen Politikern
relativieren. Ob eine Verlagerung der Koordinierungs- in diesem Bereich Mitsprache ermöglicht.
rolle des Außenministeriums an das Kanzleramt die- Aufgrund ihrer Parteifunktionen sind an diesen
ses Problem lösen oder nur verschieben würde, sollte europäischen Netzwerken häufig Regierungschefs,
in den nächsten Jahren geprüft werden. Denkbar ist, Außenminister und führende Oppositionspolitiker
dass damit auch die inhaltliche Arbeit, gerade in den beteiligt. Diplomaten werden von dort getroffenen
politisch wichtigsten Bereichen, ins Kanzleramt gezo- Absprachen in ihrer Arbeit häufig betroffen, aber
gen wird. selten daran beteiligt und manchmal auch nur un-
zureichend darüber informiert. Zwar vermeidet man
so (zu Recht) die Politisierung der Beamtenschaft,
3. Interministerieller Austausch in der aber es kann vorkommen, dass Diplomaten dadurch
Europäischen Union zu spät von Absprachen erfahren, die für ihre Ana-
lysen und Äußerungen wesentlich sind. Da diese
Hinzu kommt, dass alle Bundesministerien Arbeits- Treffen und Absprachen häufig informeller Natur
stäbe für die internationale und EU-bezogene Politik sind, gibt es bisher auch nur wenige Untersuchungen
ihrer Ressorts eingerichtet haben. In diesen Arbeits- zu ihrer Rolle.
stäben gibt es häufig Mitarbeiter, die aus dem Aus-
wärtigen Amt »entliehen« wurden. Das hindert ein-
zelne Ministerien aber nicht daran, selbst direkte 5. Die »Nebenaußenpolitik« von Parteien
Arbeitsbeziehungen zu ihren Partnern in anderen
europäischen Hauptstädten und auf Ebene der EU Im Kontext der Auseinandersetzung um den Nato-
aufzubauen. Auch das beeinflusst die Inhalte und Doppelbeschluss hat es im Jahrzehnt vor dem Fall der
erschwert die Wirksamkeit der gesamtstaatlichen Mauer einen öffentlichen Streit um eine sogenannte
Koordination der Europapolitik durch das Auswärtige Nebenaußenpolitik der SPD gegeben. Sie bezog sich
Amt. Eine ähnliche Wirkung entfalten die offiziellen unter anderem auf eine Zusammenarbeit zwischen
Vertretungen der Bundesländer bei der EU. den sozialdemokratischen Parteien aus Skandinavien,
den Benelux-Ländern und Deutschland (Euro-Lux
oder Skandia-Lux genannt), um die Haltung der Par-
4. Der Einfluss europäischer teien zum Nato-Doppelbeschluss und zu den danach
»Parteifamilien« folgenden Verhandlungen zwischen den Vereinigten
Staaten und der Sowjetunion miteinander abzustim-
Alle im Bundestag vertretenen Parteien – bei der Al- men. Diese transnationale Koordinierung der Außen-
ternative für Deutschland hat die europäische Koordi- und Sicherheitspolitik durch Parteien stand häufig im
nierung anti-europäischer Parteien erst begonnen – Widerspruch zu den politischen Absichten der jewei-
gehören europäischen Vereinigungen von gleich oder ligen nationalen Regierung. Aber liegen derartige
ähnlich gesinnten Parteien an. Viele dieser Parteien transnationale Prozesse nicht in der Logik einer zu-
sind auf der nationalen Ebene in Parlament und nehmenden außen- und sicherheitspolitischen Kon-

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Ständiger Wandel: Anmerkungen zur Entwicklung der Diplomatie in der Europäischen Union

vergenz zwischen den EU-Mitgliedstaaten? Zudem das wurde an alle relevanten Parlamente in Ost-
werden die Parteien in dieser Rolle mit dem Bedeu- europa, einschließlich Russlands, verschickt. Und die
tungsverlust der Volksparteien und der Parteien- Parlamente antworteten. Auf diese Weise wurde im
bindung allgemein anscheinend durch Akteure wie Vorfeld der Regierungsentscheidung eine Diskussion
NGOs ersetzt, die beispielsweise hinsichtlich der UN- in Gang gesetzt und über Jahre geführt, die in nicht
Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung ähnlich messbarer, aber bedeutsamer Weise die späteren
vorgehen. Nebenaußenpolitik in einem weiteren Entscheidungen von Regierungen, Parlamenten und
Sinne kann man daher auch als zukunftsweisendes auch Parteien beeinflusst hat. Die wachsende Rolle
Element der deutschen und europäischen Außen- der nationalen Parlamente in der Diplomatie ihrer
politik begreifen, das der Vervielfältigung der Akteure Länder ist etwas Neues, und die Regierungen profi-
entspricht, die Einfluss auf die Außenpolitik ausüben. tieren von diesem Input aus unterschiedlichen Per-
spektiven.

6. Der Einfluss nationaler Parlamente Diplomatie muss Probleme und Handlungsoptionen


möglichst frühzeitig erkennen und gleichzeitig krea-
Schließlich: Außenpolitik gilt traditionell als Vor- tiv und zielgerichtet nach Möglichkeiten suchen,
recht der Exekutive. Der Einfluss der Parlamente wird Instrumente zur Gestaltung von Außenpolitik zu
in der Wissenschaft häufig unter Berufung auf die in entwickeln. Das können heute, jedenfalls innerhalb
der Verfassung verankerte Verteilung der Zuständig- der EU, auf eigene Faust auch Akteure tun, die früher
keiten zwischen Exekutive und Legislative beurteilt. an Außenpolitik kaum rührten: die nationalen Parla-
Die Zuständigkeit des Parlaments ist seine hard power. mente, die Parteien, die neuen europäischen Partei-
Aber es besitzt darüber hinaus eine soft power: den familien, andere Ministerien als die für auswärtige
Einfluss auf die politische Meinungsbildung. Das gilt Angelegenheiten zuständigen, die Staats- und Regie-
für den Bundestag. Das gilt für das in seiner Bedeu- rungschefs, die den Außenministerien Zuständig-
tung immer noch unterschätzte Europäische Parla- keiten entziehen – und, wenn auch immer weniger,
ment. Das gilt sogar für die in ihren Kompetenzen die Botschaften in den EU-Staaten.
stark eingeschränkte Parlamentarische Versammlung Die an diesem Prozess Beteiligten – überwiegend
des Europarats. Beamte und Politiker – sind sich dieser Entwicklung
Im transatlantischen Verhältnis gibt es nur eine noch nicht ausreichend bewusst. Womöglich werden
einzige Institution, in der sich Parlamentarier von Diplomatinnen und Diplomaten daher in ihrer Aus-
beiden Seiten des Atlantiks regelmäßig zu einem bildung nur ungenügend auf diese Veränderungen
intensiven und strukturierten Dialog über außen- vorbereitet. Aber eines ist sicher: Auf deren Konse-
und sicherheitspolitische Themen treffen: die Parla- quenzen werden sich die Außenministerien einstel-
mentarische Versammlung der Nato. Sie hat keinerlei len müssen, wenn sie ihre Strukturen und Arbeits-
Kompetenzen, könnte aber in Zukunft – wie schon weisen überarbeiten.
gelegentlich in der Vergangenheit – auch genutzt
werden, um die Meinungsbildung in den Parlamen-
ten der Nato-Mitgliedstaaten zu beeinflussen.
Wie dies funktionieren kann, zeigt folgendes
Beispiel: Jahre bevor sich die Bundesregierung und
die US-Administration zur Befürwortung der Nato-
Ost-Erweiterung entschlossen, und lange ehe sich
im US-Kongress und im Bundestag eine Mehrheit
für diese Erweiterung abzeichnete, engagierten sich
Volker Rühe und andere für die Ost-Erweiterung der
Nato. Sie alle setzten sich in Europa und den USA
dafür ein, riefen eine Arbeitsgruppe zu den Kern-
punkten eines Konzepts für die Nato-Erweiterung ins
Leben und entwarfen verschiedene Erweiterungs-
modelle, die auch die Frage der Stationierung von
Truppen und Nuklearwaffen berücksichtigten. All

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Kim B. Olsen

Innenpolitische Herausforderungen für die


geoökonomische Diplomatie in Europa

Der strategische Einsatz wirtschaftlicher, monetärer tisch motivierte Wirtschaftshilfe sowie Energie- und
oder finanzieller Ressourcen zur Verfolgung eigener Rohstoffpolitik bis hin zu Cyber-Instrumenten.3
geopolitischen Ziele ist historisch betrachtet ein wich- Diplomaten inner- und außerhalb Europas finden
tiger Aspekt des außenpolitischen Verhaltens nahezu sich daher immer häufiger in einem diplomatischen
jeder geografischen Einheit.1 Das Wechselspiel zwischen Feld wieder, das man als geoökonomische Diplomatie
Regierungen und Märkten, das sich unmittelbar auf bezeichnen kann. Gemeint ist, dass eine Regierung
den Handlungsspielraum von Regierungen auf der bereit und in der Lage ist, im Rahmen ihrer Beziehun-
internationalen Bühne auswirkt, ist für die diploma- gen mit anderen internationalen Akteuren volkswirt-
tische Praxis nach wie vor ein Grundsatz von analyti- schaftliche Ressourcen einzusetzen, um ihre natio-
scher Bedeutung. Wissenschaftler, die sich mit inter- nalen Interessen zu wahren und durchzusetzen.4
nationaler politischer Ökonomie, wirtschaftlicher
Staatskunst, Außenwirtschaftspolitik oder vergleich- In der geoökonomischen Diplomatie
baren Gebieten befassen, ist die enge Verbindung ist Geld allein kein Garant für die
zwischen Reichtum und Macht ein wichtiger Auf- Sicherung von Einfluss.
hänger für theoretische Debatten und Erneuerungen.
Die »multipolarisierte« globale Ökonomie2 des Sollte die moderne Außenpolitik tatsächlich von
21. Jahrhunderts zeichnet sich durch außergewöhn- den Möglichkeiten der Staaten beeinflusst werden,
lich fließende Strukturen aus: Vernetzungen von nie wirtschaftliche Ressourcen als Machtquelle zu mobili-
dagewesenem Ausmaß und die schnelle Umvertei- sieren, könnte man versucht sein zu behaupten, dass
lung von Vermögen der traditionell wohlhabenden Europa mit seiner Position als »militärischer Zwerg,
westlichen Staaten in den Globalen Süden verhelfen aber wirtschaftlicher Riese« von Haus aus einen wirt-
immer mehr Mächten auf der Welt zu wirtschaft- schaftlichen Vorteil auf dem geoökonomischen Spiel-
licher Schlagkraft – selbst nur am Rande an Außen- feld habe. In diesem Beitrag wird aber vor voreiligen
politik Interessierte beschäftigen sich heute damit, Schlüssen dieser Art gewarnt. Stattdessen wird argu-
inwieweit die Gestaltung der Außenpolitik unmittel- mentiert, dass materieller Wohlstand allein nicht aus-
bar von makroökonomischen Gegebenheiten be- reicht, um Regierungen zu befähigen, ihre wirtschaft-
einflusst wird. Das meint insbesondere die Frage, lichen Möglichkeiten in konkrete Außenpolitik und
auf welche Weise wirtschaftlich starke Staaten die
Quellen ihrer ökonomischen Macht als Anreiz- oder 3 Robert D. Blackwill/Jennifer M. Harris, War by Other Means:
Druckmittel zur Durchsetzung ihrer außenpolitischen Geoeconomics and Statecraft, Cambridge, MA: The Belknap Press
Interessen instrumentalisieren. of Harvard University Press, 2016.
Diese zielgerichtete Nutzung wirtschaftlicher Mög- 4 Das hier dargestellte Konzept von Geoökonomie beruht
lichkeiten oder geoökonomischer Instrumente reicht auf dem von Blackwill und Harris in War by Other Means [wie
von Wirtschaftssanktionen, Handels- und Investi- Fn. 3] dargelegten und entspricht damit der ersten von zwei
tionspolitik sowie Finanz- und Geldpolitik über poli- »Traditionen« in der Literatur zu Geoökonomie. Beschäftigt
sich die erste mit den Auswirkungen der Wirtschaftspolitik
auf nationale Macht und Geopolitik (»die Flagge folgt dem
1 David A. Baldwin, Economic Statecraft, Princeton, NJ: Handel«), nimmt die zweite die wirtschaftlichen Folgen
Princeton University Press, 1985. der Projektion von nationaler Macht (»der Handel folgt der
2 Oliver Stuenkel, Post-Western World: How Emerging Powers Flagge«) in den Blick (Sanjaya Baru, »Geo-economics and
Are Remaking Global Order, Malden, MA: Polity Press, 2016. Strategy«, in: Survival, 54 [Juni 2012] 3, S. 47–58).

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Innenpolitische Herausforderungen für die geoökonomische Diplomatie in Europa

diplomatische Instrumente umzusetzen. Kurz gesagt: schaften.5 Diese Rückkehr des »Staatskapitalismus«6
In der geoökonomischen Diplomatie ist Geld allein auf die globale Ebene veranschaulicht eine weitere
kein Garant für die Sicherung von Einfluss. zentrale Herausforderung für europäische Diploma-
Im vorliegenden Beitrag stelle ich die Behauptung ten, die sich darum bemühen, das Zusammenspiel
auf, dass die Fähigkeit einer Regierung, geoökonomi- zwischen Regierungen und Märkten auf den Schau-
sche Instrumente zum Einsatz zu bringen, nicht nur platz der Geopolitik zu übertragen.
von den Mitteln (den wirtschaftlichen Ressourcen Diese wesentlichen Aspekte wurden in der ein-
eines Staates) und dem Zweck (der Förderung der schlägigen Literatur zur Geoökonomie bislang weit-
eigenen nationalen Interessen) abhängt, sondern in gehend vernachlässigt, da man verkannte, dass die
hohem Maße auch von der Fähigkeit der Angehörigen bloße Existenz von wirtschaftlicher Macht nicht
der diplomatischen Dienste, in enger Abstimmung automatisch eine Garantie dafür ist, dass der betref-
mit verschiedenen einflussreichen innenpolitischen fende Staat bestimmte geoökonomische Instrumente
staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren zu arbei- in seiner diplomatischen Praxis anwenden kann.
ten. Das ist insbesondere in freien Marktwirtschaften Auch Sascha Lohmann stellt in seinem Beitrag zu
von Bedeutung, in denen volkswirtschaftliche Mittel, diesem Band heraus, dass eine erschöpfende Unter-
die außenpolitische Entscheidungsträger gerne für suchung zur Rolle von Diplomaten bei der Durch-
außenpolitische Zwecke nutzen würden, großenteils setzung geoökonomischer Instrumente wie Sanktio-
in den Händen von zumeist nicht-staatlichen Akteu- nen bislang fehlt. Mit Blick auf diese theoretischen
ren liegen oder zumindest von ihnen beeinflusst Versäumnisse wird hier argumentiert, dass ein netz-
werden. Dazu kommt, dass diese Akteure weitgehend werkbasierter Analyseansatz ein differenzierteres
unabhängig von der direkten Kontrolle durch die Verständnis der innenpolitischen Beziehungen und
Regierung operieren. Im Kontext der europäischen Herausforderungen vermitteln kann, mit denen euro-
Außenpolitik veranschaulicht diese Sichtweise, dass päische Diplomaten und Außenministerien im Be-
der eingeschränkte geoökonomische Einfluss Europas reich der Geoökonomie konfrontiert sind. Eine derart
nicht nur der Herkulesaufgabe geschuldet ist, die diversifizierte Perspektive mag den europäischen
nationalen Interessen aller 28 Mitgliedstaaten ko- Regierungen dazu verhelfen, ihr Engagement auf
ordinieren zu müssen, sondern auch den großen einer der wichtigsten diplomatischen Arenen des
Herausforderungen, denen sich die Regierungen bei 21. Jahrhunderts besser einzuschätzen und letztlich
der Auseinandersetzung und Zusammenarbeit mit zu optimieren.
den nicht-staatlichen Akteuren auf nationaler Ebene
ständig stellen müssen.
Solche strukturellen Gegebenheiten differenziert
zu betrachten ist umso wichtiger, wenn man bedenkt,
dass die jüngsten globalen Umverteilungen des mate-
riellen Wohlstands inzwischen ideelle Veränderun-
gen unter den mächtigen Staaten offengelegt und
5 Joshua Kurlantzick, State Capitalism: How the Return of
verstärkt haben. So bewiesen die »Multipole« China,
Statism Is Transforming the World, New York: Oxford University
Indien und (in geringerem Maße) Russland im letzten
Press, 2016, S. 9; Maaike Okano-Heijmans, »Conceptualizing
Jahrzehnt den größten Erfolg, wenn es darum ging,
Economic Diplomacy: The Crossroads of International
ihre geopolitischen Ziele im globalen Konkurrenz- Relations, Economics, IPE and Diplomatic Studies«, in: The
kampf ihrem wirtschaftlichen Wohlstand anzupas- Hague Journal of Diplomacy, 6 (Januar 2011) 1, S. 7–36.
sen. Diese aufstrebenden Mächte stehen darüber hin- 6 Die holzschnittartige Gegenüberstellung von »Staatskapi-
aus für Regierungsmodelle mit erheblichem Einfluss talismus« und »freier Marktwirtschaft« bezieht sich hier eher
auf die nationalen Wirtschaftsgüter, auch durch um- auf Idealtypen dieser unterschiedlichen Wirtschaftsordnun-
fangreiche Beteiligungen an heimischen Großunter- gen und ist keine empirische Beschreibung von Staat-Markt-
nehmen – Mittel, die sich für strategische außen- Beziehungen. Doch auch wenn in den meisten mächtigen
politische Zwecke einsetzen lassen, zum Beispiel dank Volkswirtschaften (je nach Wirtschaftssektor) Elemente
direkter Einflussnahme auf strategisch wichtige Wirt- beider Arten in den alltäglichen Regierungsstrukturen zu
finden sind, sind die Unterschiede im Grundverständnis
schaftssektoren konkurrierender großer Volkswirt-
dessen, welches Maß an Unabhängigkeit zwischen Staat und
Markt das geeignete sei, so groß, dass die Gegenüberstellung
für analytische Zwecke gerechtfertigt erscheint.

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Kim B. Olsen

Von Sanktionen zu Freihandels- abkommen sowie die weitreichenden und umfassenden


abkommen: Geoökonomie im Aufwind Freihandelszonen mit den Ländern der Östlichen Part-
nerschaft (ÖP). Auch wenn EU-Vertreter geopolitische
Im aktuellen Kontext einer Gemeinsamen Außen- Ziele als Triebfeder für die Heranführung der ÖP-Län-
und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union der an den europäischen Binnenmarkt beharrlich her-
(EU), die in zentralen Aspekten durch den Einsatz unterspielten, lassen die offen skeptischen und aggres-
wirtschaftlicher Ressourcen untermauert wird, ist siven Reaktionen der russischen Regierung in den letz-
eine tiefergehende Debatte über die Rahmenbedin- ten Phasen der Verhandlungen zwischen der EU und
gungen geoökonomischer Diplomatie in Europa vor allem der Ukraine im Jahr 2013 – sowie die Ereig-
höchstes Gebot. Prominente Beispiele für die strate- nisse, die anschließend zur Ukraine-Krise führten –
gische Verwendung von Ressourcen sind die Abkom- darauf schließen, dass Moskau den verharmlosende
men über wirtschaftliche Integration (AWIs)7 und Beteuerungen aus Brüssel keinen Glauben schenkte.
Wirtschaftssanktionen, die in den letzten Jahren zu Der Streit zwischen der EU und Russland in der
den beliebtesten außenpolitischen Instrumenten der Ukraine-Krise ist ein weiterer Ansatzpunkt für die
EU gehörten, um weitreichende geopolitische Inter- Nutzung von Wirtschaftssanktionen, einem ebenfalls
essen durchzusetzen. »beliebten« Instrument der Geoökonomie. Die Vor-
liebe Europas dafür ist seit den 1990er Jahren, der
Verhandlungen über Freihandels- sogenannten Sanktionsdekade, kontinuierlich ge-
zonen und Zollunionen sind häufig wachsen; aktuell hält die EU 35 Sanktionsregime auf-
mit strategischen und geopolitischen recht, deren Spannbreite von der Einfrierung von Ver-
Dimensionen verknüpft. mögen über Einreise- und Durchreiseverbote gegen
gelistete Personen bis hin zu Handelsembargos und
Die umfangreiche und ständig wachsende Liste der finanziellen Restriktionen gegen bestimmte Länder
europäischen AWIs mit Drittländern ist nicht nur ein reicht.9 Auf die Annexion der Krim durch Russland
Beleg für die Wirtschaftsambitionen der EU im inter- im Frühjahr 2014 und den Absturz des Fluges MH17
nationalen Handel, sondern – wie aus verschiedenen über der Ukraine im Sommer 2014 (der mutmaßlich
Fälle aus der jüngeren Vergangenheit hervorgeht – von Rebellen verursacht wurde, die von Russland
auch dafür, dass Verhandlungen über Freihandels- unterstützt werden) reagierten die EU-Mitgliedstaaten
zonen und Zollunionen häufig mit strategischen und mit der Erstellung einer umfangreichen Liste von
geopolitischen Dimensionen verknüpft sind. Die Han- Einzelpersonen und gewerblichen Unternehmen,
delsgespräche zwischen der EU und den Vereinigten die Verbindungen zur Regierung in Moskau haben.
Staaten gestalten sich immer schwieriger: Seit 2016, Damit wurde Russland auf die Liste jener Länder
als die transatlantische Handels- und Investitions- gesetzt, welche die EU mit geopolitisch motivierten
partnerschaft (TTIP) – die einige Politiker sich als Sanktionen aufs Korn nimmt. Neben anderen be-
»wirtschaftliche Nato«8 vorstellten – schon unmittel- kannten Beispielen stehen der Iran und Nordkorea
bar vor dem Abschluss zu stehen schien, hat sich das wegen ihrer Atomprogramme ebenfalls darauf.
Blatt entscheidend gewendet. Donald Trumps An- Interessanterweise gibt es mittlerweile auch in
kündigung aus dem Frühjahr 2018, Einfuhrzölle auf Brüssel, wo das Konzept der europäischen »Wirt-
Stahl und Aluminium zu erheben, löste auf beiden schaftsdiplomatie«10 neuerdings die Runde macht,
Seiten des Atlantiks Befürchtungen über einen dro-
henden Handelskrieg aus.
Eine ähnliche Verknüpfung zwischen Handel und 9 Manuel Lafont Rapnouil, »Signal, Constrain, and Coerce:
geopolitischen Antagonismen manifestierte sich in A More Strategic Use of Sanctions«, in: Ulrike Esther Franke/
den Verhandlungen der EU über die Assoziierungs- Manuel Lafont Rapnouil/Susi Dennison (Hg.), The New Euro-
pean Security Initiative, London: European Council on Foreign
Relations, Dezember 2017, S. 28–30.
7 Definiert als gemeinsamer Begriff für eingeschränkte 10 Brian Hocking/Jan Melissen/Shaun Riordan/Paul Sharp,
oder uneingeschränkte Freihandelsabkommen, präferenzielle Whither Foreign Ministries in a Post-Western World?, Den Haag:
Handelsabkommen und Zollunionen. Netherlands Institute of International Relations »Clingen-
8 Jennifer M. Harris, »America, Europe and the Necessary dael«, April 2013 (Clingendael Policy Brief, Nr. 20); Maaike
Geopolitics of Trade«, in: Survival, 58 (Dezember 2016) 6, Okano-Heijmans/Francesco Saverio Montesano, Who Is Afraid
S. 63–92. of European Economic Diplomacy?, Den Haag: Netherlands Insti-

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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48
Innenpolitische Herausforderungen für die geoökonomische Diplomatie in Europa

immer häufiger konzeptionelle Debatten über die Instrumente erheblich vom Einsatz militärischer Mit-
Schnittstelle zwischen wirtschaftlicher Macht und tel, die ausschließlich von Zivilregierung und Militär
außenpolitischen Zielen sowie den organisatorischen kontrolliert werden. Für die europäische Diplomatie
Umgang damit. Auch wenn es in diesen Diskussionen können aus diesen Besonderheiten auf dem geopoli-
eher darum geht, wie sich die europäischen Wirt- tischen Spielfeld weitreichende Konsequenzen
schaftsinteressen durch den Einsatz politischer Macht erwachsen, insbesondere dann, wenn sie es mit eher
unterfüttern lassen und nicht umgekehrt, so ist es staatskapitalistisch geprägten Ländern ohne derartige
doch erfreulich, dass der strategischen Verbindung strukturbedingte Einschränkungen zu tun hat.
von Staat und Markt mehr Aufmerksamkeit gewid-
met wird. Auf institutioneller Ebene könnten und Im Kontext Europas spielen die nicht-
sollten derartige Auseinandersetzungen zu strategisch staatlichen Akteure eine Schlüssel-
pointierteren Debatten und zur Koordination der rolle, wenn es darum geht, welche
verschiedenen mit internationalen Angelegenheiten außenpolitischen Optionen den
befassten EU-Ratsgremien führen. So ist es beispiels- Diplomaten zur Verfügung stehen.
weise bezeichnend, dass die Koordination zwischen
dem Rat für Auswärtige Angelegenheiten (RAB) und Insgesamt lässt sich der eingeschränkte Zugriff auf
seinen wirtschaftlichen Unterräten für Außenhandel die für geopolitische Zwecke instrumentalisierbaren
und Entwicklungszusammenarbeit den in diesem wirtschaftlichen Ressourcen durch europäische Regie-
Feld tätigen Experten zufolge immer noch ziemlich rungschefs und Diplomaten darauf zurückführen,
rudimentär ist. dass die Diplomaten nicht selbst über die nötigen
wirtschaftlichen Druckmittel verfügen können bzw.
beim Einsatz geoökonomischer Instrumente auf die
Vernachlässigt: Die außenpolitische Rolle Hilfe nicht-staatlicher oder internationaler Organisa-
nicht-staatlicher Akteure in den freien tionen angewiesen sind. Die erstgenannte Situation
Marktwirtschaften Europas tritt auf, wenn Regierungen versuchen, durch Ver-
abschiedung rechtlicher Rahmenbedingungen Instru-
Im europäischen Kontext scheint es besonders wichtig mente wie AWIs oder Sanktionen durchzusetzen,
zu sein, die Rolle innerstaatlicher Strukturen bei der die sich auf die Handelsbeziehungen auswirken. Die
Gestaltung der Handlungsspielräume von Regierun- Wirksamkeit solcher Rahmenbedingungen hängt
gen in der geoökonomischen Diplomatie einer ge- davon ab, ob sie von Unternehmen und anderen
nauen Prüfung zu unterziehen. Hier haben Blackwill Regierungsvertretern gewissenhaft befolgt werden.
und Harris interessanterweise festgestellt, dass die Die letztgenannte Situation bezieht sich zum Beispiel
»heutige Form der Geoökonomie nicht nur neue Optio- auf den instrumentalisierten Einsatz von Wirtschafts-
nen, sondern auch neue diplomatische Instrumente hilfen – kurzfristige Stabilisierungsfonds bis hin zu
bietet«.11 Die eigentliche Relevanz dieser Beobachtung langfristigen Entwicklungsprojekten. Ohne massive
offenbart sich jedoch erst im nachfolgenden Vor- Unterstützung seitens der durchführenden Partner
behalt, dass »einige dieser [geoökonomischen] Instru- vor Ort (Vereinte Nationen, NGOs, Unternehmen usw.)
mente […] den US-amerikanischen und westlichen lässt sich das nicht umsetzen. Dass viele dieser nicht-
Staats- und Regierungschefs gar nicht zur Verfügung staatlichen Akteure über eigene Mittel verfügen, die
stehen«.12 Diese Behauptung wird von den Autoren ihnen auf der internationalen Ebene Unabhängigkeit
zwar nicht weiter belegt, sie bezieht sich jedoch dar- verschaffen, steigert die Komplexität noch; die Akteure
auf, dass Marktakteure in den freien Marktwirtschaf- können in einer Art und Weise agieren, welche die
ten, in denen die Wirtschaftskraft weitgehend in den außenpolitische Agenda einer Regierung untermi-
Händen privater Akteure liegt, relativ unbehelligt von niert. Vor allem im europäischen Kontext spielen die
direkter staatlicher Einmischung agieren können. Da- nicht-staatlichen Akteure daher eine Schlüsselrolle,
mit unterscheidet sich der Einsatz geoökonomischer wenn es gilt, die Frage zu beantworten, welche außen-
politischen Optionen den Diplomatinnen und Diplo-
tute of International Relations »Clingendael«, April 2016 maten auf internationaler Ebene zur Verfügung stehen.
(Clingendael Policy Brief). Eine Dynamik, der in akademischen und Strategie-
11 Blackwill/Harris, War by Other Means [wie Fn. 3], S. 9f. diskussionen über die Zukunft der Diplomatie systema-
12 Ebd. tisch und auf seriöse Weise Rechnung zu tragen ist.

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Kim B. Olsen

Trugschlüsse: Der Strukturalismus und dels« beschreibt.16 Theoretische Warnungen dieser


die geoökonomische Diplomatie Art entbehren zwar nicht eines gewissen Sinns, aber
in diesem Beitrag wird der den strukturellen Ansät-
Betrachtet man jedoch die jüngsten wissenschaft- zen innewohnende Determinismus infrage gestellt.
lichen Debatten zur Geoökonomie, so finden Aspekte Stattdessen tut eine differenzierte Auseinanderset-
wie die Akteurs- und Organisationsebene erstaunlich zung mit der Frage not, auf welche Weise sich die
selten angemessen Beachtung. Stattdessen dominie- Beziehungen von Diplomaten zu verschiedenen in-
ren in der einschlägigen Literatur offenkundig struk- nerstaatlichen Akteuren auf die Fähigkeit der Regie-
turalistische Ansätze, in denen die Relationalität, die rung auswirken können, das geoökonomische Instru-
dem diplomatischen Alltag inhärent ist, weitgehend ment ihrer Wahl auch zum Einsatz zu bringen.
außer Acht gelassen wird. Eine tiefergehende Aus- Analysiert man das geoökonomische Spielfeld
einandersetzung mit den diplomatischen Aspekten der lediglich auf seiner strukturellen Ebene, werden die
Geoökonomie ist damit ausgeschlossen.13 Diese Lite- politisch-ökonomischen Bedingungen und Einschrän-
ratur dreht sich im Wesentlichen um systembezogene kungen, mit denen sich europäische Politiker aus-
Annahmen, die gedanklich auf den Neorealismus einandersetzen müssen, nicht erfasst. In den gegen-
und Neomerkantilismus zurückgehen und uns daran wärtigen Debatten wird der Einfluss akteursspezifi-
erinnern sollen, dass der vermehrte Einsatz wirt- scher Beziehungen auf die Interessen, Verhandlungs-
schaftlicher Mittel in einem von Natur aus instabilen positionen und Ergebnisse einer Regierung folglich
multipolaren internationalen System tendenziell unterschätzt. Solange diese Bedingungen nicht auf
zwischenstaatliche Feindseligkeiten und Konflikte den speziellen Kontext von Staat und Markt sowie das
verschärft. Die aktuelle wissenschaftliche Debatte betreffende geoökonomische Instrument (Sanktionen,
über Geoökonomie bleibt daher inhaltlich begrenzt, AWIs, Wirtschaftshilfe usw.) hin sorgfältig analysiert
da sie häufig auf der undifferenzierten Hypothese werden, wird der wissenschaftliche Diskurs über euro-
beruht, Regierungen wären in der Lage, wirtschaft- päische Geoökonomie an der Realität vorbeigehen,
lichen Wohlstand durch rationale Interessenmaxi- die Diplomaten im geoökonomischen Feld erleben.
mierung in internationale Macht umzumünzen.14
Diese analytische Dickfelligkeit gegenüber den
tatsächlichen Gegebenheiten im geoökonomischen Perspektivenwechsel:
Feld hat auch normative Konsequenzen. In struktu- Von »diplomatischen Systemen«
ralistischen Darstellungen wird die bloße Nutzung zu »diplomatischen Netzwerken«
von geoökonomischen Instrumenten durch Regierun-
gen zum »Einsatz von Volkswirtschaften als Waffe« An sich ist die systematische Berücksichtigung der
oder gar zum »Krieg mit anderen Mitteln« stilisiert.15 Rolle, die einheimische Akteure in außenpolitischen
Die düsterste Darstellung liefert hier Luttwak, der die Entscheidungen spielen, alles andere als neu. In der
Geoökonomie in seinem berühmt-berüchtigten Dik- Literatur zur außenpolitischen Analyse und in Stu-
tum als »Logik des Krieges in der Grammatik des Han- dien zur Diplomatie ist dies mehr oder weniger üb-
lich. Die Arbeiten über eine »Multistakeholder-Diplo-
matie«,17 »nationale Diplomatiesysteme«18 und »Netz-
13 Rebecca Adler-Nissen, »Conclusion: Relationalism
or Why Diplomats Find International Relations Theory
Strange«, in: Ole Jacob Sending/Vincent Pouliot/Iver B. Neu- 16 Edward N. Luttwak, »From Geopolitics to Geo-Econom-
mann (Hg.), Diplomacy and the Making of World Politics, Cam- ics: Logic of Conflict, Grammar of Commerce«, in: The National
bridge, MA: Cambridge University Press, 2015, S. 284–308. Interest, 20 (Sommer 1990), S. 17–23; David Criekemans,
14 Blackwill/Harris, War by Other Means [wie Fn. 3]; Mikael »Where Geoeconomics and Geostrategy Meet: The Troubled
Wigell, »Conceptualizing Regional Powers’ Geoeconomic Relations between the European Union and the Russian
Strategies: Neo-Imperialism, Neo-Mercantilism, and Liberal Federation«, in: J. Mark Munoz (Hg.), Advances in Geoeconomics,
Institutionalism«, in: Asia Europe Journal, 14 (Juni 2016) 2, London/New York: Routledge, 2017, S. 113–120.
S. 135–151. 17 Brian Hocking, »Multistakeholder Diplomacy: Forms,
15 Blackwill/Harris, War by Other Means [wie Fn. 3]; Mark Functions, and Frustrations«, in: Jovan Kurbalija/Valentin
Leonard, »Introduction: Connectivity Wars«, in: ders. (Hg.), Katrandjiev (Hg.), Multistakeholder Diplomacy – Challenges and
Connectivity Wars: Why Migration, Finance and Trade Are the Geo- Opportunities, Genf: DiploFoundation, 2006, S. 13–29.
Economic Battlegrounds of the Future, London: European Council 18 Brian Hocking, »The Ministry of Foreign Affairs and
on Foreign Relations, Januar 2016, S. 13–27. the National Diplomatic System«, in: Pauline Kerr/Geoffrey

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Innenpolitische Herausforderungen für die geoökonomische Diplomatie in Europa

werkdiplomatie«19 lenkten in besonders hilfreichem die Position der Regierung auf internationaler Ebene
Maße den Blick darauf, wie entscheidend das Ver- bestimmt (und umgekehrt), schlage ich vor, diese
halten und die Interessen nationaler Akteure für die Beziehungen eher als ein Geflecht aus unzähligen
moderne Diplomatie sind. In einigen dieser Beiträge miteinander vernetzten sozialen Bindungen zu sehen,
klingen die Debatten zum second image in internatio- die das diplomatische Verhalten einer Regierung in
nalen Beziehungen aus den 1970er bis 1990er Jahren unterschiedlichem Ausmaß beeinflussen. Hockings
erneut an, in denen Wissenschaftler wie Katzenstein, Konzept des »Nationalen Diplomatiesystems« (NDS)
Putnam und Moravcsik verschiedene rationalistische weist in diese Richtung, denn es unterstreicht, dass
Erklärungen dafür anführten, warum innerstaatliche die Rolle der Außenministerien als diplomatisches
Akteure und Strukturen bei der Ausbildung der Gesicht der Regierung durch die Internationalisierung
außenpolitischen Interessen und des Verhandlungs- nationaler Ministerien und Regierungsstellen schon
verhaltens eines Staates auf europäischer oder inter- seit geraumer Zeit infrage gestellt wird.22 Auch wenn
nationaler Ebene eine so wichtige Rolle spielen.20 es sicherlich umfangreiche empirische Belege für
Allerdings liefern weder diese klassischen Werke diese Entwicklung gibt, erfordert der besondere Cha-
noch jüngere »Aktualisierungen« geeignete Instru- rakter der geoökonomischen Diplomatie meiner Mei-
mente, mit denen sich die Beziehungen zwischen nung nach jedoch Analyserahmen, die (1) auch die
»traditionellen« Diplomaten aus den Außenministe- wichtige Rolle der nationalen nicht-staatlichen Ak-
rien und anderen staatlichen – sowie insbesondere teure berücksichtigen und (2) differenzierter erfassen
nicht-staatlichen – Akteuren im geoökonomischen können, wie sich die Einbindung dieser Akteure von
Bereich eingehend untersuchen ließen. Erkenntnisse Fall zu Fall unterscheidet – damit erlauben sie eine
darüber, wie die alltäglichen Praktiken, die Beziehun- weniger statische Auslegung der sich entwickelnden
gen zu den innerstaatlichen Akteuren zu gestalten, Beziehungen und Kooperationen als Hockings Kon-
das diplomatische Verhalten eines Staates auf inter- zept der »Systeme«.
nationaler Ebene beeinflussen, bleiben daher aus. Erkenntnisse aus der rasant wachsenden Literatur
Statt die Beziehung zwischen Regierung und ein- zur Netzwerktheorie in internationalen Beziehungen
heimischen Akteuren als rationales Verhandlungs- können, wie ich meine, beim Aufbau eines solchen
spiel21 auf nationaler Ebene zu verstehen, das dann Analyserahmens eine Brückenfunktion übernehmen.
Aus Platzgründen ist eine weitere Ausführung dieser
Wiseman (Hg.), Diplomacy in a Globalizing World: Theories Ideen hier nicht möglich; in einem ersten Schritt
and Practices, New York: Oxford University Press, 2013, könnte man allerdings das Außenministerium als
S. 123–140. zentralen Knotenpunkt in einem Netzwerk vielfäl-
19 Jorge Heine, »From Club to Network Diplomacy«, in: tiger Beziehungen mit staatlichen und nicht-staat-
Andrew F. Cooper/Jorge Heine/Ramesh Thakur (Hg.), The Ox- lichen Akteuren betrachten. Untersucht man nun die
ford Handbook of Modern Diplomacy, Oxford: Oxford University Praktiken innerhalb des Netzwerks, ließen sich die
Press, 2013, S. 54–69. nationalen Akteure ermitteln, die die Fähigkeit eines
20 Peter J. Katzenstein, »International Relations and Do- Außenministeriums zur Nutzung eines bestimmten
mestic Structures: Foreign Economic Policies of Advanced
geoökonomische Instruments entweder stärken oder
Industrial States«, in: International Organization, 30 (Winter
schwächen.23 Die Positionierung des Außenministe-
1976) 1, S. 1–45; Robert D. Putnam, »Diplomacy and Domes-
tic Politics: The Logic of Two-Level Games«, in: International
Organization, 42 (Sommer 1988) 3, S. 427–460; Andrew Circum-negotiation: Arenas of the Peace Process«, in: Chester
Moravcsik, »Liberal Intergovernmentalism and Integration: A. Crocker/Fen Osler Hampson/Pamela Aall Hg., Managing
A Rejoinder«, in: Journal of Common Market Studies, 33 (Dezem- Global Chaos, Washington, D.C.: United States Institute of
ber 1995) 4, S. 611–628. Peace Press, 1996, S. 419–432) sollte man sich darüber im
21 Das Konzept der Verhandlungsspiele (ein zentraler Klaren sein, dass Diplomaten und andere Akteure ihre Inter-
Grundsatz in den Theorien von Putnam, Moravcsik und an- essen ändern: sowohl dann, wenn sich Beziehungen auf
deren) impliziert, dass sich Verhandelnde immer a priori nationaler wie auf internationaler Ebene entwickeln, als
ihrer Prioritäten und Win-Sets bewusst sind, obwohl man auch – was besonders entscheidend ist – im Verlauf der
weiß, dass diese sich im Laufe der innerstaatlichen Beratun- Verhandlungen selbst.
gen und internationalen Verhandlungen erst entwickeln – 22 Hocking, »The Ministry of Foreign Affairs« [wie Fn. 18].
ein Prozess, der zudem nicht einmal der Reihe nach ab- 23 In Anlehnung an die einflussreiche Definition von
laufen muss. Unter Rückgriff auf das Konzept der »Circum«- Hafner-Burton et al. verstehe ich Netzwerke als ein oder
Verhandlungen (Harold Saunders, »Prenegotiation and mehrere Sets von Verbindungen zwischen einem Set oder

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Kim B. Olsen

riums im Zentrum des Netzwerks spiegelt vielleicht Beobachtern zufolge konnte die Frage der Verhän-
nicht unbedingt empirisch genau dessen Rolle in gung strenger Wirtschaftssanktionen gegen Russland
allen Aspekten der außenpolitischen Beziehungen trotz ihres hohen Spaltungspotenzials den europa-
eines Staates wider, aber diese analytische Maßnahme weiten Konsens in dieser Angelegenheit zwar nicht
erleichterte es zu bestimmen, wie sich den Auswärti- torpedieren. Sanktionsbefürworter wie Deutschland
gen Diensten angehörende »traditionelle« Diplomaten und Frankreich sahen sich aber erneut mit erheb-
zu den relevanten staatlichen und nicht-staatlichen lichem Widerstand von Mitgliedstaaten konfrontiert,
Akteuren verhalten – und wie sich dies auf die Hand- die weniger geneigt waren, das harte Vorgehen gegen
lungsfähigkeit eines Landes im diplomatischen Moskau mitzutragen.25
Bereich der Geoökonomie auswirkt.24 Diese Verhandlungsdynamik zwischen den Regie-
rungen ist ein Charakteristikum der EU-Außenpolitik.
Doch im Bereich der Geoökonomie sind noch andere
Wirksame europäische Sanktionen? Dynamiken zu berücksichtigen, deren Nuancen und
Deutsche innerstaatliche Netzwerke und Weiterungen ein netzwerkbasierter Ansatz zu beleuch-
die EU-Sanktionen gegen Russland ten hilft: Auf welche Weise wurde der Einsatz von
Wirtschaftssanktionen gegen Russland von innen-
Die oben genannten Wirtschaftssanktionen Europas politischen Akteuren angefochten und beeinflusst?
gegen Russland sind ein anschauliches Beispiel dafür, Zu diesen Akteuren gehörten einige, die sonst kein
wie mit einem solchen netzwerkbasierten Ansatz erkennbares Interesse an den Beschlüssen der EU-
die innenpolitischen Probleme aufgedeckt werden Außenpolitik zeigen, und andere, die sich für die
können, vor denen europäische Diplomaten im geo- Hauptleidtragenden der mit den Sanktionen ver-
ökonomischen Wettbewerb stehen. Im Frühjahr und bundenen Handels- und Finanzbeschränkungen
Sommer 2014 verhängte die EU als Reaktion auf die halten. Aus Platzgründen muss eine eingehende Ana-
rechtswidrige Annexion der Halbinsel Krim und auf lyse der Umstände, die zur Ausarbeitung, Annahme
den Abschuss des Fluges MH17 über der Ukraine weit- und Umsetzung der Sanktionen führten, hier aus-
reichende Sanktionen gegen Russland. Nachdem die bleiben. Einige kurze Überlegungen zu den inner-
Annexion mit Vermögens- und Visasperren für Ein- staatlichen Problemen, mit denen das deutsche Aus-
zelpersonen geahndet worden war, erließ der Euro- wärtige Amt als einer der Hauptakteure in diesem
päische Rat nach dem Flugzeugabschuss im Juli 2014 Prozess zu kämpfen hatte,26 mögen verdeutlichen,
allgemeine Wirtschaftssanktionen, die im Wesent- wie die strukturellen Voraussetzungen für den Ein-
lichen Handel und Wandel mit dem russischen Ban- satz des Sanktionsinstruments durch eine netzwerk-
ken-, Energie- und Militärsektor betrafen. orientierte Linse betrachtet aussehen.
Die Ukraine-Krise traf von Anfang an einen poli-
tischen Nerv bei jenen politischen Entscheidungs-
mehreren Sets von Knotenpunkten. Netzwerkanalyse »be- trägern in Berlin, die sich ohnehin bereits mit der
schäftigt sich mit Beziehungen, die durch Verbindungen schwierigen Frage beschäftigt hatten, ob die aktuellen
zwischen Knotenpunkten (oder Vermittlern) bestimmt
Leitlinien zur deutschen Russlandpolitik noch an-
werden [und] befasst sich eher mit den Verknüpfungen
gemessen seien.27 Platziert man das Auswärtige Amt
zwischen den Knotenpunkten als mit den Eigenschaften
bestimmter Knotenpunkte« (Emilie M. Hafner-Burton/Miles
Kahler/Alexander H. Montgomery, »Network Analysis for
International Relations«, in: International Organization, 63 25 Ein guter Überblick findet sich in Mitchell A. Orenstein/
Juli 2009 3, S. 559–592 [562]). R. Daniel Kelemen, »Trojan Horses in EU Foreign Policy«, in:
24 Da ich dem Staat in meinem Analyserahmen eine zen- Journal of Common Market Studies, 55 (Januar 2017) 1, S. 87–102.
trale Rolle einräume, unterscheidet sich mein Ansatz von 26 Obwohl das EU-Sanktionsregime von allen EU-Mitglied-
dem der florierenden Forschungsagenden zu transnatio- staaten einstimmig verabschiedet wurde, kam Deutschland
nalen, grenzübergreifenden Netzwerken und neuen Formen – gemeinsam mit Frankreich – im sogenannten Norman-
einer Weltordnung in Netzwerken jenseits des Nationalstaats die-Format eine zentrale Rolle bei den Verhandlungen der
(Miles Kahler [Hg.], Networked Politics: Agency, Power, and Govern- EU mit Russland und der Ukraine zu.
ance, Ithaca, NY: Cornell University Press, 2009; Anne-Marie 27 Tuomas Forsberg, »From Ostpolitik to ›Frostpolitik‹?
Slaughter, The Chessboard & the Web – Strategies of Connection in Merkel, Putin and German Foreign Policy towards Russia«,
a Networked World, New Haven, CT/London: Yale University in: International Affairs, 92 (Januar 2016) 1, S. 21–42; Marco
Press, 2017). Siddi, »German Foreign Policy towards Russia in the After-

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Innenpolitische Herausforderungen für die geoökonomische Diplomatie in Europa

der Bundesrepublik Deutschland in das Zentrum des kam. Auch wenn die positive Haltung des BDI intern
Netzwerks, lässt sich eine große Vielfalt an einheimi- durch den untergeordneten Verband deutscher Groß-
schen Akteuren identifizieren – von anderen Minis- unternehmen mit Interesse in den russischen und
terien und Abgeordneten des Bundestags oder der osteuropäischen Märkten – dem Ost-Ausschuss der
Länderparlamente über Unternehmensverbände und Deutschen Wirtschaft – angefochten wurde, stärkte
Großunternehmen bis hin zu ehemaligen Staats- die Rückendeckung durch den BDI die Netzwerk-
männern –, die jeweils Druck auf das Außenminis- position des Auswärtigen Amts gegenüber der zum
terium ausübten und seinen Spielraum bei der Aus- Teil skeptischen deutschen Geschäftswelt, die erheb-
handlung und Umsetzung der Sanktionen in den liche Verluste in ihren Handelsbeziehungen mit Russ-
Jahren 2014 bis 2016 beeinflussten. Hier einige wich- land fürchtete. Es gibt zwar nur wenige Anzeichen
tige Beispiele: dafür, dass deutsche Unternehmen offen gegen die
Sanktionen verstießen, aber doch Fälle wie die Liefe-
a) Regierungsbehörden: Das Auswärtige Amt war einem rung von Gasturbinen des deutschen Unternehmens
doppelten Druck seitens anderer führender Regie- Siemens an die sanktionierte Krim (wohl ohne Wissen
rungsbehörden ausgesetzt. Zum einen waren Kanz- der Unternehmensführung), die beweisen, dass die
lerin Merkel und ihr Kanzleramt bereits in einem Durchsetzung von Sanktionen aufgrund von Geset-
frühen Stadium des Konflikts aktiv an den Sanktions- zeslücken und komplexen Produktions- und Liefer-
verhandlungen beteiligt und verfolgten einen härte- ketten erschwert werden kann.
ren Konfrontationskurs gegen Moskau, als es dem
SPD-geführten Auswärtigen Amt lieb war. Das Kanz- c) Landesregierung: Innenpolitischer Druck seitens
leramt ist regelmäßig an wichtigen außenpolitischen der bayerischen Landesregierung offenbarte sich im
Entscheidungen beteiligt, aber aufgrund der poten- Besuch des damaligen bayerischen Ministerpräsiden-
ziellen Einbußen für führende deutsche Unterneh- ten Seehofer beim russischen Präsidenten Putin im
men und der weltpolitischen Dimensionen stand hier Februar 2016. Ohne direkte Zustimmung der deut-
politisch erheblich mehr auf dem Spiel. Die fehlende schen Bundesregierung vertrat Seehofer in der Sank-
politische Abstimmung zwischen dem Kanzleramt tionsfrage eine entgegenkommendere Haltung als die
und dem Auswärtigen Amt – insbesondere zu An- Bundesregierung. Seehofers Besuch war höchstwahr-
fang, als das EU-Sanktionsregime entworfen wurde – scheinlich ein Signal an in Bayern ansässige kleine
ließ bei Diplomaten aus anderen europäischen Mit- und mittlere Unternehmen, die lautstark ihrem Un-
gliedstaaten gelegentlich Zweifel darüber aufkom- behagen angesichts der EU-Sanktionen und russi-
men, welche politische Linie Deutschlands »wirklich« schen Gegensanktionen Ausdruck verliehen hatten.
vertrat. Zum anderen plädierte das Wirtschaftsminis- Der Einfluss der deutschen Geschäftswelt war daher
terium sowohl in internen Diskussionen als auch in auf mehreren Regierungsebenen spürbar.
öffentlichen Erklärungen wiederholt für einen schnel-
leren Abbau der Sanktionen, als vom Auswärtigen Die Herausforderungen im Inland
Amt geplant war. Damit kam es sowohl Forderungen sind Beispiele für die komplexen
von Teilen der SPD-Parteibasis als auch der Stimmung Schwierigkeiten, denen Diplomaten
in der deutschen Wirtschaft nach. Diese Dualität stell- bei der Mobilisierung wirtschaft-
te die Rolle des Außenministeriums als einheitliche licher Instrumente gegenüberstehen.
Stimme der deutschen Regierung in Verhandlungen
mit anderen europäischen Partnern und der russi- Kurzum: Während deutsche Diplomaten sich in
schen Regierung fortwährend infrage. den EU-Verhandlungen mit Russland und bei der Ziel-
formulierung der Sanktionspolitik gegen Russland
b) Unternehmensverbände: Als wichtiger Vertreter der an vorderster Front befanden, macht die Netzwerk-
deutschen Unternehmen trat der Bundesverband der perspektive deutlich, dass das Auswärtige Amt der
Deutschen Industrie (BDI) in einem frühen Stadium Bundesrepublik Deutschland beträchtliche Ressourcen
öffentlich für die Sanktionen ein, was Deutschlands aufwenden musste, um in dem Geflecht aus nationa-
Bemühungen auf diplomatischer Ebene entgegen- len Akteuren zu lavieren und sich einen kohärenten
Zugriff auf das in der geoökonomischen Auseinander-
math of the Ukraine Crisis: A New Ostpolitik?«, in: Europe-Asia setzung mit Russland so dringend benötigte wirtschaft-
Studies, 68 (Juni 2016) 4, S. 665–677. liche Druckmittel zu sichern. Die andauernden und

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sehr unterschiedlichen Herausforderungen im Inland nen im Gegensatz zu anderen Instrumenten der


sind konkrete Beispiele für die komplexen Schwierig- Außenpolitik direkt auf einheimische Unternehmen
keiten, mit denen Diplomaten bei der Mobilisierung auswirken. Das kann nicht nur zu interinstitutio-
wirtschaftlicher Instrumente konfrontiert sind, die nellen Grabenkämpfen führen, sondern auch Anreize
letztlich nicht allein ihrer Kontrolle unterliegen. für innerstaatliche Akteure schaffen, die Politik der
eigenen Regierung zu unterlaufen. Diplomatinnen
und Diplomaten sind daher gefordert, sich in einem
Schlussbemerkungen hochgradig unbeständigen innerstaatlichen Umfeld
zurechtzufinden, und Experten im Bereich der Geo-
2011 rückte die damalige US-Außenministerin Hillary ökonomie, sich der Unberechenbarkeit und Kom-
Clinton Überlegungen zu den Fähigkeiten, die Diplo- plexität dieser Netzwerke im Inland bewusst zu sein.
maten für ihre Arbeit an der Schnittstelle zwischen Eine ähnliche Ansicht vertraten Bagger und von
Außenpolitik, Volkswirtschaft und Geschäftswelt brau- Heynitz, als sie die These vom »vernetzten Diploma-
chen, in den Mittelpunkt einer bedeutenden Rede. ten« erarbeiteten, der in der Lage sein soll, Ideen von
Ihrer Einschätzung nach wird künftig ein großer außen ebenso wie die Interessen einer Vielzahl staat-
Bedarf an Diplomaten bestehen, die in der Lage sind, licher und nicht-staatlicher Akteure in seine Tätigkeit
»sowohl auswärtige Angelegenheiten als auch das zu integrieren.29 Fletchers Vorstellungen vom moder-
[Softwaresystem] ›Bloomberg Terminal‹ zu verste- nen »nackten Diplomaten«, der sich ständig auf sich
hen«.28 Die Kernaussage Clintons war deutlich: Nicht rasch verändernde und unvorhersehbare Gegeben-
nur die Diplomaten, die Handelsgespräche führen heiten einstellen und inmitten einer Fülle von Akteu-
(Handelsdiplomatie) oder einheimische Unternehmen ren in der realen wie in der digitalen Welt agieren
dabei unterstützen, sich erfolgreich auf ausländischen muss, zielen in dieselbe Richtung.30 Aber auch wenn
Märkten zu bewegen (Wirtschaftsdiplomatie), müssen diese Beobachtungen unsere Sensibilität für Dynami-
den geoökonomischen Raum verstehen und hand- ken auf dem sich wandelnden Spielfeld der moder-
haben können, sondern auch die Diplomaten, die nen Diplomatie schärfen, liefern sie keine hinlänglich
sich mit den »klassischen« sicherheitsbezogenen und schlüssigen Antworten auf die wichtigsten Fragen der
geopolitischen Problemen beschäftigen. Geoökonomie. Einige der für künftige Forschungen
Solche Überlegungen zum besonderen Charakter relevantesten Themen betreffen die Umstände, unter
der geoökonomischen Diplomatie lassen sich offen- denen innerstaatliche Akteure Einfluss darauf neh-
kundig auch auf allgemeinere Erörterungen der Funk- men können, welche geoökonomischen Instrumente
tion und Wirkung nicht-staatlicher Akteure in der Regierungen zur Verfügung stehen, das Wie der Ein-
modernen Diplomatie beziehen. Mit der zunehmen- flussnahme und die Bedeutung der vernetzten Realität
den Bedeutung der Geoökonomie für außenpolitische für den Handlungsspielraum der europäischen
Entscheidungsträger in aller Welt ändern sich die An- Außenpolitik auf der internationalen Bühne. Doch
forderungen an die europäische Diplomatie und ihre die in diesem Beitrag behandelten Dynamiken im
Diplomaten rasant. Die traditionelle, auf die staat- eigenen Land, mit denen sich die im Bereich der
liche Ebene bezogene Auffassung von Diplomatie ver- Geoökonomie agierenden Diplomaten auseinander-
liert zusehends an Bedeutung, und es müssen neue setzen müssen, sind das eine – ebenso wichtig für
Analyseansätze unter Berücksichtigung der Vernet- die Beantwortung der hier aufgeworfenen (und ähn-
zung von Außenministerien mit anderen staatlichen lichen) Fragen, die für die Diplomatie und die ent-
und nicht-staatlichen Akteuren entwickelt und disku- sprechende Forschung im frühen 21. Jahrhundert
tiert werden. höchst relevant sein werden, sind die oftmals kom-
Wie das Beispiel der innerstaatlichen Herausforde- plexen Beziehungen zu internationalen (nicht-staat-
rungen für das deutsche Auswärtige Amt im Hinblick lichen) Akteuren.
auf eine gemeinsame Regelung für EU-Sanktionen
gegen Russland zeigt, können sich Wirtschaftssanktio-
29 Thomas Bagger/Wolfram von Heynitz, »Der vernetzte
Diplomat: Von vernetzter Sicherheit zu einer ›netzwerk-
28 Hillary R. Clinton, »Economic Statecraft«, Speech at orientierten Außenpolitik‹«, in: Zeitschrift für Außen- und
the Economic Club of New York, New York City, 14.10.2011, Sicherheitspolitik, 5 (Oktober 2012) 1, S. 49–61.
<https://2009-2017.state.gov/secretary/20092013clinton/rm/ 30 Tom Fletcher, The Naked Diplomat: Power and Statecraft in
2011/10/175552.htm> (eingesehen am 24.7.2018). the Digital Century, London: William Collins, 2016.

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Autismus in der Außenpolitik

Hanns W. Maull

Autismus in der Außenpolitik

»Diplomatie« wird in diesem Band als Verfolgung der lisierung«. Die Globalisierung hat die wechselseitigen
aufgeklärten Eigeninteressen von politisch organisier- Abhängigkeiten zwischen Individuen und Gesell-
ten Gemeinwesen1 in und durch Interaktion mit an- schaften vertieft, eine Entwicklung, die sich fortset-
deren Staaten, aber auch mit anderen internationalen zen und wahrscheinlich noch beschleunigen wird.
Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Die Globalisierung hat auch den Staat verändert
oder transnationalen Konzernen definiert. Als aus- und wird dies weiterhin tun; das Gleiche gilt für die
führendes Organ der Außenpolitik wird die Diploma- Anforderungen, die ein effektiv funktionierender
tie daher eine Schlüsselrolle spielen, wenn es darum Staat erfüllen muss. Immer mehr Staaten (die nicht
geht, die Weltpolitik – und die Welt selbst – dauer- selten schon seit ihrer Gründung eher als »Quasi-
haft friedlich zu gestalten. Diplomaten repräsentieren Staaten« gelten mussten)2 gelingt dies nicht mehr,
also Gemeinwesen; Diplomatie beschäftigt sich mit Poli- was dazu führen kann, dass sie zu »scheiternden«
tik, anders ausgedrückt mit der Art und Weise, wie oder gar »gescheiterten« Staaten gezählt werden.
die internationalen Beziehungen geregelt werden. Sie
soll politische Strategien entwickeln und umsetzen, um Die Logik des technologischen Wan-
spezifische Ziele des Gemeinwesens zu verwirklichen dels verlangt politische Steuerung
und darüber hinaus ein produktives Zusammenleben von einer Dichte und Qualität,
aller Staaten und Völker zu ermöglichen. die bislang weitgehend auf den
Nationalstaat beschränkt war.

Was Diplomatie leisten muss: Dieselbe Logik entfaltet über den Nationalstaat
Anforderungen an supranationale hinaus ihre Wirkung. Die zunehmende Interdepen-
Steuerung im Wandel denz veränderte und verändert die Anforderungen an
politische Steuerung jenseits der staatlichen Ebene.
Das Betreiben nationaler Politik und die Fähigkeit Gleichzeitig transformiert die Globalisierung die In-
von Staaten, im Rahmen einer allgemeinen Grund- nenpolitik, indem Bürgerinnen und Bürger bzw. ihre
orientierung (einer nationalen grand strategy oder Interessenvertreter die politischen Führungen mit
eines »Rollenkonzepts«) politische Strategien zu politischen Forderungen konfrontieren, die mit dem
entwickeln und umzusetzen, scheinen weltweit zweiten langfristigen Trend verschmelzen, der die
tiefgreifenden Veränderungen unterworfen zu sein. Diplomatie im 21. Jahrhundert betrifft: der Revolution
Zwei Hauptkräfte sind dafür verantwortlich: die steigender Erwartungen. Diese richten sich sowohl auf
Umwälzungen durch den technologischen Wandel materielle Vorteile als auch auf normative oder ideo-
und durch steigende Erwartungen der Menschen. logische Ansprüche. Als Triebkräfte hinter all diesen
Der technologische Wandel, der vom wissenschaftlichen kollektiven Erwartungen lassen sich das Versprechen
Fortschritt und seiner Umsetzung in praktische Pro- auf materielles Wachstum und eine Weltsicht aus-
blemlösungen und Bedürfnisbefriedigung voran- machen, die Yuval Harari als »Humanismus« bezeich-
getrieben wird, hat – auch grenzüberschreitend –
zu einer exponentiellen Zunahme jeglicher Formen
sozialer Interaktion geführt. Wir nennen das »Globa-

1 In der Regel sind dies Staaten bzw. staatenähnliche Ein- 2 Robert H. Jackson, Quasi-States: Sovereignty, International
heiten oder internationale Organisationen, die Staaten Relations, and the Third World, Cambridge: Cambridge Uni-
repräsentieren. versity Press, 1993.

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Hanns W. Maull

net und in der das Individuum im Mittelpunkt unse- nationalen Politik bleiben ihre Ergebnisse häufig
res Gesellschaftsverständnisses steht.3 hinter dem zurück, was gebraucht und erwartet wird.
Beide Triebkräfte entfalten eine durchschlagende Dieses Hinterherhinken hat wiederum zwei Konse-
Wirkung. Hinzu kommt, dass sich immer mehr Men- quenzen, eine direkte und eine indirekte. Die direkte
schen auf dem Globus drängen und die Handlungs- Konsequenz bezieht sich auf das, was im vorletzten
fähigkeit des Einzelnen aufgrund von Bildung und Absatz erörtert wurde: auf die Schere zwischen den
Wissen stetig zunimmt. Infolgedessen steigen Erwar- Anforderungen an eine internationale Steuerung und
tungen geradezu exponentiell. Das wiederum erhöht den bestehenden Mechanismen der internationalen
den Druck auf die Politik, und zwar inner- wie Zusammenarbeit. Die Fähigkeit zu globaler Steuerung
zwischenstaatlich. kann aber auch als Folge der Veränderungen in der
nationalen Politik indirekt dadurch beeinträchtigt
werden, dass sowohl die Fähigkeiten eines Staates als
Was Diplomatie leisten kann: Die Hürde auch die Bereitschaft einer Regierung zur internatio-
nationaler Souveränitätskonzepte nalen Zusammenarbeit leiden – etwa dadurch, dass
populistische Bewegungen die Politik zu beeinflussen
Die Fähigkeit der Politik, auf den steigenden Bedarf beginnen, wie dies in etlichen westlichen Demokra-
an politischer Steuerung und die zunehmenden tien zu beobachten ist.4 Dieselbe Problematik macht
Erwartungen daran diesseits und jenseits der Staats- sich allerdings auch in Autokratien bemerkbar, etwa
grenzen zu reagieren, hat insgesamt wohl durchaus in der Volksrepublik China. Dort erkannte die Kom-
zugenommen, wenngleich es zweifellos auch Fälle munistische Partei die Gefahr, dass sich ihre poli-
von Negativentwicklungen und Rückschritten gab tischen Strategien als unzureichend für die Bewälti-
(die zum Beispiel zu Staatsversagen führten). Es gung der enormen Herausforderungen erweisen
besteht jedoch offenbar eine wachsende Diskrepanz könnten, die mit der Transformation des Landes ein-
zwischen den Realitäten der Interdependenz und hergehen. Sie reagierte darauf, indem sie alle Macht
steigenden Erwartungen auf der einen und der Fähig- im Staate an der Spitze konzentrierte, um die poli-
keit der Politik auf der anderen Seite, die Welt im tische Ordnung schneller und wirksamer mit den
Rahmen einer effektiven internationalen Ordnung Anforderungen des technologischen Wandels und
zu regieren. Diese Diskrepanz ist maßgeblich auf den steigenden Erwartungen in Einklang bringen und
das Konzept der nationalstaatlichen Souveränität zurück- die Fortschritte in der Informations- und Kommuni-
zuführen oder, genauer gesagt, darauf, wie dieses kationstechnologie optimal nutzen zu können. Sollte
Konzept im Allgemeinen verstanden und gehandhabt sie damit Erfolg haben, mag das »chinesische Modell«
wird. Das traditionelle Verständnis von Souveränität einer technokratisch autoritären Regierungsführung
hemmt die internationale Politik, sich im Gleich- durchaus auch anderswo Schule machen; das Inter-
schritt mit dem Druck zu wandeln, unter den sie esse an diesem Modell ist bereits heute groß.
durch die Doppeldynamik von technologischem
Wandel und der Revolution steigender Erwartungen
geraten ist. Das Konzept des außenpolitischen
Die Diplomatie befindet sich unmittelbar an dieser Autismus
Kluft zwischen der Nachfrage nach einer Weltregie-
rung und dem Angebot seitens der nationalen Außen- Ein Opfer dieser Zersetzung nationalstaatlicher Politik
politiken: Die »Weltregierung« ist schließlich nichts durch die Spannung zwischen Nachfrage nach und
anderes als Diplomatie oder, genauer gesagt, das Angebot an (globaler) Steuerung ist die Außenpolitik,
Ergebnis der Interaktionen nationaler Diplomatien. und zwar in einer Weise, die man als autistische Ten-
Aufgrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen denzen in der nationalstaatlichen Politik bezeichnen
Steuerungsbedarf und Steuerungsleistung der inter- könnte. Geprägt wurde der Begriff »Autismus« ur-
sprünglich 1911 durch den Schweizer Psychiater
Eugen Bleuler, der damit eine Form unsozialen Ver-
3 Yuval Noah Harari, Homo Deus: A Brief History of Tomorrow,
London: Harvill Secker, 2016, S. 220–277. In deutscher
Übersetzung von Andreas Wirthensohn 2017 erschienen 4 Francis Fukuyama, Political Order and Political Decay: From
unter dem Titel Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen im Ver- the Industrial Revolution to the Globalization of Democracy, New
lag C. H. Beck, München (S. 301–377). York: Profile Books, 2014.

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Autismus in der Außenpolitik

haltens von Individuen beschrieb. Für ihn war Autis- ten Vorlieben für unmittelbare Wunschbefriedigung
mus ein Grundsymptom der Schizophrenie: ein Rück- und vom »Über-Ich«, das die internalisierten Ansprü-
zug von der Außenwelt in eine eigene innere Welt. che der Eltern und der Gesellschaft darstellt. Diese
Sigmund Freud übernahm den Begriff und wandte inneren Anforderungen müssen vom Ich mit den
ihn auf ähnliche Weise auf bestimmte Verhaltens- Anforderungen des »Realitätsprinzips« harmonisiert
anomalien seiner Patienten an. werden – also mit den Risiken und Chancen im
Das Konzept wurde und wird gelegentlich als Meta- realen Umfeld des Individuums. Für Senghaas war die
pher in der Theorie der Internationalen Beziehungen Abschreckungs- und Drohpolitik autistisch: Die Regie-
(IB) benutzt.5 Dort beruht es auf der Analogie, die rungen, die diese Politik verfolgten, konstruierten
zwischen dem Verhalten Einzelner und dem von seiner Meinung nach in ihrer Wahrnehmung ihre
Staaten hergestellt wird – eine Analogie, die nicht eigenen verzerrten Bilder von der sie umgebenden
unproblematisch ist, aber in der IB-Theorie häufig Realität der internationalen Beziehungen und legi-
Anwendung findet.6 Mir sind nur zwei hinlänglich timierten damit ihre Entscheidungen und Handlun-
systematische Versuche bekannt, die Metapher vom gen sowie deren Ergebnisse (beispielsweise die Reak-
Autismus im Sinne Bleulers und Freuds bei der Ana- tionen der »Feinde«). Diese wurden dann als Bestäti-
lyse von Außenpolitik und internationalen Beziehun- gung ihrer ursprünglichen Entscheidungen wahr-
gen anzuwenden. Der umfassendere der beiden genommen und dienten somit wiederum zur Legiti-
Versuche wurde von Karl W. Deutsch und seinem mierung weiterer Schritte. Das Ergebnis war in der
deutschen Schüler Dieter Senghaas unternommen. In Regel die Eskalation der Spannungen und Risiken
einem gemeinsam verfassten Artikel benutzten sie einer gewaltsamen Auseinandersetzung.8
Freuds psychoanalytische Terminologie, um ganz Edward Luttwak ist der andere Autor, der das Kon-
allgemein außenpolitisches Verhalten zu analysie- zept des Autismus nutzte. In seinem Buch The Rise of
ren.7 Senghaas entwickelte die Analogie dann in China versus the Logic of Strategy9 stellte er die Theorie
seiner Arbeit über atomare Abschreckung und »Droh- auf, dass China nicht in der Lage gewesen sei, eine
politik« im Kalten Krieg weiter, wobei dem Konzept grand strategy zu entwickeln und umzusetzen, weil
des Autismus in dieser Arbeit eine Schlüsselrolle zu- es eine grob vereinfachte und irreführende Sicht der
kam. Deutsch und Senghaas zufolge sind Regierun- Realität habe. Luttwak zufolge ist dieser »strategische
gen vergleichbar mit dem Ich eines Einzelnen, das Autismus« auf die Tatsache zurückzuführen, dass
permanent damit ringt, von innen und von außen China den Großteil seiner Geschichte hindurch vom
kommende widersprüchliche Anforderungen und Rest der Welt jenseits Ostasiens abgeschnitten war.
Zwänge miteinander in Einklang zu bringen. Inner- China unterstelle den Vereinigten Staaten Motive
halb des Individuums kommen die Anforderungen und Ziele (wie den Drang zur Expansion und Vor-
vom »Es« mit seinen emotionalen und instinktgeleite- herrschaft über andere), die es selber verfolgen
würde, wenn es in der Position der USA wäre. Zudem
sei es unfähig, die Welt auf andere Art zu sehen als
5 Stephen Michael Christian, »Autism in International durch die chinesische Linse. Das führe dazu, dass
Relations: A Critical Assessment of International Relations’
China die Realität zu stark schematisiere und ver-
Autism Metaphors« [erstmals im März 2017 veröffentlicht],
einfache, weshalb es in Opportunismus verfalle und
in: European Journal of International Relations, 24 (Juni 2018) 2,
Ablenkungsmanöver inszeniere.
S. 464–488.
6 Die von Christian vorgebrachte Kritik an der Verwendung
Es ist fraglich, inwieweit Senghaas’ Ansichten über
der Metapher, dass diese eine Form von »able-ismus« enthal- atomare Abschreckung während des Kalten Kriegs
te, scheint angesichts folgender Analogie zu kurz gegriffen: oder Luttwaks Interpretation von Chinas grand strategy
Der Wunsch, einzelne Menschen davor zu schützen, als zutreffend und nützlich sind, aber darum geht es hier
»unsozial« und dadurch gewissermaßen krank zu gelten, er- nicht. Ich bin vielmehr an dem grundsätzlichen Argu-
scheint zwar gut gemeint und verständlich (wenn auch nicht
unbedingt überzeugend), aber eine analoge Anwendung auf
Staaten steht doch logischerweise in einem ganz anderen 8 Dieter Senghaas, »Zur Analyse der Drohpolitik in den
Zusammenhang. internationalen Beziehungen«, in: ders. (Hg.), Rüstung und
7 Karl W. Deutsch/Dieter Senghaas, »Die brüchige Vernunft Militarismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1972, S. 28–93.
von Staaten«, in: Dieter Senghaas (Hg.), Kritische Friedens- 9 Edward N. Luttwak, The Rise of China vs. the Logic of Strategy,
forschung, 6. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 105– Cambridge, MA: Belknap Press of Harvard University Press,
163. 2012, S. 12ff.

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ment interessiert, das beide vorbringen, wonach Staa- d) APA als »emotionale Politik« resultiert aus Bil-
ten (genau wie Individuen) unter bestimmten Um- dern und Wahrnehmungen der Welt, die aufgrund
ständen ernstlich in ihrer Fähigkeit beeinträchtigt emotional aufgeladener kollektiver Einstellungen
sein können, ihr internationales Umfeld realistisch grob verzerrt sind. Das können Gefühle wie Angst,
wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren Abscheu oder Hass gegenüber »Feinden«, Schuldge-
– ein politisches Defizit, das die Autoren als »Autis- fühle wegen vergangener Ereignisse oder Neid und
mus« bezeichnen. Frustration angesichts des eigenen aktuellen Status
sein. Wie Senghaas und andere zeigten, können
»Außenpolitischer Autismus« (APA) derartige dysfunktionale Wahrnehmungen der
beschreibt Verhaltensmuster, die Weltpolitik dazu führen, dass sich Staaten kognitiv
durchgehend unangemessen sind. abschotten und Beobachtungen nicht mehr zur
Kenntnis nehmen, die den eigenen Gefühlen und
Meiner Meinung nach ist dieses Konzept durchaus Weltbildern nicht entsprechen. Die sich daraus
hilfreich für die Beschreibung eines Spektrums an pro- ergebende »Theorie« bzw. das »Modell« der Welt ist
blematischen außenpolitischen Verhaltensmustern selbstreferenziell und hermetisch gegen Korrekturen
von Staaten. (Dies entspricht auch dem gegenwär- an der Realität abgeschlossen; jegliche Beobachtung
tigen psychologischen Verständnis von Autismus bei wird auf eine Art und Weise erklärt, die das eigene
Individuen.) Dazu definiere ich außenpolitischen Bild der Wirklichkeit und des Anderen stützt. Wenn
Autismus (APA) folgendermaßen: Peking also davon überzeugt ist, dass die USA Chinas
a) APA beschreibt außenpolitische Verhaltens- Aufstieg verhindern wollen, wird jedwede US-ameri-
muster, die durchgehend unangemessen sind (also kanische Politik und Entscheidung als Schachzug
entweder zu ineffektiv oder zu destabilisierend, um interpretiert, um dieses Ziel zu verfolgen.
die aufgeklärten kollektiven Interessen des Staates Freud definierte das »Es« als Teil des Verstands und
und seines Volkes zu realisieren). stellte fest:
b) APA kann die Folge spezifischer politischer
Fehlentwicklungen oder von emotional aufgeladener »Das Es, von der Außenwelt abgeschnitten, hat
Politik sein. seine eigene Wahrnehmungswelt. Es verspürt mit
c) Eine politische Fehlentwicklung liegt etwa außerordentlicher Schärfe gewisse Veränderungen
vor, wenn spezifische organisierte Interessen in der in seinem Inneren, besonders Schwankungen in
außenpolitischen Entscheidungsfindung unangemes- der Bedürfnisspannung seiner Triebe, die als Emp-
sen hohen Einfluss ausüben. Wie Mancur Olson in findungen der Reihe Lust-Unlust bewusst wer-
seinem Buch The Rise and Decline of Nations10 überzeu- den. […] es steht fest, dass die Selbstwahrnehmun-
gend argumentiert, leiden Gesellschaften, die über gen […] die Abläufe im Es mit despotischer Gewalt
einen langen Zeitraum wirtschaftlich und sozial beherrschen. Das Es gehorcht dem unerbittlichen
erfolgreich sind, häufig unter einem Ausufern orga- Lustprinzip.«11
nisierter Interessenverbände. Das verlangsamt die
Politikgestaltung und reduziert sie auf den kleinsten In unserer Analogie wären »Triebe« organisierte In-
gemeinsamen Nenner und kurzfristige Lösungen. Ein teressengruppen, aber auch kollektive Emotionen
weiterer dysfunktionaler Aspekt der Politik könnte in Form etwa von Nationalismus und ideologischem
eine übermäßig taktische Nutzung außenpolitischer Fanatismus. An dieser Stelle sollte nochmals fest-
Inhalte für innenpolitische Manöver sein. (Hier ist die gehalten werden, dass hier von Verhaltensmustern
nähere Bestimmung »übermäßig« wichtig: Sie impli- die Rede ist, die grundsätzlich als »normal« gelten
ziert, dass diese Schwächen »normal« sind, wenn sie können: Jede Außenpolitik spiegelt in einem gewis-
innerhalb vernünftiger Grenzen bleiben, aber »pro- sen Maß den Einfluss der Summe aller organisierten
blematisch«, wenn sie im außenpolitischen Verhalten gesellschaftlichen Interessen wider und ist auf ein
allmählich überhandnehmen.) auch emotional fundiertes Engagement seiner Bür-
gerinnen und Bürger angewiesen, nicht etwa nur auf

10 Mancur Olson, The Rise and Decline of Nations: Economic 11 Sigmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 17: Schriften
Growth, Stagflation, and Social Rigidities, New Haven, CT: Yale aus dem Nachlass, hrsg. von Anna Freud, London: Imago Pub-
University Press, 1982. lishing, 1941, S. 128f.

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Autismus in der Außenpolitik

durchdachte Unterstützung. Es gibt demnach einen sie dabei verlieren. Während diese sich kreuzenden
schmalen Grat, eventuell sogar eine Grauzone, die Tendenzen und Kräfte miteinander konkurrieren,
»gesunde« oder »normale« von »autistischer« Außen- um politische Entscheidungen in ihrem Sinne durch-
politik unterscheidet. Dennoch gilt es bei der Bewer- zusetzen, führt dies letztlich oft nur dazu, dass die
tung außenpolitischen Handelns, diesen Unterschied anstehenden Fragen komplexer werden und schwie-
im Auge zu behalten. riger zu lösen. Damit werden auch sowohl Gestaltung
Es gibt mehrere Gründe, warum die derzeitige Ver- wie Umsetzung »guter« Außenpolitik objektiv kom-
fassung der Politik in vielen Ländern APA in seinen plizierter und anspruchsvoller.
beiden Varianten – Ineffektivität und destruktives Ver- Nicht all diese Faktoren verstärken zwangsläufig
halten (»wild um sich schlagen«) – begünstigt. Zu autistische Neigungen in der Außenpolitik; einige
Ineffektivität führender APA ist als Ergebnis von jahr- werden ihnen vielleicht sogar entgegenwirken. Die
zehntelanger Wohlstandssteigerung und hoher sozia- Vernetzung zwischen Gesellschaften, die von der Glo-
ler Stabilität zu erwarten, die die westliche Welt seit balisierung profitieren, unterminiert beispielsweise
den 1950er Jahren erlebte. Diese lange Periode von die Neigung, sich gegenüber unangenehmen oder
Frieden und Wachstum hat zur Ausbreitung orga- unpassenden Wahrnehmungen zu verschließen.
nisierter Interessengruppen geführt, wie es Mancur Insgesamt gibt es jedoch nach wie vor gute Gründe,
Olson in seiner Theorie vom Wachstum und Nieder- sich Sorgen zu machen, ob unter den gegenwärtigen
gang von Nationen darlegte. Dieser Trend lässt sich gesellschaftlichen und innenpolitischen Gegeben-
inzwischen auch auf der Ebene der Parteisysteme heiten Außenpolitik Entscheidungen fällen und Stra-
beobachten: Die Zahl der im Parlament vertretenen tegien entwickelt kann, die den Notwendigkeiten des
Parteien ist in den letzten Jahrzehnten tendenziell Weltregierens heute und in Zukunft gerecht werden
gestiegen, was häufig eine Regierungsbildung mit kann. Die Defizite werden zunächst bei einzelnen
stabilen Mehrheiten und klaren politischen Profilen Entscheidungen zutage treten, aber wenn sich die
erschwert.12 Da die Globalisierung immer tiefer in Negativtendenzen fortsetzen und verfestigen, könnte
die Volkswirtschaften und Gesellschaften eindringt, sich dies auf Dauer zu einem grundlegenden außen-
verwischen die Grenzen zwischen inneren und aus- politischen Versagen verdichten.
wärtigen Angelegenheiten und damit auch zwischen Destruktiver APA könnte die Formen eines außen-
innerstaatlichen und transnationalen Interessen zu- politischen Um-sich-Schlagens annehmen, wie wir es
sehends, wodurch Außenpolitik immer mehr in die gegenwärtig in den außenpolitischen Entscheidungen
Kämpfe der innenpolitischen Arena verwickelt und und Aktionen von US-Präsident Donald Trump beob-
von ihnen absorbiert wird. achten oder zuvor beim Ausgang des Brexit-Referen-
dums im Vereinigten Königreich erlebten. Letztlich
Konkurrierende Tendenzen und spiegelt destruktiver APA den spaltenden, zersetzen-
Kräfte, die politische Entscheidungen den Einfluss der Globalisierung auf (westliche) Gesell-
beeinflussen, führen dazu, dass die schaften wider. Das letzte Vierteljahrhundert hin-
Gestaltung »guter« Außenpolitik durch deckte das vorherrschende Narrativ von Wohl-
komplizierter wird. stand und sozialer Stabilität nur die halbe Wahrheit
ab. Weitreichende Veränderungen in Arbeits- und
Natürlich verlaufen das Ausufern der Interessen Beschäftigungsmustern haben zu verbreiteten Span-
und die Transnationalisierung von Volkswirtschaften nungen, zunehmenden sozialen Ungleichheiten und
und Gesellschaften durch die Globalisierung multi- in Teilen unserer Gesellschaften (einschließlich der
dimensional und widersprüchlich: Es gibt Interessen- Mittelschichten, die von einem sozialen Abstieg be-
gruppen, die für die Globalisierung sind, weil sie troffen oder doch gefährdet sind) zu emotional stark
davon profitieren, und solche, die dagegen sind, weil aufgeladenen, einseitigen Weltbildern geführt. Die
anhaltende Stärke von Nationalismus und die Zu-
12 Das Mehrheitswahlrecht, wie es in den USA, Groß-
nahme von Populismus quer durch die westliche
britannien oder Frankreich praktiziert wird, ist bis zu einem Welt weisen auf diese wachsenden und »schwanken-
gewissen Grad immun gegenüber diesen Tendenzen. Aber den« Spannungen in unseren Gesellschaften hin.
die Zunahme politischer Positionen jenseits der etablierten Wie der Begriff des Autismus in seinem ursprüng-
Parteien, die bei vielen Wählern Unterstützung finden, hat lichen Gebiet der Psychologie gibt auch das Konzept
auch dort zur Erosion der alten Parteiensysteme geführt. des APA nicht vor, Erklärungen zu bieten; es liefert

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Hanns W. Maull

aber eine dichte, analytisch fokussierte Möglichkeit, Tat scheint der APA auf zwei Ebenen der EU zu wir-
Verhalten zu beschreiben. Der mögliche Mehrwert ken: auf der Ebene der Mitgliedstaaten und auf der
der Metapher liegt darin, Verhaltensmuster – in Ebene der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
diesem Fall außenpolitische Verhaltensmuster – als politik (GASP).
»abweichend« oder »dysfunktional« zu identifizieren.
Darüber hinaus kann die APA-Metapher Schwächen Angesichts von Unsicherheit und
in der außenpolitischen Entscheidungsfindung offen- Unvorhersagbarkeit müssen
legen (wie etwa die verfälschende Darstellung des manchmal auch kühne politische
externen Umfelds in der Außenpolitik oder ihren Entscheidungen gefällt werden.
emotionalen Ballast) und Wege vorschlagen, dem
entgegenzuwirken. Autoritär regierte Gemeinwesen Ohne einen politischen Ansatz, der gegenseitiger
sind möglicherweise eher anfällig für destruktiven Empathie, Kompromissbereitschaft und der Berück-
APA, während bei Demokratien zu erwarten ist, dass sichtigung der Interessen anderer Raum gewährt, und
sie empfänglicher für den zu Ineffektivität führenden ohne einen konzeptionellen Rahmen (beispielsweise
APA sind. Und doch sind die USA unter Trump und ein Verständnis von Souveränität), der mit diesen
Großbritannien nach dem Brexit-Referendum nur Anforderungen kompatibel ist, kann die EU nicht
zwei Beispiele dafür, dass der erstgenannte Typ des effektiv regiert werden. Unter den Bedingungen von
APA auch in scheinbar gefestigten westlichen Demo- demokratischer Politik bedarf es dafür Gemeinwesen,
kratien in Erscheinung tritt; andererseits können die sich grundsätzlich pro-europäisch orientieren und
auch autoritäre politische Systeme dem zur Ineffekti- sich verpflichten, nationale Interessen nur innerhalb
vität führenden APA zum Opfer fallen, etwa aufgrund der Parameter dieses gesamteuropäischen Konsenses
von Stillstand oder der Vorherrschaft von Interessen- zuzulassen. Zu ihrem Überleben und Vorankommen
gruppen, die eine effektive Außenpolitik behindern. könnte die EU daher nicht nur auf effektive nationale
Regierungsführung, sondern auch auf einen bestimm-
ten Typus nationaler Politik angewiesen sein – auf
APA und die Europäische Union solide öffentliche Unterstützung für europäische Poli-
tik auf der Grundlage von Konzepten nationaler Iden-
Die europäische Integration könnte durchaus zu tität, Souveränität und Politik, die mit politischen
einem Modellprojekt dafür werden, wie es mit der in- Maßnahmen vereinbar sind, die dem aufgeklärten
ternationalen Ordnung – und damit auch mit der Eigeninteresse der EU-Völker individuell und kollek-
internationalen Diplomatie – zukünftig weitergeht. tiv effektiv Geltung verschaffen. Dazu müssen an-
Die Europäische Union (EU) repräsentiert einen poli- gesichts von Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit
tischen Raum, in dem die Verflechtungen eine Dichte manchmal auch kühne politische Entscheidungen
erreicht haben, die mit der Interdependenz innerhalb gefällt werden. Es ist nicht zu erwarten, dass mit die-
von Gesellschaften vergleichbar ist; die EU versucht, sen Entscheidungen immer nur Vorteile einhergehen;
diesen Raum auf der Grundlage eines neuen Konzepts gemeinsames Handeln bedeutet auch, dass Kosten
von Souveränität – einer »geteilten Souveränität« – anfallen, die zu teilen, und Risiken, die gemeinsam
politisch zu organisieren.13 Leider bietet die EU in zu tragen sind. Es ist jedoch keineswegs klar, ob sich
den letzten Jahren viel Anlass für eine skeptische für derart aufgeklärte europäische Politik (und damit
Sicht auf die Möglichkeiten des Regierens jenseits des für eine effektive europäische Diplomatie) in allen
Nationalstaats. Innerhalb der EU hat der verstärkte gegenwärtigen Mitgliedstaaten – oder überhaupt
Druck auf die Politik die Regierungen offenbar dazu in einem einzigen Mitgliedstaat – robuste politische
verleitet, ihre Aufmerksamkeit verstärkt der Innen- Unterstützung findet.
politik und kurzfristigen Entscheidungen zuzuwen- In dem Maße, in dem die nationalen Fundamente
den, also, kurz gesagt, zu »Autismus« geführt. In der der europäischen Politik problematisch geworden
sind, fällt es der europäischen Diplomatie zuneh-
13 Siehe Anthony Barnett, »Why Brexit Won’t Work: The mend schwer, das europäische Gemeinwohl wie auch
EU Is about Regulation Not Sovereignty«, Open Democracy das aufgeklärte Eigeninteresse der Mitgliedstaaten
UK, 25.6.2018, <https://www.opendemocracy.net/anthony- zu verwirklichen: War es beispielsweise wirklich in
barnett/why-brexit-won-t-work-eu-is-about-regulation-not- Deutschlands aufgeklärtem nationalen Interesse, der
sovereignty> (eingesehen am 23.7.2018). griechischen Gesellschaft in der Eurokrise derart mas-

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Autismus in der Außenpolitik

sive Anpassungslasten aufzubürden? Allgemein andere internationale Organisationen sich in einer


haben die jüngsten Krisen in der EU viel mit natio- Krise befinden, allen voran die Vereinten Nationen.
nalen Außenpolitiken zu tun, die integrations- Die internationale Politik scheint insgesamt Insuffi-
problematischen Konzepten von Souveränität ver- zienzsymptome aufzuweisen, die jenen der national-
pflichtet sind und damit dazu beitrugen, dass heute staatlichen Politik ähneln. Ihre Antworten auf sich
die Funktionsfähigkeit oder gar die Existenz der EU, verändernde materielle Umstände, die aus techno-
»wie wir sie kennen«, bedroht erscheinen.14 Kern logischen Fortschritten erwachsen, und auf steigende
des Problems sind Unzulänglichkeiten sowohl in den Erwartungen und damit einhergehende Forderungen
Gemeinwesen, aus denen die EU besteht, als auch bleiben häufig und gewissermaßen systematisch
tiefreichende Ideologie- und Identitätsunterschiede unzureichend – und vergrößern oft sogar die Kluft
zwischen ihnen – Unterschiede, die sich in letzter zwischen Nachfrage und Angebot an politischer
Zeit durch den Zuwanderungsdruck noch verschärf- Steuerung. Der Wirkungsbereich und die Fähigkeit
ten.15 In diesen Krisen spiegeln sich die Spannungen der Diplomatie, Veränderungen durch Argumente
wider, die sich zwischen den Triebkräften von Globa- herbeizuführen, könnten daher durch Probleme,
lisierung und steigenden Erwartungen und Europas die im APA wurzeln, mehr und mehr eingeschränkt
kollektiven politischen Bemühungen aufgestaut werden.
haben, diese zu kanalisieren und zu bändigen. Letz- Ein Weg, auf dem die Politik auf nationaler Ebene
tere weisen Symptome von APA in seinen beiden versucht hat, auf die Herausforderungen der Zeit zu
Erscheinungsformen auf: Ineffizienz und emotionale reagieren, besteht darin, mehr Macht an der Spitze
Voreingenommenheit. Diese Krisen erfordern gewich- der Entscheidungshierarchien zu konzentrieren. Es
tige politische Veränderungen. Es ist jedoch nicht ist jedoch aus mehreren Gründen unwahrscheinlich,
klar, ob die EU solche Veränderungen tatsächlich dass sich die Lücke so schließen bzw. die Kluft so
in die Wege leiten und durchstehen könnte. Wahr- überbrücken lässt. Erstens behindern die autistischen
scheinlicher sind graduelle Veränderungen, die ten- Merkmale nationaler Politik und Strategien eben jene
denziell zunehmend unzureichende politische An- effektive internationale Zusammenarbeit, die für eine
passungsleistungen erbringen. Die Betrachtung der Mobilisierung ausreichender Machtressourcen von-
GASP bestätigt dies: Die Fähigkeit der EU, sich als nöten wäre. Zweitens sperrt sich der APA dagegen,
mächtige und einflussreiche Akteurin zu behaupten, auf Anforderungen seitens des internationalen Um-
und ihr Auftritt in der Weltpolitik als Musterbeispiel felds mit effektiver interner Anpassung zu reagieren;
einer internationalen Ordnung lassen, gelinde gesagt, stattdessen wird er nach einfachen Alternativen
viel zu wünschen übrig. suchen, indem er von der Belastung ablenkt oder
Die problematische Geschichte der europäischen die Probleme schlicht ausblendet. Drittens droht die
Integration im letzten Jahrzehnt erlaubt möglicher- internationale Zusammenarbeit angesichts dieser
weise einen Rückschluss auf die Zukunft der Welt- Schwierigkeiten für gesichtswahrende Pseudolösun-
politik, die (wenn auch in einer ganz anderen Grö- gen und Kompromissformeln zu votieren, die weit
ßenordnung) vor einem ähnlichen Problem steht: hinter dem zurückbleiben, was notwendig wäre.
Auch hier trifft die Notwendigkeit, eine sich rasant
(wenn auch ungleichmäßig) vertiefende Interdepen-
denz und Integration sowie steigende Erwartungen Zukünftige Auswirkungen
politisch zu bewältigen, auf Steuerungssysteme, die
auf nationaler und erst recht auf internationaler Was lässt sich aus dieser Analyse für die Diplomatie
Ebene nur ungenügend reaktionsfähig sind. Unter- des 21. Jahrhunderts ableiten – oder, bescheidener
mauert wird diese skeptische Prognose durch den gesagt, für die Diplomatie der nächsten beiden Jahr-
Umstand, dass nicht nur die EU, sondern auch viele zehnte? Wenn die Diplomatie in diesem neuen Zeit-
alter der Globalisierung vor der Herausforderung steht,
14 Olivier Bouin, »The End of European Integration as We
auf nachhaltige und friedliche Weise internationale
Know It«, in: Manuel Castells et al. (Hg.), Europe’s Crises, Cam- Konflikte durch vernünftige Argumentation und
bridge, UK/Medford, MA: Polity, 2018; John R. Gillingham, gegenseitige Anpassungen, geleitet von aufgeklärten
The EU: An Obituary, London/New York: Verso, 2016. Eigeninteressen, zu lösen, gerät sie wahrscheinlich in
15 Ivan Krastev, After Europe, Philadelphia, PA: University eine Zwickmühle: Auf der einen Seite ist sie mit einer
of Pennsylvania Press, 2017. steigenden Nachfrage nach globaler Regierungs-

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

61
Hanns W. Maull

führung konfrontiert, die in einer sich vertiefenden halten einer »reifen« Persönlichkeit vergleichbar
Interdependenz wurzelt, auf der anderen mit der zu- wären. Das hieße, sie würden über die Fähigkeit ver-
nehmenden Geltendmachung individueller und eng fügen, mit widersprüchlichen inneren und äußeren
verstandener kollektiver Interessen, die APA zu be- Anforderungen so umzugehen, dass den aufgeklärten
feuern scheint. nationalen Eigeninteressen durch ein verantwort-
Natürlich deckt diese Diplomatiedefinition nicht liches und empathisches Interagieren mit anderen
die ganze Bandbreite an Funktionen ab, die der Diplo- Akteuren gedient ist. Gute Diplomatie erfordert sorg-
matie obliegen und von Diplomaten erfüllt werden. fältig zusammengetragene und gründlich analysierte
Staaten werden weiterhin existieren und wahrschein- Einschätzungen sowohl mit Blick auf das jeweilige
lich auch die Hauptrolle in der internationalen Poli- externe Umfeld, in dem eine bestimmte außen-
tik spielen. Ihre Regierungen werden nach wie vor politische Entscheidung gefällt und eine politische
durch Diplomatie miteinander interagieren. Es Maßnahme oder Strategie realisiert werden sollen,
wird zweifellos auch in Zukunft Situationen geben, wie auch in Bezug auf das, was für die eigene Gesell-
in denen sich die jeweiligen innenpolitischen mit schaft und das Gemeinwesen auf dem Spiel steht.
außenpolitischen Fragen auf internationaler Ebene Ihre Entscheidungen, politischen Maßnahmen und
ausreichend überschneiden, damit sich gemeinsame Strategien müssen emotional ausgereift und aufmerk-
Positionen und sogar gemeinsame Lösungen finden sam gegenüber Vorurteilen sein, die Entscheidungen
lassen. Auch wenn der Handlungsspielraum der verzerren und sie damit ineffektiv oder, schlimmer
Diplomatie in ihren wesentlichen Funktionen durch noch, gefährlich machen könnten. Die Umsetzung
APA vermutlich eingeengt wird, werden die Diploma- erfordert Empathie und Überzeugungsgabe. Eben das
tie und Diplomaten weiterhin in dem verbleibenden wird die Welt von ihren Diplomaten brauchen. Ob
politischen Raum tätig sein; dabei dürfte das Schmie- zunehmend dysfunktionale Vorstellungen von Sou-
den von Bündnissen wie schon bislang ein Schlüssel- veränität und die Tendenzen zu APA ihnen den Spiel-
element darstellen.16 Allerdings ist unter den Bedin- raum dafür lassen, wird davon abhängen, inwieweit
gungen des APA auch zu erwarten, dass die Diploma- es den Staaten, allen voran den europäischen und
tie als Mittlerin und Sprachrohr noch stärker als bis- westlichen Demokratien, gelingen wird, den besorg-
her für nationale Anliegen instrumentalisiert wird, niserregenden APA-Trend zu korrigieren und ihre
während ihre Aufgabe, Empathie für andere zu eigene Rolle im Kontext globaler Regierungsführung
entwickeln und gute Kompromisse zu schließen, in neu zu bestimmen.
den Hintergrund treten könnte. Das würde sich
wiederum auf die Rekrutierung von Diplomaten und
ihre Berufsethik auswirken: Wird dann eher die Frage
»right or wrong, my government« ausschlaggebend
sein oder jene danach, was das eigene Land auf einen
guten Weg bringt?

Im Kontext des Weltregierens würde


man sich von »gut regierten« Staaten
Handlungsmuster erhoffen, die
mit dem Verhalten einer »reifen«
Persönlichkeit vergleichbar wären.

Im Sinne der Autismus-Metapher würde man sich


im Kontext des Weltregierens von »gut regierten«
Staaten Handlungsmuster erhoffen, die mit dem Ver-

16 Sophie Eisentraut, Coalition Building and Compromise


Are the Future of Global Leadership. Here’s Why, German Marshall
Fund, 18.9.2017, <https://outoforder.gmfus.org/coalition-
building-and-compromise-are-the-future-of-global-leadership-
heres-why-4d34b2d353dd> (eingesehen am 20.9.2017).

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Digitale Diplomatie als diplomatischer Ort: Emotion, Identität und Do-it-Yourself-Politik

R. S. Zaharna

Digitale Diplomatie als diplomatischer Ort:


Emotion, Identität und Do-it-Yourself-Politik

Die digitale Diplomatie erobert die diplomatische und die Chancen, die digitale Medien für die Diplo-
Gemeinschaft zwar gerade im Sturm, aber für eine matie und die Außenministerien mit sich bringen.1
Einschätzung, wie sich die digitalen und sozialen Me- Digitale Diplomatie stützt sich immer häufiger auf
dien auf die Diplomatie in Gänze auswirken werden, Neuerungen der strategischen Kommunikation. Stra-
ist es noch zu früh. Bislang scheint die »digitale Diplo- tegische Kommunikation gilt als »Goldstandard« für
matie« die traditionelle, staatszentrierte Diplomatie die Ausarbeitung überzeugender Botschaften und
lediglich zu erweitern. Neue Medien entwickeln sich Medienstrategien, die dem nationalen Ansehen die-
zu neuen Instrumenten, die der Erfüllung staatlicher nen, bestimmten politischen Maßnahmen zur Durch-
Ziele und Interessen dienen. Die unmittelbare Her- setzung verhelfen und die Öffentlichkeit beeinflussen
ausforderung besteht darin, mit diesen Instrumente sollen. Im Wettbewerb der Länder um die soft power
früher oder besser als rivalisierende Staaten oder spielt strategische Kommunikation eine zentrale
nicht-staatliche Akteure umgehen zu können. Rolle.2 Nye bezeichnet soft power zwar als »nicht greif-
So sieht es auf den ersten Blick aus: digitale Diplo- bar«, die »Handhabung« ihrer Ressourcen geschieht
matie als diplomatisches Instrument. Auf den zwei- jedoch mittels Kommunikation. Rawnsley erklärt:
ten gilt es zu untersuchen, auf welche Weise diese »Wenn keiner von den Werten und guten Taten
Medien neue diplomatische Räume eröffnen, Räume, erfährt, wo ist dann die Macht?«3
denen durch die Mitwirkung der Öffentlichkeit, deren Vernetzungsansätze erhöhen die Reichweite und
Erwartungen und Bedürfnisse, darunter grundlegen- Effizienz der digitalen Diplomatie zusätzlich. Dank
de Identitätsbedürfnisse, Leben eingehaucht würde. Netzwerkstrategien lassen sich der Informationsfluss,
Die Dynamik solcher öffentlichen Räume kann aller- die Zusammenarbeit mit anderen und die Einbindung
dings zu einer Herausforderung für die traditionellen von Öffentlichkeiten optimieren. Durch Vernetzung
Gepflogenheiten der staatszentrierten Diplomatie werden statische Meldungen zu strategischen Narra-
werden. Entscheidend ist, den richtigen Umgang mit
dieser Dynamik zu erlernen.

1 Australian Government, Department of Foreign Affairs


and Trade, Digital Media Strategy 2016–18, Barton, November
Staatszentrierte digitale Diplomatie:
2016, <http://dfat.gov.au/about-us/publications/corporate/
Digitale Medien als diplomatische Documents/digital-media-strategy-2016-18.pdf> (eingesehen
Instrumente am 20.3.2018); Shaun Rioardan, The Strategic Use of Digital
and Public Diplomacy in Pursuit of National Objectives, Barcelona:
Die digitalen und sozialen Medien verhelfen dem ra- Federació d’Organitzacions Catalanes Internacionalment
tionalen, pragmatischen staatlichen Akteur zu einer Reconegudes (FOCIR), 2016.
nie dagewesenen globalen Reichweite und bieten 2 Jonathan McClory (USC Center on Public Diplomacy),
verlockende Möglichkeiten, in der Diplomatie neue The Soft Power 30: A Global Ranking of Soft Power 2017, Portland
Wege zu beschreiten. Aktuelle Forschungsberichte Group/USC Center on Public Diplomacy, Juli 2017, <http://
zur digitalen Diplomatie aus dem privaten wie dem softpower30.com/wp-content/uploads/2017/07/The-Soft-
staatlichen Sektor beleuchten die Schwierigkeiten Power-30-Report-2017-Web-1.pdf> (eingesehen am
20.3.2018).
3 Gary Rawnsley, »Approaches to Soft Power and Public
Diplomacy in China and Taiwan«, in: The Journal of Inter-
national Communication, 18 (2012) 2, S. 121–135 (123).

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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R. S. Zaharna

tiven, die eine größere Dynamik entfalten.4 Aber einer vergleichbaren Dringlichkeit betrieben wie bei
nicht nur Staaten, sondern auch andere politische der Bekämpfung von gewalttätigem Extremismus. Ob-
Akteure sind erpicht darauf, die neuen digitalen In- wohl intensive Studien angestrengt wurden, um stra-
strumente für sich zu nutzen. Digitale Medien befä- tegische Gegennarrative zu entwickeln, erbrachten
higen nicht-staatliche politische Akteure, mit der diese in der Praxis häufig kontra-intuitive Ergebnisse.6
staatlichen Öffentlichkeitsarbeit in Konkurrenz zu Nicht Herz und Verstand der muslimischen Welt
treten. Digitale Medien bringen staatliche und nicht- wurden für den Westen) gewonnen, sondern junge
staatliche Akteure mit eben jenen Zielgruppen in Menschen aus westlichen Gesellschaften für Gruppen
Kontakt, auf die sie Einfluss nehmen möchten. wie den »Islamischen Staat« (ISIL) – die jene Gegen-
narrative häufig für ihre Zwecke der Radikalisierung
und Rekrutierung zu nutzen in der Lage waren.
Gemischte Bilanz Der Aufstieg des Populismus stellt den Einsatz stra-
tegischer Kommunikation in der Diplomatie ebenfalls
Wissenschaftler sehen einen deutlichen zahlenmäßi- vor Probleme. Der Fokus strategischer Kommunika-
gen Anstieg von Staaten, die im Wettbewerb um soft tion liegt auf Überzeugungsarbeit, die jedoch Bemü-
power digitale Medien und strategische Kommunika- hungen unterminieren könnte, zwischen Gruppen zu
tion einsetzen. Sie kommen allerdings nicht zu dem vermitteln. Forschungsergebnisse zeigen, dass gezielte
Schluss, dass dieser Mehraufwand an Zeit und Geld Beeinflussungsversuche Widerstand provozieren, weil
deutliche Vorteile bringt – etwa höhere Beliebtheits- sie Meinungen eher verhärten als verändern. Das kann
raten in ausländischen Öffentlichkeiten. Die Ergeb- zu Polarisierung führen. Der vom Weltwirtschafts-
nisse scheinen zwiespältig zu sein. forum herausgegebene Global Risks Report 2017 warnt
vor einer »zunehmenden sozialen und kulturellen
Eine aggressive strategische Polarisierung« und sieht darin eine Bedrohung für die
Kommunikation kann globale Demokratie.7
Beziehungen eher belasten
als fördern.
Öffentlichkeitszentrierte digitale
Es mag überraschen, aber eine aggressive strate- Diplomatie: Digitale Medien und
gische Kommunikation kann globale Beziehungen diplomatische Orte
eher belasten als fördern. Nye hatte die These auf-
gestellt, dass sich das Bemühen um soft power positiv In Analysen der Machtdynamiken zwischen Staaten
auf die Beziehungen auswirken werde. In einschlägi- und auch zwischen nicht-staatlichen Akteuren
gen Studien wird diese Annahme jedoch inzwischen der digitalen Diplomatie zeigt sich eine auffällige
infrage gestellt. Als Beispiel wird der Kampf um soft Vernachlässigung der Rolle, die Öffentlichkeiten in
power in den asiatischen Ländern angeführt, der eher der diplomatischen Gleichung spielen. Aus Sicht der
die Reibungen verschärfte als neue Freundschaften Öffentlichkeit stellen digitale Medien einen neuen
stiftete.5 diplomatischen Raum für Teilhabe und Meinungs-
Die strategische Kommunikation scheint außerdem äußerung dar. Wenn Bürger »online gehen«, verste-
dann, wenn sie gegenüber verschiedenen globalen hen sie darunter einen bestimmten Ort. Die Online-
Öffentlichkeiten zum Einsatz kommt, nicht besonders
treffsicher zu sein. Nirgendwo sonst wurde sie mit 6 Cristina Archetti, »Terrorism, Communication and New
Media: Explaining Radicalization in a Digital Age«, in: Per-
4 Alister Miskimmon/Ben O’Loughlin/Laura Roselle, Stra- spectives on Terrorism, 9 (2015) 1, S. 49–59; Bibi van Ginkel,
tegic Narratives: Communication Power and the New World Order, Responding to Cyber Jihad: Towards an Effective Counter-Narrative,
New York: Routledge, 2013. Den Haag: The International Centre for Counter-Terrorism
5 Ian Hall/Frank Smith, »The Struggle for Soft Power in (ICCT), März 2015 (ICCT-Forschungsbericht), <https://www.
Asia: Public Diplomacy and Regional Competition«, in: Asian icct.nl/download/file/ICCT-van-Ginkel-Responding-To-Cyber-
Security, 9 (Januar 2013) 1, S. 1–18; Jan Melissen/Yul Sohn, Jihad-Towards-An-Effective-Counter-Narrative-March2015.
Leveraging Middle Power Public Diplomacy in East Asian Inter- pdf> (eingesehen am 20.3.2018).
national Relations, Seoul: The East Asia Institute, 24.11.2015, 7 Weltwirtschaftsforum, The Global Risks Report 2017,
<http://www.eai.or.kr/data/bbs/eng_report/2015112410453 12. Ausgabe, Genf 2017, S. 58 <http://www3.weforum.org/
330.pdf> (eingesehen am 4.9.2017). docs/GRR17_Report_web.pdf> (eingesehen am 20.3.2018).

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Digitale Diplomatie als diplomatischer Ort: Emotion, Identität und Do-it-Yourself-Politik

Umgebung ist für sie ein Raum der Begegnung und mene wie Brexit, Trump und migrantenfeindliche
Interaktion. Ressentiments sind ein Teil dieser Folgen. Daher ist es
Das Bewusstsein für die neuen öffentlichen Räume für Diplomaten äußerst wichtig, die Dynamik dieser
und ihre Folgen für die Diplomatie scheint allmählich neuen diplomatischen Orte zu verstehen.
zu wachsen. Einige Forscher meinen, dass Diplomatie
»öffentlicher« werde – weniger in Bezug auf die Ziel-  Emotion als entscheidende Dynamik
gruppe (die Öffentlichkeit, an die sich Diplomatie rich- Emotionen sind zu einem entscheidenden dyna-
tet) als vielmehr in Bezug auf den Kontext (die öffent- mischen Faktor der neuen diplomatischen Orte
liche Bühne, auf der Diplomatie stattfindet). Hocking geworden. Sie durchdringen nahezu jeden Aspekt
und seine Mitautoren schlugen den Begriff der »inte- der Online-Erfahrung – von dem Gefühl, die elektro-
grativen Diplomatie« vor, um die Komplexität der nischen Geräte in der Hand zu halten, über die Un-
öffentlichen Bühne zu erfassen, die sich Diplomaten mittelbarkeit der persönlichen Interaktion in Echtzeit
nun mit einer Vielzahl von Akteuren teilen müssen.8 bis hin zu emotional abstumpfendem Bildmaterial.12
Gregory empfiehlt, die Diplomatie um eine »öffent- Neben YouTube-Videos über niedliche Katzen sind
liche Dimension« zu erweitern.9 Am konsequentesten auch Videos von Enthauptungen abrufbar, die Extre-
argumentiert vielleicht Kelley, für den »die Diploma- misten hochladen. Diplomaten können davon aus-
tie den Punkt der Öffnung gegenüber der Gesellschaft gehen, dass sich diese Dynamik noch verschärfen
schon weit überschritten hat – sie ist bereits in den wird, denn die technischen Innovationen verändern
öffentlichen Bereich verstrickt«.10 das sensorische Erleben. Die Popularität von Online-
Spielen mit Elementen virtueller oder erweiterter
Der neue diplomatische Raum wird Realität beispielsweise beruht zum Teil auf immersi-
nicht durch seine Akteure definiert, ven Medientechnologien, welche die emotionale
sondern durch die Dynamik der Kom- Einbeziehung steigern.
munikation, die darin stattfindet. In der traditionellen Diplomatie spielt Emotion
eine eher implizite Rolle, im öffentlichen Raum wird
Der neue diplomatische Raum wird nicht durch sie wahrscheinlich expliziter werden, wenn nicht
seine Akteure – seien es staatliche, nicht-staatliche gar gewollt lautstark, erkennbar und verstörend. Die
oder öffentliche – definiert, sondern durch die Dyna- Wandlungen in der Diplomatie verlangen eine größere
mik der darin stattfindenden Kommunikation. So Sensibilität für diese Aspekte, um mit effektiven,
gesehen lassen sich die diplomatischen Räume prä- aber auch affektiven Strategien auf die Emotionen der
ziser mit dem von Neumann geprägten Begriff der Öffentlichkeit eingehen zu können.
»diplomatischen Wirkungsstätten« (diplomatic sites)
umschreiben, der die Diplomatie in der gesellschaft-  Personalisierte Do-it-Yourself-Politik
lichen Wirklichkeit ansiedelt.11 Die Online-Dynamik An den neuen diplomatischen Wirkungsstätten ver-
mag in der Theorie zwar virtuell sein, kann für die schmelzen Emotionen und politische Handlungen zu
Teilnehmenden jedoch ausgesprochen real wirken – personalisierter Politik. Zu den etablierten politischen
und für Diplomaten konkrete Folgen haben. Phäno- Akteuren oder jenen, die zumindest als politische Ak-
teure erkennbar sind, gesellt sich das neue Phänomen
der spontanen persönlichen Netzwerke. Für Bennett
8 Brian Hocking/Jan Melissen/Shaun Riordan/Paul Sharp,
Futures for Diplomacy: Integrative Diplomacy in the 21st Century,
gehört diese neue »umfangreiche, sich schnell formie-
Den Haag: Netherlands Institute of International Relations rende Form der politischen Partizipation« zusammen
»Clingendael«, Oktober 2012 (Report, Nr. 1), <https://www. mit der »personalisierten Politik« zu den bemerkens-
clingendael.nl/publication/futures-diplomacy-integrative- wertesten Trends im ersten Jahrzehnt des 21. Jahr-
diplomacy-21st-century> (eingesehen am 20.3.2018).
9 Bruce Gregory, The Paradox of Public Diplomacy: Its Rise and 12 Tovah Benski/Eran Fisher (Hg.), The Internet and Emotions,
»Demise«, Washington, D.C.: Institute of Public Diplomacy New York: Routledge, 2014 (Routledge Studies in Science,
and Global Communication, Februar 2014. Technology and Society, 22); Javier Serrano-Puche, Emotions
10 John Robert Kelley, »The New Diplomacy: Evolution and Digital Technologies: Mapping the Field of Research in Media
of a Revolution«, in: Diplomacy & Statecraft, 21 (Juni 2010) 2, Studies, London: London School of Economics and Political
S. 286–305. Science, 2015 (MEDIA@LSE Working Papers 33), <http://
11 Iver B. Neumann, Diplomatic Sites: A Critical Enquiry, New www.lse.ac.uk/media@lse/research/mediaWorkingPapers/
York: Oxford University Press, 2013. pdf/WP33-FINAL.pdf> (eingesehen am 20.3.2018).

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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R. S. Zaharna

hunderts.13 Er bezeichnete dieses Phänomen als Emotional kraftvolle Geschichten sind in der Lage,
»Do-it-yourself«-Politik. Danah Boyd nannte dasselbe selbst harte Fakten auszustechen. Wut im Internet
Phänomen »me and my gang« (ich und meine Gang).14 kann offline in Gewalttaten münden. Der bekannte
Sie weist auf eine Verschiebung hin: Öffentlichkeiten Soziologe Manuel Castells hat in seinem Buch Net-
schließen sich rund um aktuelle Themen zu persön- works of Outrage and Hope festgestellt, dass Angst und
lichen Netzwerken zusammen. Hoffnung immer wieder die hervorstechendsten
Marketing und Technologie leisten einer personali- Gefühle bei der Bildung »emotional motivierter Bewe-
sierten Online-Erfahrung Vorschub, wobei der Trend gungen« sind.18 Werden Amtsträger von der Öffent-
zur personalisierten Politik die Diplomatie vor große lichkeit mit einer »emotional motivierten Bewegung«
und schwerwiegende Herausforderungen stellen konfrontiert, ist eine unmittelbare empathische Ant-
kann. Personalisierte, selbstdefinierte Politik ist im- wort häufig ausschlaggebend für eine erfolgreiche
stande, wichtige soziale Institutionen und Verhaltens- Mediation und Deeskalation von Spannungen – so
regeln zu untergraben, die den sozialen Zusammen- die Krisenforschung.19
halt aufrechterhalten. Auf diesen Aspekt beziehen
sich der Begriff »zerstörerische Macht«15 und die Tak-  Emotion und Identität
tik der »Empörungsindustrie«.16 Die jüngsten Ver- Neben der Emotion spielt Identität unterschwellig
stöße gegen das diplomatische Protokoll sind Auswir- eine große Rolle in den genannten diplomatischen
kungen dieser sich herausbildenden Dynamik. Räumen. Ebenso wie Staaten ein positives nationales
Image anstreben und fördern, werden auch Öffent-
 Auf Geschichten basierende Narrative lichkeiten von tiefgehenden Identitätsbedürfnissen
mit Resonanz angetrieben. Identität ist dabei nicht auf Selbstentfal-
Eine genauere Betrachtung des politischen Diskurses tung beschränkt, sondern meint auch Selbstwert-
zur personalisierten Politik offenbart, dass Menschen gefühl, insbesondere in turbulenten oder unsicheren
nicht einfach Informationen austauschen. Sie erzäh- Zeiten.
len anderen ihre Geschichten. Der Arabische Frühling In der Online-Umgebung kann Identität ein gemein-
wurde anfangs als Revolution bezeichnet, die durch sames Gefühl sein. Menschen erkennen sich selbst in
die sozialen Medien herbeigeführt wurde. Inzwischen den Gefühlen anderer wieder: »genauso wütend wie
erkennen Wissenschaftler, dass Geschichten der ich«. Aufmerksame Diplomaten nehmen wahr, dass
Motor des Phänomens waren.17 Bei diesen Geschich- Öffentlichkeiten, sobald Identität und Emotionen zu-
ten handelt es sich nicht um sorgfältig ausgearbeitete sammentreffen, zu fließenden, sich ständig wandeln-
strategische Narrative, sondern um emotional gefärbte den Einheiten werden. Im Gegensatz zu früher ist
Erzählungen von Affinität und Identität. es heute nicht mehr so einfach, politische Akteure
Diese Kombination aus persönlichen Instrumenten und Öffentlichkeiten anhand starrer Kategorien wie
und persönlichen Geschichten – oder emotionalen Demografie (Alter, Einkommen), Geografie (einhei-
Medien mit emotionalen Meldungen – kann einen misch/ausländisch oder Europa/Mittlerer Osten) und
hyperemotionalen diplomatischen Raum schaffen. sozio-kulturelle Gruppe (Jugend, Muslim) einzuschät-
zen. Noch beunruhigender ist die Tatsache, dass die
Grenzen der Identität verschwimmen, und zwar so-
13 W. Lance Bennett, »The Personalization of Politics:
wohl zwischen Nationalstaaten als auch zunehmend
Political Identity, Social Media, and Changing Patterns of
Participation«, in: The Annals of the American Academy of Political
innerhalb eines Landes. Ein Zwischenfall, der die ein-
and Social Science, 644 (November 2012) 1, S. 20–39. heimische Öffentlichkeit oder Regierung betrifft,
14 Danah Boyd, »Can Social Network Sites Enable Political kann sich viral im Internet verbreiten und eine glo-
Action?«, in: Allison H. Fine/Micah L. Sifry/Andrew Rasiej/ bale Tragweite bekommen.20
Josh Levy (Hg.), Rebooting America, San Francisco, CA: Personal
Democracy Press, 2008, S. 112–116.
15 Taylor Owen, Disruptive Power: The Crisis of the State in 18 Manuel Castells, Networks of Outrage and Hope: Social
the Digital Age, Oxford: Oxford University Press, 2015. Movements in the Internet Age, Cambridge: Polity, 2012.
16 Jeffrey M. Berry/Sarah Sobeiraj, The Outrage Industry: 19 Matthew W. Seeger, »Best Practices in Crisis Commu-
Political Opinion Media and the New Incivility, Oxford: Oxford nication«, in: Journal of Applied Communication Research, 34
University Press, 2014. (August 2006) 3, S. 232–244.
17 Zizi Papacharissi, Affective Publics: Sentiment, Technology, 20 R. S. Zaharna/Nur Uysal, »Going for the Jugular in Public
and Politics, Oxford: Oxford University Press, 2015. Diplomacy: How Adversarial Publics Using Social Media Are

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
November 2018

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Digitale Diplomatie als diplomatischer Ort: Emotion, Identität und Do-it-Yourself-Politik

 Emotion und Gemeinschaft darum, die Dynamik in den neu entstandenen öffent-
Emotionen dienen der Öffentlichkeit nicht nur zur lichen diplomatischen Räumen sicher zu umschiffen,
Identifizierung mit anderen. Geteilte Emotionen sind die online entstehen und dann offline florieren. Die-
auch gemeinschaftsstiftend. Wissenschaftler ver- ser Trend wird in Zukunft wahrscheinlich noch an
wenden den Begriff »Netzwerk« in ihren Studien für Zugkraft gewinnen.
Menschen, die soziale Medien nutzen. Die Nutzer
selbst sprechen von »Gemeinschaft (›Community‹)«.21 Die Diplomatie muss ihre vornehm-
Emotionen sind das Bindemittel, das aus einem Netz- lich staatszentrierte Sichtweise um
werk einzelner Knoten, die lose miteinander ver- eine öffentlichkeitszentrierte
knüpft sind, eine Community mit starken sozialen Perspektive erweitern.
Bindungen macht.
Von emotionalen Bindungen und Zugehörigkeits- Da die Kräfte der Globalisierung und die digitalen
gefühlen getragene virtuelle Online-Gemeinschaften Technologien unterschiedliche Öffentlichkeiten des
können reale Auswirkungen haben, wenn sich die eigenen Landes mit Öffentlichkeiten im Ausland und
Mitglieder offline zusammenfinden, um ihre Ab- politischen Akteuren zusammenbringen, muss die
sichten zu verfolgen. So ist beispielsweise die Rekru- Diplomatie ihre vornehmlich staatszentrierte Sicht-
tierungsstrategie des ISIL trotz der tödlichen Absich- weise um eine öffentlichkeitszentrierte Perspektive
ten ein anschauliches Beispiel für einen in hohem erweitern. Traditionell sind Diplomaten Vermittler
Maße beziehungsbasierten und emotionalen Ansatz, zwischen Identitäten und Beziehungen auf Staats-
der auf gemeinsamer Identität und Zugehörigkeit ebene und aus staatlicher Perspektive. Wichtige Ver-
aufbaut. Der Aufruf an die Umma ist beziehungs- handlungen wurden bisher in einem vertrauten,
orientiert, denn er appelliert an die starken Bande der hochkultivierten diplomatischen Rahmen hinter
muslimischen Bruderschaft. Emotional motivierte verschlossenen Türen geführt. Die digitale Diplomatie
Perspektivenübernahme und Empathie sind ebenfalls zen- steht vor der Herausforderung, Innovationen zuzu-
trale Mittel der Rekrutierung. Studien haben ergeben, lassen, um in den heutigen diplomatischen Räumen
dass ISIL-Rekrutierer »Individuen als Individuen ver- zwischen Identitäten in einer oder mehreren Öffent-
pflichten […]. Die Ansprechpartner hören zu und lichkeiten effizient vermitteln zu können.
interessieren sich für deren persönliche Belange und
Lebensumstände. So fühlen sich die Rekrutierten  Die Tretmühle der staatszentrierten
wertgeschätzt und ernst genommen. Sie erfahren strategischen Kommunikation vermeiden
ein Gefühl von Wärme, Annahme und Zugehörig- Im Wettbewerb der Staaten um soft power vertraut die
keit.«22 Gegennarrative Strategien, die die Gemein- zeitgenössische Diplomatie stark, womöglich zu stark,
schaft bedrohen oder herabwürdigen, verfehlen ihr auf Instrumente der Beeinflussung und digitale Tech-
Ziel, denn sie versuchen, emotionale Bindungen nologien, wenn es darum geht, das nationale Anse-
zu kappen, welche die empfundene Gemeinschafts- hen aufzuwerten und den eigenen Interessen und
identität zusammenhalten. Strategien Geltung zu verschaffen. Die Illusion von
Kontrolle droht die Diplomatie in eine Kommunika-
tions-Tretmühle zu führen, aus der sie nicht mehr
Implikationen und Empfehlungen herausfindet: Es werden immer ausgefeiltere Medien
und Strategien zur Nachrichtenweitergabe erarbeitet,
Die Aufgabe der digitalen Diplomatie besteht nicht die aber zur Verfolgung der diplomatischen Ziele im
darin, digitale Instrumente anzuschaffen oder neue neuen diplomatischen Raum wenig beitragen. Wenn
Kommunikationsmittel zu erlernen. Vielmehr geht es die digitale Diplomatie im öffentlichen Raum das
erreichen will, was die traditionelle Diplomatie hinter
verschlossenen Türen erzielt hat, muss sie die staats-
Challenging State Legitimacy«, in: Public Relations Review, 42
(März 2016) 1, S. 109–119.
zentrierte, auf Beeinflussung ausgelegte strategische
21 Howard Rheingold, The Virtual Community: Homesteading Kommunikation hinter sich lassen. Vielleicht kommt
on the Electronic Frontier, MIT Press eBooks, 2000, <http://www. es zu der dringend erforderlichen Rückbesinnung auf
rheingold.com/vc/book/> (eingesehen am 20.3.2018). die wahren Stärken der Diplomatie: Vermittlung und
22 Lydia Wilson, »Understanding the Appeal of ISIS«, in: Zusammenarbeit.
New England Journal of Public Policy, 29 (2017) 1, Artikel 5 (4f).

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R. S. Zaharna

 Ein Auge für öffentlichkeitszentrierte


Bedürfnisse haben
Öffentliche Teilhabe und öffentliche Bedürfnisse sind
Teil des diplomatischen Kalküls. Diplomaten müssen
ihren Blick auf alle Zielgruppen (ausländische, ein-
heimische, Diaspora) und deren unterschiedliche Be-
dürfnisse nach Identität, Emotionalität und Einbin-
dung richten. Der »pragmatische Realismus«,23 der die
traditionelle Diplomatie zwischen staatlichen Akteu-
ren prägte, ist zur Erfüllung öffentlichkeitszentrierter
Bedürfnisse und Erwartungen womöglich nicht so
effektiv und strategisch nützlich. Die Erneuerung der
Diplomatie wird auf die Entwicklung öffentlichkeits-
zentrierter diplomatischer Instrumente zur Beobach-
tung emotionaler Dynamiken, zur Vermittlung
zwischen Identitäten und zur Konfliktbewältigung
im öffentlichen Bereich hinauslaufen müssen.

Auf die menschliche Dimension


kommt es an; hier ist der An-
satzpunkt für Effektivitäts-
steigerungen der Diplomatie in den
für sie relevanten Online-Offline-
Räumen von morgen.

 Einfluss auf die menschliche Dimension


nehmen
Sobald der Reiz der neuen Medien verflogen ist, wird
sich das Nachdenken über digitale Diplomatie vom
Digitalen weg hin zur Öffentlichkeit orientieren.
Bewegt man sich zu dieser zweiten Analyseebene, ist
paradoxerweise eine Rückkehr zur traditionellen
Kernkompetenz der Diplomatie angeraten, das heißt
zur Pflege menschlicher Beziehungen. Mit diplo-
matischem Geschick müssen Antworten auf die emo-
tionalen Bedürfnisse der Bürger gefunden und em-
pathische Antwortstrategien entwickelt werden. Pro-
aktive diplomatische Initiativen mögen beispielsweise
geeignet sein, Öffentlichkeit so an Identitätsfragen
zu beteiligen, dass eine Brücke zwischen innerstaat-
lichen und globalen Öffentlichkeiten geschlagen
wird. Auf die menschliche Dimension kommt es
letztlich an; hier ist der Ansatzpunkt für Effektivitäts-
steigerungen der Diplomatie in den für sie relevanten
Online-Offline-Räumen von morgen.

23 Kelley, »The New Diplomacy« [wie Fn. 10].

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Schlussfolgerungen – Eine offene Diplomatie

Schlussfolgerungen –
Eine offene Diplomatie

»Die Kunst der modernen Diplomatie besteht darin, sondern auch intergesellschaftlich, sprich: grenz-
Theodore Roosevelts großen Knüppel digital zu überschreitend. Damit werden auch außenpolitische
schwingen – und niemals leise aufzutreten«. So oder Entwicklungen von den neuen Öffentlichkeiten auf-
so ähnlich werden wir vielleicht in Zukunft Diploma- gegriffen. Das ist selbstredend der Fall, wenn außen-
tie im 21. Jahrhundert definieren. Die Arbeitsgruppe, politische Probleme gleichzeitig innenpolitische oder
die an der Stiftung Wissenschaft und Politik unter- die innergesellschaftlichen Zustände berühren. Es
suchte, wie sich die Umbrüche der internationalen kann aber auch der Fall sein, wenn es für Bürger
Welt auf die Diplomatie der Zukunft auswirken, ließ einen Grund gibt, sich für Vorgänge anderswo zu
sich von akademischem Erkenntnisinteresse leiten. interessieren. Die neuen Öffentlichkeiten wollen
Praktiker wollen wissen, welche konkreten Schluss- daher je nach Thematik die Umsetzung von Außen-
folgerungen aus solchen Erkenntnissen zu ziehen politik beeinflussen. Diplomatie agiert deshalb nicht
sind: für die Politik, für die diplomatische Tätigkeit mehr nur zwischenstaatlich im Dienste der natio-
und das diplomatische Instrumentarium. Auf die hier nalen Ziele eines Landes. Sie muss sich auch innen-
vorgelegten Essays von Akademikern, Praktikern und politisch erklären oder rechtfertigen und zwischen
Beobachtern aus der internationalen Arbeitsgruppe den Zielen des Staates und den Ansprüchen der
soll zumindest der Versuch einer Antwort folgen. Öffentlichkeiten vermitteln. Letztere können ver-
Die eingangs angeführte ironische Neudefinition von langen, dass eine Regierung sich anders verhalten
Diplomatie überzeichnet die auf der Hand liegenden sollte, als die politische Führung es für sachgerecht
Indizien für neue Notwendigkeiten. Tatsächlich ist hält; derweil beansprucht die Regierung, die Inter-
das Resultat ein vielschichtiges: Es gibt keine To-Do- essen der Öffentlichkeiten angemessen zu vertreten.
Liste, und was sich tatsächlich in die Tat umsetzen Selbst in autokratisch regierten Staaten ist ein der-
lassen wird, ist unsicher. artiges Auseinanderfallen von Regierungsentschei-
dungen und den Werten der Öffentlichkeiten zu
I. Die einschneidendste Wirkung auf den eigent- beobachten. Die daraus resultierenden Konflikte
lichen Charakter der Diplomatie geht von der Ver- zerrütten das Vertrauen der Öffentlichkeiten in ihre
vielfältigung der Öffentlichkeiten in modernen Staaten politische Führung und können eine Gesellschaft
aus, insbesondere in den westlichen Demokratien. zerreißen.
Diese Fragmentierung folgt aus der Zerklüftung unse- Selbst angesichts solcher Verluste an Vertrauen in
rer Gesellschaften, die sich in diesem Jahrhundert eine politische Führung ist der Zweifel an der Wahr-
noch beschleunigt. Zu ihr wiederum kommt es da- haftigkeit der Politik aber auch eine positive Erschei-
durch, dass unsere Lebensumfelder, Berufswelten, nung. Sie entspringt dem Wunsch nach Teilhabe, der
Bildung, Interessen, Erfahrungen, weltanschaulichen sich aus den Emanzipationsprozessen seit der Auf-
Orientierungen sich zunehmend ausdifferenzieren. klärung entwickelt hat. Misstrauen der Öffentlich-
Deswegen haben wir es in der Diplomatie mit immer keiten in die Politik und ihr Handeln wird sich abseh-
mehr Akteuren zu tun, die für zahlreiche unter- bar eher verschärfen als abschwächen, ohne die Span-
schiedliche, miteinander koexistierende Öffentlich- nung zwischen Öffentlichkeiten und den staatlichen
keiten stehen, die mitunter berührungslos parallel Repräsentanten zu lösen. So wird zuerst die Legitimi-
nebeneinander leben; sie können aber auch zusam- tät einer Regierung, dann die eines Staatswesens als
menarbeiten oder zusammenstoßen und sich in neue Ganzem in immer größere Gefahr geraten: Sie wird
Teilöffentlichkeiten aufspalten. blasser und weniger wirkmächtig. Damit ist auch
Dieser Fragmentierungsprozess dürfte noch fort- fraglich, ob ein Staat überhaupt noch effektiv und
schreiten. Er wirkt nicht nur innergesellschaftlich, effizient handeln kann. Als Lösung – und damit

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Diplomatie im 21. Jahrhundert
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Schlussfolgerungen – Eine offene Diplomatie

Aufgabe für eine Umorientierung der Diplomatie, wie seltensten Fall Menschen. Sie werden durch Algorith-
sie sich aus diesen Entwicklungen ableitet – ist der men getroffen. Gleiches gilt für die Entscheidungen,
Rückgriff auf jene wahrscheinlich jahrtausendealte ob und wann welche Posts mit welcher Frequenz
Grundtugend der Diplomatie vorstellbar, wie sie Bis- veröffentlicht werden. Hinzu kommt die Möglichkeit,
marck mit seinem in der Einführung zitierten Satz dass Bots und Trolle fingierte »persönliche« Posts und
im Kopf gehabt haben muss: geduldige Vermittlung. »Fake News« veröffentlichen. So können die Initiato-
Heute aber geht es nicht nur darum, zwischen inter- ren dahinter – wer auch immer sie sein mögen –
nationalen Partnern zu vermitteln, sondern auch der Diplomatie, im Normalfall vertreten durch das
zwischen staatlichen Interessen und den neuen Außenministerium und dessen politische Führung,
Öffentlichkeiten. Dieser Wandel erfordert ein neues ganz nach Belieben Themen aufzwingen und der
Verständnisses dessen, was Diplomatie leisten kann, Öffentlichkeit zur Diskussion stellen. Öffentliches
und einen landesweiten Konsens über die Grundsätze Engagement verfügt nun über neue Kanäle, und dies
des Regierungssystems. Die neuen Öffentlichkeiten hat Auswirkungen darauf, wer nicht nur die öffent-
wie die Regierungen werden ihre Erfahrungen damit liche Meinung kontrolliert, sondern auch die Politik.
machen und sie hoffentlich produktiv verarbeiten. Digitale Kommunikation kann sich zu Propaganda im
weitesten Sinne entwickeln. In Verbindung mit den
II. Als diplomatische Instrumente von dramatischer Forderungen der neuen Öffentlichkeiten nach Teil-
Wirkung etablieren sich digitale Technologien. Der Pro- habe und deren gleichzeitiger Staatsferne kann dies
zess der Anpassung an neue technische Angebote ist dazu führen, dass Regierungen die Möglichkeit ent-
in den Außenministerien der Welt weit fortgeschrit- gleitet, die Regierungsgeschäfte überhaupt noch zu-
ten, wenngleich je nach Staat mit großen Unterschie- friedenstellend wahrzunehmen. Die Reaktionen
den. Die digitalen Technologien erleichtern die Kom- wachsam-misstrauischer Öffentlichkeiten bedrohen
munikation, sie beschleunigen Entscheidungsabläufe, daher die Legitimität, Effektivität und Effizienz von
sie vervielfältigen die Menge rasch verfügbarer Infor- Regierungsführung. Die neuen Kommunikations-
mationen, sie bieten mit den sozialen Medien Platt- techniken können den Wesenskern von Diplomatie
formen für den Austausch mit den Öffentlichkeiten verändern, indem sie sie in den gesellschaftlichen
an. Die Bedeutung der digitalen Konnektivität liegt Alltag einbinden.
allerdings nicht nur in der Technik. Dies wäre eine Sucht man Lösungen für dieses Problem, muss
Ebene, auf der sie mit der Einführung des Telegrafen man digitale Konnektivität zuallererst als Politik
im 19. Jahrhundert oder des Faxgeräts im 20. Jahr- verstehen. Natürlich hat Digitalisierung auch eine
hundert vergleichbar wäre. Tatsächlich aber wandelt technische Seite. Die Gefahr, wesentliche Informatio-
sich mit der Anwendung der Technologien das Ver- nen zu übersehen etwa, kann nur durch genauer
ständnis der Kommunikationsinhalte. Informationen durchdachte technische Verarbeitung vermieden oder
werden mit Nutzung der Technik weiterverarbeitet. zumindest reduziert werden. Wesentlicher ist jedoch
Die Beschleunigung der Kommunikation erfordert die Handhabung der sozialen Medien und ihrer zu
Entscheidungen in entsprechender Geschwindigkeit, erwartenden künftigen Nachfolgeprodukte. Praktisch
wodurch Entscheider auf lokaler wie auf nationaler kann das bedeuten, dass Regierungen selbst Algo-
Ebene erheblich unter Druck geraten. Dieser wird rithmen und Plattformen nach eigenen Erfordernis-
noch verschärft durch das Bewusstsein, in Konkur- sen entwickeln und erstellen. Gleichzeitig müssen sie
renz zu anderen Akteuren zu handeln. Denn die deren Anwendung und Entwicklung in eine Denk-
Wettbewerber verfügen vermutlich über die gleichen weise einbetten, die sich an Kultur und Werten eines
technischen Möglichkeiten, verfolgen vielleicht aber Landes sowie den Zielen eines Staates orientiert.
andere Ziele. Ferner sind mehr Fakten greifbar, und Es liegt nahe, diese Aufgabe zusammen mit ande-
zwar tendenziell nahezu zeitgleich mit dem Moment, ren Regierungen anzugehen, zumindest im Rahmen
in dem eine Entscheidung getroffen wird. der Europäischen Union (EU). Die digitale Konnektivi-
Die jüngsten Diskussionen über Facebook, Twitter, tät hat eine internationale Dimension, die sich mehr
YouTube usw. haben gezeigt, dass es sich dabei kei- als anderswo gerade zwischen den EU-Mitgliedstaaten
neswegs nur um bequeme und reichweitenstarke hochdynamisch bemerkbar macht. Die neue Digitali-
Plattformen zum Dialog mit den Gesprächspartnern sierungspolitik, die sich den neuen Öffentlichkeiten
von Diplomaten handelt. Die Entscheidungen dar- zuwendet, muss die digitalen Prozesse und ihre Ein-
über, wo Posts eingestellt werden sollen, fällen im satzweise kontrollieren können.

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Schlussfolgerungen – Eine offene Diplomatie

III. Die Konsequenzen fortschreitender gesellschaft- sie nur multilateral bewältigt werden kann, gibt in
licher Fragmentierung für die innerstaatliche Ent- einer Zeit, in der der Multilateralismus selbst in Zwei-
wicklung lassen sich auch auf internationaler Ebene fel steht, wenig Grund zur Zuversicht. Immerhin lässt
beobachten. Die Ausdifferenzierung von zwischen- sich mit Blick auf Europa festhalten, dass die EU hier
staatlichem Handel und Verkehr, die Zunahme an mit neuen supra-souveränen Ordnungseinrichtungen
Staaten, die über erheblichen internationalen Ein- experimentiert – die indes nicht mit traditionellen
fluss verfügen, der Verlust von Ordnung im inter- exekutiven Institutionen zu verwechseln sind.
nationalen Staatengefüge und die Zweifel an der Stich-
haltigkeit der Regeln, die in der liberalen internatio- IV. Für die praktische Ausübung der Diplomatie des
nalen Ordnung gelten, zeitigen deutlich erkennbare 21. Jahrhunderts sind die Persönlichkeit und das persön-
Folgen. Die wichtigste ist, dass die Zahl der im inter- liche Profil künftiger Diplomaten entscheidend. Diplo-
nationalen Rahmen auftretenden Akteure wächst. Wie maten werden die Fragmentierung ihrer Gesellschaf-
die innerstaatlichen sind sie unterschiedlich, aber ten repräsentieren, sozial wie sprachlich den verän-
auch einander ähnlich. Sachbezogen, profit- oder derten Anforderungen gewachsen sein und der Not-
ideell orientiert, stehen sie im Wettbewerb miteinan- wendigkeit entsprechen müssen, den Umgang mit
der oder kooperieren. Da sie international tätig sind, Öffentlichkeiten oder mit der Digitalisierung zu än-
beeinflussen sie die Außenpolitik und die Diplomatie dern. Auswahl, Training und Karrieremuster müssen
direkt und zum Teil mit erheblichen Auswirkungen. daher auf die neuen Anforderungen hin ausgebaut
Das gilt insbesondere für das Maß an Fragmentie- werden. Dies ist jedoch eine Aufgabe, die die Außen-
rung, das die Interaktion zwischen nicht-staatlichen ministerien der meisten Länder– mit unterschied-
und staatlichen Akteuren betrifft. Die Vielfalt der lichen Zielen – längst in Angriff genommen haben.
Interessenlagen führt zu wenig vorhersehbaren Aus grundsätzlichen Überlegungen, wie sie in der
Abläufen. Sie folgen weniger als noch im 20. Jahr- Arbeitsgruppe an der Stiftung Wissenschaft und Poli-
hundert den Vorgaben des Völkerrechts, also der tik angestellt wurden, lässt sich keine Rezeptsamm-
internationalen Regelwerke, die an Verbindlichkeit lung ableiten. Letztlich können wir in einer Zeit, in
einbüßen und vielleicht auch leichter als früher zu der sich die Fragezeichen beim Umgang mit der inter-
umgehen sind. So kreuzen sich diplomatische Inter- nationalen Politik häufen, nur Ansätze und Weg-
aktionsstränge zwischen alten und neuen Akteuren weiser anbieten. Schließlich stehen wir noch am
auf verschiedenen Ebenen. Mit – allerdings drama- Anfang mit unseren Erkenntnissen darüber, was die
tischen – Ausnahmen gibt es zwar weniger Versu- Veränderungen in und zwischen den Staaten der
che, Probleme mithilfe von Waffengewalt zu lösen. Welt für die altehrwürdige Institution der Diplomatie
Aber der Rückgriff auf andere Zwangsmittel gewinnt wirklich bedeuten. Alt oder nicht, auch die Diploma-
an Bedeutung. Sie sind zumeist wirtschaftlicher und tie des 21. Jahrhunderts wird aber die Aufgabe haben,
finanzieller Natur und bedienen sich nicht-militäri- auf ihr wesentliches Ziel hinzuwirken: dass Außen-
scher Gewalt zur Beilegung von Problemen, die sich politik mit friedlichen Mitteln stattfindet. Die Auto-
durch Gespräche nicht regeln lassen. Angesichts dieser ren und Autorinnen dieses Bandes hoffen, dass ihre
nur schwer zu erfassenden und noch weniger zu steu- Überlegungen all jenen, die sich politisch mit der
ernden Komplexität der internationalen Beziehungen Neugestaltung von Diplomatie befassen, eine Orien-
versuchen staatliche Akteure häufiger, sich auf ihren tierungshilfe bieten.
nationalstaatlichen Rahmen zurückzuziehen.
Es ist schwer zu erkennen, wie hier ohne eine
durchsetzungsfähige internationale Ordnungsinstanz,
die den zwischenstaatlichen Umgang friedlich regelt,
eine Lösung gefunden werden kann. Sie müsste als
mindestens ebenso legitim erachtet werden wie ein
souveräner Staat und mit traditionellen oder neuen
diplomatischen Mitteln neue, offenere Wege im Um-
gang mit den von Zersplitterung gekennzeichneten
Verhältnissen zwischen den vielen neuen und alten
Akteuren beschreiten. Das obliegt als Grundsatz-
aufgabe der Außenpolitik. Allein festzustellen, dass

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Anhang

Anhang

Abkürzungen

APA Außenpolitischer Autismus


AWI Abkommen über wirtschaftliche Integration
BDI Bundesverband der Deutschen Industrie
BRICS Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika
CPG Civil Protection Group (Nato)
DDS Digitales Diplomatiesystem
DEI Digitale Emotionale Intelligenz
EAD Europäischer Auswärtiger Dienst
EADRCC Euro-Atlantic Disaster Response Coordination
Centre (Nato)
ECOSOC Economic and Social Council (UN)
ER Erweiterte Realität
EU Europäische Union
G20 Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwel-
lenländer
G7 Gruppe der 7 wichtigsten Industrienationen
G8 Gruppe der 7 wichtigsten Industrienationen plus
Russland
GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (EU)
GR Gemischte Realität
IARPA Intelligence Advanced Research Projects Activity
IB Internationale Beziehungen
IS »Islamischer Staat«
ISIL Islamischer Staat in Irak und der Levante
JHAFG Joint Health Agriculture and Food Group (Nato)
KI künstliche Intelligenz
MIKTA Mexiko, Indonesien, Südkorea, Türkei und
Australien (informelle Partnerschaft)
Nato North Atlantic Treaty Organization
NDS Nationales Diplomatiesystem
NGO Non-governmental Organization
OFAC Office of Foreign Assets Control (USA)
ÖP Östliche Partnerschaft
RAB Rat für Auswärtige Angelegenheiten
TNA Transnationaler Akteur
TTIP Transatlantic Trade and Investment Partnership
UN United Nations
VR Virtuelle Realität
WTO World Trade Organization

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Die Autorinnen und Autoren

Die Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Corneliu Bjola einem Masterstudiengang im Fachbereich History


ist außerordentlicher Professor für Diplomatische of Political Thought and Intellectual History am Uni-
Studien an der University of Oxford und Leiter der versity College London absolvierte sie ein Praktikum
Oxford Digital Diplomacy Research Group. Er ist am Niederländischen Institut für internationale
Autor bzw. Co-Autor von sechs Büchern, darunter Beziehungen »Clingendael« und gehört derzeit dem
Countering Online Propaganda and Violent Extremism: OILab an, einem Forschungskollektiv, das rechts-
The Dark Side of Digital Diplomacy (2018) und Digital extreme Online-Kulturen untersucht. Sie schrieb
Diplomacy: Theory and Practice (2015). Sein aktueller einen Artikel über digitale Diplomatie für die Zeit-
Forschungsschwerpunkt sind die Auswirkungen schrift Global Policy (2017).
digitaler Technologien auf die Diplomatie mit Fokus
auf strategischer Kommunikation und digitalem Dr. Sascha Lohmann
Einfluss sowie Theorien und Methoden der Bekämp- ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika
fung digitaler Falschinformation und Propaganda. der SWP. Davor war er als Fritz Thyssen Fellow am
@cbjola www.cbjola.com Weatherhead Center for International Affairs an
der Harvard University tätig. Zu seinen Forschungs-
Prof. Dr. Andrew Cooper schwerpunkten gehören internationale Beziehungen
ist Professor für Politikwissenschaften an der Uni- in Theorie und außenpolitischer Analyse, insbeson-
versity of Waterloo und war Alumni Senior Fellow dere an der Schnittstelle von Volkswirtschaft und
am Centre for Global Cooperation Research in Duis- nationaler Sicherheit in den Vereinigten Staaten und
burg. Zu seinen Publikationen gehören unter ande- der Europäischen Union, sowie Theorie und Praxis
rem The BRICS VSI (2016), Diplomatic Afterlives (2014) der Außenpolitikberatung und -evaluation.
sowie Celebrity Diplomacy (2007). Als Co-Autor war er
beteiligt an den Publikationen The G20 (2013), Inter- Prof. i.R. Dr. Hanns W. Maull
vention without Intervening? OAS and Democracy in the ist Senior Distinguished Fellow bei der SWP und
Americas (2006) und Relocating Middle Powers (1993). forscht als Senior Policy Fellow zu China und inter-
Zudem ist er Herausgeber des Buches Niche Diplomacy nationaler Ordnung. Zudem ist er Lehrbeauftragter für
(1997) und Mitherausgeber von The Oxford Handbook Internationale Beziehungen am europäischen Standort
of Modern Diplomacy (2013). der Johns Hopkins University in Bologna. Bis 2013 war
er Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Beziehun-
Prof. em. Dr. Christer Jönsson gen und Außenpolitik an der Universität Trier, von
ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften 2004 bis 2012 Vorsitzender des Forschungsbeirats und
an der Universität Lund und Mitglied der Königlichen Mitglied des Stiftungsrats der SWP. Er veröffentlicht
Schwedischen Akademie der Wissenschaften. Zu regelmäßig Artikel zu internationaler Ordnung, Ost-
seinen Forschungsschwerpunkten gehören Diplo- asien und europäischer Außen- und Sicherheitspolitik.
matie, internationale Organisationen, Verhandlungen
und transnationale Beziehungen. Neben Büchern, Dr. Jan Melissen
darunter The Opening Up of International Organizations ist Senior Research Fellow am Niederländischen Insti-
(Co-Autor 2013), Transnational Actors in Global Gover- tut für internationale Beziehungen »Clingendael«,
nance (Mitherausgeber 2010) und Essence of Diplomacy Senior Fellow am Institut für Sicherheit und Globale
(Co-Autor 2005), veröffentlichte er zahlreiche Artikel Angelegenheiten am Campus Den Haag der Leidener
in führenden wissenschaftlichen Zeitschriften. Zu- Universität, Professor für Diplomatie an der Universi-
dem ist er mit Beiträgen im Routledge Handbook of tät von Antwerpen, Non-resident Faculty Fellow am
Diplomacy and Statecraft (2012) und dem Sage Handbook Center on Public Diplomacy, University of Southern
of Diplomacy (2016) vertreten. California in Los Angeles, sowie Senior Fellow am
Charhar-Institut in Peking. Jan Melissen ist Gründer
Emillie V. de Keulenaar und Mitherausgeber des The Hague Journal of Diplomacy
ist Forschungsdoktorandin zu Neuen Medien und und Herausgeber der bei Brill/Nijhoff erscheinenden
digitaler Kultur an der Universität Amsterdam. Nach Buchreihe Diplomatic Studies.

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Anhang

Kim B. Olsen Prof. Dr. R. S. Zaharna


ist Berater am dänischen Außenministerium und ist Leiterin des Fachbereichs Global Media an der
Doktorand an der Universität von Antwerpen. Zu School of Communication an der American Uni-
seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deut- versity in Washington, D.C., und wissenschaftliche
sche, französische sowie europäische Außenpolitik Mitarbeiterin am Center on Public Diplomacy an der
und geoökonomische Diplomatie. In seiner Tätigkeit University of Southern California. Zu ihren Publika-
als Berater der dänischen Regierung konzentriert er tionen gehören unter anderem Relational, Networked
sich derzeit auf Stabilisierung in Syrien. Zuvor war and Collaborative Approaches to Public Diplomacy (2013,
er als außenpolitischer Berater in den dänischen Bot- mit A. Arsenault und A. Fisher) sowie Battles to Bridges:
schaften in Berlin und Paris sowie als Forschungs- U.S. Strategic Communication and Public Diplomacy after
assistent am Center for German and European Studies 9/11 (2010). Derzeit arbeitet sie an ihrem Buch Glo-
an der University of California in Berkeley tätig. balizing Public Diplomacy: Communication in a Digitally
Connected and Culturally Diverse World.
Dr. Volker Stanzel
ist deutscher Diplomat im Ruhestand. Zuvor war er
Politischer Direktor des Auswärtigen Amts und Bot-
schafter in Japan und China. Seit 2015 arbeitet er
als Senior Distinguished Fellow bei der SWP in Ber-
lin und leitet das Projekt »Diplomatie im 21. Jahr-
hundert«. Im Jahr 2018 wurde er zum Vizepräsiden-
ten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik
ernannt. Seit 2014 war er als Dozent für internationale
Beziehungen an verschiedenen Institutionen tätig:
am Claremont McKenna College und der University of
California in Santa Cruz, der Freien Universität Berlin
und der Dokkyo-Universität in Japan; heute lehrt er
an der Hertie School of Governance. Das Studium der
Japanologie, Sinologie und Politischen Wissenschaf-
ten schloss er 1980 mit der Promotion zum Dr. phil.
an der Universität Köln ab. Er veröffentlicht zu Ost-
asien und verschiedenen politischen Themen.

Karsten D. Voigt
gehört dem Kuratorium des Aspen Institute Deutsch-
land und als Senior Associate Fellow und Präsidiums-
mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige
Politik an. Von 1976 bis 1998 war er Bundestags-
abgeordneter und von 1983 bis 1998 außenpolitischer
Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Mehrere Jahre
stand er der deutsch-sowjetischen und später der
deutsch-russischen Parlamentsgruppe vor. Von 1992
bis 1994 war er Vizepräsident und von 1994 bis 1996
Präsident der Parlamentsversammlung der Nato, von
1999 bis 2010 Koordinator für die deutsch-amerika-
nische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt.

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