Montag, 13.
September 2010
„Die Dominanz der Europäer ist absurd“
INTERVIEW. Kishore Mahbubani, führender Denker aus Singapur, prophezeit das Ende der westlichen Vorherrschaft
in der Welt und den Aufstieg Asiens – die Asiaten aber wollten den Westen nicht dominieren, sondern kopieren.
VON THOMAS SEIFERT
„Die Presse“: Herr Mahbubani, der
rasante Aufstieg Asiens ist vielen im
Westen unheimlich. Was halten Sie
diesen Menschen entgegen?
Kishore Mahbubani: Ich hoffe, dass
die Europäer sich darüber freuen,
dass es zumindest einer Region
auf dieser Welt gut geht. Was die
jüngste Weltwirtschaftskrise ge-
zeigt hat, ist die Tatsache, dass
sich das politische und ökono-
mische Gewicht nach Asien ver-
schiebt. Die Finanzkrise hat uns
zudem die Inkompetenz des Wes-
tens und gleichzeitig die Kom-
petenz Asiens vor Augen geführt.
Amerikaner und Europäer haben
nicht verstanden, dass ein neues
Kapitel der Weltgeschichte aufge-
schlagen wurde.
Was meinen Sie konkret?
Mahbubani: Ich spreche vom Ende
der westlichen Dominanz, nicht
aber vom Ende des Westens. Asien
kehrt auf die Weltbühne zurück,
die USA und Europa müssen ih-
re Volkswirtschaften den neuen
Gegebenheiten anpassen. Dabei
müssen gerade die Europäer aber
einige grundlegende Dinge beach-
ten: Riesige Budgetdefizite sind
nicht hilfreich, über die Verhält-
nisse zu leben ist nicht hilfreich,
zu hohe Gehälter sind schädlich,
und der eigenen Bevölkerung zu
erlauben, mit 50 Jahren in Pension
zu gehen, ist absurd.
Eines der Dinge, das heute gerade
den USA Angst macht, ist, dass Chi-
na heute das Land mit den größten
Devisenreserven ist. Die bange Fra-
ge lautet: Was haben die vor?
Mahbubani: China hat heute die Ka-
pazität, im Ausland zu investieren.
Europa sollte diese Investitionen
begrüßen, solange die Chinesen
ihr Kapital in verantwortungsvol-
ler Weise einsetzen.
Aber anstatt die Gelder im Westen
anzulegen, könnte China doch die
Mittel im eigenen Land investieren.
Es gibt zu wenig gute Spitäler, zu
wenig gute Schulen, die Löhne sind
zu niedrig. Da gäbe es viel zu tun.
Mahbubani: Ich glaube nicht, dass
China all dieses Geld im eigenen
Land investieren könnte. Wenn
Der Westen schwächelt, Asien zieht davon
Wirtschaftsmacher der Welt treffen einander im Boomland Nummer eins. Anders als die alten Wirtschaftsmächte trotz Asien der Krise.
PEKING (sei). Spätestens seit der
Weltwirtschaftskrise, die am 15.
September 2008 mit dem Kollaps
der US-Investmentbank Lehman
Brothers offenbar wurde, scheint
alles sonnenklar: Wir erleben die
wohl größte Verschiebung der
geopolitischen Plattentektonik seit
Menschengedenken – und treten
in eine asiatische Epoche ein.
Bis 2030 wird Asien für die Hälf-
te des Welt-Bruttosozialprodukts
verantwortlich sein. Sein Aufstieg,
speziell der Chinas, ist phänome-
nal: Noch 1950 produzierte es
kaum ein Viertel der globalen
Wirtschaftsleistung. Nun geht es
rasant: Die West-Wirtschaften
dümpeln dahin, China steht unter
Dampf: In Kaufkraftparitäten ge-
rechnet, wird es in wenigen Jahren
auf Platz eins der Liste der größten
Ökonomien landen. Kürzlich hat
es Japan von Platz zwei verdrängt.
Für Japan ist das umso
schmerzlicher, da China sich auch
strategisch breit macht. In Gwadar
(Pakistan), Hambantota (Sri Lan-
ka) und Sitwe (Birma) werden von
China Häfen errichtet, die wohl
AUSLAND
Straßenszene im Stadtzentrum von Tokio: „Asien will Wohlstand, Stabilität und Frieden.“
eine Wirtschaft dieser Größe über
einen längeren Zeitraum mit rund
neun Prozent wächst, ist die Ge-
fahr einer Überhitzung groß. Da
ist es nicht so einfach, das Geld im
eigenen Land sinnvoll zu investie-
ren. Die gute Nachricht ist: Wenn
man sich die Verbesserungen in
der Lebensqualität in China an-
sieht, dann ist die Entwicklung
durchaus bemerkenswert. In Chi-
na erleben wir gerade das größte
Armutsbekämpfungsprogramm
der Geschichte. Nicht alles ist per-
fekt, aber was bisher erreicht wur-
de, ist wirklich bemerkenswert.
China wird vom Westen zuneh-
mend für seine Außenpolitik, etwa
für seine Politik in Afrika, kritisiert.
Mahbubani: Zuerst einmal: Es war
die westliche Zivilisation, die Afri-
ka zerstört hatte, die westliche Zi-
vilisation, die die Afrikaner demo-
ralisiert hatte. Und es war auch die
westliche Zivilisation, die den Afri-
kanern jegliches Selbstvertrauen
geraubt hatte. Ich bin etwas er-
staunt darüber, wie westliche Ver-
treter sich anmaßen können, im
WELTWIRTSCHAFTSFORUM IN TIANJIN
auch Kriegsschiffe aufnehmen
können. Neben Japans Admirälen
fürchten auch Indiens Strategen
Chinas neues „strategisches Drei-
eck“. Jüngst zog sich US-Außen-
ministerin Hillary Clinton den
Ärger Chinas zu, als sie Amerikas
strategische Interessen im südchi-
nesischen Meer bekräftigte.
Dem Westen wird’s unheimlich
Lange staunte der Westen über Asi-
ens Aufstieg. Doch zuletzt wurden
kritische Stimmen lauter: Der
„Spiegel“ fragte, ob Chinas Auf-
stieg, von dem Deutschland mehr
als jedes andere EU-Land profitie-
ren konnte, der europäischen Wirt-
schaftslokomotive nicht gefährlich
werden könne. Im Juli klagte der
Siemens-Vorstand, dass fremde
Firmen, die in China öffentliche
Aufträge wollen, chancenlos seien.
Er rief Peking auf, Handels- und In-
vestmentbarrieren im Auto- und
Finanzbereich abzubauen.
Jeffrey Immelt, der Chef von Ge-
neral Electric, kritisierte, dass der
Protektionismus in China wachse.
Die USA beklagen gebetsmühlen-
Namen Afrikas zu sprechen – und
das ganz ohne Scham. Niemand
kommt auf den Gedanken: „Das
waren ja eigentlich wir, die Afrika
zerstört haben.“ Können Sie sich
überhaupt das Gefühl der Befrei-
ung vorstellen, das die Afrikaner
empfinden, da sie nun „Nein“ zum
Westen sagen können, weil es Al-
ternativen gibt?
Sie sprechen in Ihrem Buch „Die
Rückkehr Asiens“ davon, dass der
Westen den asiatischen Ländern
Platz machen muss. Wo denn?
Mahbubani: Der Westen hat die
Welt 200 Jahre lang dominiert. Es
ist Zeit, diese Vorherrschaft aufzu-
geben: Die Dominanz der Euro-
päer im Internationalen Wäh-
rungsfonds ist absurd. Die Bevöl-
kerung Europas macht vielleicht
sieben Prozent aus. Im Jahr 1900
war Europas Anteil an der Welt-
bevölkerung noch 20 Prozent, im
Jahr 2000 neun Prozent, bis 2100
wird dieser Anteil auf vier Prozent
sinken. Sieben oder acht Prozent
der Weltbevölkerung kontrollieren
33 Prozent der Stimmrechte der
artig den angeblich zu niedrigen
Kurs der chinesischen Währung
Renminbi-Yuan, der Chinas Ex-
porteuren einen Vorteil verschaf-
fen soll. Das Handelsbilanzdefizit
der USA im Handel mit China ist
bis Juli 2010 um 18 Prozent auf
145,4 Milliarden Dollar gestiegen.
Alles Jammern hilft den Bossen
wenig. Die Weltwirtschaftskrise
zeigte: Die Musik spielt in Asien.
Während einzelne Euro-Länder tief
in der Schuldenkrise stecken und
Amerika einen neuen Wirtschafts-
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
Veränderung des BIP zum Vorjahr in Prozent
(Prognose 2010/11)
A CHINA
9,6 9,1 10,5 9,6
2008 2009 2010 2011
A INDIEN
9,4 8,4
6,4 5,7
/GK ∙ Quelle: IWF
ZUR PERSON
Q Kishore
Mahbubani (*1948
in Singapur) ist ein
Politikwissenschaft-
ler und Diplomat.
Von 1971 bis 2004
stand er im Dienst des Außen-
ministeriums seines Stadtstaates,
jetzt unterrichtet er an der National
University of Singapore. Er ist Autor
des Buches „Die Rückkehr Asiens“.
Als maßgebliche Stimme Asiens
befasst sich Mahbubani mit der
Machtverschiebung von West
nach Ost. Er beschreibt, wie die
Übernahme westlicher Modelle
Asien nach oben katapultiert hat,
zuerst Japan, dann die „Tiger-
staaten“, schließlich China und
Indien. Zugleich kritisiert er die
westliche Doppelmoral bei der
Forderung nach Demokratie und
Menschenrechten. [ Thomas Seifert ]
einbruch fürchtet, wächst Asiens
Wirtschaft nach einer Delle längst
wieder: 2009 erneut mit 5,6 Pro-
zent, ignoriert man den „kranken
Mann im Pazifik“, das seit zwei
Jahrzehnten schwächelnde Japan.
China wird 2010 und 2011 um
mindestens neun Prozent wach-
sen. Vom 585-Milliarden-Dollar-
Konjunkturpaket hat nicht nur
China profitiert, sondern eine
ganze Reihe anderer Länder, die
wirtschaftlich mit China verfloch-
ten sind – so wie Österreich.
A ASEAN-5*
4,7 6,4
1,7
* Indonesien, Malaysia, Philippinen, Thailand, Vietnam
A USA
3,3
0,4 −2,4
A EUROZONE
0,6 −4,1 1,0
3
Weltbank. Belgien, die Niederlan-
de und Luxemburg haben mehr
Stimmrechte im IWF als China.
Das ist doch völlig absurd. Wir ha-
ben eine Menge globaler Proble-
me. Wir brauchen einen globalen
Dialog, der nicht von einer Seite
dominiert wird. Die westliche Do-
minanz der globalen Institutionen
ist eines der größten Hindernisse
bei der Transformation der globa-
len Weltordnung.
Der „Economist“ hat Ihr Buch als
antiwestliche Polemik beschrieben.
Mahbubani: Das ist es nicht. Der
Grund für den jetzigen Erfolg Asi-
ens ist es, dass die Asiaten die
Erfolgsmodelle des Westens an-
wenden. Asien will den Westen
nicht dominieren, sondern kopie-
ren. Asien will Wohlstand, Stabili-
tät und Frieden.
Der Aufstieg Asiens ist mit vielen
Fragezeichen verbunden, überall
lauern Fallen.
Mahbubani: Das stimmt. Die Ge-
schichte lehrt uns, dass große Ver-
[ Reuters ] änderungen im geopolitischen
Machtgefüge meistens mit großen
Spannungen einhergehen. Eine
große Ausnahme war, als die USA
das britische Empire als Füh-
rungsmacht abgelöst haben. Auch
im Falle des Aufstiegs Chinas ist es
überraschend, dass er bisher mit
relativ wenigen Spannungen ein-
hergeht. Das liegt meiner Ansicht
nach an der hohen geopolitischen
Kompetenz der chinesischen Di-
plomatie und Politik.
Ist aber nicht auch Redefreiheit
unabdingbar für die Weiterentwick-
lung einer Gesellschaft?
Mahbubani: Der indische Politik-
wissenschaftler Pratap Bhanu
Mehta sagte einst: „Indien hat ein
offenes politisches System, aber
ein geschlossenes Denken, China
hat ein geschlossenes politisches
System, aber ist im Denken sehr
offen.“ Einer der größten Fehler,
den der Westen bei der Betrach-
tung Chinas macht, ist: Nur weil
man dort nicht denselben Grad
an Redefreiheit genießt, heißt das
nicht, dass nicht hart nachgedacht
wird. Dort wird sogar sehr hart
nachgedacht, vielleicht härter als
in Europa oder in den USA.
Die enorme Wirtschaftskraft ist
in Peking in gestiegenem Selbst-
vertrauen zu spüren. Cheng Shu
etwa studiert Journalismus an der
Renmin-Universität. Sie ist höflich
und zurückhaltend, aber die
23-Jährige, die eben von einem Au-
stralienaufenthalt zurückgekehrt
ist, strotzt nur so vor Optimismus:
China sei dabei, seine Rolle auf der
Weltbühne einzunehmen, sagt sie.
Das geht nur China etwas an
Probleme gebe es, etwa wachsen-
de soziale Ungleichheit und Um-
weltverschmutzung. Wie viele jun-
ge Chinesen macht sie bei einer
5,5 NGO mit, diesfalls beim WWF. Bei
den „T“-Fragen (Tibet, Taiwan)
versteht sie aber keinen Spaß: Das
Ausland gehe das nichts an. Chi-
nas studentische Jugend ist sanft
2,9 und sympathisch, aber patriotisch.
Doch auch die jungen Arbeiter,
die in Südchinas Fabriken alles
von iPods bis Jeans zusammen-
basteln, fordern ihre Rechte. Spe-
1,3 ziell die, die nach 1990 geboren
sind, haben höhere Ansprüche an
ihren Job als ihre Vorgänger.