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Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik
FOKUS
Wichtiger HINWEIS !
Verantwortungsvolles
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden! Wirtschaften oder Imagepflege?
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
EDITORIAL
Fokus
6 10 13
UNO verhilft Corporate Corporate Social Schrittweise Ausweitung der
Social Responsibility zum Responsibility – OECD-Standards
Durchbruch die Rolle des Bundes Roel Nieuwenkamp
Christine Kaufmann OECD
Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch
Universität Zürich Staatssekretariat für Wirtschaft
16 20 24
Nationaler Glaubwürdig handeln – Die SDGs als Chance
Kontaktpunkt fördert dank Leadership zur unternehmerischen
die verantwortungsvolle Antonio Hautle Neuausrichtung
Global Compact Network Switzerland
Unternehmensführung Katrin Muff
Business School Lausanne
Lukas Siegenthaler, Nadja Meier,
Alexander Kunze
Staatssekretariat für Wirtschaft
32
Der Banksektor hilft mit, 38
die UNO-Ziele zu erreichen
Christian Leitz Streitgespräch mit
UBS
Tobias Meili, Syngenta,
34 und Mark Herkenrath,
Eine Kommode aus Indien – Alliance Sud
29 was steckt dahinter?
Martina Bosshard, Jürg von Niederhäusern
Fairtrade & Co: Migros-Genossenschafts-Bund
Die Pionierphase ist vorbei
Christian Robin 36
Staatssekretariat für Wirtschaft
Britta Wyss Bisang Gemeinsame
Vorstandsvorsitzende Iseal
Wertschöpfung ergibt Sinn
Christian Frutiger, Christian A. Vousvouras
Nestlé
INHALT
Themen
DOSSIER
Pensionskassen in
Bedrängnis
44 46
KINDERFREMDBETREUUNG INTEGRATIONSPOLITIK 54
Systemrisiken bei den
Investition in die Zukunft: Wirtschaftliche Integration Pensionskassen
Ein höherer Kita-Abzug im von Asylsuchenden Vera Kupper Staub, Stefan Eggenberger
Steuerrecht Dominic Rohner, Mathias Thoenig Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge
Universität Lausanne
Brigitte Behnisch
Eidgenössische Steuerverwaltung Mathieu Couttenier, Veronica Preotu
Universität Genf
57
Umverteilung von Jung zu Alt
Patrick Spuhler
Prevanto
b
59
Die kapitalgedeckte Vorsorge im
Tiefzinsumfeld
Yvonne Seiler Zimmermann
Hochschule Luzern
Heinz Zimmermann
Universität Basel
48 51
ARBEITSMARKT AUFGEGRIFFEN
Staatsunternehmen in der 62
24-Stunden- Das Risiko tragen die Versicherten
Betagtenbetreuung: politischen Zwickmühle
Daniel Greber, Markus Moor
Welche Regeln sind nötig? Eric Scheidegger
Staatssekretariat für Wirtschaft
Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften
Miriam Frey, Harald Meier
B,S,S.
64
Die Vergleichbarkeit von
Pensionskassen verbessern
i
IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK
4 67 68
i IMPRESSUM
Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern
Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger
Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, Susanne Blank,
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ISSN 1011-386X
FOKUS
Verantwortungsvolles
Wirtschaften oder Imagepflege?
Unternehmen sollen ökonomisch, ökologisch und sozial nach-
haltig wirtschaften. Dies verlangen internationale Standards wie
die UNO-Leitprinzipien oder die OECD-Leitsätze. Firmen mit einer
sogenannten Corporate Social Responsibility (CSR) halten sich an
die Menschenrechte und an Umweltstandards; sie sorgen für gute
Arbeitsbedingungen und verzichten auf Korruption.
Gesellschaft
Umwelt Wirtschaft
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
6 Die Volkswirtschaft 7 / 2017
FOKUS
Menschenrechte vor Verletzungen durch Dritte an den UNO-Leitprinzipien und deren Anfor-
und damit auch durch Unternehmen zu schüt- derungen an die Sorgfaltspflicht orientieren.
zen. Staaten sollen unter anderem eine Unter- So müssen britische Unternehmen zum Bei-
nehmenskultur fördern, in der die Achtung der spiel eine von einem Geschäftsleitungsmitglied
Menschenrechte zu einem integralen Bestand- unterzeichnete Erklärung über die von ihnen
teil der Geschäftstätigkeit wird. getroffenen Massnahmen zur Verhinderung
Die zweite Säule richtet sich an Unterneh- von modernen Formen der Zwangsarbeit abge-
men, welche verantwortlich sind, bei ihrer Ge- ben.2 Und in Frankreich verpflichtet ein neues
schäftstätigkeit die Menschenrechte zu ach- Gesetz grössere Unternehmen zu menschen-
ten. Dazu gehören ein unternehmensweites rechts- und umweltschutzbezogenen Sorgfalts-
Bekenntnis zu den Menschenrechten, eine Ein- pflichten sowohl bei ihren eigenen Aktivitäten
schätzung, wie sich unternehmerische Aktivi- als auch denen ihrer Töchter und von ihnen kon-
täten auf Menschenrechte auswirken können, trollierten Unternehmen.3 In den Niederlanden
und eine sorgfältige Geschäftsführung, welche sollen Firmen sicherstellen, dass in ihrer Liefer-
die Menschenrechte miteinbezieht. kette keine Kinderarbeit auftritt.4 Schliesslich
Die dritte Säule betrifft den Zugang zu Streit- nehmen auch verschiedene von Unternehmen
schlichtungs- und Wiedergutmachungsmecha- und Branchen lancierte Initiativen auf die UNO-
nismen. Staaten und Unternehmen teilen sich Leitprinzipien Bezug. Dazu zählen beispielswei-
die Verantwortung, Opfern von Menschen- se die Arbeiten der Thun-Gruppe der Banken.5
rechtsverletzungen wirksame Mittel für eine Be-
schwerde oder Wiedergutmachung in Form von Bundesrat unternimmt Schritte
gerichtlichen oder aussergerichtlichen, staatli-
chen oder nicht-staatlichen Verfahren zu geben. Die Schweiz engagiert sich seit langem in ver-
1 Richtlinie 2014/95/ schiedenen Bereichen der sozialen Unterneh-
EU, 22. Oktober 2014;
Globale Ausstrahlung COM(2014)0111, mensverantwortung, kennt aber keine CSR-
C7-0092/2014, spezifische Gesetzgebung. In den letzten zwei
2014/0059(COD),
Der pragmatische und gleichzeitig prinzipien- Verordnungsentwurf. Jahren unternahm der Bundesrat jedoch wichti-
2 Modern Slavery Act
orientierte Ansatz der UNO-Leitprinzipien hat von 2015. ge Schritte zur Umsetzung eines modernen Ver-
sich national und international rasant verbrei- 3 Loi 2017-399, ständnisses der gesellschaftlichen Verantwor-
März 2017.
tet. Heute gelten die Leitprinzipien als der wich- 4 Wet zorgplicht kin- tung von Unternehmen und setzte dabei den
derabeid, No. 34 506
tigste international anerkannte CSR-Standard (2016-2017). Die Zu-
Akzent auf die Selbstinitiative der Wirtschaft.6
im Bereich Menschenrechte. So entschied sich stimmung des Senats So verabschiedete er im Frühling 2015 das Posi-
war bei der Druckle-
zum Beispiel die Organisation für wirtschaftli- gung noch ausstehend. tionspapier «Gesellschaftliche Verantwortung
5 Vgl. Beitrag von
che Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), Christian Leitz (UBS)
von Unternehmen», welches auch einen Ak-
in ihren eigenen Leitsätzen für multinationale auf Seite 32. tionsplan enthält.7 Der Bundesrat definiert da-
6 Vgl. Beitrag von
Unternehmen ein spezielles Menschenrechts- Seco-Direktorin rin CSR als Verantwortung von Unternehmen
kapitel aufzunehmen, das direkt auf die Leit- Marie-Gabrielle für die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Gesell-
Ineichen-Fleisch auf
prinzipien Bezug nimmt. Seite 10. schaft und Umwelt. Der Aktionsplan listet lau-
7 Bundesrat, Gesell-
Verschiedene neue EU-Regelungen stützen schaftliche Verantwor- fende und zukünftige Aktivitäten des Bundes
sich ebenfalls auf die UNO-Leitprinzipien. Dazu tung von Unterneh-
men, Positionspapier,
zur Umsetzung von CSR anhand von folgenden
zählen zum Beispiel die Richtlinie über die Of- 1. April 2015. vier Strategien auf:
fenlegung nicht-finanzieller Informationen und
eine geplante Verordnung des Europäischen
BUNDESRAT (2016), BERICHT ÜBER DIE SCHWEIZER
STRATEGIE ZUR UMSETZUNG DER UNO-LEIT-
PRINZIPIEN FÜR WIRTSCHAFT UND MENSCHEN-
8 Die Volkswirtschaft 7 / 2017
FOKUS
KEYSTONE
Menschenrechtsrat
in Genf.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 9
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Abstract In der Schweiz sind Nutzen und Bedeutung der Corporate Social
dem gesetzlichen Datenschutz, sondern auch
Responsibility (CSR) anerkannt. Die diesbezüglichen Aktivitäten des Bun- mit sich ändernden Werthaltungen und Kun-
des wurden in den vergangenen Jahren in zwei Grundlagenberichten syste- denbedürfnissen auseinandersetzen.
matisch aufgearbeitet und auf die Zukunft ausgerichtet. So verabschiede-
te der Bundesrat im Jahr 2015 ein CSR-Positionspapier und 2016 erarbeitete
er einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UNO-Leitprinzipien zu Positionspapier des Bundesrates
Wirtschaft und Menschenrechten. Namentlich setzt der Bund Rahmenbe-
Der Bund engagiert sich seit langem für Corpo-
dingungen, übernimmt eine Vorbildrolle bei seinen eigenen Aktivitäten
und unterstützt Unternehmen bei der Wahrnehmung der CSR. Die Schwei- rate Social Responsibility. Bereits in den Neun-
zer Wirtschaft hat gute Voraussetzungen, um die Herausforderungen der zigerjahren hat er beispielsweise Fairtrade-Ini-
Zukunft zu meistern. tiativen unterstützt und im Jahr 2000 richtete
er den Nationalen Kontaktpunkt für die Leitsät-
ze der Organisation für wirtschaftliche Zusam-
KEYSTONE
Der Bund setzt sich
bei Unternehmen für
sich für die Gestaltung von Rahmenbedingun- Corporate Social Re- Im Sinne einer Vorbildrolle beachtet der Bund
gen ein, zweitens sensibilisiert und unterstützt sponsibility ein: Bun- bei seinen eigenen Aktivitäten als Arbeitgeber,
er Schweizer Unternehmen bei der Umsetzung desrat Johann Schnei- Beschaffer, Anleger und Unternehmenseigentü-
der-Ammann (l.) mit
der CSR. Drittens stärkt er die CSR in Entwi- damaligem Nestlé-
mer die CSR-Kriterien. So handelt der Bund bei-
cklungs- und Transitionsländern, und viertens Chef Paul Bulcke (m.) spielsweise als fortschrittlicher Arbeitgeber mit
fördert er die Transparenz von CSR-Aktivitäten. und Fabrikdirektor marktgerechten Anstellungsbedingungen, gu-
Konkret unterstützt der Bund internatio- Olivier Michaud in ten Instrumenten zur Vereinbarkeit von Beruf
Konolfingen BE.
nale Organisationen wie die UNO und die und Privatleben und Chancengleichheit sowie
OECD aktiv – zum Beispiel bei der Erarbeitung fortschrittlichen Aus- und Weiterbildungsmög-
von branchenspezifischen OECD-Instrumen- lichkeiten.2 Im Rahmen der wirtschaftlichen
ten zur verantwortungsvollen Unternehmens- Entwicklungszusammenarbeit fliessen CSR-
führung für den Finanz-, den Textil-, den Roh- Kriterien in die Förderung von nachhaltigen
stoff- und den Landwirtschaftssektor. Weiter Wertschöpfungsketten – zum Beispiel im Ka-
referieren Bundesvertreter regelmässig an öf- kao-, Gold- und Textilsektor – ein. Bezüglich
fentlichen Anlässen zu CSR-Themen und neh- Transparenz fördert der Bund unter anderem
men an Dialogforen wie dem «Swiss Global die unternehmerische Nachhaltigkeitsbericht-
Compact Dialogue on Responsible Business» erstattung, was zur Glaubwürdigkeit der CSR-
teil. Dieses im Februar 2017 mit Unterstützung Massnahmen, zur Verbreitung guter Praktiken
des Bundes erstmals durchgeführte Forum und zum Dialog von Unternehmen mit deren
wurde vom Schweizer Netzwerk «Global Com- Anspruchsgruppen beiträgt.
pact» organisiert und zählte rund 200 Teilneh-
mende. Im März hat das Staatssekretariat für Nationaler Aktionsplan zu Wirt-
Wirtschaft (Seco) zudem das Webportal Csr. 2 S iehe Urs Bolz und Pas-
cal Lüthi (2017). Corpo-
schaft und Menschenrechten
admin.ch eingerichtet. Es bietet Anwendungs- rate Social Responsibi-
hilfen für Unternehmen sowie Informationen lity (CSR): Der Bund als Den zweiten Bericht verabschiedete der Bun-
Vorbild? – Eine Ausle-
zum Engagement des Bundes, zu internatio- geordnung, Studie im desrat im Dezember 2016. Er enthält einen Na-
nalen Entwicklungen und zu branchenspezifi- Auftrag des das Bun- tionalen Aktionsplan zur Umsetzungsstrate-
desamtes für Raument-
schen Instrumenten. wicklung (ARE). gie der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 11
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Menschenrechte. Die vom Menschenrechtsrat einbarkeit von Privatleben und Beruf anbieten,
im Juni 2011 beschlossenen UNO-Leitprinzipien Aus- und Weiterbildung fördern und die Um-
für Wirtschaft und Menschenrechte beruhen welt schonen.
auf drei Pfeilern: Zukünftige Herausforderungen stehen etwa
–– die Pflicht der Staaten, die Menschenrechte im Zusammenhang mit gesellschaftlichen oder
zu schützen; demografischen Entwicklungen im Arbeitsle-
–– die Verantwortung der Unternehmen; ben. Konkret geht es dabei um die Vereinbarkeit
–– angemessene und wirksame Beschwerdever- von Privatleben und Beruf oder um den Umgang
fahren bei Fällen von Menschenrechtsverlet- mit älteren Mitarbeitenden. Weiter verändern
zungen durch wirtschaftliche Akteure. sich im Zuge der Digitalisierung sowohl die Ge-
schäftsmodelle als auch die Kundenbedürfnis-
Die Schweiz gehört zu den ersten Ländern, se: Der Onlinehandel bietet neue, direkte inter-
die über eine Strategie zur Umsetzung der nationale Beschaffungs- und Absatzkanäle mit
UNO-Leitprinzipien und zur Förderung der Ko- grossen Chancen für Produzenten, Händler und
härenz von wirtschaftlichen Aktivitäten und Kunden. Dabei gilt es aber zu klären, inwieweit
Menschenrechten verfügen. Die Strategie kon- CSR-Standards auch bei diesen Geschäftsmo-
zentriert sich auf den ersten Pfeiler: die Verant- dellen gebührend berücksichtigt und überprüft
wortung des Staates. Der Nationale Aktions- werden können. Schliesslich werden die Wert-
plan enthält fünfzig Instrumente zur Förderung schöpfungsketten immer komplexer – was ins-
der Einhaltung der Menschenrechte durch den besondere für KMU bei der Berücksichtigung
Bund und durch Schweizer Unternehmen, die von Nachhaltigkeitskriterien im Beschaffungs-
im In- und Ausland tätig sind, sowie zur Wieder- prozess eine grosse Herausforderung darstellt.
gutmachung von Menschenrechtsverletzungen. Die Schweizer Wirtschaft hat gute Voraus-
Dazu gehören beispielsweise das Einbringen der setzungen, um diese Herausforderungen zu
Thematik Unternehmen und Menschenrechte meistern und neue Chancen zu nutzen. Eine
im Rahmen politischer Konsultationen mit an- wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche
deren Staaten oder die Information und Sensi- Umsetzung der CSR auf Unternehmensebene ist
bilisierung von Unternehmen durch Schweizer die Vorbildrolle des Managements, dessen Dia-
Auslandvertretungen. logbereitschaft und die Integration der CSR in
die Unternehmenskultur. Eine verantwortungs-
Gewappnet für zukünftige Heraus- volle Unternehmensführung kommt letztlich
allen zugute: den Firmen, den Betroffenen und
forderungen
der Umwelt.
Die meisten Schweizer Unternehmen nehmen
ihre gesellschaftliche Verantwortung bereits
heute wahr. Insbesondere grössere Unterneh-
men orientieren sich dabei an internationalen
CSR-Richtlinien wie den OECD-Leitsätzen für
multinationale Unternehmen oder den UNO-
Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschen-
rechte. Aber auch KMU, die ihr Handeln oft
nicht explizit als CSR benennen, verhalten sich Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch
verantwortungsvoll, indem sie unter anderem Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco),
Bern
Arbeitsplätze schaffen, Möglichkeiten zur Ver-
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 13
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
KEYSTONE
Die OECD will ihre
Standards auf Asien
Vermittlungsdienste an. Ist dies nicht möglich, ausweiten. Inspektor Fokus auf Branchen
unterbreiten sie dem Unternehmen Empfehlun- in vietnamesischer
gen, wie es seine Praktiken mit den OECD-Leit- Textilfabrik. Allerdings wird der Nutzen dieser Standards in-
sätzen in Einklang bringen kann. In rund der frage gestellt, weil insbesondere einige asiati-
Hälfte der behandelten Fälle wird durch die Ver- sche und afrikanische Firmen diese nicht res-
mittlung unter den Parteien eine Übereinkunft pektieren. Deshalb setzt sich die OECD für eine
erzielt. Das Kontaktpunktesystem ist weltweit Ausweitung der Leitlinien ein.
aktiv, denn die Fälle betreffen oft auch Nicht- Auf Branchenebene gibt es bereits konkrete
mitgliedstaaten der OECD wie beispielsweise Erfolge vorzuweisen. So verabschiedete C hina
Bangladesch, Kambodscha oder Kamerun. 2015 im Rohstoffbereich die Chinese Due Dili-
Ebenso wichtig wie die Problemlösung ist gence Guidelines for Responsible Supply Chains
die Vorbeugung. Um den Unternehmen dabei zu of Minerals, die mit Unterstützung der OECD
helfen, die Verantwortung für ihre Wertschöp- und auf Basis der OECD-Leitsätze für den Be-
fungsketten wahrzunehmen und anspruchs- reich Mineralien entwickelt wurden. Einige
volle Herausforderungen einzelner Sektoren Nichtunterzeichnerstaaten, die Rohstoffe ab-
und Kontexte anzugehen, wurden sektorspezi- bauen – insbesondere Burundi, die Demokrati-
fische Leitlinien für verantwortungsvolle Wert- sche Republik Kongo und Ruanda – haben die
schöpfungsketten in der Mineralienindustrie, Leitsätze in ihre Gesetzgebung aufgenommen.
der Landwirtschaft, der Rohstoffindustrie so- Auch die Responsible Cobalt Initiative, die
wie in der Bekleidungs- und Schuhindustrie for- auf bessere Arbeitsbedingungen in Kobaltmi-
muliert. nen abzielt, stützt sich auf die OECD-Leitsätze.
Die chinesische Handelskammer für den Import Georgien, in Vietnam, in Laos, in Kambodscha
und Export von Metallen, Mineralien und Che- und auf den Philippinen jeweils ein Kapitel zur
mikalien hat diese im November 2016 gemein- verantwortungsvollen Unternehmensführung.
sam mit der OECD ausgearbeitet. In diesen Kapiteln werden nationale Initiativen
Ähnliche Fortschritte wurden bei der För- und politische Strategien untersucht und Emp-
derung von verantwortungsvollen Wertschöp- fehlungen zur Schaffung eines günstigen Um-
fungsketten in der Bekleidungs- und Schuh- felds für die unternehmerische Verantwortung
industrie erzielt. Auch hier bilden die kürzlich gegeben. Um das Bewusstsein zu schärfen und
veröffentlichten OECD-Leitlinien die Basis. Im Regierungen, Unternehmen und andere Akteu-
vergangenen Dezember organisierten die OECD, re mit den Leitsätzen vertraut zu machen, wur-
die EU und das kambodschanische Ministerium den in diesen Ländern Workshops durchge-
für Arbeit und Berufsbildung gemeinsam einen führt.
politischen Dialog über Sorgfaltspflichten in Ein gemeinsames Programm von EU, OECD
dieser Branche und ebneten damit den Weg für und der internationalen Arbeitsorganisation
die mögliche Lancierung eines Pilotprojekts zur (ILO) zu verantwortungsvollen Wertschöpfungs-
Einführung der Leitsätze in Kambodscha. ketten legt den Fokus in den nächsten drei Jahren
Schliesslich war der chinesische Textil- und weiter auf Asien. In enger Zusammenarbeit mit
Bekleidungsrat (CNTAC) als aktives Mitglied den Behörden der Zielländer und der ILO wird die
in der Beratungsgruppe zur Entwicklung der OECD mit China, Thailand, Vietnam, den Philip-
OECD-Leitsätze ebenfalls vertreten. Die Leit- pinen und Myanmar – allesamt Nicht-OECD-Mit-
sätze werden derzeit ins Chinesische übersetzt glieder – an der Förderung verantwortungsvoller
und die OECD arbeitet mit dem CNTAC an der Unternehmensführung arbeiten.
Entwicklung spezifischer Leitlinien für den chi- Wie sich zeigt, hat insbesondere die sek-
nesischen Kontext. torielle Ausweitung auf die Wertschöpfungsket-
ten der Mineralien- und Bekleidungsindustrie
Ausweitung auf Regierungen zu konkreten Ergebnissen geführt. Auf diesen
Erfolgen muss daher weiter aufgebaut werden.
Ein wichtiger Schritt hin zu einheitlichen Stan-
dards ist die Ausweitung der formellen Anwen-
dung der Leitsätze auf Nicht-OECD-Länder
– insbesondere in Lateinamerika. Auch mit wei-
teren wichtigen globalen Wirtschaftsakteuren
arbeitet die OECD intensiv zusammen. So geht
das Arbeitsprogramm OECD-China 2017–2018
beispielsweise ausführlich auf die Kooperation
im Bereich der verantwortungsvollen Unterneh- Roel Nieuwenkamp
mensführung ein. Zudem enthalten die neusten Prof. Dr., Vorsitzender der OECD-Arbeitsgruppe zu ver-
antwortungsvoller Unternehmensführung, Paris
OECD-Berichte über die Investitionspolitik in
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 15
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Nationaler Kontaktpunkt
fördert die verantwortungsvolle
Unternehmensführung
Setzen multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz die OECD-Leitsätze für eine
verantwortungsvolle Unternehmensführung um? Dieser Fragestellung widmet sich der
im Seco angesiedelte Nationale Kontaktpunkt. Im Fokus stand jüngst beispielsweise die
Fifa. Lukas Siegenthaler, Alexander Kunze, Nadja Meier
Abstract Bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen han- Die Aufgabe des NKP ist es, die Leitsätze bei
delt es sich um einen umfassenden Verhaltenskodex für eine verantwor- den Unternehmen bekannt zu machen und de-
tungsvolle Unternehmensführung. In der Schweiz fördert der Nationale ren Anwendung zu fördern. Interessengruppen
Kontaktpunkt (NKP), dessen Sekretariat sich im Staatssekretariat für Wirt- oder Einzelpersonen können beim NKP vermu-
schaft befindet, die Umsetzung dieser Empfehlungen durch die Unterneh- tete Verstösse gegen die Leitsätze melden, wor-
men. Werden dem NKP vermutete Verstösse gegen die Leitsätze gemel- auf dieser ein Schlichtungsverfahren anbieten
det, kann er ein Schlichtungsverfahren anbieten. Der NKP behandelte in den
kann. Eingaben sind grundsätzlich beim NKP je-
letzten Jahren vermehrt komplexe Eingaben wie jene zur Fifa-Fussballwelt-
meisterschaft 2022 in Katar. Der im April 2017 veröffentlichte OECD-Bericht nes Landes einzureichen, in dem der mutmass-
zur Länderprüfung stellt dem NKP ein gutes Zeugnis aus und anerkennt des- liche Verstoss stattgefunden hat. Ist dieses Land
sen professionelle Arbeitsweise. kein Unterzeichnerstaat der Leitsätze, kann die
Eingabe im Land des Hauptsitzes des multina-
tionalen Unternehmens eingereicht werden.
Bis Ende 2016 behandelten die Nationalen Kontaktpunkte insgesamt über 400 Eingaben, welche Unternehmensaktivitäten in über 100 Ländern be-
trafen.
der NKP von einem Beirat beraten. Dieser be- Sportorganisationen sowie auf NGOs zu befin-
steht aus der Seco-Direktorin Marie-Gabrielle den. Bei Eingaben zum Weltfussballverband
Ineichen-Fleisch und drei weiteren Mitgliedern Fifa und der Umweltorganisation WWF Inter-
der Bundesverwaltung sowie je zwei Vertreter national, die beide in der Schweiz ihren Sitz ha-
von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, ben, erachtete er die Voraussetzungen zur An-
Wirtschaftsverbänden, Nichtregierungsorgani- wendung der Leitsätze aufgrund der konkreten
sationen (NGOs) und der Wissenschaft. Umstände als erfüllt und bot den Parteien daher
eine Mediation an.
Mediation mit Fifa zeigt Wirkung Die 2015 eingereichte Eingabe der Ge-
werkschaft Bau- und Holzarbeiter Interna-
Seit seiner Errichtung im Jahr 2000 hat der tionale (BHI) gegen die Fifa machte Verstösse
Schweizer NKP 18 Eingaben erhalten, wobei die gegen die Menschenrechte von Wanderarbei-
Zahl und Komplexität der Eingaben in den letz- tern beim Bau der Infrastruktur für die Fuss-
ten fünf Jahren zugenommen hat. So hatte der ballweltmeisterschaft 2022 in Katar geltend.
Schweizer NKP beispielsweise als einer der ers- Der Mediationsprozess zwischen den Partei-
ten über die Anwendbarkeit der Leitsätze auf en trug unter anderem dazu bei, dass die Fifa
eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung an- weise des Schweizer NKP und betont dessen Ak-
hand der OECD-Leitsätze und weiterer interna- zeptanz und Bekanntheit bei den Unternehmen.
tional anerkannter Standards vornimmt. Wei- Positiv gewürdigt werden auch die seit 2013 er-
ter werden Arbeitsinspektionen auf Baustellen folgten Anpassungen der Struktur des NKP, ins-
durchgeführt sowie auf die Verbesserung von besondere die Schaffung des Beirats bestehend
Beschwerdemechanismen für Arbeiter in Katar aus Vertretern der betroffenen Interessengrup-
hingewirkt.3 pen. Die Empfehlungen der OECD beinhalten,
Bemerkenswert ist, dass in Katar, dessen dass der NKP bei der Förderung der Leitsät-
Rechtsordnung keine gewerkschaftlichen Akti- ze noch enger mit NGOs zusammenarbeiten
vitäten vorsieht, Mitglieder von internationalen soll. Weiter sollen die Rolle des Beirats bei der
Gewerkschaften künftig an gewissen Arbeits- Behandlung von Eingaben geklärt und in die
inspektionen teilnehmen können. Die Parteien Schlussberichte zu den Vermittlungsverfah-
werden sich neun Monate nach Abschluss der ren vermehrt substanzielle Informationen über
Mediation erneut treffen, um die Umsetzung die Ergebnisse der Verfahren beziehungswei-
der Vereinbarung zu besprechen. Zur länger- se Empfehlungen zur Umsetzung der Leitsätze
fristigen Wirkung des Mediationsverfahrens aufgenommen werden.
trägt zudem die Teilnahme der Gewerkschaft Der NKP beabsichtigt, vermehrt an Anläs-
BHI im neu geschaffenen Beirat der Fifa zu den sen unter anderen von NGOs teilzunehmen, um
Menschenrechten bei. die Arbeitsweise des NKP und die Ergebnisse
der Mediationsverfahren konkret aufzuzeigen. 3 Abschlussbericht
abrufbar unter
Gutes Zeugnis für Schweizer NKP Er wird auch die weiteren Empfehlungen in Ab- Seco.admin.ch/nkp
sprache mit dem Beirat umsetzen und der OECD 4 Bericht abrufbar
unter Mneguidelines.
Anhand von sogenannten Peer Reviews über- bis im Frühjahr 2018 darüber berichten. oecd.org
prüft die OECD die Funktionsweise der Natio-
nalen Kontaktpunkte. Diese werden auf freiwil-
liger Basis durchgeführt und haben das Ziel, die
NKP zu stärken. Als einer der ersten hat sich der
Schweizer NKP einer solchen Prüfung unterzo-
gen. Zu diesem Zweck haben Mitarbeitende der
NKP aus Deutschland, Chile und Grossbritan-
nien sowie des OECD-Sekretariats im Novem-
ber 2016 die Schweiz besucht und Vertreter aus Lukas Siegenthaler Alexander Kunze Nadja Meier
Bundesverwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaf- Dr. iur., Leiter Ressort Wissenschaftlicher Mit- Wissenschaftliche Mit-
Internationale Investitio- arbeiter, Ressort Interna- arbeiterin, Ressort Inter-
ten, Nichtregierungsorganisationen und Wis- nen und multinationale tionale Investitionen und nationale Investitionen
senschaft befragt. Unternehmen, Staatsse- multinationale Unterneh- und multinationale Unter-
Im jüngst veröffentlichten Prüfungsbericht4 kretariat für Wirtschaft men, Staatssekretariat für nehmen, Staatssekretariat
(Seco), Bern Wirtschaft (Seco), Bern für Wirtschaft (Seco), Bern
anerkennt die OECD die professionelle Arbeits-
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 19
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Glaubwürdig handeln –
dank Leadership
Verantwortungsvolle Unternehmensführung hängt stark vom persönlichen Engage-
ment des Managements und des Verwaltungsrats ab. Aber auch Mitarbeitende, Kunden
und Investoren sind in der Pflicht. Unterstützung bietet das UNO-Netzwerk Global Com-
pact Schweiz. Antonio Hautle
KEYSTONE
Hat den niederlän-
disch-britischen
Herausforderungen ist jedoch ein Engagement Konsumgüterkonzern gebunden sind, verändern sich ganze Bran-
aller Firmen nötig – weltweit. auf mehr Nachhal- chen. Ein Schritt in diese Richtung ist etwa ein
tigkeit getrimmt: an die G-20-Staaten gerichteter Brief von über
Unilever-Chef Paul
Einflussreiche Aktionäre und Polman.
200 Grossinvestoren, indem diese ultimativ die
Umsetzung der Klimaziele fordern.4
Verwaltungsräte
Entscheidend – aber in der Praxis noch viel
Ideen wirken langfristig, wenn sie in der gan- zu wenig einbezogen – sind die Mitglieder der
zen Unternehmung gehört, verinnerlicht und Verwaltungsräte. Aus zeitlichen Gründen be-
umgesetzt werden. Ernsthafte Bemühungen für schäftigten sie sich wenig systematisch mit
umfassende Corporate Responsibility führen Nachhaltigkeitsthemen. Angesichts der Risi-
zu einem Kulturwandel, der aber nicht nur Zeit, ken sollte sich aber jeder Verwaltungsrat min-
sondern auch Investitionen in Schulung, Coa- destens einmal pro Jahr, zum Beispiel im Rah-
ching und Kulturentwicklung erfordert. Da sich men einer CSR-Berichterstattung, intensiv mit
zugleich Anforderungen, Zulieferketten und den damit verbundenen Chancen und Risiken
Absatzmärkte permanent verändern, muss CSR beschäftigen. Aus diesem Grund empfiehlt das
konsequent in die Unternehmensstrategie und Global Compact Netzwerk Schweiz den Verwal-
in Prozesse eingeführt und ständig weiterentwi- tungsräten, den jährlichen CSR-Report jeweils
ckelt werden. genau zu prüfen. Wir bieten zudem CSR-Weiter-
Damit dies gelingt, braucht es die Mithilfe bildungsmodule für Verwaltungsräte an.
von Investoren und Aktionären. Wenn Investi- In der Regel sind Geschäftsleitung und
tionen und Kredite an Nachhaltigkeitskriterien 4 PRI (2017). Führungsverantwortliche auf allen Stufen die
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 21
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
eigentlichen Treiber der CSR-Themen. Idea- der ökologischen Stabilität für alle Menschen
lerweise übernimmt die Geschäftsleitung da- ermöglichen soll.
für die Verantwortung. Aus meiner Erfahrung Die ambitiöse Agenda kann jedoch nur um-
braucht es entweder Überzeugung und Cha- gesetzt werden, wenn auch die wirtschaftlichen
risma in der Führung, oder aber einen hand- Akteure Verantwortung übernehmen. Um die
festen Skandal, der zum Umdenken zwingt. Ziele zu erreichen, sind nun aus der Privatwirt-
Wenn die Kaderleute überzeugt führen und schaft Innovation, Unternehmergeist und neue
kommunizieren, wandelt sich die Firmenkul- Ansätze gefragt. Für Schweizer Start-ups, KMU 5 Vgl. Unglobalcompact.
org/sdgs,
tur rasch. und Grossunternehmen ist das Marktpotenzial Sdgcompass.org und
Eda.admin.ch/post2015
Oft kommen entscheidende Impulse auch gross, um neue Dienstleistungen, Produkte und 6 Vgl. Unglobalcompact.
von Fachmitarbeitenden und aus der mittleren alternative Formen der Wertschöpfung zu ent- org/sdgs und
Globalopportunityex-
Managementstufe. Allerdings ist in diesem Fall wickeln.6 plorer.org
das Risiko grösser, dass die CSR-Praktiken wie-
der aufgeweicht werden, sobald ökonomische
Schwierigkeiten auftreten.
Innovation gefragt
Bei der Corporate Social Responsibility geht
es in erster Linie darum, die Menschenrechte
zu respektieren, die internationalen Arbeits- Antonio Hautle
normen einzuhalten, die natürlichen Ressour- Senior Programme Leader and Network Representative,
cen nachhaltig zu nutzen und die Korruption Global Compact Network Switzerland, Zürich
Sharing your job in a connected world, Association PTO invites you to the
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 25
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
innovativer Angebote nutzen. Dieser Schritt Mit der individuellen Ebene ist die Dimen-
wird angesichts der Innovationshürde am bes- sion des einzelnen Managers oder Mitarbeiters
ten mit anderen Akteuren entwickelt. Solche (das «Ich») gemeint. Die Unternehmensebene
neuen Angebote lösen somit gezielt die drin- bezieht sich auf die Aktivitäten eines Teams,
gendsten Gesellschaftsprobleme und schaffen einer Institution oder Firma («Wir»), und die Ge-
gleichzeitig eine strategische Erweiterung des sellschaftsebene bezieht sich auf die Dimension
Unternehmens über gegenwärtige Märkte und der grossen Herausforderungen wie beispiels-
Kunden hinaus. Daraus folgt die zweite grosse weise der SDGs («Wir alle»). Diese drei Dimen-
Herausforderung: Wie wird eine solche strategi- sionen sind wechselseitig miteinander ver-
sche Neuorientierung im Unternehmen veran- bunden und voneinander abhängig. Wenn eine
kert und umgesetzt? Im Fokus steht insbeson- dieser Dimensionen geändert werden soll, be-
dere die Strategieentwicklung, wo anstelle des dingt dies implizit eine Anpassung der anderen
klassischen Top-down-Ansatzes ein flexibler, Dimensionen. Die explizite Verknüpfung von
Bottom-up-Entwicklungsprozess benötigt wird. Tools, die jeweils auf spezifischen Dimensio-
Die Ausarbeitung und Implementierung nen agieren, ist von grossem Wert, wenn eine
solcher neuen Angebote bedingt oftmals auch effektive Transformation erreicht werden soll.
neue Formen der Zusammenarbeit mit Partnern Missglückte Umsetzungen von Strategien fin-
in fremden Sektoren und Branchen, mit denen den nicht selten ihre Ursache in der fehlenden
gemeinsam Lösungen für die SDGs ausgearbei- Berücksichtigung der Verknüpfung dieser drei
tet und Angebote umgesetzt werden. Und sol- Dimensionen.
che neuen Kooperationsformen verlangen nach Die Business School Lausanne arbeitet seit
zusätzlichen Kompetenzen – nicht nur auf der mehreren Jahren an einer Reihe solcher ver-
Führungsebene, sondern breit abgestützt. Dies netzten Tools, die sowohl Lösungen auf den drei
birgt zugleich auch die dritte grosse Herausfor- einzelnen Dimensionen bieten als auch vernetzt
derung: Wie erweitert ein Unternehmen die be- untereinander eingesetzt werden können (sie-
stehenden Führungskompetenzen so, dass eine he Kasten). Die neueste Entwicklung ist die On-
Zusammenarbeit weit über die traditionellen line-Plattform Gapframe.org (siehe Abbildung 3)
Unternehmensgrenzen hinaus sichergestellt welche nun erstmals eine Antwort auf die Frage
werden kann? Dabei geht es darum, verantwor- der Relevanz und Prioritäten der gesellschaftli-
tungsvolle Führung umfassender zu definieren. chen Herausforderungen im Rahmen der SDGs
Diese Herausforderung umfasst auch das erfor- bietet und die Ist- und Soll-Werte pro Land und
derliche Know-how für die Zusammenarbeit mit Problem misst. Gapframe.org ist das fehlende
Institutionen, die andere Interessen, Prioritäten Bindeglied zwischen der Outside-in-basierten
und Vorstellungen von Erfolg haben. Strategie der echten unternehmerischen Nach-
haltigkeit und den SDGs.
Ich – Wir – Wir alle
Für jede dieser drei grossen Herausforderun- Abb. 2: Das Kreismodell
gen gibt es bereits verschiedene Lösungsansät- Innenwelt Aussenwelt
ze und Beratungsmodelle. Der Quantensprung
von einer Inside-out- zu einer Outside-in-Per- s for matio
an n
spektive erfordert jedoch eine Verknüpfung Tr
dieser oft isolierten Lösungsansätze. Typi-
WIR
scherweise werden die drei erwähnten Heraus- ICH WIR
ALLE
forderungen auf den Ebenen des Individuums,
MUFF (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
4
3
20. Öffentliche Finanzen 2 6. Wasser
1
0
19. Innovation 7. Saubere Energie
0,0 - 5,0 Bedrohung 5,1 - 6,6 Kritisch 6,7 - 7,4 Watchlist 7,5 - 8,8 Sicherer Raum 8,9 - 10,0 Nahezu ideal
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 27
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
einen solchen Strategiewechsel angepasst wer- Soziale Innovationen zeigen auf, wie die-
den. Dies lässt sich erreichen, indem die Ent- se drei Dimensionen interagieren und zu Ver-
scheidungsmacht von wenigen auf viele verteilt änderungen auf mehreren Ebenen führen.
wird. Auf diese Weise können interne Entschei- Solche Situationen entstehen beispielsweise,
dungen durch Grundsätze der Selbstorganisa- wenn ein Mitarbeiter («Ich») sein Unterneh-
tion auf Veränderungen des externen Umfelds men («Wir») in einem Outside-in-Prozess mit
abgestimmt werden. anderen Interessenträgern vertritt («Wir alle»).
In der individuellen Dimension geht es um Dabei geht es um die Verknüpfung des persön-
eine erweiterte Definition des Begriffs «Füh- lichen Engagements mit einer sinnstiftenden
rungskräfte». Jeder Mitarbeiter auf jeder Hierar- Aktivität des Unternehmens, das mit anderen
chieebene kann und soll eine verantwortungs- Akteuren Lösungen für Gesellschaftsproble-
volle Führungskraft innerhalb seines Bereiches me in seiner Region erarbeitet. Und genau die-
und seiner Kompetenzen werden. Da zuneh- se Verknüpfung der drei Ebenen brauchen wir,
mend auch eine Zusammenarbeit mit Akteuren um die SDGs zu erreichen und zu ermöglichen,
ausserhalb der Unternehmensgrenzen statt- dass alle auf unserem Planeten ein gutes Leben
findet, hängt die Entwicklung verantwortungs- führen können.
bewusster Führungspersonen eng damit zu-
sammen, dass sich Mitarbeiter zu engagierten
Bürgern entwickeln. In einem weiteren Ansatz-
punkt geht es darum, zu ermöglichen, dass Mit-
arbeiter zunehmend den Mut aufbringen, am
Arbeitsplatz mehr von sich selbst einzubringen.
Dies verknüpft die individuelle mit der unter-
nehmerischen Dimension und kann ein Be-
wusstsein für neue Outside-in-Aktivitäten brin-
gen. Denn Mitarbeitende, die ihre Anliegen im Katrin Muff
PhD in Leadership, Vordenkerin in den Bereichen
Beruf einbringen, helfen den Firmen, die Unter- unternehmerische Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit
nehmensziele mit den Erwartungen der Gesell- und Transformation, Business School Lausanne,
Chavannes-près-Renens
schaft in Einklang zu bringen.
Literatur
Dyllick, Thomas und Muff, Katrin Muff, Katrin (2017). How the Circ- Muff, Katrin, Kapalka, Agnieszka, Muff, Katrin, Liechti, Anna,
(2016). Clarifying the meaning le Model can purpose-orient Dyllick, Thomas (2017). The Gap Dyllick, Thomas (2018). The
of Business Sustainability – from entrepreneurial universities and Frame – Translating the SDGs Competency Assessment for
business-as-usual to true busi- business schools to truly serve into relevant national grand Responsible Leadership (CARL):
ness sustainability, Organiza- society. Journal of Management challenges for strategic business Consolidating the responsible
tion Environment, 29–2, 2016, Development, 36–2, S. 146-162. opportunities. International leadership discourse into an
S. 156-174. Journal of Management Educa- operationalized definition and an
tion, 1–21, wird demnächst online tool for practice and
publiziert. education, wird gegenwärtig
überarbeitet, Exemplar
bei katrin.muff@gmail.com
erhältlich.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 29
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Stewardship Council (MSC), International Fede- sich also die Frage: In welche Richtung sollen
ration of Organic Agriculture Movements (IFO- sich die Standards entwickeln? Antworten da-
AM) und Fairtrade. Mittlerweile vereinigt Iseal rauf sucht beispielsweise die Iseal-Jahreskonfe-
23 Nachhaltigkeitsstandards. Auch das Seco renz zu Nachhaltigkeitsstandards, welche Ende
unterstützt Iseal (siehe Kasten 2). Juni in Zürich unter dem Titel «Die Zukunft des
Vertrauens» stattfindet.3
Iseal – ein wichtiger Player im Teilweise ist wohl ein radikales Umdenken
gefragt: Bisherige aufwendige, aber letztlich
Hintergrund
wenig zweckmässige Kontrollverfahren müs-
Der Grundgedanke von Iseal ist es, trotz unter- sen überdacht und dem digitalen Zeitalter an-
schiedlicher Tätigkeitsfelder – Holz, Fischerei, gepasst werden. Gerade die Digitalisierung er-
biologische und faire Landwirtschaft etc. – en- öffnet dabei auch Chancen – beispielsweise in
ger zusammenzuarbeiten, voneinander zu ler- Bezug auf die Rückverfolgbarkeit von Gütern bis
nen und letztlich: sich selbst besser zu kontrol- hin zu einem direkten Kontakt zwischen Konsu-
lieren und zu kontinuierlichen Verbesserungen ment und Produzent.
anzuspornen. Heute gelten die Iseal-Leitlinien Die Zukunft liegt bei starken Allianzen. Ins-
weltweit als Referenz für die Entwicklung und besondere die Kompatibilität der einzelnen
Anwendung glaubhafter Standards. Die Or- Standards ist nach wie vor ausbaufähig und
ganisation setzt sich dabei für Kompatibilität auch Fusionen sollten kein Tabu darstellen. Zu-
zwischen den Standards und für eine Verein- dem müssen die vom aktuellen System nicht
heitlichung der Zertifizierungskriterien ein. erfassten Produzenten – etwa, weil sie zu arm
Die vielleicht grösste Errungenschaft von oder schlecht organisiert sind – besser einge-
Iseal und ihren Mitgliedern ist das klare Be- bunden werden, ohne dass die Standards da-
kenntnis zu einem Multi-Stakeholder-Ansatz. bei an Glaubwürdigkeit verlieren. Schliesslich
So werden die Regelwerke der einzelnen Stan- sollen lokale Akteure – vor allem die Behörden
dards durch Produzenten, Händler, Importeure, – mehr angehört und in die Pflicht genommen
und NGOs gemeinsam entwickelt. Diese koope- werden. Politik und Wirtschaft sind also glei- 3 Mehr unter
rativen Prozesse lassen tragfähige gemeinsame chermassen gefordert. Isealalliance.org
Lösungsansätze entstehen und stärken die Le-
gitimität der Standards und das Vertrauen unter
den verschiedenen Akteuren der Wertschöp-
fungskette.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 31
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Abstract Der Investitionsbedarf, der benötigt wird, um die UNO-Nachhal- gen befassen sie sich mit Kunden und Lieferan-
tigkeitsziele (SDGs) zu erreichen, liegt schätzungsweise zwischen 5 und 7 ten. Dabei versuchen sie, deren Richtlinien und
Billionen Dollar pro Jahr. Eine aktive Mitwirkung des Finanzsektors ist also deren Verhalten besser zu verstehen und festzu-
unumgänglich. Zum einen beschäftigen sich Banken mit ökologischen und stellen, wie allfällig negative Auswirkungen auf
sozialen Problemen – insbesondere über das Management von Umwelt- Umwelt und Menschenrechte vermindert wer-
und Sozialrisiken, wozu sie Prozesse zur Früherkennung, Beurteilung und
Überwachung eingeführt haben. Zum anderen entwickeln und vertreiben
den können. Bei der UBS sind erweiterte Daten-
sie immer mehr nachhaltige Finanzprodukte und -dienstleistungen. Be- analysen zu Unternehmen, die mit diesen Ri-
reits 2014 stand der globale Markt für nachhaltige Anlagen bei 21,4 Billio- siken in Verbindung gebracht werden, in dem
nen Dollar. webbasierten Compliance-Tool der Bank integ-
riert. Mitarbeiter nutzen dies, bevor sie eine Ge-
schäftsbeziehung (mit Kunden oder Lieferan-
für Banken im Bereich Corporate- und Invest- für nachhaltige Anlagen bei 21,4 Billionen Dol-
mentbanking. lar. Der Schweizer Finanzsektor spielt hierbei
Seit der Veröffentlichung der UNO-Leitprin- bereits seit Jahren eine prominente Rolle.
zipien hat die internationale Diskussion zum Damit schliesst sich der Bogen zu den SDGs
Thema Wirtschaft und Menschenrechte deut- und besonders zum erwähn-
lich an Bedeutung gewonnen, was sich unter an- ten, immensen Investitions-
derem an der hohen Beteiligung von Regierun- bedarf. Um diesen Bedarf zu Eine vielversprechende
gen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft decken, müssen innovative Innovation ist das
am UNO-Forum für Wirtschaft und Menschen- Finanzlösungen geschaffen
rechte in Genf zeigt. An diesem weltweit gröss- oder unterstützt und neue
Impact Investing.
ten Anlass zum Thema Unternehmen und Men- finanzielle Lösungen ein-
schenrechte trafen sich im vergangenen Herbst geführt werden, die sich replizieren, skalieren
2300 Teilnehmer, um sich mit Themen wie Men- und breit nutzen lassen. Für nachhaltiges An-
schenrechte im Beschaffungswesen, im Finanz- legen gibt es verschiedene Kriterien. Besonders
sektor oder bei der Migration von Arbeitskräf- bekannt sind die Anlagen, die einem strengen
ten auseinanderzusetzen. und sorgfältigen Auswahlverfahren unterlie-
Auf der ökologischen und sozialen Agenda gen. Dazu gehören die Negativselektion (d. h.
von Finanzunternehmen steht nebst den Men- die Anwendung von Ausschlusskriterien) und
schenrechten auch der Klimawandel. Von be- verschiedene Arten von Positivselektion wie
sonderer Bedeutung ist hier die Taskforce on «Best in Class»-Ansätze (d. h. führend bei Um-
Climate-related Financial Disclosures (TCFD) welt-, Sozial- und Governance-Aspekten; ESG),
des Financial Stability Board. Diese vom Gouver- thematische Anlagen oder die Integration von
neur der Bank of England initiierte Arbeitsgrup- ESG-Kriterien.
pe hat im Dezember 2016 ihre Empfehlungen zu Eine vielversprechende Innovation ist das so-
klimabezogener Berichterstattung mit dem Fo- genannte Impact Investing, bei dem der Privat-
kus auf die vier Kernthemen Governance, Stra- kunde die Möglichkeit erhält, eine konkurrenz-
tegie, Risikomanagement sowie Kennzahlen fähige finanzielle Rendite zu erwirtschaften
und Ziele veröffentlicht. Die Empfehlungen er- und zugleich eine messbare gesellschaftliche
mutigen Unternehmen dazu, die Auswirkungen Wirkung zu erzielen. Impact-Investing-Fonds
des Klimawandels auf ihre Strategie und Akti- wie der UBS Oncology Impact Fund, der Unter-
vitäten offenzulegen. Dadurch können Investo- nehmen fördert, die neue Krebstherapien er-
ren und andere Beteiligte besser verstehen, wel- forschen, machen anschaulich, wie der Finanz-
che Herausforderungen durch den Klimawandel sektor zusammen mit seinen Kunden einen
entstehen und so fundierte, langfristige Ent- wichtige Beitrag im Umgang mit ökologischen
scheidungen treffen. und sozialen Herausforderungen leisten kann.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 33
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Die Migros beschliesst daher, den Auftrag zu Kommode eingesetzten Rohstoffe sich als prob-
platzieren – allerdings mit klaren Auflagen an lematisch erweisen. Dabei zeigt sich: Das Man-
die Fabrik. «Damit sich die Situation der Arbei- goholz ist nicht kritisch, denn die Mangobäume
ter verbessert, reicht es nicht, Mängel aufzuzei- dienen in erster Linie der Landwirtschaft. Ab
gen», sagt Bahnerth. «Viel wichtiger sind prakti- einem Alter von etwa 15 Jahren tragen die Bäu-
sche Tipps und ein kontinuierliches Coaching.» me nicht mehr genug Früchte und werden dar-
Deshalb verpflichtet sich die Möbelfabrik, zu- um gefällt. Das Holz, das wegen seines warmen
mindest den lokalen Mindestlohn zu bezahlen Brauntons ansprechend aussieht, eignet sich
und Überstunden korrekt zu vergüten – und gut für den Möbelbau.
diese Schritte auch zu dokumentieren. Ab und zu erhält Ingrid Angehrn Fragen
von Konsumenten, die verunsichert sind, weil
Fabrik muss BSCI-Standard einhalten Mangoholz nicht zertifiziert ist. «Ich freue
mich über diese Rückmeldungen. Sie zeigen,
Sämtliche Anforderungen sind im Verhaltens- dass der Nachhaltigkeitsgedanke bei der Be-
kodex der Business Social Compliance Initiative völkerung angekommen ist», erklärt sie. Die
(BSCI) aufgeführt, einem internationalen Sozial- Einkäuferin teilt ihnen jeweils mit, dass man
standard unter dem Dach der Foreign Trade As- Mangoholz auch ohne Zertifizierung mit gu-
sociation (FTA) in Brüssel, den unterdessen fast tem Gewissen kaufen könne, weil die Herkunft
2000 Unternehmen weltweit vertreten. Vor der bekannt sei. Problematischere Holzarten wie
Aufnahme der Geschäftsbeziehung mit der Mig- Buche oder Eiche verkauft die Migros mit dem
ros muss der Lieferant diesen Kodex unterschrei- Label des Forest Stewardship Council (FSC),
ben. Die Umsetzung der BSCI-Vorgaben ist zwar welches für eine lückenlose Rückverfolgbarkeit
aufwendig, sie kann dem Lieferanten aber auch sorgt und eine nachhaltige Waldwirtschaft ga-
einen Marktvorteil bringen. Denn die zahlrei- rantiert.
chen Mitgliederunternehmen von BSCI bestellen Wegen der inakzeptablen Haltungsbedin-
mit Vorliebe bei Lieferanten, die bereits Kenntnis gungen von Tieren in vielen Zuchtfarmen ver-
des Systems haben. Die Migros gehörte 2003 zu zichtet die Migros auf den Einsatz von echtem
den BSCI-Gründungsmitgliedern und engagiert Pelz in ihren Produkten. Das in der Kommode
sich stark bei der Weiterentwicklung. verarbeitete Kuhfell ist aber genauso wie Leder
Einige Monate nach dem ersten Besuch der für Migros-Lieferanten erlaubt.
Fabrik in Jodhpur organisiert die Migros eine «Die Migros stellt so viele Anforderungen,
Arbeiterschulung, für die sie auch die Kosten dass nur langfristige Lieferantenbeziehungen
übernimmt. Thema sind die Sicherheitsmass- Sinn machen», erklärt Angehrn. Dies ist auch
nahmen, die im beruflichen Alltag leider oft ein wichtiger Faktor für die Nachhaltigkeit:
vernachlässigt werden. Selbst wenn das Ma- Denn nur wenn sich die Migros als verlässliche 1 M
ehr zum Nachhaltig-
nagement genügend Masken, Handschuhe Partnerin erweist, sind die Lieferanten bereit, keitsprinzip der Migros
findet sich im
oder Stiefel zur Verfügung stellt, werden diese besondere Anstrengungen zu leisten.1 Geschäftsbericht 2016.
von den Arbeitern oft nicht konsequent getra-
gen. Manche Hilfsmittel sind insbesondere bei
grosser Hitze unbequem. Andere, wie beispiels-
weise Schutzhandschuhe zur Vermeidung von
Schnittverletzungen, verlangsamen das hand-
werkliche Arbeiten. Die Schulung dient dazu,
den Arbeitern bewusst zu machen, wie wichtig
der Schutz ihrer Gesundheit ist.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 35
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
Gemeinsame
Wertschöpfung ergibt Sinn
Um sowohl für die Gesellschaft als auch für die Investoren einen Mehrwert zu schaf-
fen hat das Nahrungsmittelunternehmen Nestlé vor zehn Jahren eine nachhaltige Wert-
schöpfungsstrategie lanciert – ein erfolgreiches Beispiel dafür sind mit Eisen angerei-
cherte Maggi-Kochwürfel in Westafrika. Christian Frutiger, Christian A. Vousvouras
Abstract «Profit» und «purpose» werden oft als Gegensätze wahrgenom- Maggi ist nur ein Beispiel in der 151-jähri-
men. Die 151-jährige Geschichte des Schweizer Nahrungsmittelunterneh- gen Geschichte des Nahrungsmittelunterneh-
mens Nestlé zeigt jedoch, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen mens Nestlé, bei welchem sich Menschen im
als hervorragende Ideenquelle für Produktinnovationen eignen. So lan- Unternehmen einer sozialen Herausforderung
cierte Julius Maggi Ende des 19. Jahrhunderts die heute weltbekannten Fer- annehmen und eine Lösung erarbeiten, welche
tigsuppen als Antwort auf die mangelhafte Ernährungssituation von Fa- gleichzeitig gesellschaftlichen und finanziellen
brikarbeitern. Vor gut zehn Jahren hat Nestlé begonnen, das Konzept der
Mehrwert schafft.
gemeinsamen Wertschöpfung systematisch in die Unternehmensstrategie
zu integrieren. Heute kaufen in Westafrika beispielsweise Millionen von Im kompetitiven Tagesgeschäft und unter
Menschen die mit Eisen angereicherten Maggi-Kochwürfel. dem Druck kurzfristiger Erwartungen von Ka-
pitalgebern kann es passieren, dass die ur-
sprüngliche soziale Kernaufgabe des Unterneh-
NESTLÉ
glied der Konzernleitung verantwortlich ist.
Die Einführung nährstoffreicherer Nah-
rungsmittel und Getränke ist eine dieser Ver-
pflichtungen. Jährlich legt Nestlé parallel zur schmack und Preis nicht von ihren Vorgängern,
finanziellen Berichterstattung im «Nestlé in sie sorgen aber dafür, dass nun Millionen Men-
Society»-Report Rechenschaft über die Ziel- schen in der Region über die Nahrung zusätz-
erreichung der 42 Verpflichtungen ab. Dieser lich Eisen aufnehmen. Allein in Nigeria werden
Rechenschaftsbericht entspricht dem interna- täglich 80 Millionen Portionen Maggi-Kochwür-
tionalen Standard der Global Reporting Initia- fel verkauft. Für die Marke Maggi ist die Eisen-
tive (GRI) und wird von einer Prüfungsgesell- anreicherung ein Argument mehr, um Käufer
schaft extern validiert. von den Vorzügen des Produkts zu überzeugen.
Um das Konzept der gemeinsamen Wert-
Eisenmangel mit Kochwürfeln schöpfung weiter im Unternehmen zu veran-
kern, hat Nestlé im vergangenen Jahr seinen
bekämpfen
Unternehmenssinn neu formuliert: «Lebens-
Zehn Jahre nach Lancierung des Konzepts der qualität verbessern und zu einer gesünderen
gemeinsamen Wertschöpfung lassen sich die Zukunft beitragen». Die mehr als 2000 Marken
Resultate sehen. So hat Nestlé beispielswei- im Hause Nestlé werden im Verlauf der kom-
se das Ziel erreicht, 200 Milliarden mit Mikro- menden Jahre diesen Unternehmenssinn imple-
nährstoffen angereicherte Nahrungsmittel- und mentieren und auf die Realität der unterschied-
Getränkeportionen zu verkaufen. Weiter erhält lichen Geschäftsfelder herunterbrechen. Damit
der Konzern regelmässig Spitzenklassierun- setzt Nestlé den Grundstein dafür, dass sozia-
gen in führenden Nachhaltigkeitsindizes wie le Wertschöpfung auch in Zukunft finanzielle
dem Access-to-Nutrition-Index oder dem Dow- Wertschöpfung generiert. Der Unternehmens-
Jones-Sustainability-Index. sinn ist somit die Voraussetzung für langfristi-
Noch wichtiger als die externe Anerkennung gen Profit und nicht umgekehrt.
sind jedoch die Impulse, welche die gemeinsa-
me Wertschöpfung dem wirtschaftlichen Ge-
schäftsgang verleiht. Bleiben wir bei Maggi: Da
Eisenmangel bei Menschen in Westafrika häufig
auftritt, lancierte Nestlé vor neun Jahren dort
einen mit Eisen angereicherten Kochwürfel.
Eisenmangel gilt als einer der Hauptgrün-
de für die Blutkrankheit Anämie, welche ins-
besondere bei Kindern zu physischer und Christian Frutiger Christian A. Vousvouras
mentaler Unterentwicklung führen kann. Die Leiter Global Public Affairs, PhD HSG, Public Affairs
Nestlé, Vevey Specialist, Nestlé, Vevey
Maggi-Kochwürfel unterscheiden sich in Ge-
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 37
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
wichtig. Mark Herkenrath (44) ist seit zwei Jahren Geschäftsleiter von Al-
Mark Herkenrath: Ich bin froh zu hören, dass liance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke
sich Syngenta auch nach dem Eigentümerwech- Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks.
Im Jahr 2008 war er dort als Verantwortlicher für internationa-
sel für Menschenrechte und Umweltstandards
le Finanzen und Steuerpolitik eingetreten. Seit diesem Jahr ist er
einsetzt. Leider ist das nicht bei allen Unterneh- zudem Titularprofessur für Soziologie an der Universität Zürich.
men so. Er wohnt in Zürich.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 39
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
dische Märkte einfacher erschliessen können. schenrechte und die Umwelt ernst nimmt, soll
Und drittens kann der Bund andere Staaten bei aber nicht von der jeweiligen Leitung abhän-
der Gesetzgebung und deren Umsetzung unter- gen, sondern es müssen sich alle Unternehmen
stützen. daran halten. Diejenigen, die alles gut machen
wollen, werden sowieso einen Schritt weiter
Kommen wir zurück auf die Unternehmen. Vor gehen.
sieben Jahren sah sich der Nahrungsmittelkon- Meili: Lippenbekenntnisse werden schnell ent-
zern Nestlé mit einem der ersten Shitstorms kon- larvt. Sie müssen nur in die Produktionswerke
frontiert. Greenpeace kritisierte das im Schoko- gehen und schauen, ob das, was in den Hoch-
riegel KitKat enthaltene Palmöl und sagte, der glanzprospekten steht, auch umgesetzt wird.
Lebensraum von Orang-Utans sei dadurch be- Und wie gesagt: Die Mitarbeiter fordern echtes
droht. Wie sieht es heute aus: Geht es den Kon- Engagement.
zernen darum, den nächsten Shitstorm zu ver- Herkenrath: Der Druck, der von den Angestell-
meiden, oder erleben wir echtes Engagement? ten ausgeht, ist zweifellos sehr wichtig. Er ge-
Herkenrath: Einige meinen es sicher ernst. Ob nügt aber nicht: Von den 100 grössten Unter-
eine Firma ihre Verantwortung für die Men- nehmen der Schweiz verfügen 60 Prozent über
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 41
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN
keinen Code of Conduct. All diesen Firmen nationalen Standards. Wie soll man beweisen,
rennen die Arbeitskräfte ja nicht davon. dass man sorgfältig gehandelt hat, wenn man
gar nicht weiss, was man einhalten muss? Dies
Braucht es eine andere Art von Führungskräf- kollidiert mit dem Grundsatz der Rechtsstaat-
ten? lichkeit im Sinne des Legalitätsprinzips. Es ist,
Meili: In den letzten zwanzig Jahren ist das Be- wie wenn Sie auf einer Autobahn unterwegs
wusstsein der Führungskräfte punkto Nachhal- sind und nicht wissen, wie schnell Sie fahren
tigkeit stark gestiegen. Und das ist gut so. dürfen. Mit der EU-Richtlinie zum Non-Finan-
cial-Reporting kann ich beispielsweise leben,
Herr Herkenrath, zusammen mit anderen NGOs weil dort keine Haftung enthalten ist.
haben Sie Unterschriften für die Konzernverant- Herkenrath: Ihre Argumentation stimmt nicht.
wortungs-Initiative gesammelt. Braucht es die- Die UNO-Leitprinzipien und diverse nationa-
se Initiative? le Regulierungen definieren die Sorgfaltsprü-
Herkenrath: Ja. Es braucht sie, weil zu viele fungspflicht bereits jetzt. Mit der Initiative wür-
Unternehmen keine freiwilligen Massnahmen de ein internationaler Standard in Schweizer
treffen, um Menschenrechte und Umwelt zu Recht gegossen. Wir sind nicht Vorreiter, bei-
schützen. Firmen, welche dies nur zu Marke- spielsweise kennt Grossbritannien den Modern
tingzwecken tun, schaden der Reputation der Slavery Act, der ebenfalls eine Sorgfaltsprü-
Schweiz und den Unternehmen, die es ernst fungspflicht festschreibt. In der Schweiz wer-
meinen. den auch die bereits existierenden freiwilligen
Massnahmen in den Gesetzgebungsprozess ein-
Herr Meili, was halten Sie von diesem Vorhaben? fliessen.
Meili: Die Zielsetzung unterstützen wir. Bei der Meili: Die Krux liegt ja darin, dass Schweizer
Ausgestaltung geht die Initiative aber zu weit. Unternehmen an einem un-
Inakzeptabel ist die Haftungsbestimmung, die bekannten Katalog von inter-
eingeführt werden soll. Verantwortungsvolle nationalen Standards gemes- «Opfer von Menschen-
Unternehmensführung wird dadurch zu einer sen werden könnten, statt an rechtsverletzungen ge-
buchhalterischen Risikomanagement-Übung. Schweizer Gesetzen. langen lieber direkt an
die Medien als an den
Was ist die Grundidee der Initiative, Herr Her- In der Schweiz gibt es einen
kenrath? Nationalen Kontaktpunkt, Nationalen Kontakt-
Herkenrath: Die Idee ist: Alle Schweizer Kon- der beim Seco angesiedelt punkt.»
zerne müssen eine Sorgfaltsprüfung bezüglich ist. Dort können vermutete Mark Herkenrath
Menschenrechten und Umwelt durchführen. Verstösse gegen die OECD-
Das heisst: Sie müssen genau hinschauen, wo Leitsätze für multinationale Unternehmen ge-
Probleme auftreten können und entsprechende meldet werden. Reicht das nicht aus?
Massnahmen ergreifen. Wegschauen darf nicht Meili: Der Kontaktpunkt funktioniert ähnlich
mehr möglich sein. In besonders schlimmen wie eine Ombudsstelle. Ein Beschwerdefüh-
Fällen haben wir einen Sanktionsmechanis- rer erhält die Möglichkeit, über einen Dritten
mus eingebaut: Ein Konzern, der direkt oder via als Vermittler mit dem Unternehmen zu reden,
Tochterfirma Menschenrechte verletzt, soll da- wenn die Gespräche auf direktem Weg geschei-
für geradestehen. Es sei denn, er könne zeigen, tert sind. Das finde ich sinnvoll.
dass die Sorgfaltsprüfung umsichtig durchge- Herkenrath: Der Kontaktpunkt ist wichtig, wenn
führt wurde – in diesem Fall ist er von der Haf- es darum geht, in einem Streit zu schlichten. Er
tung befreit. Die Initiative hat somit hauptsäch- kann sich zudem um Konflikte zur Steuerver-
lich präventiven Charakter. Firmen, die eine meidung kümmern – ein Bereich, den die Kon-
Sorgfaltsprüfung durchführen, werden belohnt. zernverantwortungs-Initiative nicht abdeckt.
Meili: Die Haftungsbestimmung ist keine Beloh- Aber er ersetzt griffige Massnahmen bei weitem
nung für ein Unternehmen, sondern ein Risiko. nicht. Das Problem ist: Die informelle Schlich-
Denn bei Umweltstandards gibt es keine inter- tung geschieht unter Ausschluss der Öffentlich-
keit. Am Schluss des Schlichtungsprozesses er- Meili: Haben Sie konkrete Beispiele?
fahren wir aus den Berichten nichts Konkretes. Herkenrath: Auch hier möchte ich keine be-
Viele NGOs oder Opfer von Menschenrechtsver- stimmten Unternehmen an den Pranger stellen.
letzungen gelangen deshalb lieber direkt an die Meili: Indem Sie die KMU von den Bestimmun-
Medien als an den Nationalen Kontaktpunkt, gen ausnehmen, haben Sie ein
weil sie so mehr Druck ausüben können. Glaubwürdigkeitsproblem.
Denn die UNO-Arbeitsgrup- «Es ist, wie wenn Sie
Wir haben vor allem über die Tätigkeiten von pe verurteilt Einschränkung
Unternehmen im Ausland gesprochen. Viele Fir- nach der Unternehmensgrös-
auf einer Autobahn
men sind aber ausschliesslich in der Schweiz tä- se. Es scheint mir, dass die In- unterwegs sind und
tig. Halten diese die OECD-Standards ein? itiative gezielt gegen Gross- nicht wissen, wie
Meili: Die absolute Mehrheit der Unternehmen, konzerne gerichtet ist: Für die schnell Sie fahren
auch solche, die international tätig sind, halten KMU finden Sie beruhigende
die Prinzipien ein. Für die einzelnen Entgleisun- Worte und die Grosskonzerne dürfen.»
gen haben wir funktionierende Gerichte. Der stellen Sie als die Bösen dar. Tobias Meili
Nationale Aktionsplan und bestehende interna- Das ist inkonsequent.
tionale Regelungen sind somit griffig genug. Herkenrath: Es geht um eine angemessene, ri-
Herkenrath: Wir haben in der Schweiz gut aus- sikobasierte Sorgfaltsprüfung. Wie gesagt, ein
gebaute Möglichkeiten, um gegen die Ver- KMU, das im Diamantenhandel tätig ist, ist
letzung von Menschen- und Umweltrechten nicht ausgenommen. Faktisch ist die Mehrheit
vorzugehen. Deshalb gilt für kleine und mittel- der Schweizer KMU aber nicht in solchen Risi-
grosse Unternehmen in unserer Initiative eine kogebieten tätig.
erleichterte Sorgfaltspflicht, ausser wenn sie in
Hochrisikobereichen tätig sind. Problematisch Moderation: Susanne Blank,
sind nicht zuletzt Konzerne, die ihren Sitz aus Chefredaktorin «Die Volkswirtschaft»
steuertechnischen Gründen in die Schweiz ver-
legen und im Ausland die Menschenrechte ver-
letzen. Solche Firmen schaden der Reputation
des Landes. Und das ist mir als Schweizer nicht
egal.
KINDERFREMDBETREUUNG
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 45
INTEGRATIONSPOLITIK
mehr oder weniger vergleichbare Kriminalität ten geeignet ist, um die festgestellte Abwei- minalitätsrisiko, das mit Kriegsflüchtlingen
aufweisen. Ab 20 Jahren nimmt die Krimina- chung bei der Kriminalität zwischen den bei- unter Umständen verbunden ist, kein über-
lität von Personen, die nach einem Krieg ge- den untersuchten Gruppen zu verringern. In zeugendes Argument ist, um ihnen die Auf-
boren wurden, mit zunehmendem Alter stark diesem Zusammenhang soll der Zugang von nahme als Asylsuchende zu verweigern. An-
ab. Im Gegensatz dazu geht die Kriminalität Asylsuchenden zum Arbeitsmarkt erleichtert lass zur Sorge wäre nur gerechtfertigt, wenn
von Personen, die in ihrer Jugend mit einem und beschleunigt werden. Dazu gibt es drei keine staatliche Politik bestehen würde, die
Krieg konfrontiert waren, mit zunehmendem Interventionsschwerpunkte: Erstens muss Asylsuchenden den Zugang zum Arbeits-
Alter weit weniger deutlich zurück. Wer im Al- eine möglichst kurze Wartezeit für Stellen- markt ermöglicht. Mit anderen Worten:
ter von eins bis zwölf Jahren eine Kriegserfah- bewerbungen vorgesehen werden. Zweitens Die Schweiz kann ihrer humanitären Tradi-
rung machte, für den liegt somit das Risiko, muss der Zugang zu offenen Stellen verbes- tion weiterhin gerecht werden, wenn sie die
dass er zu einem späteren Zeitpunkt ein Ge- sert werden, und drittens müssen Coachings wirtschaftliche Integration von Asylsuchen-
waltverbrechen verübt, im Durchschnitt aller oder Berufspraktika eingeführt werden. Die den fördert. Auf dieser Basis wird das positi-
Altersgruppen mehr als ein Drittel höher. Die- statistische Analyse zeigt, dass diese politi- ve Miteinander in unserem Land nicht infra-
ser Effekt ist bei Frauen geringer als bei Män- schen Handlungskonzepte tatsächlich wirk- ge gestellt.
nern, und bei Eigentumsdelikten ist über- sam sind.
haupt kein solcher Kausalzusammenhang Die potenziell höhere Kriminalität von
festzustellen. Personen, welche während ihrer Jugend
Zwei Drittel der Straftaten, die von Asyl- mit einem kriegerischen Konflikt konfron- Dominic Rohner
suchenden begangen werden, richten sich tiert waren, lässt sich mit einer angemes- Professor am Departement für
Ökonometrie und Volkswirtschaftslehre,
gegen andere Ausländer. Die Schweizer Be- senen Integrationspolitik neutralisieren. So HEC, Universität Lausanne
völkerung ist damit nur von einem Drittel bestätigt eine neuere Studie die positive
dieser Delikte betroffen. Bei Personen, die Wirkung von politischen Massnahmen, bei
während ihrer Jugend mit einem Krieg kon- denen Kriegsveteranen nach einem Konflikt
frontiert waren, ist im Übrigen eine höhere in den Wiederaufbau ihres Landes einbezo- Mathias Thoenig
Professor am Departement für
Kriminalität zu verzeichnen, die gegen Lands- gen wurden.4 Ökonometrie und Volkswirtschaftslehre,
leute gerichtet ist. Dies lässt sich möglicher- Mit der Durchführung von Kursen zur poli- HEC, Universität Lausanne
weise auf das Misstrauen zwischen ehema- tischen Bildung – zu den Gesetzen und dem
ligen Kriegsgegnern zurückführen, das ge- politischen System der Schweiz – kann im
gebenenfalls lange über das Ende eines Weiteren der Unterschied in der Kriminali-
Mathieu Couttenier
Bürgerkriegs hinaus anhält.3 tätsneigung zwischen den beiden Gruppen Assistenzprofessor am Departement für
signifikant verringert werden. Dies ist somit Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft,
eine weitere vielversprechende Politik, um Universität Genf
Mit Integration gegen Gewalt
der Weiterverbreitung von Gewalt entgegen-
vorgehen zuwirken.
Die Forschung hat sich auch mit der Fra- Aus den statistischen Ergebnissen lässt Veronica Preotu
ge befasst, welche staatliche Politik am bes- sich folglich der Schluss ziehen, dass das Kri- Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und
Management, Universität Genf
3 Rohner et al. (2013). 4 Annan und Blattman (2016).
Literatur
Annan Jeannie und Blattman Christopher Collier Paul und Hoeffler Anke (2004). Couttenier Mathieu, Preotu Veronica, Rohner Dominic, Thoenig Mathias und
(2016). Can employment reduce Greed and Grievance in Civil War, in: Rohner Dominic und Thoenig Mathias Zilibotti Fabrizio (2013). War Signals:
lawlessness and rebellion? A field experi- Oxford Economic Papers, Nr. 56, S. (2016). The Violent Legacy of Victi- A Theory of Trade, Trust and Conflict, in:
ment with high-risk men in a fragile 563–95. mization: Post-Conflict Evidence on Review of Economic Studies, Nr. 80,
state, in: American Political Science Asylum Seekers, Crimes and Public Policy S. 1114–1147.
Review, Bd. 110, Nr. 1. in Switzerland, CEPR Working Paper
DP11079.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 47
ARBEITSMARKT
24-Stunden-Betagtenbetreuung:
Welche Regeln sind nötig?
Die Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in der 24-Stunden-Betagtenbetreuung sind teil-
weise prekär, und diese Arbeitsform gewinnt aufgrund der demografischen Alterung an Be-
deutung. Eine allfällige Gesetzesänderung könnte die Wohn- und Arbeitssituation der Mig-
rantinnen verbessern. Miriam Frey, Harald Meier
rung auf die betroffenen Akteure und die Ge-
Abstract Die aktuellen gesetzlichen Regelungen vermögen den neu entstandenen samtwirtschaft.
Markt der 24-Stunden-Betagtenbetreuung nicht abzudecken. Der Bundesrat liess da-
her, gestützt auf einen parlamentarischen Auftrag, verschiedene Möglichkeiten zur
Schliessung dieser Regelungslücke erarbeiten. Die Regulierungsfolgenabschätzung Markt wächst dynamisch
(RFA), welche das Basler Forschungs- und Beratungsunternehmen B,S,S. zuhanden des
Von einer allfälligen Regulierung wären
Staatsekretariats für Wirtschaft (Seco) erstellte, zeigt: Die vorgeschlagenen Varianten
hauptsächlich drei Gruppen betroffen: Ers-
stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen der Verbesserung der Arbeitsbedin-
tens die Betreuerinnen, zweitens die Betreu-
gungen für die Beschäftigten einerseits und der finanziellen Tragbarkeit für die Klien-
ten und drittens die Anbieter der Dienstleis-
ten andererseits. Ein entscheidender Punkt ist dabei die in der Praxis unterschiedliche
tung, welche als Arbeitsvermittler oder – was
Betreuungsintensität, die im Regelungsinhalt zu berücksichtigen sein wird.
häufiger der Fall ist – als Personalverleiher die
Beschäftigungsverhältnisse organisieren. Da-
neben rekrutieren die Haushalte auch direkt,
KEYSTONE
Die 24-Stunden-Betreuung ist oft schlecht
bezahlt.
–– Gesamtarbeitsvertrag (GAV); gungsverhältnisse anstiege. Dies hätte die
werden. Aktuell sind 63 Anbieter von 24-Stun- –– Aufklärungspflicht der Arbeitgeber. unerwünschte Folge, dass sich die Arbeitsbe-
den-Betreuung in der Schweiz tätig.3 Überra- dingungen für viele Migrantinnen sogar ver-
schend ist, dass 11 Firmen, die Arbeitnehmen- Entscheidend für die Wirkung ist, welche schlechterten – umso mehr, da das Angebot
de aus dem Ausland vermitteln oder verleihen, konkreten Regelungsinhalte in diesen Inst- der Betreuerinnen die Nachfrage nach den
keinen Sitz in der Schweiz haben – wenn- rumenten festgelegt werden. Dies gilt insbe- Betreuungsleistungen übersteigt.
gleich dies rechtlich nicht zulässig ist. sondere für die Arbeits- und Ruhezeiten. Da Zur Bewertung der Kosten und Nutzen für
Diese Schätzungen sind Momentaufnah- diese Vorgaben zurzeit noch offen sind, wur- die Klienten und Angehörigen ist die Preis-
men in einem stark wachsenden Markt. Auf- de in der Regulierungsfolgenabschätzung die entwicklung der entscheidende Faktor. Wür-
grund der demografischen Entwicklung wird Regelung der Präsenzzeiten in drei Varianten den die befragten Anbieter allfällige Mehr-
die Zahl der pflegebedürftigen, älteren Perso- analysiert. In der Variante «Minimum» wird kosten vollständig auf die Klienten abwälzen,
nen bis ins Jahr 2030 vermutlich um knapp die die Präsenzzeit zu 10 Prozent als Arbeitszeit ist von monatlichen Preiserhöhungen zwi-
Hälfte steigen – wodurch auch die Nachfrage angerechnet und vergütet; in der Variante schen 1200 Franken (Variante «Minimum»)
nach Betreuungspersonal steigt. «Mittel» ist es die Hälfte und in der Variante und 10 500 Franken (Variante «Maximum»)
«Maximum» wird die Präsenzzeit zu 100 Pro- pro Betreuungsverhältnis auszugehen.
Fünf Instrumente – drei Varianten zent angerechnet und vergütet. Die Unter- Allerdings könnten sich die höheren Prei-
stellung unter das Arbeitsgesetz entspräche se in einer verbesserten Qualität der Betreu-
Die Lösungsvorschläge im Postulatsbericht, der Maximalvariante. Bei den anderen Instru- ungsleistungen niederschlagen (beispiels-
wie die Arbeitsbedingungen der Betreuerin- menten wäre die Flexibilität hingegen grös- weise aufgrund von vermehrter Weiterbil-
nen verbessert werden können, umfassen ser. dung) und die erhöhten Kosten daher mit
fünf Instrumente: einem Nutzenanstieg einhergehen. Anderer-
–– Unterstellung der Privathaushalte unter Preisanstieg zu erwarten seits ist es auch möglich, dass sich die Ge-
das Arbeitsgesetz; winnmargen der Anbieter etwas reduzierten.
–– Verordnung zum Arbeitsgesetz; Für die Migrantinnen in regulären Beschäfti- Dennoch wären die Preiserhöhungen
–– Verstärkung der kantonalen Normal- gungsverhältnissen würden sich die Arbeits- nicht für alle Klienten finanziell tragbar, wo-
arbeitsverträge (NAV)/Nationaler NAV be- bedingungen mit einer neuen Regelung ver- durch die Wahlfreiheit sinken würde und ins-
züglich Arbeitsbedingungen; bessern. Bei einer restriktiven Regelung – besondere bei der mittleren und der maxi-
respektive wegen der damit verbundenen malen Variante von einem Nachfragerück-
3 Betriebe, die einer Gruppe angehören, wurden als ein
Preiserhöhung – ist jedoch davon auszuge- gang auszugehen wäre. Als Alternative zur
Akteur gezählt. hen, dass die Anzahl irregulärer Beschäfti- 24-Stunden-Betreuung zu Hause nannten die
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 49
ARBEITSMARKT
Befragten in erster Linie das Pflegeheim. Eine bieten würden, da ihr Geschäftsmodell dann
ganz grobe Schätzung – basierend auf eini- nicht mehr rentierte. Sehr kritisch beurteilen
gen wenigen Expertenaussagen – geht da- die Unternehmen die Maximalvariante. Über
von aus, dass bei der mittleren Variante rund die Hälfte würde unter dieser Regelung das
10 bis 40 Prozent der Klienten in ein Pflege- Angebot nicht mehr weiterführen.
heim wechseln würden; bei der Maximalva-
riante unternähmen sogar 20 bis 60 Prozent Differenzierte Regelung prüfen
diesen Schritt.
Von einer solchen Verschiebung wären Angesichts der teils prekären Wohn- und Miriam Frey
Ökonomin, Projektleiterin bei B,S,S. Volks-
nicht nur die Klienten betroffen: Die Kos- Arbeitssituation der Betreuerinnen besteht wirtschaftliche Beratung, Basel
ten für die Krankenkassen und die öffentli- Handlungsbedarf. Dabei ist jedoch nicht nur
che Hand stiegen ebenfalls. Eine grobe Ab- die rechtliche Regelung relevant, sondern
schätzung geht bei der Minimalvariante von auch deren Vollzug stellt ein Schlüsselele-
Mehrkosten von bis zu 15 Millionen Franken ment dar. Mit anderen Worten: Es braucht
pro Jahr aus. Bei der mittleren Variante wä- Kontrollen, und illegal tätigte Anbieter müs-
ren es 15 bis 60 Millionen Franken mehr und sen sanktioniert werden. Zudem wären eine
bei der Maximalvariante 30 bis 90 Millionen vermehrte Information und die Sensibilisie-
Franken. rung aller Akteure sinnvoll.
Vor dem Hintergrund, dass sich die Be-
Anbieter bevorzugen Minimal- treuungsintensität je nach Klient stark unter-
scheidet, ist ein differenzierter Regelungsin-
variante halt möglicherweise zielführend. Während
Harald Meier
Jurist, Projektleiter bei B,S,S. Volkswirt-
Eine klare Regulierung wird von den Anbietern die Minimalvariante bei sehr seltenen Einsät- schaftliche Beratung, Basel
mehrheitlich begrüsst. Auf den Regelungsin- zen während der Präsenzzeit angebracht sein
halt bezogen werden die drei Varianten je- mag, ist sie für regelmässige, mehrfache Ein-
doch unterschiedlich beurteilt. So bezeich- sätze jede Nacht keine angemessene Lösung. Literatur
nen die meisten Anbieter die Minimalvariante Es wäre daher möglich, die Abgeltung der B,S,S. (2016). 24-Stunden-Betagtenbetreuung in
als gangbaren Weg. Teilweise werden die Be- Präsenzzeit von der Wahrscheinlichkeit eines Privathaushalten. Regulierungsfolgenabschätzung zu
den Auswirkungen der Lösungswege gemäss Bericht
dingungen bereits heute erfüllt. Einsatzes respektive vom Betreuungsbedarf zum Postulat Schmid-Federer 12.3266 «Pendel-
Die mittlere Variante beurteilen die meis- der Klienten abhängig zu gestalten. migration zur Alterspflege», Studie im Auftrag des
Staatssekretariats für Wirtschaft, Schlussbericht vom
ten Unternehmen als «tragbar». Etwa ein Der Bundesrat wird voraussichtlich Ende 29. Februar 2016.
Fünftel der befragten Betreuungsunterneh- Juni 2017 nach Kenntnisnahme der Regulie- Seco (2015). Rechtliche Rahmenbedingungen für
Pendelmigration zur Alterspflege, Bericht des
men gab allerdings an, dass sie die 24-Stun- rungsfolgenabschätzung über das weitere Bundesrates in Erfüllung des Postulats Schmid-
den-Betreuung in diesem Fall nicht mehr an- Vorgehen entscheiden. Federer 12.3266 vom 16. März 2012.
Staatsunternehmen in der
politischen Zwickmühle
Die Auszeichnung sollte Anlass zur Freude sein: Der Energiekonzern BKW
erhält für seine offensive Aquisationsstrategie einen Swiss M&A Award 2017,
verliehen vom Beratungsunternehmen KPMG. In ihrer Beurteilung hebt die
Jury die Unternehmenseinkäufe hervor. So hat die BKW nebst Windparks im
Ausland vor allem auch Gebäudetechnik- und Ingenieurfirmen in der Region
Bern auf dem Radar.
Bedeutendste Aktionärin der BKW ist mit einem Aktienanteil von rund
53 Prozent der Kanton Bern. Bei dieser dominierenden Staatsbeteiligung
stellt sich die Frage, inwieweit die viel gelobte Übernahmestrategie, die auch
den Kauf privater Firmen im Fokus hat, volkswirtschaftlich gesehen sinn-
voll ist: Soll sich ein staatsnahes Unternehmen mit Staatsgarantie beliebig
in private, funktionierende Dienstleistungsmärkte ausbreiten können?
Dieses Thema beschäftigt auch die Politik: Auf Bundes- und Kantonsebene
sind dazu verschiedene parlamentarische Vorstösse eingereicht worden.
Staatlich beherrschte Unternehmen sind derzeit in verschiedenen Märkten
und auf allen unterschiedlichen Ebenen tätig. So agiert zum Beispiel die
Swisscom im Markt für Eventmanagement oder Gesundheit und profitiert
dabei von ihren angestammten Kernkompetenzen in der Informations-
und Kommunikationstechnologie (ICT). Und die Post setzt auf den On-
linehandel und vertreibt im Internet 3-D-Drucker, Tablets, Smartphones,
Haartrockner oder Tortenformen.
Den staatlich beherrschten Unternehmen ist in der Regel kein Vorwurf zu
machen. Der Gesetzgeber wollte mit einer schrittweisen Liberalisierung,
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 51
mit der Erschliessung von neuen Märkten sowie mit der Umwandlung von
ehemaligen Regiebetrieben in Aktiengesellschaften den «alten» Staats-
unternehmen mehr unternehmerische Freiheit verleihen. In Ergänzung
zu ihrem gesetzlichen Auftrag werden sie häufig explizit ermutigt, sich
innovativ in der Entwicklung neuer Geschäftsmöglichkeiten zu engagieren.
So gesehen hat sich die Politik eigentlich selber in die Zwickmühle ge-
bracht. Die Klagen der Wettbewerbsverzerrung staatlicher Beteiligung
ertönen typischerweise in Bezug auf Märkte, die erst seit einigen Jahren
unter hohem Anpassungsdruck stehen. Stromkonzerne sind unter Druck,
weil die übermässige Subventionierung von erneuerbaren Energien die
traditionellen Geschäftsmodelle in ganz Europa auflaufen liessen. Post-
unternehmen verlieren wichtige Ertragsquellen, weil der Monopolschutz
im Briefverkehr, dessen Ursprung auf einen Verfassungsartikel aus dem 19.
Jahrhundert zurückgeht, dank ICT-Applikationen auf Smartphones nicht
mehr greift. Und die Grundversorgung der Swisscom mit Telefonie, Tele-
fonkabinen und Fax machen in der heutigen Welt von Breitbandinternet,
Social Media und elektronischen Plattformen bestenfalls noch begrenzten
Sinn.
Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch
ISTOCK
Pensionskassen in Bedrängnis
Die tiefen Zinsen und die steigende Lebenserwartung stellen
die Pensionskassen vor grosse Herausforderungen. Um die garantierten
Leistungen für die Rentner erbringen zu können, findet aktuell eine
Umverteilung in Milliardenhöhe zulasten der Aktiven statt.
Bei einem Kapitaldeckungsverfahren wie der beruflichen Vorsorge ist
das nicht vorgesehen.
Gemäss Vera Kupper Staub, Vizepräsidentin der Oberaufsichts-
kommission Berufliche Vorsorge, stellen zu hohe Rentenversprechen und
die eingeschränkte Sanierungsfähigkeit die grössten Risiken für die
Vorsorgewerke dar. Viele Pensionskassen sind denn auch daran,
den technischen Zins- und den Umwandlungssatz zu senken. Laut Daniel
Greber und Markus Moor von der Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften verschieben sie dabei immer mehr Verantwortung
auf die Aktiven. Zukünftig könnten die Leistungen auch vom Anlageerfolg
und von der Lebensdauer der Versicherten abhängig werden.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 53
PENSIONSKASSEN
Abstract Seit der Einführung des Obligatoriums im Jahr 1985 erwirtschafteten die 2016 ein technischer Zinssatz von 2,4 Pro-
Pensionskassen für ihre Versicherten mehr als ursprünglich erwartet. Eine Umfrage zent2 und Generationentafeln3 zur Abschät-
der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) bei den Vorsorgeein- zung der zukünftigen Sterblichkeit verwen-
richtungen zeigt, dass aktuell die unrealistischen Umwandlungssätze im Obligatorium det.
und die im Durchschnitt reduzierte Sanierungsfähigkeit die zwei grössten finanziellen Die Deckungssituation hat sich im letzten
Risiken für Pensionskassen darstellen. Durch die bereits umgesetzten Senkungen der Jahr geringfügig verbessert. Grund dafür
Zinsversprechen konnte das Systemrisiko zwar teilweise abgebaut werden. Deut- waren die Anlagerenditen von durchschnitt-
lich höher als bei den Kassen ohne Staatsgarantie sind die finanziellen Risiken bei den lich 3,6 Prozent für Vorsorgeeinrichtungen
Pensionskassen mit Staatsgarantie. Um die Zinsversprechen weiter zu senken, müssen ohne Staatsgarantie. 24 Prozent dieser Vor-
die Umwandlungssätze im Obligatorium reduziert werden, so wie es in der Reform sorgeeinrichtungen weisen diesbezüglich ein
«Altersvorsorge 2020» vorgesehen ist. Zudem sollten bei reduzierter Sanierungs- eher hohes bis hohes Risiko aus. Im Vorjahr
fähigkeit die Rentenverpflichtungen vorsichtiger bewertet werden. waren es 27 Prozent.
Zu hohe Zinsversprechen
SNB, BSV
-2 reichend gesenkt werden, wird der Rendite-
druck auch in Zukunft nicht abnehmen.
85
87
89
91
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20
BVG-Mindestzinssatz Inflationsbereinigte BVG-Mindestverzinsung Tieferes Gesamtrisiko der
Durchschnitt Inflationsbereinigte BVG-Mindestverzinsung
Pensionskassen
Die Pensionskassen haben teilweise reagiert
und senken ihre Zinsversprechen langsam.
Abb. 2: Gesamtrisiko der Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatsgarantie
Insbesondere deshalb hat das Gesamtrisiko
der Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatgaran-
tie 2016 abgenommen: 24 Prozent dieser Vor-
sorgeeinrichtungen weisen ein eher hohes
2016
bis hohes Gesamtrisiko aus, wobei nur weni-
ge Vorsorgeeinrichtungen ein hohes Gesamt-
risiko tragen (siehe Abbildung 2). Im Vorjahr
waren es noch 32 Prozent der Pensionskassen
2015 ohne Staatsgarantie.
Für die Vorsorgeeinrichtungen mit Staats-
garantie5, welche mehrheitlich im System der
Teilkapitalisierung finanziert sind, zeigt sich
ein ähnliches, aber deutlich risikoreicheres
2014 Bild. In der Risikodimension Zinsversprechen
OAK BV
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 55
PENSIONSKASSEN
KEYSTONE
Die Sanierungsfähigkeit stellt bei vielen Vor-
sorgeeinrichtungen das grösste Risiko dar.
Demonstranten in St. Gallen fordern im finanziellen Chancen und Risiken ihrer Vor-
April 2017 eine 200-Millionen-Einlage in die sorgeeinrichtungen realistisch beurteilen,
Pensionskasse. ihre Rentenverpflichtungen versicherungs-
technisch korrekt bewerten, die not-
wendigen Beschlüsse fassen und ihre Ver-
Das Anlagerisiko ist im Kapitaldeckungs- sicherten transparent informieren.
verfahren systemimmanent und kann folg-
lich nie eliminiert werden. Es muss jedoch Tragbare Rentenreform not-
in einer für Versicherte und Arbeitgeber er- Vera Kupper Staub
träglichen Höhe gehalten werden. Dies
wendig Dr. oec. publ., Vizepräsidentin
Oberaufsichtskommission Berufliche
ist von realistischen Zinsversprechen und Risikomindernde Massnahmen erfolgen fast Vorsorge (OAK BV), Bern
realistischen technischen Zinssätzen ab- ausschliesslich auf Kosten der aktiven Versi-
hängig. cherten und der Arbeitgeber. Angesichts der
Schliesslich sollte auch die finanzielle geringen durch schnittlichen Sanierungs
Lage der Vorsorgeeinrichtungen verbessert fähigkeit, des sehr tiefen Zinsniveaus und
werden. Aktuell sind die Wertschwankungs der zu erwartenden Erhöhung des Renten-
reserven der Vorsorgeeinrichtungen trotz der anteils sind aber auch weitere Kreise aus
vergangenen mehrheitlich guten Anlagejahre Wirtschaft und Politik gefordert, um realisti-
nur zu 39 Prozent geäufnet. Grund dafür sche und für alle Beteiligten tragbare Lösun-
ist, dass ein erheblicher Teil der Erträge der gen zu ermöglichen. Mit der Umsetzung der
Stefan Eggenberger
letzten Jahre für die vorsichtigere Bewertung Rentenreform «Altersvorsorge 2020» könn-
Eidg. dipl. Pensionsversicherungsexperte,
der Rentenverpflichtungen eingesetzt ten die Risiken im Bereich der beruflichen Leiter Risk Management, Oberaufsichts-
werden musste. Vorsorge reduziert werden. Auch Vorsorge kommission Berufliche Vorsorge (OAK BV),
Diese Massnahmen zur Verminderung einrichtungen mit einem hohen Anteil an Bern
der Risiken müssen von den aus aktiven obligatorischem BVG-Altersguthaben könn-
Versicherten und Arbeitgeber zusammen- ten dadurch ihre Umwandlungssätze redu- Literatur
Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (2017).
gesetzten Leitungsorganen der Vorsorgeein- zieren und somit der wirtschaftlichen Reali- Bericht finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen
richtungen getroffen werden: Sie müssen die tät annähern. 2016.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 57
PENSIONSKASSEN
KEYSTONE
Eine Umverteilung, die in der 2. Säule eigentlich
nicht vorgesehen ist: Pensionierte profitieren
kapital der Rentenbeziehenden eingerechnet kung des technischen Zinssatzes zu einer Er- von den Kapitalrenditen der Arbeitenden.
ist und jährlich gutgeschrieben werden muss höhung der Rentendeckungskapitalien. Diese
– unabhängig von der finanziellen Lage Erhöhung wird meist zulasten der sogenann-
einer Pensionskasse. Dieser Zinssatz lag in ten Wertschwankungsreserve und damit wie- Aber: Ohne Begleitmassnahmen führt eine
den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich derum auf Kosten der aktiven Versicherten fi- Senkung des Umwandlungssatzes zu ein-
4 Prozent. nanziert, die neben den Arbeitgebern die Ri- schneidenden Kürzungen. Die unmittelbar
Solange der technische Zinssatz über der sikoträger sind. Bei guten Anlageergebnissen vor der Pensionierung stehenden Personen
Verzinsung der Sparguthaben der aktiven bauen die Pensionskassen mit den zusätzlich können diese allein nicht mehr ausgleichen.
Versicherten liegt, erfolgt eine Umverteilung erwirtschafteten Überschüssen die Wert- Doch auch für die Jüngeren bleibt es offen,
von den aktiven Versicherten zu den Renten- schwankungsreserve auf, um bei schlechter ob die künftigen Anlagejahre wieder besser
beziehenden. Das ist heute der Fall: Nimmt Finanzmarktlage die tiefen Renditen auszu- ausfallen und dadurch die Reduktion des
man beispielsweise den BVG-Mindestzins- gleichen. Wenn die Wertschwankungsreser- Umwandlungssatzes je wieder ausgeglichen
satz von aktuell 1 Prozent als Massstab für ve sinkt oder sogar eine Unterdeckung ein- werden kann.
die Verzinsung und berücksichtigt, dass trifft, müssen die aktiven Versicherten diese Insbesondere was die Generationenge-
der technische Zinssatz bei den Renten- beispielsweise durch eine Minderverzinsung rechtigkeit anbelangt, sind die Pensions-
beziehenden gemäss Bericht zur finanziellen ihrer Sparguthaben wieder aufbauen. kassen deshalb so stark gefordert wie noch
Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2016 bei Um die in der zweiten Säule in diesem nie seit Einführung des Pensionskassen-
rund 2,5 Prozent1 liegt, erkennt man den Ausmass nicht vorgesehene Umverteilung obligatoriums im Jahr 1985.
Handlungsbedarf. nachhaltig zu reduzieren, bleibt nur eine
Senkung des Umwandlungssatzes. Denn der
Technischer Zinssatz und Umwandlungssatz gibt das Zinsversprechen
für die Neurentner implizit vor. Hinzu
Umwandlungssatz sinken kommt die stetige Zunahme der Lebens-
Bleiben die Zinsen so niedrig und wollen die erwartung. Auch sie verlangt nach einer zu-
Pensionskassen die Umverteilung zulasten sätzlichen Senkung des Umwandlungssatzes.
der aktiven Versicherten vermindern, bleibt Aus diesen Gründen haben viele Pensions-
ihnen nur eins: Sie müssen den technischen kassen ihren Umwandlungssatz bereits ge-
Zinssatz senken. Da die laufenden Renten senkt2 oder sind daran, ihn zu senken3.
nicht gekürzt werden dürfen, führt eine Sen- Patrick Spuhler
2 Beispielsweise die BVK des Kantons Zürich: Der Um- Eidg. dipl. Pensionsversicherungsexperte
wandlungssatz liegt heute unter 5 Prozent. und Partner des Pensionskassenberatungs-
1 Siehe Oberaufsichtskommission OAK (2017). Bericht 3 Die Publica, die Pensionskasse des Bundes, auf 5,09 unternehmens Prevanto AG, Basel
finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2016. Prozent.
Abstract Die aktuellen Zinsen für risikolose Anlagen bewegen sich nahe bei null. relevant ist. Die heute geltende Fristenstruk-
Das stellt das berufliche Vorsorgesystem vor grosse Herausforderungen. Denn die tur der risikolosen Zinssätze zeigt, dass bei-
garantierten Leistungen werden aus Vorschriften abgeleitet, die die Realität der spielsweise für einen Franken, der in 20 Jah-
Kapitalmärkte nicht korrekt abbilden. Die goldene Regel besagt, dass die Renten nicht ren fällig wird, zum heutigen Zeitpunkt 0,957
mehr gesichert sind, wenn die risikolos erzielbaren Renditen unter dem Nominallohn- Franken in Bundesobligationen investiert
wachstum liegen. Das ist heute der Fall. Momentan kann die Rentensicherheit nur werden müssten (siehe Tabelle 2) – die Beiträ-
durch Umverteilung auf die nächsten Generationen erreicht werden. Um diese Um- ge wären so unbezahlbar.
verteilung zu stoppen, braucht es eine Entkoppelung von sozialpolitischen Mindest- Doch die Konsequenzen dieser Situation
leistungen und kapitalgedecktem Vorsorgesparen. manifestieren sich im Navigationssystem
der Pensionskassen leider nicht, so dass die
Probleme weitgehend unerkannt bleiben.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 59
PENSIONSKASSEN
Tabelle 1: Altersrente in Prozent des letzten Lohns nach Lohnwachstum, Kapitalrendite und Umwandlungssatz
Lohnwachstum 0% 1% 2% 3% 4%
Kapitalrendite Umwandlungssatz
0% 25,0% 21,5% 18,7% 16,5% 14,7% 5,0%
Die Zahlen beziehen sich auf eine aktive Beitragsperiode von 40 Jahren und eine Rentenbezugsperiode von 20 Jahren. Die Beiträge werden aufgrund der effektiven,
altersabhängigen Lohnprozente berechnet. Die Summe der Altersgutschriften beträgt 500 Prozent. Der verwendete Zinssatz zur Berechnung der Lohnersatzquote
entspricht der Kapitalrendite während der Beitragsdauer.
Mindestzins gutzuschreiben, der seit mittler- wird heute ignoriert: Jeder Franken, der als Legt man dem Nominallohn-Wachstums-
weile über 20 Jahren über dem risikolosen Rente ohne Risikopartizipation ausbezahlt vergleich aus Tabelle 1 beispielsweise die
Zinssatz festgesetzt ist (siehe Abbildung 1). oder schon nur gutgeschrieben wird, be- durchschnittliche Kapitalrendite eines
Will man keinen sinkenden Deckungsgrad lastet die kommenden Generationen. Die typischen BVG-Portfolios6 anstelle der risiko-
riskieren, lässt sich diese Zielsetzung nur jährlichen Umverteilungseffekte von Jung losen Verzinsung zugrunde, muss auch die
durch höherrentierende Vermögensanlagen zu Alt liegen im Milliardenbereich, wie ver- goldene Regel nicht mehr verworfen werden
erreichen – doch dadurch wird es unmöglich, schiedene Schätzungen zeigen.5 Diese sind (siehe Abbildung 2).
die Sicherheit der damit finanzierten Renten jedoch unsichtbar, da die Renten bisher
zu garantieren. noch immer uneingeschränkt bezahlt und Mindestleistungen und kapital-
die Sanierungen von der aktiven Generation
getragen wurden.
gedeckte Vorsorge entkoppeln
Risikobehaftete Kapitalanlagen
Auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Lassen die gesetzlichen Grundlagen über-
unumgänglich Sicht macht es wenig Sinn, die Kapitalver- haupt eine Investition in riskante Anlagen zu?
Die Schlussfolgerung ist so naheliegend wie zinsung der goldenen Regel als risikolose Ver- Im Überobligatorium ist dies möglich, aber
einfach: Positive Renditen können im ak- zinsung von Staatsschulden zu interpretieren. die Flexibilität bezüglich der Anlagemöglich-
tuellen Null- oder Tiefzinsumfeld nur noch Denn aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive keiten sollte besser genutzt werden. Im obli-
durch Risikoprämien verdient werden, also muss sich ein kapitalgedecktes Vorsorge- gatorischen Teil wird der Sicherheitsanspruch
über Vermögensanlagen, welche mit Risiken system aus den Erträgen des volkswirt- zudem oft überinterpretiert. Der Gesetzge-
verbunden sind. Wer argumentiert, dass mit schaftlichen Realkapitalstocks finanzieren, ber spricht von «angemessener» Fortsetzung
Aktien oder Immobilien langfristig gar nicht wozu Staatsschulden nur zu einem geringen der gewohnten Lebenshaltung und von der
so hohe Risiken verbunden seien, verkennt Teil gehören dürften. Doch die Erträge auf «Sicherheit der Erfüllung der Vorsorgezwe-
(ausser dieser an und für sich unkorrekten Aktien, Immobilien oder langfristigen In- cke» – nicht von der Sicherheit der Renten.
Behauptung) die Tatsache, dass es dann lang- vestitionen von Firmen sind wesensgemäss Und: Wenn im Zusammenhang mit der Be-
fristig mit diesen Anlagen auch gar keine Risi- mit Risiken verbunden, die darüber hinaus rechnung des BVG-Mindestzinses explizit er-
koprämien zu erzielen gäbe. nur unvollständig diversifiziert und deshalb wähnt wird, dass nebst der Rendite von Bun-
Wenn jedoch Risiken unvermeidbar sind, auf dem Kapitalmarkt mit einer Risikoprämie desobligationen zusätzlich jene von «Aktien,
steht ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem entschädigt werden. Anleihen und Liegenschaften» zu berücksich-
im Widerspruch zum Erfordernis sicherer
Renten – auf dem heute angestrebten, 5 Siehe Credit Suisse (2017), S. 15–16 sowie eigene 6 Es werden die Renditen des BVG2000-Index von Pictet
lohnabhängigen Niveau. Dieser Umstand Berechnungen. & Cie. mit einem Aktienanteil von 40% verwendet.
Abb. 1: BVG-Mindestzinssatz und risikoloser 1-Jahres-Zinssatz (1985–2017) verbunden ist. Dieser muss sich jedoch auf
ein zu definierendes Existenzminimum be-
9 Zinssatz, in %
schränken. Es ist diskutabel, ob die heutige
8
AHV mit oder ohne Ergänzungsleistungen
87
89
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BVG-Mindestzinssatz Zinssatz auf 1-jährige Bundesobligationen
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Heinz Zimmermann
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20
19
20
tigen sind,7 wäre es ein Gebot der Logik den Es stellt sich damit die Frage, wie die
zukünftigen Wert dieser Vermögensanlagen Risiken, welche durch ein kapitalgedecktes
für die Bemessung der Renten heranzuziehen System zwingend verbunden sind, durch Literatur
– und nicht eine risikolos zu erreichende Min- sozialpolitische Instrumente aufgefangen Credit Suisse (2017). Schweizerische Pensionskassen-
destverzinsung. werden können. Es gehört zum Verständ- umfrage: Tiefe Zinsen und Demografie als zentrale
Herausforderungen.
7 Siehe die in Fussnote 2 angegebenen gesetzlichen
nis unseres Vorsorgesystems, dass mit dem PPCmetrics (2016). 2. Säule 2016. Analyse der
Quellen. Rentenanspruch eine minimale Sicherheit Geschäftsberichte von Pensionskassen.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 61
PENSIONSKASSEN
SHUTTERSTOCK
Die Versicherten sind immer mehr auf sich alleine
gestellt. Die traditionelle Solidarität zwischen
Pensionskasse, Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vorsorge auf die Probe. Es droht, dass das den Forderungen aus Wissenschaft und Praxis
nimmt ab. Vertrauen der Bevölkerung in die zweite Säu- – nicht weniger, sondern mehr Einfluss auf die
le abnimmt. Wissenschaftliche Untersuchun- Ausgestaltung der Altersvorsorge nehmen
gen zeigen, dass bei sinkenden Umwand- wird.
versicherten Personen nicht nur auf die aktive lungssätzen vermehrt das Kapital an Stelle
Berufszeit beschränkt, sondern schlägt sich der Rente bezogen wird.2
auch in der Einkommenssituation als Rentner Das wirkt sich auch auf die Führung der
nieder. Pensionskassen aus. Denn, wenn für über-
Aufgrund neuer gesetzlicher Bestim obligatorische Teile des Altersguthabens nur
mungen rechnet man in der 2. Säule damit, noch Kapital und keine Renten mehr aus-
dass sich sogenannte 1e-Pläne, die nach dem bezahlt werden, hat dies zur Folge, dass die Vor-
entsprechenden Gesetzesartikel1 benannt sorgeeinrichtungen im Falle einer schwierigen
sind, zunehmend verbreiten (siehe Kasten). finanziellen Situation deutlich weniger flexibel
Daniel Greber
Diese Pläne übertragen nicht nur das An- Massnahmen ergreifen können. Weil ein Leiter des Zentrums Risk & Insurance,
lagerisiko, sondern auch das Risiko der Lang- grösserer Teil des Vorsorgevermögens für die School of Management and Law, Zürcher
lebigkeit vollständig auf die versicherte Kapitalauszahlung reserviert ist, steht weniger Hochschule für Angewandte Wissenschaf-
Person. Das würde bedeuten, dass es den Vorsorgevermögen zu Anlagezwecken zur ten (ZHAW), Winterthur
Versicherten im Alter nicht mehr möglich ist, Verfügung. Zudem muss dieser kleinere Teil
für Lohnanteile ab dem anderthalbfachen aufgrund der abnehmenden Risikofähig-
des oberen BVG-Grenzbetrags (CHF 126 900) keit auch konservativer angelegt werden. In
eine Rente zu beziehen, sondern nur noch vielen Fällen ist er aber zu klein, um erfolgreich
das Kapital. Der Zwang zum Kapitalbezug Sanierungsmassnahmen in die Wege leiten zu
könnte im Prinzip bereits bei der Schwelle können.
zum Überobligatorium – ab einem Ein- Zudem hat das Parlament bei der Reform
kommen von 84 600 Franken – einsetzen. der Altersvorsorge 2020 entschieden, dass die
vorgesehenen Leistungsreduktionen in der
Systemstabilität gefährdet beruflichen Vorsorge durch eine Erhöhung der
Markus Moor
AHV-Altersrenten teilkompensiert werden. Es Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum
Die wachsende Individualisierung und die ab- ist zu befürchten, dass die Politik – entgegen Risk & Insurance, School of Management
nehmende Solidarität stellen die berufliche and Law, Zürcher Hochschule für
2 Siehe Zito, M.G. (2012). Auswirkung der Senkung des Angewandte Wissenschaften (ZHAW),
Umwandlungssatzes. In: Schweizer Personalvorsorge, Winterthur
1 Art. 1e BVG. 05/12, S. 59–61.
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 63
PENSIONSKASSEN
satz und Sterblichkeitsmodell für jede Vorsor- neranteil einen höheren oder tieferen Teil des Kennzahlen zur Bewertung von
geeinrichtung identisch festzulegen. Solange Altersguthabens oder der beitragspflichtigen Massnahmen
nämlich der technische Zinssatz über den risi- Lohnsumme ausmachen. Bei gleichem öko-
kolosen Kapitalmarktzinssätzen liegt, enthält nomischem Deckungsgrad muss also die- Modelle und Kennzahlen für das Risikoma-
das Vorsorgekapital implizit ein nicht gemes- jenige Vorsorgeeinrichtung mit dem grös- nagement von Vorsorgeeinrichtungen müs-
senes Anlagerisiko. Dieses Risiko ist abhängig seren Rentneranteil die Verzinsung weiter sen auch für den Vergleich der Sicherheit
vom Anteil der garantierten Leistungen, ins- senken oder höhere Sanierungsbeiträge er- der Vorsorgeleistungen anwendbar sein. Die
besondere vom Vorsorgekapital der Rentner: heben, um die Deckungslücke zu schliessen. Kennzahlen müssen Veränderungen der Si-
Mit einem höheren, einheitlich festgelegten Um auch diese Struktur der Vorsorgeeinrich- cherheit, wie sie beispielsweise aufgrund von
technischen Zinssatz liegen die Deckungsgra- tung zu berücksichtigen, hat PPCmetrics das Mitteleinschüssen, Leistungsreduktionen
de der rentnerlastigen Vorsorgeeinrichtungen Konzept des Risikotragenden Deckungsgra- oder Veränderungen der Anlagestrategie ein-
vergleichsweise höher und täuschen so eine des (RTDG) entwickelt. Dazu wird dem Netto- treten können, korrekt wiedergeben.
höhere Sicherheit dieser Vorsorgeeinrich- Vorsorgevermögen das marktnah bewertete Zudem hilft die Vergleichbarkeit der Kenn-
tungen vor. Dieser trügerische Einfluss kann Vorsorgekapital der Rentner abgezogen und zahlen im Zeitablauf und relativ zur Peer Group
nur eliminiert werden, wenn alle garantier- das Restvermögen ins Verhältnis zu den Al- bei der Beurteilung der aktuellen Situation
ten Rentenverpflichtungen marktnah bewer- tersguthaben gesetzt. Das Konzept lässt sich und darauf basierender Massnahmen. Die
tet werden, d. h. wenn die erwarteten Cash- sinngemäss auf alle drei ökonomischen De- Kennzahlen RTDG und RTDG@Risk er-
flows mit den laufzeitengerechten risikolosen ckungsgrade I, II und III übertragen. füllen diese Anforderungen und sind deshalb
Kapitalmarktzinssätzen von Bundesobligatio- Selbst bei demselben RTDG kann die zentrale Elemente des professionellen Risiko-
nen diskontiert werden. Sicherheit der Vorsorgeleistungen zweier managements einer Vorsorgeeinrichtung.
Das Verhältnis zwischen dem Vorsorge- Vorsorgeeinrichtungen je nach Anlage-
vermögen und den marktnah bewerteten risiko oder versicherungstechnischen Risiken
Rentenverpflichtungen ist der ökonomische unterschiedlich sein. Um den Einfluss dieser
Deckungsgrad. Verwendet man für die Be- Risiken auf die Vorsorgesicherheit zu messen,
wertung der Verpflichtungen nur die gesetz- werden die verschiedenen Risiken aggregiert
lich garantierten Leistungen (insbesondere und daraus ein sogenannter RTDG@Risk-
die laufenden Renten), so spricht man vom Wert bestimmt. Die Parameter Ausfall-
ökonomischen Deckungsgrad I. Werden zu- wahrscheinlichkeit und Zeithorizont werden
sätzlich die im Vorsorgereglement ent- im Extremwertmodell einheitlich festgelegt.
haltenen Leistungsziele, wie der Um- Dominique Ammann
wandlungssatz, die Anwartschaften usw., be- Widerspruchsfreie Resultate Dr. rer. pol., Gründungspartner,
rücksichtigt, spricht man vom ökonomischen PPCmetrics AG, Zürich und Nyon
Deckungsgrad II. In unserer Studie gehen Um die Aussagekraft der Kennzahlen zu tes-
wir davon aus, dass die reglementarischen ten, wurde in der Studie die Vorsorgesicher-
Leistungsziele für fünf Jahre gewährleistet heit von 17 Vorsorgeeinrichtungen mit stark
werden sollen. Berücksichtigt man zusätz- unterschiedlicher finanzieller Lage, Versi-
lich noch den Barwert der einheitlichen chertenstruktur und unterschiedlichen reg-
Sanierungsmassnahmen, erhält man den lementarischen Leistungen analysiert und die
ökonomischen Deckungsgrad III. Ergebnisse mit den vorgeschlagenen Kenn-
zahlen verglichen. Der Ansatz der risikoge-
Strukturgerechte Bewertung: rechten Bewertung und die Methodik des
Alfred Bühler
risikotragenden Deckungsgrades erlauben
Der risikotragende Deckungsgrad eine widerspruchsfreie Beurteilung der Si-
Dr. oec. HSG, Gründungspartner und Mit-
glied der Geschäftsleitung, PPCmetrics AG,
Angenommen zwei Vorsorgeeinrichtungen cherheit von Vorsorgeeinrichtungen. Die Be- Zürich
mit demselben ökonomischen Deckungsgrad rechnungen haben gezeigt, dass die Renten-
weisen dieselbe Deckungslücke in Prozenten versprechen umso sicherer sind, je tiefer der Literatur
des marktnah bewerteten Vorsorgekapitals Rentneranteil und das Anlagerisiko sind und PPCmetrics (2017). Vorsorgeeinrichtungen vergleichbar
machen? Machbarkeitsstudie im Auftrag des BSV und
auf. In dieser Situation einer Unterdeckung je mehr Vermögen bei gegebenen Leistungs- der OAK BV. (Voraussichtlicher Publikationstermin:
kann jedoch die Deckungslücke je nach Rent- verpflichtungen vorhanden ist. Sommer 2017)
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 65
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Die Volkswirtschaft VSUD
UnternehmerZeitung Zuger Wirtschaftskammer
ZAHLEN
Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.
Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2016 1/2017 4/2016 3/2016 2/2016
Schweiz 1,3 Schweiz 0,3 0,1 0,1 0,6
Deutschland 1,9 Deutschland 0,6 0,4 0,2 0,5
Frankreich 1,2 Frankreich 0,3 0,5 0,2 –0,1
Italien 0,9 Italien 0,2 0,2 0,3 0,1
Grossbritannien 1,8 Grossbritannien 0,2 0,7 0,5 0,6
EU 1,9 EU 0,5 0,6 0,4 0,4
USA 1,6 USA 0,3 0,5 0,9 0,4
Japan 1,0 Japan 0,5 0,3 0,2 0,4
China 6,7 China 1,3 1,7 1,8 1,9
OECD 1,7 OECD 0,4 0,7 0,5 0,4
Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr Vorjahresmonat
2016 April 2017
Schweiz 0,0 Schweiz 0,4
Deutschland 0,5 Deutschland 2,0
Frankreich 0,2 Frankreich 1,2
Italien –0,1 Italien 1,9
Grossbritannien 0,7 Grossbritannien 2,7
EU 0,3 EU 2,0
SECO, BFS, OECD
Die Volkswirtschaft 7 / 2017 67
Freiwilliges Engagement in der Schweiz nimmt ab
Neben der Lohnarbeit und der Arbeit im eigenen Haushalt leisten viele Einwohner in der Schweiz Jahr für Jahr aus freien Stücken und
weitgehend unbezahlt einen Beitrag zum Gemeinwohl. Doch dieses Engagement nimmt ab, wie eine Studie der Schweizerischen
Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) und des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern aus dem Jahr 2016 zeigt. So sinkt
etwa der Anteil Freiwilliger, die sich in Vereinen und Organisationen engagieren. Unklar ist der Trend bei den informell Freiwilligen,
die sich etwa in der Nachbarschaft oder in der Betreuung engagieren: Hier betätigen sich zwar wieder mehr Menschen als noch vor
fünf Jahren, sie wenden im Durchschnitt aber deutlich weniger Zeit auf als früher.
Meistgenannte Meistgenannte
Betätigungsfelder (2014) Betätigungsfelder (2014)
praktische
43% Hilfeleistungen
(z. B. Einkaufen oder
Gartenpflege für Nachbarn)
Sportverein 12%
Kinderbetreuung
38% (ohne Betreuung
eigener Kinder)
Spiel-, Hobby-,
Freizeitverein 8%
Betreuung und Pflege
13% von Behinderten
und / oder Alten
Kirchliche 7%
Organisation
(ausserhalb des eigenen Haushalts)
Organisation und
8% Durchführung Kultureller 6%
von Treffen und Verein
Veranstaltungen
* Die Werte für die formelle Freiwilligkeit von 2006 und 2009 können nicht mit den Werten von 2014
verglichen werden, da Erstere den Aufwand für die Haupttätigkeit ausweisen, während Letztere den
15 Jahren) 15 Jahren)
Durchschnittliche Durchschnittliche
Arbeitszeit pro Freiwilligen Arbeitszeit pro Freiwilligen
(in Std./Monat) (in Std./Monat) *
38% 38%
29% 28% 26% 25%
88e année N°5 /2017
90. Jahrgang Nr. 5 /2015 sFr.
Frs.12.–
12.–
La
DieVie économique
Volkswirtschaft
Plattformdefür Wirtschaftspolitik
Plateforme politique économique
FOKUS
Reduziert die Abschaffung von Bargeld die Schattenwirtschaft und die Kriminalität?
Professor Friedrich Schneider, Universität Linz