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90. Jahrgang   Nr. 7/2017 Fr. 12.

Die Volkswirtschaft
Plattform für Wirtschaftspolitik

STREITGESPRÄCH KINDERFREMDBETREUUNG INTEGRATIONSPOLITIK DOSSIER


Tobias Meili, Syngenta, und Höherer Kita-Abzug im Jobs senken die Kriminalität Pensionskassen in
Mark Herkenrath, Steuerrecht bei Asylsuchenden Bedrängnis
Alliance Sud, über 44 46 53
Firmenverantwortung
38

FOKUS

Wichtiger HINWEIS !
Verantwortungsvolles
Innerhalb der Schutzzone (hellblauer Rahmen) darf
kein anderes Element platziert werden! Wirtschaften oder Imagepflege?
Ebenso darf der Abstand zu Format- resp. Papierrand
die Schutzzone nicht verletzen!
Hellblauen Rahmen der Schutzzone nie drucken!
Siehe auch Handbuch
„Corporate Design der Schweizerischen Bundesverwaltung“
Kapitel „Grundlagen“, 1.5 / Schutzzone
www. cdbund.admin.ch
EDITORIAL

Ein Umdenken ist im Gang


Verantwortungsvolles und nachhaltiges Wirtschaften: Bei der Recherche
waren wir beeindruckt, wie viel zu diesem Thema läuft. Dementsprechend
umfangreich ist auch der Fokus geworden.
So hat der Bundesrat beispielsweise innert kurzer Frist zwei Aktionspläne
in den Bereichen Wirtschaft, Umwelt und Menschenrechte verabschiedet.
Er greift dabei die Richtlinien der OECD und der UNO auf. Die OECD­
arbeitet daran, ihre Standards flächendeckend durchzusetzen, und setzt
in den kommenden Jahren einen Schwer-
punkt auf Asien. Auch die Unterneh-
menswelt ist am Umdenken: Viele Firmen
verabschieden sich vom eindimensiona-
len Shareholder-Management und prakti-
zieren einen breiteren Stakeholder-
Ansatz.
Im Fokus betont Antonio Hautle von
Global Compact Network Switzerland die
Wichtigkeit von Leadership und die Vor-
bildrolle der Führungskräfte. Karin Muff
von der Business School Lausanne hat ein Instrument entwickelt, das den
Unternehmen einen Perspektivenwechsel und die Ausarbeitung neuer
Geschäftsmodelle ermöglicht. Stellvertretend für die gesamte Schweizer
Wirtschaft kommen drei Unternehmen – die Migros, Nestlé und die
UBS – zu Wort.
Die Schweiz setzt den Akzent auf die Selbstinitiative der Wirtschaft. Die
­geltenden Standards sind nicht rechtsverbindlich. Das stört Nichtregie-
rungsorganisationen, weshalb sie die Konzernverantwortungs-Initiative
eingereicht haben. Lesen Sie mehr dazu im Streitgespräch zwischen
Mark Herkenrath von Alliance Sud und Tobias Meili von Syngenta.

Wir wünschen Ihnen eine aufschlussreiche Lektüre.


Susanne Blank und Nicole Tesar
Chefredaktorinnen «Die Volkswirtschaft»
INHALT

Fokus

6 10 13
UNO verhilft Corporate Corporate Social Schrittweise Ausweitung der
Social Responsibility zum Responsibility – OECD-Standards
Durchbruch die Rolle des Bundes Roel Nieuwenkamp
Christine Kaufmann OECD
Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch
Universität Zürich Staatssekretariat für Wirtschaft

16 20 24
Nationaler Glaubwürdig handeln – Die SDGs als Chance
Kontaktpunkt fördert dank Leadership zur unternehmerischen
die verantwortungsvolle Antonio Hautle Neuausrichtung
Global Compact Network Switzerland
Unternehmensführung Katrin Muff
Business School Lausanne
Lukas Siegenthaler, Nadja Meier,
Alexander Kunze
Staatssekretariat für Wirtschaft
32
Der Banksektor hilft mit, 38
die UNO-Ziele zu erreichen
Christian Leitz Streitgespräch mit
UBS
Tobias Meili, Syngenta,
34 und Mark Herkenrath,
Eine Kommode aus Indien – Alliance Sud
29 was steckt dahinter?
Martina Bosshard, Jürg von Niederhäusern
Fairtrade & Co: Migros-Genossenschafts-Bund
Die Pionierphase ist vorbei
Christian Robin 36
Staatssekretariat für Wirtschaft
Britta Wyss Bisang Gemeinsame
Vorstandsvorsitzende Iseal
Wertschöpfung ergibt Sinn
Christian Frutiger, Christian A. Vousvouras
Nestlé
INHALT

Themen
DOSSIER

Pensionskassen in
Bedrängnis
44 46
KINDERFREMDBETREUUNG INTEGRATIONSPOLITIK 54
Systemrisiken bei den
Investition in die Zukunft: Wirtschaftliche Integration Pensionskassen
Ein höherer Kita-Abzug im von Asylsuchenden Vera Kupper Staub, Stefan Eggenberger
Steuerrecht Dominic Rohner, Mathias Thoenig Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge
Universität Lausanne
Brigitte Behnisch
Eidgenössische Steuerverwaltung Mathieu Couttenier, Veronica Preotu
Universität Genf
57
Umverteilung von Jung zu Alt
Patrick Spuhler
Prevanto
b

59
Die kapitalgedeckte Vorsorge im
Tiefzinsumfeld
Yvonne Seiler Zimmermann
Hochschule Luzern
Heinz Zimmermann
Universität Basel
48 51
ARBEITSMARKT AUFGEGRIFFEN

Staatsunternehmen in der 62
24-Stunden- Das Risiko tragen die Versicherten
Betagtenbetreuung: politischen Zwickmühle
Daniel Greber, Markus Moor
Welche Regeln sind nötig? Eric Scheidegger
Staatssekretariat für Wirtschaft
Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften
Miriam Frey, Harald Meier
B,S,S.

64
Die Vergleichbarkeit von
Pensionskassen verbessern

Spots Dominique Ammann, Alfred Bühler


PPCmetrics

i
IMPRESSUM ZAHLEN INFOGRAFIK

Alle Informationen Wirtschaftskennzahlen Freiwilliges Engagement


zum Magazin in der Schweiz nimmt ab

4 67 68
i IMPRESSUM

Herausgeber
Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, ­Bildung
und Forschung WBF,
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern

Redaktion
Chefredaktion: Susanne Blank, Nicole Tesar
Redaktion: Käthi Gfeller, Matthias Hausherr, Christian Maillard,
Stefan Sonderegger

Redaktionsausschuss
Eric Scheidegger (Leitung), Antje Baertschi, ­Susanne Blank,
Eric Jakob, Evelyn Kobelt, Cesare Ravara, Markus Tanner,
Nicole Tesar

Leiter Ressort Publikationen


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(französisch: La Vie économique), 90. Jahrgang, mit Beilagen.

Druck
Jordi AG, Aemmenmattstrasse 22, 3123 Belp

Der Inhalt der Artikel widerspiegelt die Auffassung der Autorinnen


und Autoren und deckt sich nicht notwendigerweise mit der
Meinung der Redaktion.

Der Nachdruck von Artikeln ist, nach Bewilligung durch die


Redaktion, unter ­Quellenangabe gestattet; Belegexemplare
­erwünscht.

ISSN 1011-386X
FOKUS

Verantwortungsvolles
Wirtschaften oder Imagepflege?
Unternehmen sollen ökonomisch, ökologisch und sozial nach-
haltig wirtschaften. Dies verlangen internationale Standards wie
die UNO-Leitprinzipien oder die OECD-Leitsätze. Firmen mit einer
sogenannten Corporate Social Responsibility (CSR) halten sich an
die Menschenrechte und an Umweltstandards; sie sorgen für gute
Arbeitsbedingungen und verzichten auf Korruption.

Gesellschaft

Umwelt Wirtschaft
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

UNO verhilft Corporate Social


Responsibility zum Durchbruch
Spätestens seit die UNO vor sechs Jahren ihre Leitprinzipien zu Wirtschaft und Men-
schenrechten verabschiedet hat, ist Corporate Social Responsibility (CSR) mehr als ein
Schlagwort. Viele Staaten setzen das Konzept in Aktionsplänen um – darunter auch die
Schweiz.  Christine Kaufmann

Abstract    Ein modernes Verständnis der gesellschaftlichen Verantwor-


Belange und Umweltbelange in ihre Unterneh-
tung von Unternehmen (CSR), wie es vom UNO-Menschenrechtsrat mit menstätigkeit (…) zu integrieren.»
den Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte 2011 definiert wur- Heute haben sich die Spielregeln für Unter-
de, bezieht die Auswirkungen unternehmerischen Handelns auf die ge- nehmen geändert. An die Stelle der Gewinn-
samte Gesellschaft mit ein und beruht nicht auf Freiwilligkeit, sondern auf maximierung als einzigem Kriterium sind die
der Verantwortung von Staat und Unternehmen. Verschiedene Staaten Auswirkungen unternehmerischen Handelns
und die EU haben rechtsverbindliche Bestimmungen zu CSR eingeführt,
auf die ganze Gesellschaft und damit alle An-
die sich an den UNO-Leitprinzipien orientieren. Die Schweiz verfügt mit
einem CSR-Positionspapier und einem Nationalen Aktionsplan zu Wirt- spruchsgruppen – nicht nur die Aktionäre –
schaft und Menschenrechten über zwei neue Instrumente, welche auf die ­getreten.
Selbstinitiative der Wirtschaft fokussieren. Eine spezifische CSR-Gesetz-
gebung kennt die Schweiz hingegen nicht. Die Diskussion über rechtlich
bindende Massnahmen ist deshalb noch zu führen, besonders im Hinblick
UNO-Leitprinzipien als Meilenstein
auf die hängige Konzernverantwortungsinitiative. Dass gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Fortschritt eng miteinander verbunden sind,
ist unbestritten. Was heisst Corporate Soci-

D  ie Diskussion um die gesellschaftliche Ver-


antwortung von Unternehmen (CSR), etwa
im Zusammenhang mit Vergütungen oder Akti-
al Responsibility jedoch konkret? Diesbezügli-
che Diskussionen in der UNO verliefen während
Jahrzehnten ergebnislos. Erst 2011 verabschie-
vitäten in Konfliktgebieten, ist nicht neu. Bereits dete der UNO-Menschenrechtsrat einstimmig
in den Sechzigerjahren wurde die Frage aufge- eine Definition in Form von 31 Leitprinzipien zu
worfen, ob Unternehmen ihre Aktivitäten dar- Wirtschaft und Menschenrechten und setzte
auf ausrichten sollten, möglichst sozialverträg- damit einen Meilenstein. Die Leitprinzipien sind
lich zu sein. Der amerikanische Ökonom Milton das Ergebnis eines sechsjährigen intensiven
Friedman verneinte dies 1962, indem er sagte: Austauschs zwischen Staaten, Unternehmen
«Die soziale Verantwortung der Unternehmen und der Zivilgesellschaft unter der Vermittlung
besteht darin, den Gewinn zu steigern.» Er füg- des UNO-Sonderbeauftragten für Unterneh-
te bei, dass sich Unternehmen dabei an die gel- men und Menschenrechte John Ruggie.
tenden Spielregeln zu halten haben. Gegen ein Die Leitprinzipien beruhen auf drei Pfeilern.
freiwilliges soziales Engagement hatte der No- Sie sind ergebnisorientiert und wollen die men-
belpreisträger jedoch nichts einzuwenden – so- schenrechtliche Situation für die Betroffenen
lange der Shareholder-Value nicht gefährdet verbessern sowie dieses Ziel mit einer Mischung
wurde. («smart mix») von verbindlichen und nicht ver-
Ein solches Verständnis von CSR war lange bindlichen Regeln erreichen.
Zeit vorherrschend. Es zeigte sich zum Beispiel Der erste Pfeiler – die Schutzpflicht – rich-
in der Definition der Europäischen Kommission tet sich an den Staat und stützt sich auf die in
von 2001, wonach CSR ein Konzept für Unter- verschiedenen Menschenrechtsverträgen ver-
nehmen sei, um «auf freiwilliger Basis soziale ankerte völkerrechtliche Pflicht der Staaten, die

6  Die Volkswirtschaft  7 / 2017
FOKUS

Corporate Social Responsibility beginnt


am Anfang einer Wertschöpfungskette:
Fair-Trade-Baumwolle in Indien.
KEYSTONE
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Menschenrechte vor Verletzungen durch Dritte an den UNO-Leitprinzipien und deren Anfor-
und damit auch durch Unternehmen zu schüt- derungen an die Sorgfaltspflicht orientieren.
zen. Staaten sollen unter anderem eine Unter- So müssen britische Unternehmen zum Bei-
nehmenskultur fördern, in der die Achtung der spiel eine von einem Geschäftsleitungsmitglied
Menschenrechte zu einem integralen Bestand- unterzeichnete Erklärung über die von ihnen
teil der Geschäftstätigkeit wird. getroffenen Massnahmen zur Verhinderung
Die zweite Säule richtet sich an Unterneh- von modernen Formen der Zwangsarbeit abge-
men, welche verantwortlich sind, bei ihrer Ge- ben.2 Und in Frankreich verpflichtet ein neues
schäftstätigkeit die Menschenrechte zu ach- Gesetz grössere Unternehmen zu menschen-
ten. Dazu gehören ein unternehmensweites rechts- und umweltschutzbezogenen Sorgfalts-
Bekenntnis zu den Menschenrechten, eine Ein- pflichten sowohl bei ihren eigenen Aktivitäten
schätzung, wie sich unternehmerische Aktivi- als auch denen ihrer Töchter und von ihnen kon-
täten auf Menschenrechte auswirken können, trollierten Unternehmen.3 In den Niederlanden
und eine sorgfältige Geschäftsführung, welche sollen Firmen sicherstellen, dass in ihrer Liefer-
die Menschenrechte miteinbezieht. kette keine Kinderarbeit auftritt.4 Schliesslich
Die dritte Säule betrifft den Zugang zu Streit- nehmen auch verschiedene von Unternehmen
schlichtungs- und Wiedergutmachungsmecha- und Branchen lancierte Initiativen auf die UNO-
nismen. Staaten und Unternehmen teilen sich Leitprinzipien Bezug. Dazu zählen beispielswei-
die Verantwortung, Opfern von Menschen- se die Arbeiten der Thun-Gruppe der Banken.5
rechtsverletzungen wirksame Mittel für eine Be-
schwerde oder Wiedergutmachung in Form von Bundesrat unternimmt Schritte
gerichtlichen oder aussergerichtlichen, staatli-
chen oder nicht-staatlichen Verfahren zu geben. Die Schweiz engagiert sich seit langem in ver-
1 Richtlinie 2014/95/ schiedenen Bereichen der sozialen Unterneh-
EU, 22. Oktober 2014;
Globale Ausstrahlung COM(2014)0111, mensverantwortung, kennt aber keine CSR-
C7-0092/2014, spezifische Gesetzgebung. In den letzten zwei
2014/0059(COD),
Der pragmatische und gleichzeitig prinzipien- Verordnungsentwurf. Jahren unternahm der Bundesrat jedoch wichti-
2 Modern Slavery Act
orientierte Ansatz der UNO-Leitprinzipien hat von 2015. ge Schritte zur Umsetzung eines modernen Ver-
sich national und international rasant verbrei- 3 Loi 2017-399, ständnisses der gesellschaftlichen Verantwor-
März 2017.
tet. Heute gelten die Leitprinzipien als der wich- 4 Wet zorgplicht kin- tung von Unternehmen und setzte dabei den
derabeid, No. 34 506
tigste international anerkannte CSR-Standard (2016-2017). Die Zu-
Akzent auf die Selbstinitiative der Wirtschaft.6
im Bereich Menschenrechte. So entschied sich stimmung des Senats So verabschiedete er im Frühling 2015 das Posi-
war bei der Druckle-
zum Beispiel die Organisation für wirtschaftli- gung noch ausstehend. tionspapier «Gesellschaftliche Verantwortung
5 Vgl. Beitrag von
che Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), Christian Leitz (UBS)
von Unternehmen», welches auch einen Ak-
in ihren eigenen Leitsätzen für multinationale auf Seite 32. tionsplan enthält.7 Der Bundesrat definiert da-
6 Vgl. Beitrag von
Unternehmen ein spezielles Menschenrechts- Seco-Direktorin rin CSR als Verantwortung von Unternehmen
kapitel aufzunehmen, das direkt auf die Leit- Marie-Gabrielle für die Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Gesell-
Ineichen-Fleisch auf
prinzipien Bezug nimmt. Seite 10. schaft und Umwelt. Der Aktionsplan listet lau-
7 Bundesrat, Gesell-
Verschiedene neue EU-Regelungen stützen schaftliche Verantwor- fende und zukünftige Aktivitäten des Bundes
sich ebenfalls auf die UNO-Leitprinzipien. Dazu tung von Unterneh-
men, Positionspapier,
zur Umsetzung von CSR anhand von folgenden
zählen zum Beispiel die Richtlinie über die Of- 1. April 2015. vier Strategien auf:
fenlegung nicht-finanzieller Informationen und
eine geplante Verordnung des Europäischen
BUNDESRAT (2016), BERICHT ÜBER DIE SCHWEIZER
STRATEGIE ZUR UMSETZUNG DER UNO-LEIT-
PRINZIPIEN FÜR WIRTSCHAFT UND MENSCHEN-

Nationaler Aktionsplan zu Unternehmen und Menschenrechten


Parlaments zu Konfliktrohstoffen.1 Die künftige
Der Nationale Aktionsplan des Bundesrats –– Aufklärung, Sensibilisierung und Zusam-
Regelung verpflichtet die Importeure von Gold, menarbeit mit den Unternehmen;
konzentriert sich auf die staatlichen Pflich-
Tantal, Wolfram und Zinn zu prüfen, ob sie mit ten, die Menschenrechte zu schützen und –– Verbesserung der Kohärenz staatlicher
Aktivitäten.
ihren Aktivitäten bewaffnete Konflikte oder für wirksame Beschwerde- und Wiedergut-
RECHTE, 9. DEZEMBER.

Zur Umsetzung dieser Ziele listet der Ak-


Menschenrechtsverletzungen unterstützen. machungsinstrumente zu sorgen. Er setzt
sich folgende Ziele: tionsplan 50 bestehende respektive vorge-
Verschiedene Länder haben kürzlich gesetz- –– Kommunikation der Erwartungen des sehene Politikinstrumente auf.
liche Bestimmungen zu CSR erlassen, die sich Bundesrats an die Unternehmen;

8  Die Volkswirtschaft  7 / 2017
FOKUS

Hat sich nach lan-


gen Diskussionen
auf Leitprinzipien
zu Wirtschaft und
Menschenrechten
geeinigt: Der UNO-

KEYSTONE
Menschenrechtsrat
in Genf.

–– Mitgestalten der CSR-Rahmenbedingungen; len auf die Selbstinitiative von Unternehmen.


–– Sensibilisieren und Unterstützen der Schwei- Die zwei Instrumente sollen sich gegenseitig
zer Unternehmen bei der Umsetzung der CSR; ergänzen und nach dem Willen des Bundesra-
–– Stärken der CSR in Entwicklungs- und Tran- tes einen kohärenten Rahmen für eine verant-
sitionsländern; wortungsvolle Unternehmenstätigkeit setzen.
–– Fördern der Transparenz von CSR-Aktivitä- Daher ist in der Schweiz die Diskussion über
ten. rechtlich verbindliche Massnahmen, wie sie in
verschiedenen Ländern bestehen und von der
Den zweiten wichtigen Schritt unternahm hängigen Konzernverantwortungsinitiative ge-
der Bundesrat im vergangenen Dezember, in- fordert werden, noch zu führen.
dem er einen Nationalen Aktionsplan zur Um-
setzung der UNO-Leitprinzipien zu Wirtschaft
und Menschenrechten definierte (siehe Kasten).
Darin bringt er seine Erwartung zum Ausdruck,
dass Unternehmen «in der Schweiz und über-
all, wo sie tätig sind, ihrer menschenrechtlichen
Verantwortung nachkommen».
Weder das CSR-Positionspapier noch der Christine Kaufmann
Nationale Aktionsplan sehen allerdings neue Professorin für öffentliches Recht, Völker- und
Europarecht, Universität Zürich
rechtsverbindliche Massnahmen vor; beide zäh-

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  9
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Corporate Social Responsibility –


die Rolle des Bundes
Der Bund setzt sich für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung ein. Dazu stützt
er sich auf die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen und nimmt selber eine
Vorbildrolle ein.  Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

Abstract  In der Schweiz sind Nutzen und Bedeutung der Corporate Social
dem gesetzlichen Datenschutz, sondern auch
Responsibility (CSR) anerkannt. Die diesbezüglichen Aktivitäten des Bun- mit sich ändernden Werthaltungen und Kun-
des wurden in den vergangenen Jahren in zwei Grundlagenberichten syste- denbedürfnissen auseinandersetzen.
matisch aufgearbeitet und auf die Zukunft ausgerichtet. So verabschiede-
te der Bundesrat im Jahr 2015 ein CSR-Positionspapier und 2016 erarbeitete
er einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UNO-Leitprinzipien zu Positionspapier des Bundesrates
Wirtschaft und Menschenrechten. Namentlich setzt der Bund Rahmenbe-
Der Bund engagiert sich seit langem für Corpo-
dingungen, übernimmt eine Vorbildrolle bei seinen eigenen Aktivitäten
und unterstützt Unternehmen bei der Wahrnehmung der CSR. Die Schwei- rate Social Responsibility. Bereits in den Neun-
zer Wirtschaft hat gute Voraussetzungen, um die Herausforderungen der zigerjahren hat er beispielsweise Fairtrade-Ini-
Zukunft zu meistern. tiativen unterstützt und im Jahr 2000 richtete
er den Nationalen Kontaktpunkt für die Leitsät-
ze der Organisation für wirtschaftliche Zusam-

G  esellschaft und Politik erwarten von Unter-


nehmen, dass sie bei ihrer Geschäftstätig-
keit im In- und Ausland verantwortungsvoll
menarbeit und Entwicklung (OECD) für multi-
nationale Unternehmen ein.1
In den vergangenen zwei Jahren hat der
handeln. Zur gesellschaftlichen Verantwortung Bundesrat das bestehende Engagement in zwei
der Unternehmen (Corporate Social Responsi- Grundlagenberichten systematisch aufgearbei-
bility, CSR) gehören unter anderem fortschritt- tet und strategisch auf die Zukunft ausgerich-
liche Arbeitsbedingungen, die Einhaltung von tet. So hat er im Jahr 2015 ein Positionspapier
Umweltstandards, die Achtung der Menschen- zur Verantwortung der Unternehmen für Ge-
rechte, der Verzicht auf Korruption und Täu- sellschaft und Umwelt verabschiedet, das einen
schung der Konsumenten. Heutzutage reagiert Aktionsplan beinhaltet. Dieses sogenannte CSR-
die Öffentlichkeit – nicht zuletzt über Social Positionspapier legt die Ziele, die Erwartungen
Media – schneller und vehementer auf vermute- und das Verständnis des Bundes in Bezug auf die
te oder tatsächliche Verstösse gegen die Grund- gesellschaftliche Verantwortung der Unterneh-
sätze der CSR. Beim langfristigen Streben nach men gegenüber Gesellschaft und Umwelt dar.
Gewinn spielen Nachhaltigkeitsaspekte somit Die CSR bezieht sich auf die gesamte Tätigkeit
eine wichtige Rolle. eines Unternehmens im In- und Ausland. Sie
Da die gesellschaftliche Verantwortung über berücksichtigt die Interessen der Anspruchs-
die Einhaltung der Gesetze hinausgeht, gilt gruppen und umfasst Arbeitsbedingungen,
es neben der Legalität auch international an- Menschenrechte, Umweltschutz, Korruptions-
erkannte Standards zu beachten. Der stete ge- prävention, fairen Wettbewerb, Verbraucherin-
sellschaftliche und technologische Wandel teressen, Steuern und Transparenz.
stellt Unternehmen vor Herausforderungen: In-
wieweit akzeptieren die Kunden beispielswei- Vier Stossrichtungen
1 S iehe dazu Beitrag von
Lukas Siegenthaler, se das Sammeln und Nutzen von persönlichen
Alexander Kunze und Daten? Um Antworten auf solche Fragen zu fin- Zur Förderung der CSR verfolgt der Bund vier
Nadja Meier (Seco) auf
Seite 16. den, müssen sich Unternehmen nicht nur mit strategische Stossrichtungen. Erstens setzt er

10  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

KEYSTONE
Der Bund setzt sich
bei Unternehmen für
sich für die Gestaltung von Rahmenbedingun- Corporate Social Re- Im Sinne einer Vorbildrolle beachtet der Bund
gen ein, zweitens sensibilisiert und unterstützt sponsibility ein: Bun- bei seinen eigenen Aktivitäten als Arbeitgeber,
er Schweizer Unternehmen bei der Umsetzung desrat Johann Schnei- Beschaffer, Anleger und Unternehmenseigentü-
der-Ammann (l.) mit
der CSR. Drittens stärkt er die CSR in Entwi- damaligem Nestlé-
mer die CSR-Kriterien. So handelt der Bund bei-
cklungs- und Transitionsländern, und viertens Chef Paul Bulcke (m.) spielsweise als fortschrittlicher Arbeitgeber mit
fördert er die Transparenz von CSR-Aktivitäten. und Fabrikdirektor marktgerechten Anstellungsbedingungen, gu-
Konkret unterstützt der Bund internatio- Olivier Michaud in ten Instrumenten zur Vereinbarkeit von Beruf
Konolfingen BE.
nale Organisationen wie die UNO und die und Privatleben und ­Chancengleichheit sowie
OECD aktiv – zum Beispiel bei der Erarbeitung fortschrittlichen Aus- und Weiterbildungsmög-
von branchenspezifischen OECD-Instrumen- lichkeiten.2 Im Rahmen der ­ wirtschaftlichen
ten zur verantwortungsvollen Unternehmens- Entwicklungszusammenarbeit fliessen CSR-
führung für den Finanz-, den Textil-, den Roh- Kriterien in die Förderung von nachhaltigen
stoff- und den Landwirtschaftssektor. Weiter Wertschöpfungsketten – zum Beispiel im Ka-
referieren Bundesvertreter regelmässig an öf- kao-, Gold- und Textilsektor – ein. Bezüglich
fentlichen Anlässen zu CSR-Themen und neh- Transparenz fördert der Bund unter anderem
men an Dialogforen wie dem «Swiss Global die unternehmerische Nachhaltigkeitsbericht-
Compact Dialogue on Responsible Business» erstattung, was zur Glaubwürdigkeit der CSR-
teil. Dieses im Februar 2017 mit Unterstützung Massnahmen, zur Verbreitung guter Praktiken
des Bundes erstmals durchgeführte Forum und zum Dialog von Unternehmen mit deren
wurde vom Schweizer Netzwerk «Global Com- Anspruchsgruppen beiträgt.
pact» organisiert und zählte rund 200 Teilneh-
mende. Im März hat das Staatssekretariat für Nationaler Aktionsplan zu Wirt-
Wirtschaft (Seco) zudem das Webportal Csr. 2 S iehe Urs Bolz und Pas-
cal Lüthi (2017). Corpo-
schaft und Menschenrechten
admin.ch eingerichtet. Es bietet Anwendungs- rate Social Responsibi-
hilfen für Unternehmen sowie Informationen lity (CSR): Der Bund als Den zweiten Bericht verabschiedete der Bun-
Vorbild? – Eine Ausle-
zum Engagement des Bundes, zu internatio- geordnung, Studie im desrat im Dezember 2016. Er enthält einen Na-
nalen Entwicklungen und zu branchenspezifi- Auftrag des das Bun- tionalen Aktionsplan zur Umsetzungsstrate-
desamtes für Raument-
schen Instrumenten. wicklung (ARE). gie der UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  11
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Menschenrechte. Die vom Menschenrechtsrat einbarkeit von Privatleben und Beruf anbieten,
im Juni 2011 beschlossenen UNO-Leitprinzipien Aus- und Weiterbildung fördern und die Um-
für Wirtschaft und Menschenrechte beruhen welt schonen.
auf drei Pfeilern: Zukünftige Herausforderungen stehen etwa
–– die Pflicht der Staaten, die Menschenrechte im Zusammenhang mit gesellschaftlichen oder
zu schützen; demografischen Entwicklungen im Arbeitsle-
–– die Verantwortung der Unternehmen; ben. Konkret geht es dabei um die Vereinbarkeit
–– angemessene und wirksame Beschwerdever- von Privatleben und Beruf oder um den Umgang
fahren bei Fällen von Menschenrechtsverlet- mit älteren Mitarbeitenden. Weiter verändern
zungen durch wirtschaftliche Akteure. sich im Zuge der Digitalisierung sowohl die Ge-
schäftsmodelle als auch die Kundenbedürfnis-
Die Schweiz gehört zu den ersten Ländern, se: Der Onlinehandel bietet neue, direkte inter-
die über eine Strategie zur Umsetzung der nationale Beschaffungs- und Absatzkanäle mit
UNO-Leitprinzipien und zur Förderung der Ko- grossen Chancen für Produzenten, Händler und
härenz von wirtschaftlichen Aktivitäten und Kunden. Dabei gilt es aber zu klären, inwieweit
Menschenrechten verfügen. Die Strategie kon- CSR-Standards auch bei diesen Geschäftsmo-
zentriert sich auf den ersten Pfeiler: die Verant- dellen gebührend berücksichtigt und überprüft
wortung des Staates. Der Nationale Aktions- werden können. Schliesslich werden die Wert-
plan enthält fünfzig Instrumente zur Förderung schöpfungsketten immer komplexer – was ins-
der Einhaltung der Menschenrechte durch den besondere für KMU bei der Berücksichtigung
Bund und durch Schweizer Unternehmen, die von Nachhaltigkeitskriterien im Beschaffungs-
im In- und Ausland tätig sind, sowie zur Wieder- prozess eine grosse Herausforderung darstellt.
gutmachung von Menschenrechtsverletzungen. Die Schweizer Wirtschaft hat gute Voraus-
Dazu gehören beispielsweise das Einbringen der setzungen, um diese Herausforderungen zu
Thematik Unternehmen und Menschenrechte meistern und neue Chancen zu nutzen. Eine
im Rahmen politischer Konsultationen mit an- wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche
deren Staaten oder die Information und Sensi- Umsetzung der CSR auf Unternehmensebene ist
bilisierung von Unternehmen durch Schweizer die Vorbildrolle des Managements, dessen Dia-
Auslandvertretungen. logbereitschaft und die Integration der CSR in
die Unternehmenskultur. Eine verantwortungs-
Gewappnet für zukünftige Heraus- volle Unternehmensführung kommt letztlich
allen zugute: den Firmen, den Betroffenen und
forderungen
der Umwelt.
Die meisten Schweizer Unternehmen nehmen
ihre gesellschaftliche Verantwortung bereits
heute wahr. Insbesondere grössere Unterneh-
men orientieren sich dabei an internationalen
CSR-Richtlinien wie den OECD-Leitsätzen für
multinationale Unternehmen oder den UNO-
Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschen-
rechte. Aber auch KMU, die ihr Handeln oft
nicht explizit als CSR benennen, verhalten sich Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch
verantwortungsvoll, indem sie unter anderem Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco),
Bern
Arbeitsplätze schaffen, Möglichkeiten zur Ver-

12  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Schrittweise Ausweitung der


OECD-Standards
Bereits 47 Staaten haben die OECD-Leitsätze für eine verantwortungsvolle Unterneh-
mensführung unterzeichnet. Nun gilt es, die Standards flächendeckend durchzusetzen –
­insbesondere in Afrika, Asien und Lateinamerika.  Roel Nieuwenkamp

bemühungen in dieser Hinsicht eine führende


Abstract    Die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen sind ein
weltweiter Standard für verantwortungsvolle Unternehmensführung. Rolle.
Aufgrund eines Beschwerdeverfahrens durch sogenannte Nationalen Kon- Ein wichtiges Instrument sind die OECD-
taktpunkte geht ihre Reichweite deutlich über die 47 Teilnehmerstaaten Leitsätze für multinationale Unternehmen –
hinaus. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- ein multilaterales Abkommen, das spezifische
wicklung (OECD) arbeitet darauf hin, dass hinsichtlich der verantwor- Empfehlungen und Richtlinien zur verantwor-
tungsvollen Unternehmensführung weltweit für alle die gleichen Spielre- tungsvollen Unternehmensführung gibt (siehe
geln gelten. Mit diesem Ziel vor Augen hat sie in Asien und Afrika mit ihren
sektorspezifischen Leitlinien für verantwortungsvolle Wertschöpfungs-
Kasten). Die 47 Unterzeichnerstaaten decken die
ketten sowie ihren politischen Analysen und Beratungen für Nicht-OECD- grosse Mehrheit der globalen Wertschöpfungs-
Länder konkrete Fortschritte verzeichnet. Damit die Unternehmen auch ketten ab und umfassen nicht nur die 35 OECD-
wirklich weltweit Verantwortung übernehmen, müssen die Bemühungen Mitglieder, sondern auch Staaten wie Argenti-
aber noch weiter gehen. nien, Brasilien, Costa Rica, Kolumbien, Marokko
und die Ukraine.
Im Jahr 2016 feierten die Leitsätze ihr 40-jäh-

I  m Interesse der Gesellschaft als Ganzes, men-


schenwürdiger Arbeit, der Menschenrechte
und einer sauberen Umwelt braucht es globa-
riges Bestehen. Sie sind weltweit das wichtigste
Instrument für verantwortungsvolle Unterneh-
mensführung und ein Massstab für die Einhal-
le Standards zur verantwortungsvollen Unter- tung sozialer und ökologischer Standards im
nehmensführung. Dies ist auch im Interesse internationalen Handels- und Investitionsum-
der Unternehmen – schliesslich sind diese welt- feld. Überdies sind sie ein wichtiges Hilfsmit-
weit in denselben Märkten tätig und auf gleiche tel zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele der
Spielregeln angewiesen. UNO (SDGs). Im gesamten SDG-Bereich dienen
Die Organisation für wirtschaftliche Zusam- die OECD-Leitsätze der Steuerung unterneh-
menarbeit und Entwicklung (OECD) setzt sich merischen Handelns, nicht nur im Hinblick auf
über Kontakte zu Regierungen und Unterneh- eine Maximierung der positiven Auswirkungen
men weltweit stark für die Vereinheitlichung für eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung,
1 Siehe Beitrag von Lukas der Wettbewerbsbedingungen ein. Die OECD- sondern auch zur Vermeidung nachteiliger Fol-
Siegenthaler, Alexan- Mitgliedsländer übernehmen aufgrund ihrer gen von Tätigkeiten des Privatsektors.
der Kunze, Nadja Meier
(Seco) auf Seite 16. bilateralen Kooperationen und Finanzierungs- Die Unterzeichnerstaaten der OECD-Leit-
sätze haben sich zu einer Arbeitsgruppe zusam-
mengeschlossen. Um Probleme zu lösen, haben
OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen
sie sogenannte Nationale Kontaktpunkte einge-
Die OECD-Leitsätze für multinationale Wettbewerbspolitik und Steuern. Die im
Unternehmen behandeln die verantwor- Jahr 2011 letztmals aktualisierten Leitsätze
richtet, welche als Vermittlungs- und Schlich-
tungsvolle Unternehmensführung und sind sind Empfehlungen und somit nicht rechts- tungsstellen fungieren.1 Die Kontaktpunkte be-
in thematische Kapitel unterteilt. Diese be- verbindlich. Eine Zusammenfassung ist handeln Beschwerden aus der Zivilgesellschaft,
treffen die Transparenz gegenüber Öffent- ­abrufbar unter Seco.admin.ch. Der über
namentlich von Gewerkschaften und anderen
lichkeit, Menschenrechte, Arbeitsrechte, 90 Seiten umfassende Gesamttext ist in
Umweltstandards, Korruptionsbekämp- mehreren Sprachen unter www.oecd.org/ interessierten Parteien, wenn Unternehmen
fung, Konsumentenschutz, Forschung, corporate/mne aufgeschaltet. gegen die Leitsätze verstossen. Sie bieten dabei

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  13
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

KEYSTONE
Die OECD will ihre
Standards auf Asien
Vermittlungsdienste an. Ist dies nicht möglich, ausweiten. Inspektor Fokus auf Branchen
unterbreiten sie dem Unternehmen Empfehlun- in vietnamesischer
gen, wie es seine Praktiken mit den OECD-Leit- Textilfabrik. Allerdings wird der Nutzen dieser Standards in-
sätzen in Einklang bringen kann. In rund der frage gestellt, weil insbesondere einige asiati-
Hälfte der behandelten Fälle wird durch die Ver- sche und afrikanische Firmen diese nicht res-
mittlung unter den Parteien eine Übereinkunft pektieren. Deshalb setzt sich die OECD für eine
erzielt. Das Kontaktpunktesystem ist weltweit Ausweitung der Leitlinien ein.
aktiv, denn die Fälle betreffen oft auch Nicht- Auf Branchenebene gibt es bereits konkrete
mitgliedstaaten der OECD wie beispielsweise Erfolge vorzuweisen. So verabschiedete C ­ hina
Bangladesch, Kambodscha oder Kamerun. 2015 im Rohstoffbereich die Chinese Due Dili-
Ebenso wichtig wie die Problemlösung ist gence Guidelines for Responsible Supply Chains
die Vorbeugung. Um den Unternehmen dabei zu of Minerals, die mit Unterstützung der OECD
helfen, die Verantwortung für ihre Wertschöp- und auf Basis der OECD-Leitsätze für den Be-
fungsketten wahrzunehmen und anspruchs- reich Mineralien entwickelt wurden. Einige
volle Herausforderungen einzelner Sektoren Nichtunterzeichnerstaaten, die Rohstoffe ab-
und Kontexte anzugehen, wurden sektorspezi- bauen – insbesondere Burundi, die Demokrati-
fische Leitlinien für verantwortungsvolle Wert- sche Republik Kongo und Ruanda – haben die
schöpfungsketten in der Mineralienindustrie, Leitsätze in ihre Gesetzgebung aufgenommen.
der Landwirtschaft, der Rohstoffindustrie so- Auch die Responsible Cobalt Initiative, die
wie in der Bekleidungs- und Schuhindustrie for- auf bessere Arbeitsbedingungen in Kobaltmi-
muliert. nen abzielt, stützt sich auf die OECD-Leitsätze.

14  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Die chinesische Handelskammer für den Import Georgien, in Vietnam, in Laos, in Kambodscha
und Export von Metallen, Mineralien und Che- und auf den Philippinen jeweils ein Kapitel zur
mikalien hat diese im November 2016 gemein- verantwortungsvollen Unternehmensführung.
sam mit der OECD ausgearbeitet. In diesen Kapiteln werden nationale Initiativen
Ähnliche Fortschritte wurden bei der För- und politische Strategien untersucht und Emp-
derung von verantwortungsvollen Wertschöp- fehlungen zur Schaffung eines günstigen Um-
fungsketten in der Bekleidungs- und Schuh- felds für die unternehmerische Verantwortung
industrie erzielt. Auch hier bilden die kürzlich gegeben. Um das Bewusstsein zu schärfen und
veröffentlichten OECD-Leitlinien die Basis. Im Regierungen, Unternehmen und andere Akteu-
vergangenen Dezember organisierten die OECD, re mit den Leitsätzen vertraut zu machen, wur-
die EU und das kambodschanische Ministerium den in diesen Ländern Workshops durchge-
für Arbeit und Berufsbildung gemeinsam einen führt.
politischen Dialog über Sorgfaltspflichten in Ein gemeinsames Programm von EU, OECD
dieser Branche und ebneten damit den Weg für und der internationalen Arbeitsorganisation
die mögliche Lancierung eines Pilotprojekts zur (ILO) zu verantwortungsvollen Wertschöpfungs-
Einführung der Leitsätze in Kambodscha. ketten legt den Fokus in den nächsten drei Jahren
Schliesslich war der chinesische Textil- und weiter auf Asien. In enger Zusammenarbeit mit
Bekleidungsrat (CNTAC) als aktives Mitglied den Behörden der Zielländer und der ILO wird die
in der Beratungsgruppe zur Entwicklung der OECD mit China, Thailand, Vietnam, den Philip-
OECD-Leitsätze ebenfalls vertreten. Die Leit- pinen und Myanmar – allesamt Nicht-OECD-Mit-
sätze werden derzeit ins Chinesische übersetzt glieder – an der Förderung verantwortungsvoller
und die OECD arbeitet mit dem CNTAC an der Unternehmensführung arbeiten.
Entwicklung spezifischer Leitlinien für den chi- Wie sich zeigt, hat insbesondere die sek-
nesischen Kontext. torielle Ausweitung auf die Wertschöpfungsket-
ten der Mineralien- und Bekleidungsindustrie
Ausweitung auf Regierungen zu konkreten Ergebnissen geführt. Auf diesen
Erfolgen muss daher weiter aufgebaut werden.
Ein wichtiger Schritt hin zu einheitlichen Stan-
dards ist die Ausweitung der formellen Anwen-
dung der Leitsätze auf Nicht-OECD-Länder
– insbesondere in Lateinamerika. Auch mit wei-
teren wichtigen globalen Wirtschaftsakteuren
arbeitet die OECD intensiv zusammen. So geht
das Arbeitsprogramm OECD-China 2017–2018
beispielsweise ausführlich auf die Kooperation
im Bereich der verantwortungsvollen Unterneh- Roel Nieuwenkamp
mensführung ein. Zudem enthalten die neusten Prof. Dr., Vorsitzender der OECD-Arbeitsgruppe zu ver-
antwortungsvoller Unternehmensführung, Paris
OECD-Berichte über die Investitionspolitik in

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  15
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Nationaler Kontaktpunkt
fördert die verantwortungsvolle
Unternehmensführung
Setzen multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz die OECD-Leitsätze für eine
verantwortungsvolle Unternehmensführung um? Dieser Fragestellung widmet sich der
im Seco angesiedelte Nationale Kontaktpunkt. Im Fokus stand jüngst beispielsweise die
Fifa.  Lukas Siegenthaler, Alexander Kunze, Nadja Meier

Abstract  Bei den OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen han- Die Aufgabe des NKP ist es, die Leitsätze bei
delt es sich um einen umfassenden Verhaltenskodex für eine verantwor- den Unternehmen bekannt zu machen und de-
tungsvolle Unternehmensführung. In der Schweiz fördert der Nationale ren Anwendung zu fördern. Interessengruppen
Kontaktpunkt (NKP), dessen Sekretariat sich im Staatssekretariat für Wirt- oder Einzelpersonen können beim NKP vermu-
schaft befindet, die Umsetzung dieser Empfehlungen durch die Unterneh- tete Verstösse gegen die Leitsätze melden, wor-
men. Werden dem NKP vermutete Verstösse gegen die Leitsätze gemel- auf dieser ein Schlichtungsverfahren anbieten
det, kann er ein Schlichtungsverfahren anbieten. Der NKP behandelte in den
kann. Eingaben sind grundsätzlich beim NKP je-
letzten Jahren vermehrt komplexe Eingaben wie jene zur Fifa-Fussballwelt-
meisterschaft 2022 in Katar. Der im April 2017 veröffentlichte OECD-Bericht nes Landes einzureichen, in dem der mutmass-
zur Länderprüfung stellt dem NKP ein gutes Zeugnis aus und anerkennt des- liche Verstoss stattgefunden hat. Ist dieses Land
sen professionelle Arbeitsweise. kein Unterzeichnerstaat der Leitsätze, kann die
Eingabe im Land des Hauptsitzes des multina-
tionalen Unternehmens eingereicht werden.

D  ie Organisation für wirtschaftliche Zusam-


menarbeit und Entwicklung (OECD) hat
1976 einen Verhaltenskodex für multinationale
Ziel des Schweizer NKP bei der Behandlung
von Eingaben ist, dass sich die Parteien in einem
Mediationsverfahren auf eine zukunftsorien-
Unternehmen erarbeitet.1 Die letztmals im Jahr tierte und mit den Leitsätzen vereinbare Lösung
2011 aktualisierten Leitsätze sind die weltweit einigen. Der NKP agiert dabei – oft unter Bei-
umfassendsten multilateralen Verhaltensnor- zug eines externen Mediators – als Vermittler.
men für eine verantwortungsvolle Unterneh- Er ist also keine quasi-richterliche Instanz, die
mensführung (Corporate Social Responsibility, darüber urteilt, ob die Leitsätze verletzt worden
CSR). Sie stellen Empfehlungen der Regierungen sind. Mit Blick auf die für eine erfolgreiche Me-
der 35 OECD-Mitglieder sowie 12 weiterer Staa- diation wichtige Vertrauensbildung zwischen
ten an die Unternehmen dar und finden überall den Parteien findet das Vermittlungsverfahren
dort Anwendung, wo diese ihre Geschäftstätig- unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.   Der
keit ausüben (siehe Abbildung). NKP veröffentlicht jedoch einen begründeten
Die OECD-Leitsätze beziehen sich beispiels- Entscheid, ob er auf eine Eingabe eintritt, und
1 Abrufbar unter Mne-
guidelines.oecd.org
weise auf das Unternehmensverhalten in Be- nach einer erfolgten Mediation veröffentlicht er
2 In der Schweiz sind Or- reichen wie Arbeitsbeziehungen, Umwelt, Men- einen Abschlussbericht.
ganisation und Zustän-
digkeit des NKP seit schenrechte oder Korruptionsbekämpfung. Die Für die Behandlung jeder Eingabe setzt der
2013 in einer Verord-
nung des Bundesrates
Unterzeichnerstaaten der Leitsätze sind ver- NKP eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der von
geregelt, siehe Seco. pflichtet, einen Nationalen Kontaktpunkt (NKP) der Thematik des jeweiligen Falls betroffenen
admin.ch/nkp; siehe
auch Beitrag von Seco- einzurichten. In der Schweiz ist das Sekretariat und über entsprechendes Fachwissen verfügen-
Direktorin Marie-
Gabrielle Ineichen-
des NKP im Staatssekretariat für Wirtschaft den Bundesstellen ein. Bei seiner strategischen
Fleisch auf Seite 10. (Seco) angesiedelt.2 Ausrichtung und Anwendung der Leitsätze wird

16  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Im Fokus des Nationalen


Kontaktpunkts: Stadion-Baustelle
in Katar, Austragungsort der
Fussball-WM 2022.
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Geografische Bedeutung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen (2016)

OECD (2015) / SHUTTERSTOCK / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


  Unterzeichnerstaaten der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die zugleich Gaststaaten der von den NKP-Eingaben betroffenen Unternehmensaktivitäten sind     
  Unterzeichnerstaaten der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen     
  Staaten im Prozess der Unterzeichnung der OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen 
  Gaststaaten der von den NKP-Eingaben betroffenen Unternehmensaktivitäten  

Bis Ende 2016 behandelten die Nationalen Kontaktpunkte insgesamt über 400 Eingaben, welche Unternehmensaktivitäten in über 100 Ländern be-
trafen.

der NKP von einem Beirat beraten. Dieser be- Sportorganisationen sowie auf NGOs zu befin-
steht aus der Seco-Direktorin Marie-Gabrielle den. Bei Eingaben zum Weltfussballverband
Ineichen-Fleisch und drei weiteren Mitgliedern Fifa und der Umweltorganisation WWF Inter-
der Bundesverwaltung sowie je zwei Vertreter national, die beide in der Schweiz ihren Sitz ha-
von Arbeitgeberverbänden, Gewerkschaften, ben, erachtete er die Voraussetzungen zur An-
Wirtschaftsverbänden, Nichtregierungsorgani- wendung der Leitsätze aufgrund der konkreten
sationen (NGOs) und der Wissenschaft. Umstände als erfüllt und bot den Parteien daher
eine Mediation an.
Mediation mit Fifa zeigt Wirkung Die 2015 eingereichte Eingabe der Ge-
werkschaft Bau- und Holzarbeiter Interna-
Seit seiner Errichtung im Jahr 2000 hat der tionale (BHI) gegen die Fifa machte Verstösse
Schweizer NKP 18 Eingaben erhalten, wobei die gegen die Menschenrechte von Wanderarbei-
Zahl und Komplexität der Eingaben in den letz- tern beim Bau der Infrastruktur für die Fuss-
ten fünf Jahren zugenommen hat. So hatte der ballweltmeisterschaft 2022 in Katar geltend.
Schweizer NKP beispielsweise als einer der ers- Der Mediationsprozess zwischen den Partei-
ten über die Anwendbarkeit der Leitsätze auf en trug unter anderem dazu bei, dass die Fifa

18  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

eine ­menschenrechtliche Sorgfaltsprüfung an- weise des Schweizer NKP und betont dessen Ak-
hand der OECD-Leitsätze und weiterer interna- zeptanz und Bekanntheit bei den Unternehmen.
tional anerkannter Standards vornimmt. Wei- Positiv gewürdigt werden auch die seit 2013 er-
ter werden Arbeitsinspektionen auf Baustellen folgten Anpassungen der Struktur des NKP, ins-
durchgeführt sowie auf die Verbesserung von besondere die Schaffung des Beirats bestehend
Beschwerdemechanismen für Arbeiter in Katar aus Vertretern der betroffenen Interessengrup-
hingewirkt.3 pen. Die Empfehlungen der OECD beinhalten,
Bemerkenswert ist, dass in Katar, dessen dass der NKP bei der Förderung der Leitsät-
Rechtsordnung keine gewerkschaftlichen Akti- ze noch enger mit NGOs zusammenarbeiten
vitäten vorsieht, Mitglieder von internationalen soll. Weiter sollen die Rolle des Beirats bei der
Gewerkschaften künftig an gewissen Arbeits- Behandlung von Eingaben geklärt und in die
inspektionen teilnehmen können. Die Parteien Schlussberichte zu den Vermittlungsverfah-
werden sich neun Monate nach Abschluss der ren vermehrt substanzielle Informationen über
Mediation erneut treffen, um die Umsetzung die Ergebnisse der Verfahren beziehungswei-
der Vereinbarung zu besprechen. Zur länger- se Empfehlungen zur Umsetzung der Leitsätze
fristigen Wirkung des Mediationsverfahrens aufgenommen werden.
trägt zudem die Teilnahme der Gewerkschaft Der NKP beabsichtigt, vermehrt an Anläs-
BHI im neu geschaffenen Beirat der Fifa zu den sen unter anderen von NGOs teilzunehmen, um
Menschenrechten bei. die Arbeitsweise des NKP und die Ergebnisse
der Mediationsverfahren konkret aufzuzeigen. 3 Abschlussbericht
abrufbar unter
Gutes Zeugnis für Schweizer NKP Er wird auch die weiteren Empfehlungen in Ab- Seco.admin.ch/nkp
sprache mit dem Beirat umsetzen und der OECD 4 Bericht abrufbar
unter Mneguidelines.
Anhand von sogenannten Peer Reviews über- bis im Frühjahr 2018 darüber berichten. oecd.org
prüft die OECD die Funktionsweise der Natio-
nalen Kontaktpunkte. Diese werden auf freiwil-
liger Basis durchgeführt und haben das Ziel, die
NKP zu stärken. Als einer der ersten hat sich der
Schweizer NKP einer solchen Prüfung unterzo-
gen. Zu diesem Zweck haben Mitarbeitende der
NKP aus Deutschland, Chile und Grossbritan-
nien sowie des OECD-Sekretariats im Novem-
ber 2016 die Schweiz besucht und Vertreter aus Lukas Siegenthaler Alexander Kunze Nadja Meier
Bundesverwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaf- Dr. iur., Leiter Ressort Wissenschaftlicher Mit- Wissenschaftliche Mit-
Internationale Investitio- arbeiter, Ressort Interna- arbeiterin, Ressort Inter-
ten, Nichtregierungsorganisationen und Wis- nen und multinationale tionale Investitionen und nationale Investitionen
senschaft befragt. Unternehmen, Staatsse- multinationale Unterneh- und multinationale Unter-
Im jüngst veröffentlichten Prüfungsbericht4 kretariat für Wirtschaft men, Staatssekretariat für nehmen, Staatssekretariat
(Seco), Bern Wirtschaft (Seco), Bern für Wirtschaft (Seco), Bern
anerkennt die OECD die professionelle Arbeits-

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  19
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Glaubwürdig handeln –
dank Leadership
Verantwortungsvolle Unternehmensführung hängt stark vom persönlichen Engage-
ment des Managements und des Verwaltungsrats ab. Aber auch Mitarbeitende, Kunden
und Investoren sind in der Pflicht. Unterstützung bietet das UNO-Netzwerk Global Com-
pact Schweiz.  Antonio Hautle

Abstract    Die UNO-Nachhaltigkeitsinitiative Global Compact fördert


Zusätzlich zu den gängigen Führungsaufgaben
auch in der Schweiz die ökonomisch-ökologisch-soziale Nachhaltigkeit müssen sie sich auch für die Nachhaltigkeitsfra-
in Unternehmen. Das Ziel: Firmen sollen Corporate Social Responsibili- gen zuständig fühlen. Dazu braucht es wache,
ty (CSR) in die Firmenkultur und in die Prozesse integrieren. Da Menschen weitsichtige, sensible und selbstkritische Geis-
ein Unternehmen ausmachen, braucht es ein persönliches Engagement al- ter. Business as usual ist angesichts der Heraus-
ler Führungskräfte, der Mitarbeitenden sowie der Besitzer und Investo- forderungen keine Option mehr.
ren. Eine umfassende unternehmerische Verantwortung entlang der Wert-
schöpfungsketten ist für den langfristigen Erfolg jeder Unternehmung von
strategischer Bedeutung. Engagement und Investitionen in CSR sichern CSR-Leaderhip als Kernaufgabe
die Zukunft des Unternehmens, schaffen Werte für Kunden, Besitzer, In-
vestoren, Management, Mitarbeitende und die ganze Gesellschaft. Wenn Die Kurzfristigkeit im Geschäft setzt falsche
Schweizer Unternehmen glaubwürdig sein wollen, lohnt es sich, dies kon- Anreize, wie Studien bestätigen.2 Demgegen-
sequent umzusetzen. über sind nachhaltig wirtschaftende Firmen
langfristig erfolgreich, indem sie motivierte und
integre Mitarbeitende anziehen. Dadurch sind

N  ach der Abstimmungsniederlage zur


Unternehmenssteuerreform III vom Fe-
bruar hat der Wirtschaftsdachverband Eco-
sie innovativer und für Investoren interessan-
ter. Gleichzeitig steigt die Reputation bei Kun-
den, Zulieferern und in der Öffentlichkeit.
nomiesuisse selbstkritisch auf seiner Websei- Es liegt somit im Firmeninteresse, CSR-Ansätze
te geschrieben: «Die Wirtschaft muss Vorbilder wie die 10 Prinzipien des United Nations Global
haben, die hinstehen und glaubwürdig kommu- Compact (siehe Kasten), die OECD-Leitlinien3
nizieren.»1 Nur: Glaubwürdige Kommunikation und weitere Nachhaltigkeitsstandards in Stra-
setzt glaubwürdiges wirtschaftliches Handeln tegie und Wertschöpfungskette zu implemen-
voraus. Und glaubwürdig ist die Wirtschaft, tieren.
wenn sie nicht nur aus Eigeninteresse handelt, Wichtig ist dabei die Eigenverantwortung
sondern im Dienste der Menschen und des Ge- der Entscheidungsträger. Am schnellsten wer-
meinwohls. Dabei nutzt sie die ökologischen den umfassende CSR-Strategien umgesetzt,
und ökonomischen Ressourcen langfristig und wenn die Firmeninhaber, der Verwaltungs-
schafft nachhaltig sozialen und wirtschaftli- rat und die Geschäftsleitung davon überzeugt
chen Mehrwert. Die Frage lautet deshalb: Han- sind. Es gibt herausragende Persönlichkei-
delt die Wirtschaft glaubwürdig? ten wie Unilever-Chef Paul Polman und Dano-
Unternehmen, welche ökonomische, soziale ne-Chef Emmanuel Faber, die mit ihrem per-
1 Economiesuisse (2017). und ökologische Verantwortung  – Corporate So- sönlichen Charisma innert kurzer Zeit ganze
2 Vgl. Global Impact In- cial Responsibility (CSR) – wahrnehmen, sorgen Unternehmen auf umfassende Nachhaltigkeit
vesting Network (2016)
sowie weitere Publika- dafür, dass ihre Wertschöpfungsketten entspre- getrimmt haben. Auch in Schweizer Gross-
tionen auf der Webseite
Sustainablefinance.ch chend nachhaltig sind. Verantwortung tragen unternehmen, KMU und Start-ups hat sich in
3 Vgl. Seco und Global
Compact Network
Firmeninhaber, Investoren, Verwaltungsräte, den letzten zwanzig Jahren viel bewegt. Ange-
Schweiz (2017). Geschäftsleitungen und Fachleute aller Stufen. sichts der globalen ökologischen und sozialen

20  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

KEYSTONE
Hat den niederlän-
disch-britischen
Herausforderungen ist jedoch ein Engagement Konsumgüterkonzern gebunden sind, verändern sich ganze Bran-
aller Firmen nötig – weltweit. auf mehr Nachhal- chen. Ein Schritt in diese Richtung ist etwa ein
tigkeit getrimmt: an die G-20-Staaten gerichteter Brief von über
Unilever-Chef Paul
Einflussreiche Aktionäre und Polman.
200 Grossinvestoren, indem diese ultimativ die
Umsetzung der Klimaziele fordern.4
Verwaltungsräte
Entscheidend – aber in der Praxis noch viel
Ideen wirken langfristig, wenn sie in der gan- zu wenig einbezogen – sind die Mitglieder der
zen Unternehmung gehört, verinnerlicht und Verwaltungsräte. Aus zeitlichen Gründen be-
umgesetzt werden. Ernsthafte Bemühungen für schäftigten sie sich wenig systematisch mit
umfassende Corporate Responsibility führen Nachhaltigkeitsthemen. Angesichts der Risi-
zu einem Kulturwandel, der aber nicht nur Zeit, ken sollte sich aber jeder Verwaltungsrat min-
sondern auch Investitionen in Schulung, Coa- destens einmal pro Jahr, zum Beispiel im Rah-
ching und Kulturentwicklung erfordert. Da sich men einer CSR-Berichterstattung, intensiv mit
zugleich Anforderungen, Zulieferketten und den damit verbundenen Chancen und Risiken
Absatzmärkte permanent verändern, muss CSR beschäftigen. Aus diesem Grund empfiehlt das
konsequent in die Unternehmensstrategie und Global Compact Netzwerk Schweiz den Verwal-
in Prozesse eingeführt und ständig weiterentwi- tungsräten, den jährlichen CSR-Report jeweils
ckelt werden. genau zu prüfen. Wir bieten zudem CSR-Weiter-
Damit dies gelingt, braucht es die Mithilfe bildungsmodule für Verwaltungsräte an.
von Investoren und Aktionären. Wenn Investi- In der Regel sind Geschäftsleitung und
tionen und Kredite an ­Nachhaltigkeitskriterien 4 PRI (2017). Führungsverantwortliche auf allen Stufen die

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  21
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Das Global Compact Netzwerk


Der «United Nations Global Compact» ist Sustainable Development Goals (SDGs) Es begleitet einerseits die Unternehmen
eine Initiative für nachhaltiges Wirtschaf- der UNO. in ihren Nachhaltigkeitsbemühungen
ten, welche von der UNO-Vollversamm- Das Schweizer Netzwerk (Global Com- und vermittelt die dafür erforderlichen
lung im Jahr 2000 aufgegleist wurde. Das pact Netzwerk Schweiz) existiert seit Arbeitsinstrumente. Andererseits ver-
Netzwerk hat seinen Sitz in New York und 2006. Es zählt rund 80 aktive Mitglieder: netzt es die Mitglieder lokal und inter-
umfasst rund 10 000 Mitgliedsfirmen in KMU, Grossunternehmen wie Nestlé, UBS national, organisiert Arbeitsgruppen,
mehr als 90 lokalen Netzwerken. Ziel ist und Novartis sowie diverse private Orga- Weiterbildungen und Konferenzen mit
es, Unternehmen zu Corporate Social Re- nisationen und NGOs. Das Netzwerk mit Teilnehmenden aus Wirtschaft, Verwal-
sponsibility (CSR) und nachhaltigem Wirt- Sitz in Zürich pflegt mit dem Bund eine tung, Gesellschaft und Wissenschaft.
schaften zu verpflichten. Dazu dienen die Partnerschaft zur Förderung einer verant-
zehn Global-Compact-Prinzipien und die wortlichen und nachhaltigen Wirtschaft.

eigentlichen Treiber der CSR-Themen. Idea- der ökologischen Stabilität für alle Menschen
lerweise übernimmt die Geschäftsleitung da- ermöglichen soll.
für die Verantwortung. Aus meiner Erfahrung Die ambitiöse Agenda kann jedoch nur um-
braucht es entweder Überzeugung und Cha- gesetzt werden, wenn auch die wirtschaftlichen
risma in der Führung, oder aber einen hand- Akteure Verantwortung übernehmen. Um die
festen Skandal, der zum Umdenken zwingt. Ziele zu erreichen, sind nun aus der Privatwirt-
Wenn die Kaderleute überzeugt führen und schaft Innovation, Unternehmergeist und neue
kommunizieren, wandelt sich die Firmenkul- Ansätze gefragt. Für Schweizer Start-ups, KMU 5 Vgl. Unglobalcompact.
org/sdgs,
tur rasch. und Grossunternehmen ist das Marktpotenzial Sdgcompass.org und
Eda.admin.ch/post2015
Oft kommen entscheidende Impulse auch gross, um neue Dienstleistungen, Produkte und 6 Vgl. Unglobalcompact.
von Fachmitarbeitenden und aus der mittleren alternative Formen der Wertschöpfung zu ent- org/sdgs und
Globalopportunityex-
Managementstufe. Allerdings ist in diesem Fall wickeln.6 plorer.org
das Risiko grösser, dass die CSR-Praktiken wie-
der aufgeweicht werden, sobald ökonomische
Schwierigkeiten auftreten.

Innovation gefragt
Bei der Corporate Social Responsibility geht
es in erster Linie darum, die Menschenrechte
zu respektieren, die internationalen Arbeits- Antonio Hautle
normen einzuhalten, die natürlichen Ressour- Senior Programme Leader and Network Representative,
cen nachhaltig zu nutzen und die Korruption Global Compact Network Switzerland, Zürich

auszumerzen. Diese vier Aspekte bilden denn


auch das Fundament der Global-Compact- Literatur
Prinzipien. Ergänzend kommen die siebzehn Economiesuisse (2017). Unternehmer müssten zu Hunderten oder
Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UNO hinzu.5 Tausenden hinstehen, 18. Februar 2017
PRI (2017). Letter from global investors to governments of the G7 and
Erstmals in der Geschichte hat sich die Welt- G20 nations, London, 8. Mai 2017.
Seco und Global Compact Network Schweiz (2017). OECD-Leitsätze
gemeinschaft im Herbst 2015 auf solch umfas- für multinationale Unternehmen in der Praxis, Ein Leitfaden zur be-
sende Nachhaltigkeitsziele geeinigt, die eine trieblichen Anwendung.
Global Impact Investing Network (2016). Impact Investing Trends,
menschenwürdige Zukunft unter Wahrung New York 2016.

22  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Sharing your job in a connected world, Association PTO invites you to the

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Founder, The Job Share Project Founder TEILZEITMANN and Head HR Products & Marketing, Author and VP at Encore.org (USA)
(UK) Serial Entrepreneur Diversity Swisscom Live video streaming

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See Program: www.topjobsharing2017.com
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Die SDGs als Chance zur unter-


nehmerischen Neuausrichtung
Damit die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) erreicht werden können, müs-
sen Unternehmen strategisch umdenken. Vernetzte Web-Tools wie Gapframe.org kön-
nen Firmen beim Perspektivenwechsel helfen.  Katrin Muff

rücksichtigten gesellschaftlichen Bedürfnissen,


Abstract    Unternehmen können zum Erreichen der UNO-Ziele für nach-
haltige Entwicklung (SDGs) einen entscheidenden Beitrag leisten. Dazu wodurch neue Märkte entstehen. Beispiele sind
braucht es einen Perspektivenwechsel. Anstelle einer Inside-out-Sicht erneuerbare Energielösungen, plastikfreie Ver-
muss eine Outside- in-Perspektive treten. Eine entsprechende strategi- packungslösungen und phosphatfreier Dünger.
sche Umorientierung bedingt Transformationen auf der gesellschaftli- Allerdings liegen diese neuen Geschäftsmög-
chen, auf der unternehmerischen und auf der individuellen Ebene. Auf der lichkeiten nicht immer auf der Hand. Und so
gesellschaftlichen Ebene stellt sich die Frage: Wie können Innovationen der könnten Unternehmen andererseits in Versu-
Lösung unserer gesellschaftlichen Probleme dienen? Auf der unternehme-
chung geraten, die SDGs nur als weitere Pflicht
rischen Ebene braucht es neue Strategieansätze und dynamischere Ent-
scheidungswege. Und auf der individuellen Ebene geht es um ein breiteres zu verstehen: Nämlich die Pflicht zu demonst-
Führungsverständnis. Tools wie die Onlineplattform Gapframe.org ermög- rieren, wie bestehende geschäftliche Aktivitä-
lichen den Unternehmen dabei den strategischen Einstieg. Das im Beitrag ten zu den SDGs beitragen.
beschriebene Kreismodell bietet einen integrativen Ansatz für Herausfor- Bestehende Aktivitäten sind zwar wichtig,
derungen dieser drei verknüpften Transformationen. reichen allerdings bei weitem nicht aus, um
dem sich stetig verschlechternden Zustand
unseres Planeten entgegenzuwirken. Die Her-

D  ie auf globaler Ebene ausgehandelten


UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung
(SDGs) bieten einen verbindlichen Rahmen für
ausforderungen, die die Umsetzung der Pari-
ser Klimaziele darstellen, zeigen dies deutlich
auf.
die Lösung der dringendsten gesellschaftli- Es geht darum, Unternehmen einen Quan-
chen Herausforderungen bis 2030 (siehe Ab- tensprung zu ermöglichen: Statt sich vor-
bildung 1). Wie reagieren die Unternehmen auf wiegend auf ihre bestehenden Aktivitäten zu
die Ziele? Einerseits sind sich Wirtschaftsfüh- fokussieren und die SDGs nur als lästige Infor-
rer zunehmend der milliardenschweren Investi- mationspflicht zu betrachten, sollen Unterneh-
tionsmöglichkeiten bewusst, die mit der Reali- men die UNO-Ziele als Quelle für langfristige
sierung der SDGs verbunden werden. Denn die Innovationen und Erfolg begreifen – und da-
SDGs bieten ein strategisches Rahmenkonzept bei auch vermehrt wieder ihren Gesellschafts-
für innovative Lösungen von noch wenig be- zweck erfüllen.

Vernetzte Lösungen für die drei grossen Herausforderungen


Gesellschaftliche Dimension: Die On- in neuen, co-kreativen Prozessen mit Schweizer Unternehmen einen Proto- Individuelle Dimension: Jeder kann
line-Plattform Gapframe.org über- relevanten Interessenträgern. Dafür typ eines SDGs-Strategieinstruments eine «verantwortungsvolle Führungs-
trägt die SDGs in ein Set von natio- sind Prozessmethoden wie beispiels- mit der Business School Lausanne. De- person» werden. Das von der Business
nalen Prioritäten (siehe Abbildung 3). weise «Collaboratory», welches von mokratische Entscheidungsprozesse School Lausanne entwickelte «Com-
Diese bilden den Ausgangspunkt für der Business School Lausanne entwi- befähigen Mitarbeiter auch ausserhalb petency Assessment of Responsible
Regierungen, Unternehmen und Bil- ckelte wurde, von grosser Wichtigkeit. der Firmenstruktur zeitnahe Aktivitä- Leadership» ist ein kostenloser On-
dungsinstitute, um dank einer Out- Unternehmerische Dimension: Die ten synchronisieren zu können. Dazu line-Test, um die betreffenden Kom-
side-in-Perspektive innovative Lösun- Umsetzung der Outside-in-Perspek- bieten Selbst-Management-Tools wie petenzen in Bildungsprozessen, in
gen für die grössten Probleme im Land tive erfordert einen neuen Strate- beispielsweise «Holacracy» Alternati- Institutionen und Unternehmen zu
zu finden. Solche Lösungen entstehen gieprozess. Dieses Jahr testen fünf ven zu bestehenden Hierarchien. beurteilen.

24  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Abb. 1: Die UNO-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs)

UNDP / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


Inside-out-Perspektive ungenügend lich der Rolle von Unternehmen in der Gesell-
schaft reicht letztlich nicht mehr aus.
Was ist also erforderlich, damit sich Unterneh- Grösse und Brisanz unserer Gesellschafts-
men in diese Richtung entwickeln? Die an der probleme erfordern, dass Firmen einen Perspek-
Universität St. Gallen und der Business School tivenwechsel hin zu einer Outside-in-Sicht vor-
Lausanne entwickelte «nachhaltige Unterneh- nehmen. Statt sich darauf zu kowhten Beitrag
menstypologie»1 erlaubt einen Blick zurück: Der zur nachhaltigen Entwicklung leisten und somit
erste Schritt zur Berücksichtigung von Nach- ihre eigene Zukunft langfristig sichern.
haltigkeit in Unternehmen wurde von der in
den Achtziger- und Neunzigerjahren entwi- Die drei grossen Herausforderungen
ckelten sozialen Verantwortung von Unterneh-
men (CSR) angeregt. Nach und nach haben viele Damit ein Unternehmen einen solchen Beitrag
Grossunternehmen ihr Geschäftsmodell an ein leisten und eine Outside-in-Perspektive über-
differenziertes Shareholder-Modell angepasst, haupt einnehmen kann, muss geklärt werden,
indem sie ihre Perspektive über die kurzfristige welche der SDGs für diejenigen Regionen, in
Denkweise hinaus, die durch eine ausschliess- denen ein Unternehmen tätig ist, relevant und
liche Fokussierung auf die Maximierung des prioritär sind. Angesicht der Informationsflut
Shareholder Value bedingt war, erweiterten. und Komplexität dieser Frage, bleibt diese ­erste
Einen Schritt weiter gingen Konzerne wie grosse Herausforderung bis heute eine oft un-
Unilever oder die Schweizer Gastronomie- und zumutbare Hürde für Unternehmen. Die SDGs
Hotel-Gruppe SV Group, welche die Wertschöp- sind zwar definiert, aber es gab bisher keine ver-
fung auf drei Aspekte erweiterten – der Triple bindlichen Ist- und Sollwerte für Länder und Re-
Bottom Line. Hier geht es darum, die ökonomi- gionen. Was nicht gemessen werden kann, wird
sche, soziale und ökologische Verantwortung in auch nicht verbessert.
Mehrwert für verschiedene Stakeholder – nicht Basierend auf diesen Prioritäten, kann ein
nur die Aktionäre – zu übersetzen. Doch auch Unternehmen anschliessend seine Kernkom-
diese verbesserte Inside-out-Perspektive bezüg- 1 Dyllick und Muff (2016). petenzen und Ressourcen zur Definition n ­ euer

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  25
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

i­nnovativer Angebote nutzen. Dieser Schritt Mit der individuellen Ebene ist die Dimen-
wird angesichts der Innovationshürde am bes- sion des einzelnen Managers oder Mitarbeiters
ten mit anderen Akteuren entwickelt. Solche (das «Ich») gemeint. Die Unternehmensebene
neuen Angebote lösen somit gezielt die drin- bezieht sich auf die Aktivitäten eines Teams,
gendsten Gesellschaftsprobleme und schaffen einer Institution oder Firma («Wir»), und die Ge-
gleichzeitig eine strategische Erweiterung des sellschaftsebene bezieht sich auf die Dimension
Unternehmens über gegenwärtige Märkte und der grossen Herausforderungen wie beispiels-
Kunden hinaus. Daraus folgt die zweite grosse weise der SDGs («Wir alle»). Diese drei Dimen-
Herausforderung: Wie wird eine solche strategi- sionen sind wechselseitig miteinander ver-
sche Neuorientierung im Unternehmen veran- bunden und voneinander abhängig. Wenn eine
kert und umgesetzt? Im Fokus steht insbeson- dieser Dimensionen geändert werden soll, be-
dere die Strategieentwicklung, wo anstelle des dingt dies implizit eine Anpassung der anderen
klassischen Top-down-Ansatzes ein flexibler, Dimensionen. Die explizite Verknüpfung von
Bottom-up-Entwicklungsprozess benötigt wird. Tools, die jeweils auf spezifischen Dimensio-
Die Ausarbeitung und Implementierung nen agieren, ist von grossem Wert, wenn eine
solcher neuen Angebote bedingt oftmals auch effektive Transformation erreicht werden soll.
neue Formen der Zusammenarbeit mit Partnern Missglückte Umsetzungen von Strategien fin-
in fremden Sektoren und Branchen, mit denen den nicht selten ihre Ursache in der fehlenden
gemeinsam Lösungen für die SDGs ausgearbei- Berücksichtigung der Verknüpfung dieser drei
tet und Angebote umgesetzt werden. Und sol- Dimensionen.
che neuen Kooperationsformen verlangen nach Die Business School Lausanne arbeitet seit
zusätzlichen Kompetenzen – nicht nur auf der mehreren Jahren an einer Reihe solcher ver-
Führungsebene, sondern breit abgestützt. Dies netzten Tools, die sowohl Lösungen auf den drei
birgt zugleich auch die dritte grosse Herausfor- einzelnen Dimensionen bieten als auch vernetzt
derung: Wie erweitert ein Unternehmen die be- untereinander eingesetzt werden können (sie-
stehenden Führungskompetenzen so, dass eine he Kasten). Die neueste Entwicklung ist die On-
Zusammenarbeit weit über die traditionellen line-Plattform Gapframe.org (siehe Abbildung 3)
Unternehmensgrenzen hinaus sichergestellt welche nun erstmals eine Antwort auf die Frage
werden kann? Dabei geht es darum, verantwor- der Relevanz und Prioritäten der gesellschaftli-
tungsvolle Führung umfassender zu definieren. chen Herausforderungen im Rahmen der SDGs
Diese Herausforderung umfasst auch das erfor- bietet und die Ist- und Soll-Werte pro Land und
derliche Know-how für die Zusammenarbeit mit Problem misst. Gapframe.org ist das fehlende
Institutionen, die andere Interessen, Prioritäten Bindeglied zwischen der Outside-in-basierten
und Vorstellungen von Erfolg haben. Strategie der echten unternehmerischen Nach-
haltigkeit und den SDGs.
Ich – Wir – Wir alle
Für jede dieser drei grossen Herausforderun- Abb. 2: Das Kreismodell
gen gibt es bereits verschiedene Lösungsansät- Innenwelt Aussenwelt
ze und Beratungsmodelle. Der Quantensprung
von einer Inside-out- zu einer Outside-in-Per- s for matio
an n
spektive erfordert jedoch eine Verknüpfung Tr
dieser oft isolierten Lösungsansätze. Typi-
WIR
scherweise werden die drei erwähnten Heraus- ICH WIR
ALLE
forderungen auf den Ebenen des Individuums,
MUFF (2017) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

des Unternehmens, und der Gesellschaft ge-


Emergent
trennt behandelt. Diese drei Herausforderun-
gen kann man als Dimensionen eines Kreismo-
dells betrachten: «Ich – Wir – Wir alle» (siehe Persönliche Entwicklung Gesellschaftliche Entwicklung
zu einer verantwortungsbewussten zu einer Welt, in der wir alle auf unserem
Entwicklung der Organisation
zu echter unternehmerischer
Abbildung 2). Führung Planeten ein gutes Leben führen können Nachhaltigkeit

26  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Abb. 3: Nachhaltigkeitsprioritäten der Schweiz mit Gapframe.org


Schweiz
Gap Frame Ergebnis: Planet 6,2; Durchschnitt von 4 Dimensionen: 7,4
1. Biodiversität
2. CO2-Quotient
24. Transparenz 10
Governance (20-24) 23. Unternehmensintegrität 9
3. Ozeanea Planet (1-8)
8
8,2 4. Land und Wälder 6,2
22. Frieden und Zusammenarbeit
7
6

a Beinhaltet die Indikatoren Fischbestände und Phosphatkonsum im Verhältnis zum Ackerland


21. Strukturelle Belastbarkeit 5 5. Saubere Luft

4
3
20. Öffentliche Finanzen 2 6. Wasser

1
0
19. Innovation 7. Saubere Energie

18. Nachhaltige Produktion 8. Abfallverwertung

17. Nachhaltiger Konsum 9. Gesundheit

GAPFRAME.ORG / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


16. Ressourcennutzung 10. Chancengleichheit

Wirtschaft (15-19) Gesellschaft (9-14)


11. Bildung
15. Beschäftigung
7,7 7,6
14. Lebensqualität 12. Lebensbedingungen

13. Soziale Integration

  0,0 - 5,0 Bedrohung       5,1 - 6,6 Kritisch       6,7 - 7,4 Watchlist       7,5 - 8,8 Sicherer Raum       8,9 - 10,0 Nahezu ideal  

Ansatzpunkte zur Veränderung menstrukturen engagieren können. Zweitens be-


nötigen wir einen Überblick über die prioritären
Will ein Unternehmen den Perspektivenwech- Probleme, die pro Land gelöst werden müssen. Die-
sel zur Outside-in-Strategie in Angriff neh- se Übersicht wird dann zur Ausgangsbasis für sol-
men, muss es die hiermit verknüpfte Kompe- che co-kreativen Prozesse, wobei der positive Ein-
tenzerweiterung einzelner Mitarbeiter und des fluss neuer Innovationen auch gemessen werden
Kaders berücksichtigen. Für die drei im Kreis- soll.
modell erwähnten Dimensionen gibt es je zwei In der unternehmerischen Dimension geht es
Ansatzpunkte, welche Unternehmen dabei hel- um die pragmatische Umsetzung neuer Strategien
fen können. in Unternehmen. Die Umsetzung von Innovatio-
In der gesellschaftlichen Dimension gilt es nen, die ausserhalb der traditionellen Unterneh-
Klarheit in Bezug auf die SDGs als echte Zu- mensgrenzen entstehen, bieten zwei Ansatzpunk-
kunftschance für Unternehmen zu schaffen. Die te zur Transformation. Erstens muss sich das
Komplexität der Gesellschaftsprobleme bedingt Führungsteam zusätzliche Kompetenzen aneig-
erstens co-kreative Prozesse und Partnerschaf- nen, um im Rahmen eines neuen Strategiepro-
ten zwischen den Sektoren und Industrien, um zesses der Outside-in-Perspektive Dialoge sowohl
Innovationen zu erarbeiten. Unternehmen müs- ausserhalb wie auch innerhalb der Firma zu füh-
sen sich dazu zunehmend ausserhalb ihrer Fir- ren. Zweitens muss die Organisationsstruktur an

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  27
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

einen solchen Strategiewechsel angepasst wer- Soziale Innovationen zeigen auf, wie die-
den. Dies lässt sich erreichen, indem die Ent- se drei Dimensionen interagieren und zu Ver-
scheidungsmacht von wenigen auf viele verteilt änderungen auf mehreren Ebenen führen.
wird. Auf diese Weise können interne Entschei- Solche Situationen entstehen beispielsweise,
dungen durch Grundsätze der Selbstorganisa- wenn ein Mitarbeiter («Ich») sein Unterneh-
tion auf Veränderungen des externen Umfelds men («Wir») in einem Outside-in-Prozess mit
abgestimmt werden. anderen Interessenträgern vertritt («Wir alle»).
In der individuellen Dimension geht es um Dabei geht es um die Verknüpfung des persön-
eine erweiterte Definition des Begriffs «Füh- lichen Engagements mit einer sinnstiftenden
rungskräfte». Jeder Mitarbeiter auf jeder Hierar- Aktivität des Unternehmens, das mit anderen
chieebene kann und soll eine verantwortungs- Akteuren Lösungen für Gesellschaftsproble-
volle Führungskraft innerhalb seines Bereiches me in seiner Region erarbeitet. Und genau die-
und seiner Kompetenzen werden. Da zuneh- se Verknüpfung der drei Ebenen brauchen wir,
mend auch eine Zusammenarbeit mit Akteuren um die SDGs zu erreichen und zu ermöglichen,
ausserhalb der Unternehmensgrenzen statt- dass alle auf unserem Planeten ein gutes Leben
findet, hängt die Entwicklung verantwortungs- führen können.
bewusster Führungspersonen eng damit zu-
sammen, dass sich Mitarbeiter zu engagierten
Bürgern entwickeln. In einem weiteren Ansatz-
punkt geht es darum, zu ermöglichen, dass Mit-
arbeiter zunehmend den Mut aufbringen, am
Arbeitsplatz mehr von sich selbst einzubringen.
Dies verknüpft die individuelle mit der unter-
nehmerischen Dimension und kann ein Be-
wusstsein für neue Outside-in-Aktivitäten brin-
gen. Denn Mitarbeitende, die ihre Anliegen im Katrin Muff
PhD in Leadership, Vordenkerin in den Bereichen
Beruf einbringen, helfen den Firmen, die Unter- unternehmerische Verantwortlichkeit, Nachhaltigkeit
nehmensziele mit den Erwartungen der Gesell- und Transformation, Business School Lausanne,
Chavannes-près-Renens
schaft in Einklang zu bringen.
Literatur
Dyllick, Thomas und Muff, Katrin Muff, Katrin (2017). How the Circ- Muff, Katrin, Kapalka, Agnieszka, Muff, Katrin, Liechti, Anna,
(2016). Clarifying the meaning le Model can purpose-orient Dyllick, Thomas (2017). The Gap Dyllick, Thomas (2018). The
of Business Sustainability – from entrepreneurial universities and Frame – Translating the SDGs Competency Assessment for
business-as-usual to true busi- business schools to truly serve into relevant national grand Responsible Leadership (CARL):
ness sustainability, Organiza- society. Journal of Management challenges for strategic business Consolidating the responsible
tion Environment, 29–2, 2016, Development, 36–2, S. 146-162. opportunities. International leadership discourse into an
S. 156-174. Journal of Management Educa- operationalized definition and an
tion, 1–21, wird demnächst online tool for practice and
publiziert. education, wird gegenwärtig
überarbeitet, Exemplar
bei katrin.muff@gmail.com
erhältlich.

28  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Fairtrade & Co:


Die Pionierphase ist vorbei
Private, freiwillige Nachhaltigkeitsstandards sind zu einem wichtigen Wirtschaftsfak-
tor geworden. Nun sind Reformen und weitreichende Allianzen nötig.  Christian Robin,
Britta Wyss Bisang
Standards und Labels dienen den Konsu-
Abstract    Nachhaltigkeitsstandards wie Fairtrade oder MSC dienen den
Konsument als Orientierungshilfe und helfen den Unternehmen, ihre Wert- menten als Orientierungshilfe. Für Unterneh-
schöpfungsketten nachhaltiger zu gestalten. Die Dachorganisation Inter- men sind sie jedoch weit mehr als ein Kom-
national Social and Environmental Accreditation and Labelling Alliance munikations- und Marketinginstrument. Die
(Iseal) mit Sitz in London vereint 23 Nachhaltigkeitsstandards. Sie setzt Implementierung der Nachhaltigkeitsstandards
sich für die Glaubwürdigkeit und Harmonisierung innerhalb dieser priva- hilft ihnen, Lieferketten und betriebliche Pro-
ten, freiwilligen Standardsysteme ein und fördert gezielt Innovationen zesse besser zu managen und Risiken wie Kin-
in diesem rasant wachsenden Markt. Das Staatsekretariat für Wirtschaft
derarbeit, den unsachgemässen Einsatz che-
(Seco) unterstützt die Allianz, welche Ende Juni in Zürich ihre Jahreskonfe-
renz durchführt. mischer Substanzen oder illegale Rodungen zu
minimieren. Gemäss Umfragen setzen mehr als
70 Prozent der weltweit befragten Firmen auf
Standards und geben an, dass sich diese auch

O  b Fairtrade-Rosen, UTZ-Schokolade, FSC-


Holz oder MSC-Fisch: Nachhaltigkeitsstan-
dards (siehe Kasten 1) sind heute aus dem inter-
wirtschaftlich positiv auswirken.2
Mit dem wachsenden Erfolg und der zu-
nehmenden Bekanntheit verschiedener Stan-
nationalen Handel nicht mehr wegzudenken dards mehren sich jedoch auch kritische Stim-
und sind zu einem bedeutenden Wirtschafts- men: Verdienen Fairtrade-Bauern wirklich
faktor geworden. Der Marktanteil von Produk- genug? Sind die Kriterien eines Labels transpa-
ten mit einer Nachhaltigkeitszertifizierung steigt rent und deren Überprüfung verlässlich und ef-
rasant, wie eine vom Staatssekretariat für Wirt- fizient? Sind die positiven Auswirkungen eines
schaft (Seco) finanzierte Studie zeigt, welche 14 Standards auf Mensch und Umwelt tatsächlich
1 J ulia Lernoud et al. Standards in mehreren Rohstoffsektoren unter- messbar, oder sind sie nicht viel mehr als ein
(2017). The State of
Sustainable Markets –
suchte.1 So hat sich die vom Gütesiegel UTZ zer- Wunschgedanke?
Statistics and Emerging tifizierte Anbaufläche für Kakao, Kaffee und Tee Angesichts solcher Kritik bietet die Dachorga-
Trends 2017, ITC, Genf.
2 ISEAL Findings of Sur- beispielsweise zwischen 2009 und 2015 verzehn- nisation International Social and Environmen-
vey of Corporate Sus- facht, und mittlerweile liegt der Marktanteil von tal Accreditation and Labelling Alliance (Iseal)
tainability Standards,
GlobeScan Incorpora- UTZ-Kakao bei 15 Prozent des globalen Kakao- mit Sitz in London  wertvolle Orientierungshil-
ted, Februar 2016, Web-
beitrag auf Isealalliance. markts. Ähnliche Wachstumsmuster zeigen die fe. Initiiert wurde der Zusammenschluss im Jahr
org untersuchten Standards im Baumwollsektor oder 2002 durch die vier Zertifizierungsorganisatio-
bei der  Herstellung von Palmöl. nen Forest Stewardship Council (FSC), M ­ arine

Kasten 1: Was ist ein Nachhaltigkeitsstandard?


Ein Nachhaltigkeitsstandard definiert Regulierungen sind Nachhaltigkeitsstan- (Bauernhöfe, Waldkonzessionen, Fabriken
eine Reihe von Prinzipien und Kriterien in dards privat und durch den Markt organi- etc.) eingehalten wird. Bei Standards, wel-
Bezug auf die drei Dimensionen der Nach- siert, weshalb sie als freiwillig bezeichnet che sich in erster Linie an die Konsumen-
haltigkeit – Umwelt, Soziales und Wirt- werden. Anhand eines (Zertifizierungs-) ten richten, spricht man normalerweise
schaft – innerhalb eines Sektors, eines Programms prüft die jeweils zuständige von Labels oder Gütesiegeln.
Produkts oder einer Industrie. Im Unter- Organisation, ob der Standard in der be-
schied zu rechtsverbindlichen staatlichen troffenen Stufe der Wertschöpfungskette

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  29
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Vom Gütesiegel UTZ zertifizierte


Teeproduktion in Indien.
UTZ
FOKUS

Kasten 2: Das Seco unterstützt Nachhaltigkeitsstandards


Das Staatssekretariat für Wirtschaft aktuellen Programm Transparency and In- das Seco auch das Internationale Handels-
(Seco) beziehungsweise das frühere Bun- novation of Sustainability Standards (TISS), zentrum (ITC) in Genf, das unter anderem
desamt für Wirtschaft (Bawi) engagiert will das Seco gezielt Transparenz und auf der Webseite Standardsmaps.org aus-
sich seit Jahren für Nachhaltigkeitsstan- Innovation im Bereich Nachhaltigkeits- führliche Informationen über mehr als 210
dards – so etwa 1992 mit der Anschubfi- standards fördern. Neben der Internatio- Standards zugänglich macht.
nanzierung für die Gründung der Schwei- nal Social and Environmental Accreditation
zer Max-Havelaar-Stiftung. Mit dem and Labelling Alliance (Iseal) unterstützt

Stewardship Council (MSC), International Fede- sich also die Frage: In welche Richtung sollen
ration of Organic Agriculture Movements (IFO- sich die Standards entwickeln? Antworten da-
AM) und Fairtrade. Mittlerweile vereinigt ­Iseal rauf sucht beispielsweise die Iseal-Jahreskonfe-
23 Nachhaltigkeitsstandards. Auch das Seco renz zu Nachhaltigkeitsstandards, welche Ende
unterstützt Iseal (siehe Kasten 2). Juni in Zürich unter dem Titel «Die Zukunft des
Vertrauens» stattfindet.3
Iseal – ein wichtiger Player im Teilweise ist wohl ein radikales Umdenken
gefragt: Bisherige aufwendige, aber letztlich
Hintergrund
wenig zweckmässige Kontrollverfahren müs-
Der Grundgedanke von Iseal ist es, trotz unter- sen überdacht und dem digitalen Zeitalter an-
schiedlicher Tätigkeitsfelder – Holz, Fischerei, gepasst werden. Gerade die Digitalisierung er-
biologische und faire Landwirtschaft etc. – en- öffnet dabei auch Chancen – beispielsweise in
ger zusammenzuarbeiten, voneinander zu ler- Bezug auf die Rückverfolgbarkeit von Gütern bis
nen und letztlich: sich selbst besser zu kontrol- hin zu einem direkten Kontakt zwischen Konsu-
lieren und zu kontinuierlichen Verbesserungen ment und Produzent.
anzuspornen. Heute gelten die Iseal-Leitlinien Die Zukunft liegt bei starken Allianzen. Ins-
weltweit als Referenz für die Entwicklung und besondere die Kompatibilität der einzelnen
Anwendung glaubhafter Standards. Die Or- Standards ist nach wie vor ausbaufähig und
ganisation setzt sich dabei für Kompatibilität auch Fusionen sollten kein Tabu darstellen. Zu-
zwischen den Standards und für eine Verein- dem müssen die vom aktuellen System nicht
heitlichung der Zertifizierungskriterien ein. erfassten Produzenten – etwa, weil sie zu arm
Die vielleicht grösste Errungenschaft von oder schlecht organisiert sind – besser einge-
Iseal und ihren Mitgliedern ist das klare Be- bunden werden, ohne dass die Standards da-
kenntnis zu einem Multi-Stakeholder-Ansatz. bei an Glaubwürdigkeit verlieren. Schliesslich
So werden die Regelwerke der einzelnen Stan- sollen lokale Akteure – vor allem die Behörden
dards durch Produzenten, Händler, Importeure, – mehr angehört und in die Pflicht genommen
und NGOs gemeinsam entwickelt. Diese koope- werden. Politik und Wirtschaft sind also glei- 3 Mehr unter
rativen Prozesse lassen tragfähige gemeinsame chermassen gefordert. Isealalliance.org
Lösungsansätze entstehen und stärken die Le-
gitimität der Standards und das Vertrauen unter
den verschiedenen Akteuren der Wertschöp-
fungskette.

Weitere Konsolidierung ist nötig


Viele Standards haben die Pionierphase mitt-
lerweile hinter sich und sehen sich mit Heraus- Christian Robin Britta Wyss Bisang
Dr. phil., stv. Ressortleiter Programmdirektorin UTZ
forderungen wie der fortschreitenden Globali- Handelsförderung, Staats- und Vorstandsvorsitzende
sierung, dem steigenden Ressourcenverbrauch sekretariat für Wirtschaft Iseal, Amsterdam
(Seco), Bern
und der Digitalisierung konfrontiert. Es stellt

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  31
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Der Banksektor hilft mit,


die UNO-Ziele zu erreichen
Banken tragen durch nachhaltige Finanzanlagen – einem wachsenden Markt – zu einer
sozialeren und ökologischeren Welt bei. Ebenso wichtig sind Sorgfaltsprüfungen von
Kunden und Lieferanten.  Christian Leitz

Abstract  Der Investitionsbedarf, der benötigt wird, um die UNO-Nachhal- gen befassen sie sich mit Kunden und Lieferan-
tigkeitsziele (SDGs) zu erreichen, liegt schätzungsweise zwischen 5 und 7 ten. Dabei versuchen sie, deren Richtlinien und
Billionen Dollar pro Jahr. Eine aktive Mitwirkung des Finanzsektors ist also deren Verhalten besser zu verstehen und festzu-
unumgänglich. Zum einen beschäftigen sich Banken mit ökologischen und stellen, wie allfällig negative Auswirkungen auf
sozialen Problemen – insbesondere über das Management von Umwelt- Umwelt und Menschenrechte vermindert wer-
und Sozialrisiken, wozu sie Prozesse zur Früherkennung, Beurteilung und
Überwachung eingeführt haben. Zum anderen entwickeln und vertreiben
den können. Bei der UBS sind erweiterte Daten-
sie immer mehr nachhaltige Finanzprodukte und -dienstleistungen. Be- analysen zu Unternehmen, die mit diesen Ri-
reits 2014 stand der globale Markt für nachhaltige Anlagen bei 21,4 Billio- siken in Verbindung gebracht werden, in dem
nen Dollar. webbasierten Compliance-Tool der Bank integ-
riert. Mitarbeiter nutzen dies, bevor sie eine Ge-
schäftsbeziehung (mit Kunden oder Lieferan-

A  rmut, Hunger, Klimawandel, Gesundheit


und Ungleichheit: Die Anfang 2016 in Kraft
getretenen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) der UNO
ten) eingehen oder eine Transaktion ausführen.
Da das Tool systematische Überprüfungen er-
möglicht, können potenzielle Risiken viel besser
zeigen deutlich auf, mit welchen sozialen und erkannt werden.
ökologischen Herausforderungen wir weltweit
konfrontiert sind. Aber die SDGs sind mehr als Fokussiert auf Menschenrechte:
eine Auflistung von Problemen: Es sind 17 Ziele
Die Thun-Gruppe
zur Förderung von globalem Wirtschaftswachs-
tum und einer nachhaltigen Entwicklung für die Der Themenbereich Wirtschaft und Men-
Menschheit und unseren Planeten. schenrechte ist komplex. Ein enger Austausch
Die UNO hat versucht, das Ausmass dieser unter Banken ist daher ein wichtiger Faktor
Herausforderungen in Zahlen zu fassen. Da- für dessen erfolgreiche Förderung. Aus diesem
bei sticht der geschätzte jährliche Investitions­ Grund hat UBS zusammen mit anderen inter-
bedarf von 5 bis 7 Billionen Dollar – oder 7 bis nationalen Banken 2011 die Initiative ergriffen,
10 Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts die sogenannte Thun-Gruppe (benannt nach
heraus, der benötigt wird, um die Ziele zu errei- deren jährlichem Versammlungsort) zu lancie-
chen. Es überrascht daher nicht, dass die UNO ren, um regelmässig Erfahrungen auszutau-
bei den SDGs die aktive Mitwirkung des Privat- schen und Wege zur Umsetzung der UNO-Leit-
sektors fordert – inklusive des Finanzsektors. prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte
Wie gehen Banken also mit ökologischen zu diskutieren. Im Rahmen dieser proaktiven
und sozialen Problemen um? Eine bedeuten- Auseinandersetzung mit den Leitprinzipien
de Rolle kommt dem Management von Umwelt- und den Überlegungen zu deren Implementie-
und Sozialrisiken zu: Banken haben umfassen- rung hat die Gruppe zwei Diskussionspapie-
de Prozesse mit Verfahren und Instrumenten re veröffentlicht. Diese beinhalten beispiels-
eingeführt, mit denen Umwelt- und Sozialrisi- weise Überlegungen zur Sorgfaltsprüfung und
ken frühzeitig erkannt, beurteilt und überwacht ein Rahmenkonzept für die Beurteilung der
werden können. Im Zuge ihrer Sorgfaltsprüfun- Bedeutung und Reichweite der Leitprinzipien

32  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

für Banken im Bereich Corporate- und Invest- für nachhaltige Anlagen bei 21,4 Billionen Dol-
mentbanking. lar. Der Schweizer Finanzsektor spielt hierbei
Seit der Veröffentlichung der UNO-Leitprin- bereits seit Jahren eine prominente Rolle.
zipien hat die internationale Diskussion zum Damit schliesst sich der Bogen zu den SDGs
Thema Wirtschaft und Menschenrechte deut- und besonders zum erwähn-
lich an Bedeutung gewonnen, was sich unter an- ten, immensen Investitions-
derem an der hohen Beteiligung von Regierun- bedarf. Um diesen Bedarf zu Eine vielversprechende
gen, Unternehmen und der Zivilgesellschaft decken, müssen innovative Innovation ist das
am UNO-Forum für Wirtschaft und Menschen- Finanzlösungen geschaffen
rechte in Genf zeigt. An diesem weltweit gröss- oder unterstützt und neue
Impact Investing.
ten Anlass zum Thema Unternehmen und Men- finanzielle Lösungen ein-
schenrechte trafen sich im vergangenen Herbst geführt werden, die sich replizieren, skalieren
2300 Teilnehmer, um sich mit Themen wie Men- und breit nutzen lassen. Für nachhaltiges An-
schenrechte im Beschaffungswesen, im Finanz- legen gibt es verschiedene Kriterien. Besonders
sektor oder bei der Migration von Arbeitskräf- bekannt sind die Anlagen, die einem strengen
ten auseinanderzusetzen. und sorgfältigen Auswahlverfahren unterlie-
Auf der ökologischen und sozialen Agenda gen. Dazu gehören die Negativselektion (d. h.
von Finanzunternehmen steht nebst den Men- die Anwendung von Ausschlusskriterien) und
schenrechten auch der Klimawandel. Von be- verschiedene Arten von Positivselektion wie
sonderer Bedeutung ist hier die Taskforce on «Best in Class»-Ansätze (d. h. führend bei Um-
Climate-related Financial Disclosures (TCFD) welt-, Sozial- und Governance-Aspekten; ESG),
des Financial Stability Board. Diese vom Gouver- thematische Anlagen oder die Integration von
neur der Bank of England initiierte Arbeitsgrup- ESG-Kriterien.
pe hat im Dezember 2016 ihre Empfehlungen zu Eine vielversprechende Innovation ist das so-
klimabezogener Berichterstattung mit dem Fo- genannte Impact Investing, bei dem der Privat-
kus auf die vier Kernthemen Governance, Stra- kunde die Möglichkeit erhält, eine konkurrenz-
tegie, Risikomanagement sowie Kennzahlen fähige finanzielle Rendite zu erwirtschaften
und Ziele veröffentlicht. Die Empfehlungen er- und zugleich eine messbare gesellschaftliche
mutigen Unternehmen dazu, die Auswirkungen Wirkung zu erzielen. Impact-Investing-Fonds
des Klimawandels auf ihre Strategie und Akti- wie der UBS Oncology Impact Fund, der Unter-
vitäten offenzulegen. Dadurch können Investo- nehmen fördert, die neue Krebstherapien er-
ren und andere Beteiligte besser verstehen, wel- forschen, machen anschaulich, wie der Finanz-
che Herausforderungen durch den Klimawandel sektor zusammen mit seinen Kunden einen
entstehen und so fundierte, langfristige Ent- wichtige Beitrag im Umgang mit ökologischen
scheidungen treffen. und sozialen Herausforderungen leisten kann.

Nachhaltige Anlagen als


wachsender Markt
Die Nachfrage nach nachhaltigen Finanz-
dienstleistungen und -produkten ist in den ver-
gangenen Jahren angestiegen. Gerade beim Kli-
mawandel – mit dessen Bekämpfung sich viele
Finanzprodukte befassen – gibt es folglich eine Christian Leitz
klare Verbindung zwischen Rendite und Nach- Dr. phil., Leiter Corporate Responsibility, UBS, Zürich;
Organisator Thun Group of Banks
haltigkeit. Bereits 2014 stand der globale Markt

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  33
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Eine Kommode aus Indien –


was steckt dahinter?
Für die auf Nachhaltigkeit bedachten Migros-Einkäufer sind in Entwicklungs- und
Schwellenländern viele Hürden zu überwinden. Anhand einer Kommode aus Indien
wird aufgezeigt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit es das Möbelstück bis in die
Schweiz schafft.  Martina Bosshard, Jürg von Niederhäusern

auf die Fahne geschrieben, nicht zuletzt, weil


Abstract  Die Migros will, dass die Konsumenten mit gutem Gewissen in
der Genossenschaftsgründer Gottlieb Duttwei-
ihren Filialen einkaufen können. Bei ihren Lieferanten evaluiert die Genos-
senschaft mögliche Risiken bei der Nachhaltigkeit. Im Fall einer Kommode ler folgenden Auftrag hinterlassen hat: «Wir
aus Indien sind dies insbesondere die Arbeitsbedingungen und die einge- müssen wachsender eigener materieller Macht
setzten Materialien, in Bezug auf Ressourcenschonung und Tierwohl. Seit stets noch grössere soziale und kulturelle Leis-
über 20 Jahren setzt sich die Migros für die Verbesserung der Arbeitsbedin- tungen zur Seite stellen.» Für die Migros ist klar:
gungen in Lieferantenländern ein. Sie ist Gründungsmitglied der Business Wir wollen nur Produkte im Sortiment haben,
Social Compliance Initiative (BSC), zu der unterdessen über 1900 Unter-
die sozial- und umweltverträglich sind.
nehmen weltweit gehören.
Als die Migros-Einkäuferin Ingrid Angehrn
die Kommode auf einer Messe in Indien zum ers-

J  ede Schublade trägt eine andere Farbe, eine


ist sogar mit Kuhfell überzogen: Die Kom-
mode «Bethany» ist in den Filialen der Migros-
ten Mal sieht, ist sie überzeugt, dass der «Hand-
made»-Stil auf dem Schweizer Markt gut an-
kommen wird. Sie bestellt das Stück aber nicht
Tochter Micasa nicht zu übersehen. Während gleich, sondern meldet dem Einkaufsbüro der
die äussere Erscheinung jeder selber beurtei- Migros in Delhi, dass sie gerne eine Geschäfts-
len kann, ist die «innere» Qualität für die Kon- beziehung mit dem Lieferanten aus Jodhpur im
sumenten nicht ersichtlich. Sie wissen nicht, ob nordindischen Rajasthan aufnehmen möchte.
die Arbeiter bei der Herstellung einen angemes- Daraufhin besucht ein Nachhaltigkeitsexper-
senen Lohn erhalten haben oder ob das Holz aus te der Migros die Fabrikationsstätte. Der Leiter
einem schützenswerten Waldgebiet stammt. des Bereichs Qualität und Nachhaltigkeit für die
Als Migros-Kunden gehen sie aber davon aus, Migros-Einkaufsbüros in Indien und China, Ad-
dass das Unternehmen verantwortungsvoll rian Bahnerth erklärt: «Weil in Indien die staat-
handelt. Denn dies hat sich die Genossenschaft lichen Kontrollen nur bedingt greifen, ist eine
Überprüfung durch Fachspezialisten notwen-
dig.» Ausserdem seien die handwerklich orien-
tierten Möbelhersteller oft weniger professio-
nell aufgestellt als beispielsweise die grossen
Textilbetriebe.
Ein erster Augenschein in Jodhpur zeigt, dass
die Möbelfabrik bereits über bessere Vorausset-
zungen verfügt als andere Betriebe vor Ort. So
sind beispielsweise genügend Notausgänge und
MIGROS-GENOSSENSCHAFTSBUND

Feuerlöscher sowie einfache Schutzvorrichtun-


gen für die Arbeiter vorhanden. Es gibt auch kei-
nerlei Hinweise auf Praktiken wie Kinder- oder
Zwangsarbeit. Ausserdem zeigt sich der Manager
motiviert, Verbesserungen in Angriff zu nehmen.

34  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

Die Migros beschliesst daher, den Auftrag zu Kommode eingesetzten Rohstoffe sich als prob-
platzieren – allerdings mit klaren Auflagen an lematisch erweisen. Dabei zeigt sich: Das Man-
die Fabrik. «Damit sich die Situation der Arbei- goholz ist nicht kritisch, denn die Mangobäume
ter verbessert, reicht es nicht, Mängel aufzuzei- dienen in erster Linie der Landwirtschaft. Ab
gen», sagt Bahnerth. «Viel wichtiger sind prakti- einem Alter von etwa 15 Jahren tragen die Bäu-
sche Tipps und ein kontinuierliches Coaching.» me nicht mehr genug Früchte und werden dar-
Deshalb verpflichtet sich die Möbelfabrik, zu- um gefällt. Das Holz, das wegen seines warmen
mindest den lokalen Mindestlohn zu bezahlen Brauntons ansprechend aussieht, eignet sich
und Überstunden korrekt zu vergüten – und gut für den Möbelbau.
diese Schritte auch zu dokumentieren. Ab und zu erhält Ingrid Angehrn Fragen
von Konsumenten, die verunsichert sind, weil
Fabrik muss BSCI-Standard einhalten Mangoholz nicht zertifiziert ist. «Ich freue
mich über diese Rückmeldungen. Sie zeigen,
Sämtliche Anforderungen sind im Verhaltens- dass der Nachhaltigkeitsgedanke bei der Be-
kodex der Business Social Compliance Initiative völkerung angekommen ist», erklärt sie. Die
(BSCI) aufgeführt, einem internationalen Sozial- Einkäuferin teilt ihnen jeweils mit, dass man
standard unter dem Dach der Foreign Trade As- Mangoholz auch ohne Zertifizierung mit gu-
sociation (FTA) in Brüssel, den unterdessen fast tem Gewissen kaufen könne, weil die Herkunft
2000 Unternehmen weltweit vertreten. Vor der bekannt sei. Problematischere Holzarten wie
Aufnahme der Geschäftsbeziehung mit der Mig- Buche oder Eiche verkauft die Migros mit dem
ros muss der Lieferant diesen Kodex unterschrei- Label des Forest Stewardship Council (FSC),
ben. Die Umsetzung der BSCI-Vorgaben ist zwar welches für eine lückenlose Rückverfolgbarkeit
aufwendig, sie kann dem Lieferanten aber auch sorgt und eine nachhaltige Waldwirtschaft ga-
einen Marktvorteil bringen. Denn die zahlrei- rantiert.
chen Mitgliederunternehmen von BSCI bestellen Wegen der inakzeptablen Haltungsbedin-
mit Vorliebe bei Lieferanten, die bereits Kenntnis gungen von Tieren in vielen Zuchtfarmen ver-
des Systems haben. Die Migros gehörte 2003 zu zichtet die Migros auf den Einsatz von echtem
den BSCI-Gründungsmitgliedern und engagiert Pelz in ihren Produkten. Das in der Kommode
sich stark bei der Weiterentwicklung. verarbeitete Kuhfell ist aber genauso wie Leder
Einige Monate nach dem ersten Besuch der für Migros-Lieferanten erlaubt.
Fabrik in Jodhpur organisiert die Migros eine «Die Migros stellt so viele Anforderungen,
Arbeiterschulung, für die sie auch die Kosten dass nur langfristige Lieferantenbeziehungen
übernimmt. Thema sind die Sicherheitsmass- Sinn machen», erklärt Angehrn. Dies ist auch
nahmen, die im beruflichen Alltag leider oft ein wichtiger Faktor für die Nachhaltigkeit:
vernachlässigt werden. Selbst wenn das Ma- Denn nur wenn sich die Migros als verlässliche 1 M
ehr zum Nachhaltig-
nagement genügend Masken, Handschuhe Partnerin erweist, sind die Lieferanten bereit, keitsprinzip der Migros
findet sich im
oder Stiefel zur Verfügung stellt, werden diese besondere Anstrengungen zu leisten.1 Geschäftsbericht 2016.
von den Arbeitern oft nicht konsequent getra-
gen. Manche Hilfsmittel sind insbesondere bei
grosser Hitze unbequem. Andere, wie beispiels-
weise Schutzhandschuhe zur Vermeidung von
Schnittverletzungen, verlangsamen das hand-
werkliche Arbeiten. Die Schulung dient dazu,
den Arbeitern bewusst zu machen, wie wichtig
der Schutz ihrer Gesundheit ist.

Mangoholz braucht kein Zertifikat Martina Bosshard Jürg von Niederhäusern


Mediensprecherin, Leiter Bereich Sozialstan-
Neben den Arbeitsbedingungen überprüft die Migros-Genossenschafts- dards, Migros-Genossen-
bund, Zürich schafts-Bund, Zürich
Einkäuferin Ingrid Angehrn auch, ob die in der

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  35
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Gemeinsame
Wertschöpfung ergibt Sinn
Um sowohl für die Gesellschaft als auch für die Investoren einen Mehrwert zu schaf-
fen hat das Nahrungsmittelunternehmen Nestlé vor zehn Jahren eine nachhaltige Wert-
schöpfungsstrategie lanciert – ein erfolgreiches Beispiel dafür sind mit Eisen angerei-
cherte Maggi-Kochwürfel in Westafrika.  Christian Frutiger, Christian A. Vousvouras

Abstract  «Profit» und «purpose» werden oft als Gegensätze wahrgenom- Maggi ist nur ein Beispiel in der 151-jähri-
men. Die 151-jährige Geschichte des Schweizer Nahrungsmittelunterneh- gen Geschichte des Nahrungsmittelunterneh-
mens Nestlé zeigt jedoch, dass sich gesellschaftliche Herausforderungen mens Nestlé, bei welchem sich Menschen im
als hervor­ragende Ideenquelle für Produkt­innovationen eignen. So lan- Unternehmen einer sozialen Herausforderung
cierte Julius Maggi Ende des 19. Jahrhunderts die heute welt­bekannten Fer- annehmen und eine Lösung erarbeiten, welche
tigsuppen als Antwort auf die mangelhafte Ernährungssituation von Fa- gleichzeitig gesellschaftlichen und finanziellen
brikarbeitern. Vor gut zehn Jahren hat Nestlé begonnen, das Konzept der
Mehrwert schafft.
gemeinsamen Wertschöpfung systematisch in die Unternehmensstrategie
zu integrieren. Heute kaufen in Westafrika beispielsweise Millionen von Im kompetitiven Tagesgeschäft und unter
Menschen die mit Eisen angereicherten Maggi-Kochwürfel. dem Druck kurzfristiger Erwartungen von Ka-
pitalgebern kann es passieren, dass die ur-
sprüngliche soziale Kernaufgabe des Unterneh-

U  nternehmen erzielen vermehrt wirtschaft-


liches Wachstum durch gezielte soziale
Wertschöpfung. Oder in den Worten der Trend-
mertums vergessen geht und Profit kurzfristig
vor «Purpose» rückt. Der Unternehmenssinn
ist dann bestenfalls noch Aufgabe der Corpo-
forscher Thomas Malnight und Tracey S. Keys: rate-Social-Responsibility-Abteilung, welche
«From profit to purpose».1 Dabei knüpft das Phä- Projekte für das Gemeinwohl finanziert. Tei-
nomen an die Ursprünge des Unternehmer- le der Wirtschaft, insbesondere börsenkotier-
tums zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahr- te Unternehmen, mögen von dieser Tendenz im
hundert an, wie das Beispiel der Nestlé-Marke Laufe des 20. Jahrhunderts erfasst worden sein.
­Maggi zeigt: Als 1882 der 36-jährige Mühlenbe- Nestlé hat sich vor rund 10 Jahren dazu ent-
sitzer Julius Maggi auf den Fabrikinspektor Fri- schieden, einen anderen Weg zu gehen und ge-
dolin Schuler traf, war dies ein folgenschwerer sellschaftliche und ökologische Wertschöpfung
Moment für den in Kemptthal bei Winterthur als Quelle finanzieller Wertschöpfung auch for-
angesiedelten Mühlbetrieb. Schuler bemängel- mell in die Unternehmensstrategie zu integrie-
te gegenüber dem Patron die Ernährungssitua- ren. Unterstützt durch die Harvard-Professoren
tion von Fabrikarbeitern, die aufgrund der In- Michael E. Porter und Mark R. Kramer hat das
dustrialisierung nicht mehr genug Zeit fänden, Unternehmen das Konzept der gemeinsamen
für ihre Familien zu kochen. Er sprach sich für Wertschöpfung umgesetzt. Es soll Marken wie
eine eiweissreiche, leicht verdauliche, auf Hül- Maggi dabei unterstützen, sich permanent neu
senfrüchten basierende Ernährung aus. Mag- zu erfinden.
gi, dessen Unternehmen damals unter dem aus
Nordamerika importierten Billiggetreide litt, re- Soziale Verpflichtungen definiert
agierte und brachte auf Leguminosenmehl auf-
1 Economist (2012). gebaute Innovationen wie Fertigsuppen auf den Um das Konzept der gemeinsamen Wertschöp-
A top ten for business
leaders, 26. Novem-
Markt. Vier Jahre später folgte die bis heute be- fung strategisch auszurichten, lässt Nestlé alle
ber 2012. kannte Maggi-Würze. zwei Jahre eine umfangreiche Materialitäts-

36  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

analyse durchführen. Dabei wird versucht fest-


zustellen, welchen gesellschaftlichen Themen
interne und externe Anspruchsgruppen die
grösste Relevanz beimessen.
Als Folge der Analyse konzentriert sich Nest-
lé auf die Kernbereiche «Nutrition, Gesundheit
und Wellness», ländliche Entwicklung, Wasser,
ökologische Nachhaltigkeit und «unsere Mit-
arbeitenden, Menschenrechte und Compliance».
Insgesamt hat Nestlé 42 soziale Verpflichtungen
definiert, wobei für jede Verpflichtung ein Mit-

NESTLÉ
glied der Konzernleitung verantwortlich ist.
Die Einführung nährstoffreicherer Nah-
rungsmittel und Getränke ist eine dieser Ver-
pflichtungen. Jährlich legt Nestlé parallel zur schmack und Preis nicht von ihren Vorgängern,
finanziellen Berichterstattung im «Nestlé in sie sorgen aber dafür, dass nun Millionen Men-
Society»-Report Rechenschaft über die Ziel- schen in der Region über die Nahrung zusätz-
erreichung der 42 Verpflichtungen ab. Dieser lich Eisen aufnehmen. Allein in Nigeria werden
Rechenschaftsbericht entspricht dem interna- täglich 80 Millionen Portionen Maggi-Kochwür-
tionalen Standard der Global Reporting Initia- fel verkauft. Für die Marke Maggi ist die Eisen-
tive (GRI) und wird von einer Prüfungsgesell- anreicherung ein Argument mehr, um Käufer
schaft extern validiert. von den Vorzügen des Produkts zu überzeugen.
Um das Konzept der gemeinsamen Wert-
Eisenmangel mit Kochwürfeln schöpfung weiter im Unternehmen zu veran-
kern, hat Nestlé im vergangenen Jahr seinen
bekämpfen
Unternehmenssinn neu formuliert: «Lebens-
Zehn Jahre nach Lancierung des Konzepts der qualität verbessern und zu einer gesünderen
gemeinsamen Wertschöpfung lassen sich die Zukunft beitragen». Die mehr als 2000 Marken
Resultate sehen. So hat Nestlé beispielswei- im Hause Nestlé werden im Verlauf der kom-
se das Ziel erreicht, 200 Milliarden mit Mikro- menden Jahre diesen Unternehmenssinn imple-
nährstoffen angereicherte Nahrungsmittel- und mentieren und auf die Realität der unterschied-
Getränkeportionen zu verkaufen. Weiter erhält lichen Geschäftsfelder herunterbrechen. Damit
der Konzern regelmässig Spitzenklassierun- setzt Nestlé den Grundstein dafür, dass sozia-
gen in führenden Nach­haltigkeitsindizes wie le Wertschöpfung auch in Zukunft finanzielle
dem Access-to-Nutrition-Index oder dem Dow-­ Wertschöpfung generiert. Der Unternehmens-
Jones-Sustainability-Index. sinn ist somit die Voraussetzung für langfristi-
Noch wichtiger als die externe Anerkennung gen Profit und nicht umgekehrt.
sind jedoch die Impulse, welche die gemeinsa-
me Wertschöpfung dem wirtschaftlichen Ge-
schäftsgang verleiht. Bleiben wir bei Maggi: Da
Eisenmangel bei Menschen in Westafrika häufig
auftritt, lancierte Nestlé vor neun Jahren dort
einen mit Eisen angereicherten Kochwürfel.
Eisenmangel gilt als einer der Hauptgrün-
de für die Blutkrankheit Anämie, welche ins-
besondere bei Kindern zu physischer und Christian Frutiger Christian A. Vousvouras
mentaler Unterentwicklung führen kann. Die Leiter Global Public Affairs, PhD HSG, Public Affairs
Nestlé, Vevey Specialist, Nestlé, Vevey
Maggi-Kochwürfel unterscheiden sich in Ge-

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  37
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

Nach dem Gespräch


beim Restaurant
Grosse Schanze in
Bern: Tobias Meili (l.),
Syngenta, und
Mark Herkenrath,
Alliance Sud

CHRISTOPH BIGLER / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


FOKUS

Wie ernst meinen es Schweizer


Unternehmen mit verantwortungs-
vollem Wirtschaften?
Tobias Meili, Leiter Corporate Legal bei Syngenta, erklärt im Gespräch mit der «Volks-
wirtschaft», der Agrarchemiekonzern Syngenta prüfe mit internen Audits die Einhal-
tung von Umweltvorschriften. Lippenbekenntnisse von Unternehmen würden dadurch
schnell entlarvt. Für Mark Herkenrath, Geschäftsführer des Hilfswerk-Dachverbandes
Alliance Sud, treffen zu viele Unternehmen noch keine Massnahmen zum Schutz von
Menschenrechten und Umwelt – weshalb er die Konzernverantwortungs-Initiative mit-
lanciert hat.  Susanne Blank

Syngenta ist seit kurzem in chinesischen Händen. Haben Sie Namen?


Herr Meili, in einem internen Verhaltenskodex Herkenrath: Ich möchte hier kein einzelnes
definiert der Konzern unter anderem den Um- Unternehmen an den Pranger stellen. Es gibt
gang mit Pestiziden oder die Arbeitsrechte. Was Dutzende von gut dokumentierten Menschen-
passiert mit solchen Standards nach der Über- rechtsverletzungen durch verschiedene Unter-
nahme durch Chemchina? nehmen mit Sitz in der Schweiz.
Tobias Meili: Der Code of Conduct gilt weiter-
hin. Das haben wir bei den Verhandlungen mit Soll ein Unternehmen Risikoländer besser meiden?
Chemchina sichergestellt. Die Garantie gilt vor- Meili: Das wäre falsch. Damit würden sie der
erst für fünf Jahre. Ich bin aber zuversichtlich, Wirtschaft des Gastlandes schaden, denn mul-
dass die Massnahmen weitergeführt werden. tinationale Unternehmen schaffen Arbeits-
Denn China steht den UNO-Leitprinzipien für plätze und steigern die Wohlfahrt. Vielmehr
Wirtschaft und Menschenrechten gar nicht braucht es zwei Dinge: Erstens müssen sich die
so ablehnend gegenüber, wie gemeinhin ange- Unternehmen an die lokalen Gesetze halten –
nommen wird. Das Land hat sich beispielsweise
für die Schaffung einer UNO-Arbeitsgruppe zu
Wirtschaft und Menschenrechten eingesetzt, Die Gesprächspartner
während einige westliche Staaten dagegen wa- Tobias Meili (47) ist seit 2007 beim Agrarchemiekonzern
ren. Zudem besteht Syngenta aus 28 000 Indi- ­Syngenta als General Counsel Corporate Legal tätig. Syngenta
viduen, die meisten hoch qualifizierte Spezia- wurde dieses Frühjahr vom chinesischen Chemieunternehmen
Chemchina übernommen und wird an der Börse dekodiert. Zu-
listen, welche schnell weg wären, wenn sie das
vor arbeitete der promovierte Rechtsanwalt als Legal Councel
Gefühl hätten, dass der chinesische Staat Vor- beim Beratungsunternehmen Accenture und als Anwalt bei Lenz
gaben machen würde. Gerade den jungen Mit- & Staehelin Rechtsanwälte. Der dreifache Vater wohnt mit sei-
arbeitenden sind Unternehmenswerte sehr ner Frau im Kanton Aargau.

wichtig. Mark Herkenrath (44) ist seit zwei Jahren Geschäftsleiter von Al-
Mark Herkenrath: Ich bin froh zu hören, dass liance Sud, der Arbeitsgemeinschaft der Schweizer Hilfswerke
sich Syngenta auch nach dem Eigentümerwech- Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas und Heks.
Im Jahr 2008 war er dort als Verantwortlicher für internationa-
sel für Menschenrechte und Umweltstandards
le Finanzen und Steuerpolitik eingetreten. Seit diesem Jahr ist er
einsetzt. Leider ist das nicht bei allen Unterneh- zudem Titularprofessur für Soziologie an der Universität Zürich.
men so. Er wohnt in Zürich.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  39
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

das ist das Minimum. Zweitens muss ein Kon-


zern Standards erarbeiten, welche er unabhän-
gig von den lokalen Gesetzen durchzieht. So
gelten unsere Umweltschutzvorschriften welt-
weit – egal ob in der Schweiz, in Bangladesch
oder in Indien.

Sind diese Vorgaben verbindlich?


Meili: Absolut. Mit internen Audits überprüfen
wir, ob sie eingehalten werden.
Herkenrath: Die Unternehmen haben eine gros-
se Verantwortung. Es genügt aber nicht, wenn
ein Konzern das nur bei sich und seinen Toch-
terfirmen macht. Er muss sich auch bei den da-
für einsetzen, dass dort Menschenrechtsverlet-
zungen vermieden werden. Dies halten auch die
UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Men-
schenrechte fest.
Meili: Wir machen das bereits. Unsere Zuliefe-
rer müssen gewisse Minimalstandards erfül-
len. Es stellt sich aber die Frage, wie tief man bei
einer Zulieferkette geht. Gerade bei verarbeite-
ten Produkten verlieren sich die Spuren schnell.
Oft fehlen kleineren Firmen zudem die techni-
schen Möglichkeiten, die Standards umzuset-
zen. Hier kommen die Staaten ins Spiel. Sie sol-
len die Standards gegenüber den Zulieferern
durchsetzen. Nebst den Gastländern sind auch
die Mutterländer der Konzerne involviert. Bei-
spielsweise die Schweiz.

Der Bundesrat hat ein Positionspapier und


einen Aktionsplan zu verantwortungsvollem
Wirtschaften verabschiedet. Was halten Sie
davon? der Leitung des Wirtschaftsministers in den
Herkenrath: Leider hat er all diese Fortschritte Iran, um Investitionen zu ermöglichen.
erst gemacht, als öffentlicher Druck ausgeübt
wurde, nicht zuletzt dank der Petition Recht Wo liegt das Problem?
ohne Grenzen, der Vorgängerin der Konzern- Herkenrath: Der Delegation wurden keinerlei
verantwortungs-Initiative. Der Bund nimmt Vorgaben zu verantwortungsvoller Unterneh-
seine Verantwortung noch zu wenig wahr, mensführung mit auf den Weg gegeben – ob-
denn der Aktionsplan ist freiwillig. Deutsch- wohl im Iran das Risiko von Menschenrechts-
land hat sich beispielsweise für ein stufenwei- verletzungen gross ist.
ses Vorgehen entschieden: Zuerst werden frei-
willige Massnahmen ausprobiert, wenn diese Herr Meili, was soll der Staat tun?
nicht greifen, werden Gesetze erlassen. Der Meili: Der Bund spielt erstens eine wichtige Rol-
Bundesrat handelt zudem widersprüchlich: le als Vermittler zwischen den Interessengrup-
Einerseits hat er ein Positionspapier zur Corpo- pen – beispielsweise zwischen Industrie und
rate Social Responsibility verabschiedet. Ande- NGOs. Zweitens soll er den Firmen das Rüst-
rerseits geht eine Wirtschaftsdelegation unter zeug zur Verfügung stellen, damit diese auslän-

40  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

dische Märkte einfacher erschliessen können. schenrechte und die Umwelt ernst nimmt, soll
Und drittens kann der Bund andere Staaten bei aber nicht von der jeweiligen Leitung abhän-
der Gesetzgebung und deren Umsetzung unter- gen, sondern es müssen sich alle Unternehmen
stützen. daran halten. Diejenigen, die alles gut machen
wollen, werden sowieso einen Schritt weiter
Kommen wir zurück auf die Unternehmen. Vor gehen.
sieben Jahren sah sich der Nahrungsmittelkon- Meili: Lippenbekenntnisse werden schnell ent-
zern Nestlé mit einem der ersten Shitstorms kon- larvt. Sie müssen nur in die Produktionswerke
frontiert. Greenpeace kritisierte das im Schoko- gehen und schauen, ob das, was in den Hoch-
riegel KitKat enthaltene Palmöl und sagte, der glanzprospekten steht, auch umgesetzt wird.
Lebensraum von Orang-Utans sei dadurch be- Und wie gesagt: Die Mitarbeiter fordern echtes
droht. Wie sieht es heute aus: Geht es den Kon- Engagement.
zernen darum, den nächsten Shitstorm zu ver- Herkenrath: Der Druck, der von den Angestell-
meiden, oder erleben wir echtes Engagement? ten ausgeht, ist zweifellos sehr wichtig. Er ge-
Herkenrath: Einige meinen es sicher ernst. Ob nügt aber nicht: Von den 100 grössten Unter-
eine Firma ihre Verantwortung für die Men- nehmen der Schweiz verfügen 60 Prozent über

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  41
VERANTWORTUNGSVOLLES WIRTSCHAFTEN

keinen Code of Conduct. All diesen Firmen nationalen Standards. Wie soll man beweisen,
­rennen die Arbeitskräfte ja nicht davon. dass man sorgfältig gehandelt hat, wenn man
gar nicht weiss, was man einhalten muss? Dies
Braucht es eine andere Art von Führungskräf- kollidiert mit dem Grundsatz der Rechtsstaat-
ten? lichkeit im Sinne des Legalitätsprinzips. Es ist,
Meili: In den letzten zwanzig Jahren ist das Be- wie wenn Sie auf einer Autobahn unterwegs
wusstsein der Führungskräfte punkto Nachhal- sind und nicht wissen, wie schnell Sie fahren
tigkeit stark gestiegen. Und das ist gut so. dürfen. Mit der EU-Richtlinie zum Non-Finan-
cial-Reporting kann ich beispielsweise leben,
Herr Herkenrath, zusammen mit anderen NGOs weil dort keine Haftung enthalten ist.
haben Sie Unterschriften für die Konzernverant- Herkenrath: Ihre Argumentation stimmt nicht.
wortungs-Initiative gesammelt. Braucht es die- Die UNO-Leitprinzipien und diverse nationa-
se Initiative? le Regulierungen definieren die Sorgfaltsprü-
Herkenrath: Ja. Es braucht sie, weil zu viele fungspflicht bereits jetzt. Mit der Initiative wür-
Unternehmen keine freiwilligen Massnahmen de ein internationaler Standard in Schweizer
treffen, um Menschenrechte und Umwelt zu Recht gegossen. Wir sind nicht Vorreiter, bei-
schützen. Firmen, welche dies nur zu Marke- spielsweise kennt Grossbritannien den Modern
tingzwecken tun, schaden der Reputation der Slavery Act, der ebenfalls eine Sorgfaltsprü-
Schweiz und den Unternehmen, die es ernst fungspflicht festschreibt. In der Schweiz wer-
meinen. den auch die bereits existierenden freiwilligen
Massnahmen in den Gesetzgebungsprozess ein-
Herr Meili, was halten Sie von diesem Vorhaben? fliessen.
Meili: Die Zielsetzung unterstützen wir. Bei der Meili: Die Krux liegt ja darin, dass Schweizer
Ausgestaltung geht die Initiative aber zu weit. Unternehmen an einem un-
Inakzeptabel ist die Haftungsbestimmung, die bekannten Katalog von inter-
eingeführt werden soll. Verantwortungsvolle nationalen Standards gemes- «Opfer von Menschen-
Unternehmensführung wird dadurch zu einer sen werden könnten, statt an rechtsverletzungen ge-
buchhalterischen Risikomanagement-Übung. Schweizer Gesetzen. langen lieber direkt an
die Medien als an den
Was ist die Grundidee der Initiative, Herr Her- In der Schweiz gibt es einen
kenrath? Nationalen Kontaktpunkt, Nationalen Kontakt-
Herkenrath: Die Idee ist: Alle Schweizer Kon- der beim Seco angesiedelt punkt.»
zerne müssen eine Sorgfaltsprüfung bezüglich ist. Dort können vermutete Mark Herkenrath
Menschenrechten und Umwelt durchführen. Verstösse gegen die OECD-
Das heisst: Sie müssen genau hinschauen, wo Leitsätze für multinationale Unternehmen ge-
Probleme auftreten können und entsprechende meldet werden. Reicht das nicht aus?
Massnahmen ergreifen. Wegschauen darf nicht Meili: Der Kontaktpunkt funktioniert ähnlich
mehr möglich sein. In besonders schlimmen wie eine Ombudsstelle. Ein Beschwerdefüh-
Fällen haben wir einen Sanktionsmechanis- rer erhält die Möglichkeit, über einen Dritten
mus eingebaut: Ein Konzern, der direkt oder via als Vermittler mit dem Unternehmen zu reden,
Tochterfirma Menschenrechte verletzt, soll da- wenn die Gespräche auf direktem Weg geschei-
für geradestehen. Es sei denn, er könne zeigen, tert sind. Das finde ich sinnvoll.
dass die Sorgfaltsprüfung umsichtig durchge- Herkenrath: Der Kontaktpunkt ist wichtig, wenn
führt wurde – in diesem Fall ist er von der Haf- es darum geht, in einem Streit zu schlichten. Er
tung befreit. Die Initiative hat somit hauptsäch- kann sich zudem um Konflikte zur Steuerver-
lich präventiven Charakter. Firmen, die eine meidung kümmern – ein Bereich, den die Kon-
Sorgfaltsprüfung durchführen, werden belohnt. zernverantwortungs-Initiative nicht abdeckt.
Meili: Die Haftungsbestimmung ist keine Beloh- Aber er ersetzt griffige Massnahmen bei weitem
nung für ein Unternehmen, sondern ein Risiko. nicht. Das Problem ist: Die informelle Schlich-
Denn bei Umweltstandards gibt es keine inter- tung geschieht unter Ausschluss der Öffentlich-

42  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


FOKUS

keit. Am Schluss des Schlichtungsprozesses er- Meili: Haben Sie konkrete Beispiele?
fahren wir aus den Berichten nichts Konkretes. Herkenrath: Auch hier möchte ich keine be-
Viele NGOs oder Opfer von Menschenrechtsver- stimmten Unternehmen an den Pranger stellen.
letzungen gelangen deshalb lieber direkt an die Meili: Indem Sie die KMU von den Bestimmun-
Medien als an den Nationalen Kontaktpunkt, gen ausnehmen, haben Sie ein
weil sie so mehr Druck ausüben können. Glaubwürdigkeitsproblem.
Denn die UNO-Arbeitsgrup- «Es ist, wie wenn Sie
Wir haben vor allem über die Tätigkeiten von pe verurteilt Einschränkung
Unternehmen im Ausland gesprochen. Viele Fir- nach der Unternehmensgrös-
auf einer Autobahn
men sind aber ausschliesslich in der Schweiz tä- se. Es scheint mir, dass die In- unterwegs sind und
tig. Halten diese die OECD-Standards ein? itiative gezielt gegen Gross- nicht wissen, wie
Meili: Die absolute Mehrheit der Unternehmen, konzerne gerichtet ist: Für die schnell Sie fahren
auch solche, die international tätig sind, halten KMU finden Sie beruhigende
die Prinzipien ein. Für die einzelnen Entgleisun- Worte und die Grosskonzerne dürfen.»
gen haben wir funktionierende Gerichte. Der stellen Sie als die Bösen dar. Tobias Meili
Nationale Aktionsplan und bestehende interna- Das ist inkonsequent.
tionale Regelungen sind somit griffig genug. Herkenrath: Es geht um eine angemessene, ri-
Herkenrath: Wir haben in der Schweiz gut aus- sikobasierte Sorgfaltsprüfung. Wie gesagt, ein
gebaute Möglichkeiten, um gegen die Ver- KMU, das im Diamantenhandel tätig ist, ist
letzung von Menschen- und Umweltrechten nicht ausgenommen. Faktisch ist die Mehrheit
vorzugehen. Deshalb gilt für kleine und mittel- der Schweizer KMU aber nicht in solchen Risi-
grosse Unternehmen in unserer Initiative eine kogebieten tätig.
erleichterte Sorgfaltspflicht, ausser wenn sie in
Hochrisikobereichen tätig sind. Problematisch Moderation: Susanne Blank,
sind nicht zuletzt Konzerne, die ihren Sitz aus Chefredaktorin «Die Volkswirtschaft»
steuertechnischen Gründen in die Schweiz ver-
legen und im Ausland die Menschenrechte ver-
letzen. Solche Firmen schaden der Reputation
des Landes. Und das ist mir als Schweizer nicht
egal.
KINDERFREMDBETREUUNG

Investition in die Zukunft:


Ein höherer Kita-Abzug im Steuerrecht
Eltern sollen höhere Kinderdrittbetreuungskosten von den Steuern abziehen können. Dies
schlägt der Bundesrat in einer laufenden Vernehmlassung vor. Davon erhofft er sich unter
anderem stärkere Beschäftigungsanreize für Mütter.   Brigitte Behnisch

sprechende Vorlage in die Vernehmlassung


Abstract  Im April 2017 hat der Bundesrat im Rahmen der Fachkräfteinitiative die Ver-
geschickt, welche bis zum 12. Juli 2017 dauert.4
nehmlassung zur steuerlichen Berücksichtigung der Kinderdrittbetreuungskosten
eröffnet. Um dem inländischen Fachkräftemangel entgegenzuwirken und die Verein-
barkeit von Beruf und Familie zu verbessern, sollen bei den Steuern künftig höhere Höherer Abzug bei der
Abzüge für die Kinderdrittbetreuungskosten zugelassen werden. Eltern sollen beim Bundessteuer
Bund die Kosten bis maximal 25 000 Franken pro Kind abziehen können. Die Kantone
sollen verpflichtet werden, für den Abzug eine Obergrenze zu bestimmen, die nicht Gemäss Bundesrat sollen Eltern bei der di-
unter 10 000 Franken pro Kind liegt. Von einem höheren Abzug profitieren insbeson- rekten Bundessteuer Drittbetreuungskos-
dere Eltern mit Kleinkindern. ten künftig bis maximal 25 000 Franken pro
Kind vom Einkommen abziehen können. Den
Kantonen soll zudem im Steuerharmonisie-
rungsgesetz vorgeschrieben werden, dass

O  bwohl in der Schweiz die Beschäfti-


gungsquote der Frauen im internatio-
nalen Vergleich hoch ausfällt, sind die geleis-
Vereinfacht gesagt, gilt: Je tiefer die Ober-
grenze ist, desto mehr Steuerpflichtige mit
Kindern sind von der beschränkten steuer-
die Obergrenze für den Kinderdrittbetreu-
ungsabzug nicht weniger als 10 000 Franken
betragen darf. Die Kantone können mit dieser
teten Arbeitsstunden aufgrund des hohen lichen Berücksichtigung betroffen. Eine Be- Einschränkung den Maximalbetrag aber wei-
Anteils an Teilzeiterwerbstätigen sehr tief. grenzung des Abzugs kann unter Umständen terhin selber festlegen.
Gründe sind laut einer OECD-Studie unter an- dazu führen, dass Eltern auf eine Ausweitung Die Ausgestaltung des Kinderdrittbetreu-
derem ein unzureichend ausgebautes und zu des Beschäftigungsgrades verzichten, weil es ungsabzugs bliebe hingegen gleich wie bis-
teures Kinderdrittbetreuungssystem. Denn: sich finanziell nicht lohnt. her. So würde beispielsweise weiterhin nicht
Neben der familiären Situation, den Erwerbs- Eine nicht subventionierte Betreuung in zwingend eine Erwerbstätigkeit wie bei
einkünften des Partners sowie den Wertvor- einer Kindertagesstätte (Kita) an fünf Arbeits- einem Berufskostenabzug vorausgesetzt,
stellungen bezüglich des Familienmodells tagen in der Woche kostet heute in den meis- sondern die Betreuungskosten würden eben-
können auch die Kosten der familienexter- ten Kantonen zwischen 2200 und 2700 Fran- falls aufgrund einer Ausbildung oder einer Er-
nen Kinderbetreuung und deren steuerliche ken pro Monat. Pro Jahr können Kosten von werbsunfähigkeit  steuerlich berücksichtigt.
Behandlung die Erwerbsanreize von Eltern – bis zu 32 000 Franken pro Kind resultieren. Auch die Anspruchsvoraussetzungen blie-
insbesondere diejenigen von Frauen – beein- Die geltenden, maximal zulässigen Steuer- ben laut dem Vernehmlassungsvorschlag un-
flussen.1 abzüge werden somit zum Teil deutlich über- verändert. Wie bis anhin könnten somit nur
Heute ist bei der direkten Bundessteuer schritten. Der negative Erwerbsanreiz, den jene Steuerpflichtigen den Abzug geltend
ein jährlicher Abzug für die nachgewiese- die hohen Betreuungskosten verursachen, machen, die zusammen mit den drittbetreu-
nen Kosten der Drittbetreuung eines Kin- wird in solchen Fällen durch das Steuersys- ten Kindern im gleichen Haushalt leben und
des bis maximal 10 100 Franken pro Kind tem nochmals verstärkt. für deren Unterhalt sorgen. Der Abzug wür-
zulässig.2 Die Kantone sind aufgrund des Im Rahmen der Fachkräfteinitiative (FKI), de zudem weiterhin nur für Kinder gelten, die
Steuerharmonisierungsgesetzes verpflich- die zum Ziel hat, das inländische Potenzial an das 14. Altersjahr noch nicht vollendet haben.5
tet, die Kosten für die Drittbetreuung von Fachkräften mit arbeitsmarktlichen und bil- Die effektiv angefallenen Kinderdrittbe-
Kindern zum Abzug zuzulassen, wobei sie dungspolitischen Massnahmen besser aus- treuungskosten können gemäss dem Vor-
die maximale Höhe des Abzugs selber be- zuschöpfen, überprüfte das Eidgenössische schlag wie bisher nur geltend gemacht wer-
stimmen.3 Folglich sind die Unterschie- Finanzdepartement (EFD) die steuerliche Be- den, wenn die Eigenbetreuung der Kinder in
de zwischen den Kantonen gross; sie vari- handlung der Kinderdrittbetreuungskos- direktem kausalem Zusammenhang mit der
ieren zwischen 3000 Franken (in Nidwal- ten hinsichtlich negativer Erwerbsanreize im Erwerbstätigkeit, der Ausbildung oder der
den und im Wallis) und 19 200 Franken (in Steuersystem. Aufgrund dieses Prüfberichts Erwerbsunfähigkeit nicht wahrgenommen
Neuenburg) pro Kind. Im Kanton Uri können kam der Bundesrat zum Schluss, dass die Kin- werden konnte. Drittbetreuungskosten, die
sämtliche nachgewiesenen Kosten abgezo- derdrittbetreuungskosten künftig steuerlich
4 Titel der Vernehmlassung: Steuerliche Berücksichti-
gen werden. besser berücksichtigt werden sollen, um dem gung der Kinderdrittbetreuungskosten, abrufbar unter
inländischen Fachkräftemangel entgegenzu- Admin.ch.
1 OECD (2013). 5 Vgl. ESTV-Kreisschreiben Nr. 30: Ehepaar- und Familien-
2 Art. 33 Abs. 3 DBG, SR 642.11
wirken und die Vereinbarkeit von Beruf und besteuerung nach dem Bundesgesetz über die direkte
3 Art. 9 Abs. 2 Bst. m StHG, SR 642.14 Familie zu verbessern. Im April hat er eine ent- Bundessteuer (DBG).

44  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


KINDERFREMDBETREUUNG

Elternteile in etwa gleich viel arbeiten, sowie


einkommensstärkere Haushalte, da bei die-
sen Haushaltsformen aufgrund des hohen Er-
werbsumfangs und der nicht oder nur gering
subventionierten Plätze hohe Betreuungs-
kosten anfallen, die mit dem Steuerabzug
nicht voll berücksichtigt werden. Aufgrund
der Steuerprogression würden einkommens-
starke Haushalte mehr entlastet als solche mit
tieferen Einkommen. Eine Erhöhung des Ab-
zugs würde somit gezielt den Personen zugu-
tekommen, die aufgrund hoher Betreuungs-
kosten und Steuern von einer Ausweitung des
Beschäftigungsgrades absehen.
Gemäss Bundesrat dürften aufgrund sin-
kender Betreuungskosten – infolge des er-
höhten Steuerabzugs – die Arbeitsmarktpar-
tizipation und damit auch die Nachfrage nach
Betreuungsangeboten steigen. Aufgrund der
eher hohen Qualifikation der Zielgruppen
würde dies zu einer besseren Ausnutzung des
Fachkräftepotenzials, zu einer Belebung des
Arbeitsmarktes und letztlich auch zu einer
Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Pro-
duktivität führen. Dies würde sich länger-
fristig auch günstig auf die Steuereinnahmen
auswirken.
Tendenziell würden die Erwerbsanreize
DREAMSTIME

insbesondere für gut qualifizierte Mütter ge-


stärkt. Kurz- bis mittelfristig wäre mit einer
Zunahme um schätzungsweise rund 2500
Eltern sollen dereinst bei der Bundessteuer Dritt-
betreuungskosten von bis zu 25 000 Franken pro
Vollzeitstellen zu rechnen. Diese Schätzung
Kind abziehen können. gen wird, dass nur diejenigen Kantone den der ESTV ist allerdings aufgrund der zahlrei-
Abzug auf exakt 10 000 Franken erhöhen, die chen Annahmen mit hohen Unsicherheiten
derzeit einen niedrigeren Betrag kennen. Auf ­behaftet.7
ausserhalb der Arbeits- oder Ausbildungszeit längere Sicht ist nach Ansicht des Bundesra- 7 Vgl. ESTV (2015c).
der Eltern angefallen sind, wie etwa durch Ba- tes davon auszugehen, dass ein erhöhter Kin-
bysitten am Abend, oder für Freizeitaktivitä- derdrittbetreuungs abzug sich aufgrund der
ten wie einen Tennis- oder Malkurs, können positiven Beschäftigungsimpulse selber fi-
weiterhin nicht abgezogen werden, da sie als nanziert oder sogar zusätzliche Steuer- und
steuerlich nicht abziehbare Lebenshaltungs- Sozialversicherungseinnahmen generiert.
kosten gelten.
Theoretisch ist zwar klar: Um negative Er- Eltern mit Kleinkindern
werbsanreize im Steuerrecht vollständig zu
beseitigen, müssten die effektiven Kosten
profitieren
Brigitte Behnisch
für die Drittbetreuung der Kinder unbegrenzt Von einem höheren Abzug profitieren haupt- Dr. iur., Projektleiterin steuerpolitische
zum Abzug zugelassen werden. In der Pra- sächlich Eltern mit Kleinkindern im Vorkin- Geschäfte, Eidgenössische
xis dürfte eine Abgrenzung von effektiv not- dergartenalter und Eltern mit mittleren und Steuerverwaltung (ESTV), Bern
wendigen Kinderdrittbetreuungskosten und hohen Einkommen, wie ein Bericht der Eidge-
nicht abziehbaren Lebenshaltungs- oder «Lu- nössischen Steuerverwaltung (ESTV) zeigt.6 Literatur
xusausgaben» jedoch nicht einfach vorzu- Der Grund: Die Kinderdrittbetreuungskos- ESTV (2015a). Unterschiedliche Behandlung von
nehmen sein. Der Bundesrat hat nicht zuletzt ten übersteigen den beim Bund gewährten Ehepaaren und Konkubinatspaaren bei der direkten
Bundessteuer und steuerliche Behandlung der
auch aus diesem Grund auf einen unbegrenz- Maximalbetrag meist nur bei Kleinkindern. Kinderdrittbetreuungskosten.
ten Abzug verzichtet. Mit Eintritt des Kindes in den Kindergarten ESTV (2015b). Kinderdrittbetreuungskosten und
steuerliche Abzugsfähigkeit, Erkenntnisse aus den
Kurzfristig hätte die Reform jährliche ge- scheint die Obergrenze hingegen keine effek- Steuerdaten der Kantone Aargau und Bern.
schätzte Mindereinnahmen in der Höhe von tive Beschränkung mehr darzustellen. (ESTV 2015c). Welche Beschäftigungseffekte lösen
steuerliche Entlastungen für Ehepaare und Eltern
rund 10 Millionen beim Bund zur Folge. Bei Die Begrenzung des heutigen Steuerab- aus? Erkenntnisse aus der internationalen Literatur
den Kantonen und Gemeinden wäre mit ins- zugs trifft vor allem Haushalte, in denen beide mit einer Anwendung auf mögliche Steuerreformen
in der Schweiz.
gesamt rund 25 Millionen Franken Minderein- OECD (2013). OECD Economic Surveys: Switzerland
nahmen zu rechnen, wobei davon ausgegan- 6 ESTV (2015a); vgl auch ESTV (2015b). 2013, Paris, November 2013.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  45
INTEGRATIONSPOLITIK

Die wirtschaftliche Integration von


Asylsuchenden senkt die Kriminalität
Eine von Krieg geprägte Kindheit kann die individuelle Gewaltneigung verstärken. Das ist
jedoch kein Grund, um Asylsuchende aus Konfliktgebieten abzuweisen. Mit einer sachge-
rechten Integrationspolitik lässt sich das zusätzliche Aggressionspotenzial neutralisieren.  
Dominic Rohner, Mathias Thoenig, Mathieu Couttenier, Veronica Preotu

son haben könnte, die der kriegerischen Aus-


Abstract  Europa ist gegenwärtig ein Magnet für zahlreiche Asylsuchende, die haupt-
einandersetzung während ihrer Jugend (im
sächlich aus Kriegsgebieten stammen. Die Gegner dieser Migrationswelle machen
unter anderem geltend, diese Zuwanderung führe möglicherweise zu einem Anstieg Alter von ein bis zwölf Jahren) ausgesetzt war.
der Kriminalität. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass das Risiko, dass eine Dazu fokussieren wir uns auf die Kriminalität
Person zu einem späteren Zeitpunkt ein Gewaltverbrechen begeht, bei einer von Krieg von Asylsuchenden, die sich zwischen 2009
geprägten Kindheit über ein Drittel grösser ist, als bei jemandem aus demselben Her- und 2012 in der Schweiz aufgehalten haben.
kunftsland, der nie einem solchen Konflikt ausgesetzt war. Diese Tatsache ist indes- Da die betreffenden Personen nicht mehr in
sen kein ausreichendes Argument, um Asylsuchenden die Zuwanderung zu verweh- ihrem Herkunftsland leben, kann so der Ef-
ren. Denn wenn Asylsuchenden in ihrem Aufnahmeland der Zugang zum Arbeitsmarkt fekt früherer Kriegserfahrungen untersucht
ermöglicht wird, nimmt das Risiko von Gewalttaten signifikant ab. Einige Kantone ha- werden, ohne dass die ursprünglichen Fakto-
ben zwar bereits vielversprechende Instrumentarien eingeführt, doch es wäre wün- ren des Umfelds noch eine Rolle spielen.
schenswert, dass der Bund bei der wirtschaftlichen Integration von Asylsuchenden Die untersuchte Stichprobe umfasst aus-
eine bedeutendere Rolle übernimmt. schliesslich Personen aus Ländern, in denen
kürzlich ein Konflikt ausgetragen wurde. Die
Kriminalität soll dabei anhand von zwei Teil-

F  ührt in der Vergangenheit erlebte Gewalt


zu Gewalttätigkeit in der Gegenwart?
Falls dies zutrifft: Mit welcher staatlichen
Konflikte in der Jugend –
Gewalt im Erwachsenenalter
stichproben verglichen werden: einerseits
Personen, die während ihrer Kindheit einen
Krieg miterlebt haben (siehe Abbildung, rot),
Politik lässt sich dieses Risiko vermindern? In einem kürzlich veröffentlichten Artikel2 und andererseits Personen, die erst nach der
Diese Fragen sind insbesondere seit 2015 quantifizieren wir den Effekt, den ein Krieg Beendigung des Konflikts geboren wurden
wichtig geworden, da seither viele Asyl- auf allfällige künftige Gewalttaten einer Per- (blau). Die Studie zeigt, dass Personen unter
suchende aus Kriegsgebieten nach Europa 2 Couttenier et al. (2016).
20 Jahren in beiden Gruppen eine hohe und
kommen. Asylsuchende in der Schweiz sind
typischerweise junge Männer, die während
ihrer Kindheit mit einem Bürgerkrieg oder Kriminalität und Kriegserfahrung während der Kindheit
Genozid konfrontiert waren. Auch wenn ei-
nige dieser Migranten ihr Heimatland erst 5       Neigung, ein Gewaltverbrechen zu verüben, in %
mehrere Jahre nach der Beendigung dieses
Konflikts verlassen, handelt es sich in allen 4
Fällen um eine angeschlagene Bevölkerungs-
COUTTENIER, PREOTU, ROHNER UND THOENIG / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

gruppe, die grösstenteils durch eine äusserst


3
schwere Jugend traumatisiert ist. Die Fach-
literatur zeigt deutlich, dass in Ländern, die
2
einen Konflikt hinter sich haben, das Risi-
ko von erneuten Auseinandersetzungen am
grössten ist. Über zwei Drittel der Kriege, 1

die in den letzten zehn Jahren ausgebrochen


sind, wurden in Ländern ausgetragen, in 0
denen schon zuvor einmal ein Krieg stattge-
funden hat.1 Die Zerstörung der Infrastruktur -1
sowie des Human- und Sozialkapitals ist die 16-17 18-20 21-24 25-29 30-34 35-39 40-44 45+
häufigste Begründung für diese «Konfliktfal- Altersstufen
le», die sich auf die Entwicklung der betroffe-   Personen, die erst nach Beendigung eines Konflikts geboren wurden       Konfidenzintervall     
nen Länder sehr nachteilig auswirkt.   Personen, die während ihrer Kindheit einen Krieg miterlebt haben       Konfidenzintervall
Die Neigung, ein Gewaltverbrechen zu verüben, entspricht der durchschnittlichen jährlichen Anzahl
1 Collier und Hoeffler (2004). solcher Verbrechen pro 100 Personen.

46  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


INTEGRATIONSPOLITIK

mehr oder weniger vergleichbare Kriminalität ten geeignet ist, um die festgestellte Abwei- minalitätsrisiko, das mit Kriegsflüchtlingen
aufweisen. Ab 20 Jahren nimmt die Krimina- chung bei der Kriminalität zwischen den bei- unter Umständen verbunden ist, kein über-
lität von Personen, die nach einem Krieg ge- den untersuchten Gruppen zu verringern. In zeugendes Argument ist, um ihnen die Auf-
boren wurden, mit zunehmendem Alter stark diesem Zusammenhang soll der Zugang von nahme als Asylsuchende zu verweigern. An-
ab. Im Gegensatz dazu geht die Kriminalität Asylsuchenden zum Arbeitsmarkt erleichtert lass zur Sorge wäre nur gerechtfertigt, wenn
von Personen, die in ihrer Jugend mit einem und beschleunigt werden. Dazu gibt es drei keine staatliche Politik bestehen würde, die
Krieg konfrontiert waren, mit zunehmendem Interventionsschwerpunkte: Erstens muss Asylsuchenden den Zugang zum Arbeits-
Alter weit weniger deutlich zurück. Wer im Al- eine möglichst kurze Wartezeit für Stellen- markt ermöglicht. Mit anderen Worten:
ter von eins bis zwölf Jahren eine Kriegserfah- bewerbungen vorgesehen werden. Zweitens Die  Schweiz kann ihrer humanitären Tradi-
rung machte, für den liegt somit das Risiko, muss der Zugang zu offenen Stellen verbes- tion weiterhin gerecht werden, wenn sie die
dass er zu einem späteren Zeitpunkt ein Ge- sert werden, und drittens müssen Coachings wirtschaftliche Integration von Asylsuchen-
waltverbrechen verübt, im Durchschnitt aller oder Berufspraktika eingeführt werden. Die den fördert. Auf dieser Basis wird das positi-
Altersgruppen mehr als ein Drittel höher. Die- statistische Analyse zeigt, dass diese politi- ve Miteinander in unserem Land nicht infra-
ser Effekt ist bei Frauen geringer als bei Män- schen Handlungskonzepte tatsächlich wirk- ge gestellt.
nern, und bei Eigentumsdelikten ist über- sam sind.
haupt kein solcher Kausalzusammenhang Die potenziell höhere Kriminalität von
festzustellen. Personen, welche während ihrer Jugend
Zwei Drittel der Straftaten, die von Asyl- mit einem kriegerischen Konflikt konfron- Dominic Rohner
suchenden begangen werden, richten sich tiert waren, lässt sich mit einer angemes- Professor am Departement für
Ökonometrie und Volkswirtschaftslehre,
gegen andere Ausländer. Die Schweizer Be- senen Integrationspolitik neutralisieren. So HEC, Universität Lausanne
völkerung ist damit nur von einem Drittel bestätigt eine neuere Studie die positive
dieser Delikte betroffen. Bei Personen, die Wirkung von politischen Massnahmen, bei
während ihrer Jugend mit einem Krieg kon- denen Kriegsveteranen nach einem Konflikt
frontiert waren, ist im Übrigen eine höhere in den Wiederaufbau ihres Landes einbezo- Mathias Thoenig
Professor am Departement für
Kriminalität zu verzeichnen, die gegen Lands- gen wurden.4 Ökonometrie und Volkswirtschaftslehre,
leute gerichtet ist. Dies lässt sich möglicher- Mit der Durchführung von Kursen zur poli- HEC, Universität Lausanne
weise auf das Misstrauen zwischen ehema- tischen Bildung – zu den Gesetzen und dem
ligen Kriegsgegnern zurückführen, das ge- politischen System der Schweiz – kann im
gebenenfalls lange über das Ende eines Weiteren der Unterschied in der Kriminali-
Mathieu Couttenier
Bürgerkriegs hinaus anhält.3 tätsneigung zwischen den beiden Gruppen Assistenzprofessor am Departement für
signifikant verringert werden. Dies ist somit Geschichte, Wirtschaft und Gesellschaft,
eine weitere vielversprechende Politik, um Universität Genf
Mit Integration gegen Gewalt
der Weiterverbreitung von Gewalt entgegen-
vorgehen zuwirken.
Die Forschung hat sich auch mit der Fra- Aus den statistischen Ergebnissen lässt Veronica Preotu
ge befasst, welche staatliche Politik am bes- sich folglich der Schluss ziehen, dass das Kri- Wissenschaftliche Mitarbeiterin,
Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und
Management, Universität Genf
3 Rohner et al. (2013). 4 Annan und Blattman (2016).

Literatur
Annan Jeannie und Blattman Christopher Collier Paul und Hoeffler Anke (2004). Couttenier Mathieu, Preotu Veronica, Rohner Dominic, Thoenig Mathias und
(2016). Can employment reduce Greed and Grievance in Civil War, in: Rohner Dominic und Thoenig Mathias Zilibotti Fabrizio (2013). War Signals:
lawlessness and rebellion? A field experi- Oxford Economic Papers, Nr. 56, S. (2016). The Violent Legacy of Victi- A Theory of Trade, Trust and Conflict, in:
ment with high-risk men in a fragile 563–95. mization: Post-Conflict Evidence on Review of Economic Studies, Nr. 80,
state, in: American Political Science Asylum Seekers, Crimes and Public Policy S. 1114–1147.
Review, Bd. 110, Nr. 1. in Switzerland, CEPR Working Paper
DP11079.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  47
ARBEITSMARKT

24-Stunden-Betagtenbetreuung:
Welche Regeln sind nötig?
Die Arbeitsbedingungen von Migrantinnen in der 24-Stunden-Betagtenbetreuung sind teil-
weise prekär, und diese Arbeitsform gewinnt aufgrund der demografischen Alterung an Be-
deutung. Eine allfällige Gesetzesänderung könnte die Wohn- und Arbeitssituation der Mig-
rantinnen verbessern.   Miriam Frey, Harald Meier
rung auf die betroffenen Akteure und die Ge-
Abstract    Die aktuellen gesetzlichen Regelungen vermögen den neu entstandenen samtwirtschaft.
Markt der 24-Stunden-Betagtenbetreuung nicht abzudecken. Der Bundesrat liess da-
her, gestützt auf einen parlamentarischen Auftrag, verschiedene Möglichkeiten zur
Schliessung dieser Regelungslücke erarbeiten. Die Regulierungsfolgenabschätzung Markt wächst dynamisch
(RFA), welche das Basler Forschungs- und Beratungsunternehmen B,S,S. zuhanden des
Von einer allfälligen Regulierung wären
Staatsekretariats für Wirtschaft (Seco) erstellte, zeigt: Die vorgeschlagenen Varianten
hauptsächlich drei Gruppen betroffen: Ers-
stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen der Verbesserung der Arbeitsbedin-
tens die Betreuerinnen, zweitens die Betreu-
gungen für die Beschäftigten einerseits und der finanziellen Tragbarkeit für die Klien-
ten und drittens die Anbieter der Dienstleis-
ten andererseits. Ein entscheidender Punkt ist dabei die in der Praxis unterschiedliche
tung, welche als Arbeitsvermittler oder – was
Betreuungsintensität, die im Regelungsinhalt zu berücksichtigen sein wird.
häufiger der Fall ist – als Personalverleiher die
Beschäftigungsverhältnisse organisieren. Da-
neben rekrutieren die Haushalte auch direkt,

D  ie Arbeitsbedingungen von Betreuerin-


nen in der 24-Stunden-Betagtenpflege,
insbesondere die Arbeits- und Ruhezeiten,
sekretariat für Wirtschaft (Seco) gestützt auf
ein Postulat 2015 angenommen und in Zu-
sammenarbeit mit weiteren Bundesämtern
zum Beispiel über informelle Netzwerke.
Die Zahl der Migrantinnen, die in der
Schweiz in der 24-Stunden-Betreuung tätig
sind aktuell rechtlich nicht verbindlich gere- Vorschläge zur Verbesserung der rechtlichen sind, liegt schätzungsweise zwischen 5000
gelt: Private Haushalte sind dem Arbeitsge- Situation der Pendelmigrantinnen erarbeitet.1 und 30 000 Personen, realistisch sind wohl
setz nicht unterstellt, und zwingende Vorga- Die Vorschläge wurden anschliessend rund 10 000 Pendelmigrantinnen. Genau be-
ben gibt es nur bezüglich des Mindestlohns. einer Regulierungsfolgenabschätzung (RFA) ziffern lässt sich die Zahl nicht, da die offi-
Die überwiegende Mehrheit der Betreuen- unterzogen.2 In dieser Ex-ante-Evalua- ziellen Daten zu den Zuwanderungen nicht
den sind sogenannte Pendelmigrantinnen. tion prüfte das Basler Forschungs- und Be- genügend differenziert sind. Zudem fehlen
Damit sind Frauen gemeint, die im Wochen- ratungsunternehmen B,S,S. im Auftrag des ungemeldete Personen in den offiziellen Sta-
oder Monatsrhythmus zwischen ihrem Hei- Seco Kosten, Nutzen und mögliche unbeab- tistiken.
matland und der Betreuungstätigkeit in der sichtigte Effekte einer vorgesehenen Regulie- Da sich üblicherweise zwei Frauen, die sich
Schweiz «pendeln» (siehe Kasten). beispielsweise alle vier Wochen abwechseln,
Die grosse Frage ist: Was zählt als Arbeits- 1 Seco (2015).
einen Betreuungsjob teilen, kann die Anzahl
zeit, und wie ist die Präsenzzeit zu bewerten? 2 B,S,S. (2016).  Klienten auf rund 5000 Personen ­geschätzt
Mit Präsenz ist diejenige Zeit gemeint, in wel-
cher die Betreuerinnen auf Abruf zur Verfü-
gung stehen. In den Verträgen wird zwar oft- Was ist Pendelmigration?
mals eine Wochenarbeitszeit von beispiels- Arbeitnehmer in der 24-Stun- wohl mit Push- (hohe Arbeitslo- sind zudem mehrheitlich allein-
weise 40 Stunden vereinbart, was der Realität den-Betagtenbetreuung sind sigkeit in den Herkunftsländern) stehend.
zumeist Migrantinnen, welche als auch Pull-Faktoren (höheres Die meisten Betreuungsunter-
der 24-Stunden-Betreuung jedoch meist in in einem bestimmten Rhythmus Einkommen in der Schweiz). nehmen bieten die 24-Stun-
keiner Weise entspricht. Vielmehr herrscht zwischen ihrem Heimatland und Aus Sicht der Klienten steht der den-Betreuung in der Regel als
punkto Arbeitszeiten eine grosse Heteroge- der Betreuungstätigkeit «pen- Wunsch im Mittelpunkt, zu Hau- 1-Schicht-Modell an. Das heisst,
deln», weshalb sie als «Pendel- se bleiben zu können. Auch die die Migrantinnen wohnen im
nität und teilweise führt eine «Rund-um-die-
migrantinnen» bezeichnet wer- Entlastung der Angehörigen, die Haus der zu betreuenden Per-
Uhr-Bereitschaft» zu prekären Arbeits- und den. Die meisten dieser Frauen höhere Autonomie und das Be- son und wechseln sich wochen-
Wohnsituationen der Migrantinnen. sind älter als 45 Jahre und stam- dürfnis nach einer persönlichen ­respektive monatsweise ab. Die
Dennoch: Für Klienten, Angehörige wie men primär aus Polen, Ungarn Betreuung sind wichtige Gründe Kosten variieren zwischen 2500
und aus dem Osten Deutsch- für das Engagement einer Be- und knapp 15 000 Franken pro
auch für die Betreuerinnen ist die 24-Stun- lands. Viele können keinen for- treuungsperson. Die Betreuten Monat; der Mittelwert liegt bei
den-Betreuung ein sinnvolles und erwünsch- malen Abschluss im Gesund- leiden oftmals unter Demenz 6900 Franken. Die Pendelmig-
tes Modell. Es stellt sich daher die Frage, wie heitsbereich vorweisen. Da sie oder sind stark pflegebedürftig. rantinnen nutzen die Bewilli-
eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen zuvor oftmals in Deutschland In der Tendenz wird die 24-Stun- gungstypen L, B und G oder das
und Österreich in der Betreuung den-Betreuung am stärksten Meldeverfahren. Ihre Löhne be-
erreicht werden kann, ohne dass die 24-Stun- gearbeitet haben, verfügen sie von Personen, die der Mittel- tragen zwischen 1900 und 6500
den-Betreuung verunmöglicht wird. Die- jedoch über Fachkenntnisse. Die und Obersicht angehören, in An- Franken pro Monat.
ser Herausforderung hat sich das Staats­ Pendelmigration erklärt sich so- spruch genommen. Die Klienten

48  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


ARBEITSMARKT

KEYSTONE
Die 24-Stunden-Betreuung ist oft schlecht
bezahlt.
–– Gesamtarbeitsvertrag (GAV); gungsverhältnisse anstiege. Dies hätte die
werden. Aktuell sind 63 Anbieter von 24-Stun- –– Aufklärungspflicht der Arbeitgeber. unerwünschte Folge, dass sich die Arbeitsbe-
den-Betreuung in der Schweiz tätig.3 Überra- dingungen für viele Migrantinnen sogar ver-
schend ist, dass 11 Firmen, die Arbeitnehmen- Entscheidend für die Wirkung ist, welche schlechterten – umso mehr, da das Angebot
de aus dem Ausland vermitteln oder verleihen, konkreten Regelungsinhalte in diesen Inst- der Betreuerinnen die Nachfrage nach den
keinen Sitz in der Schweiz haben – wenn- rumenten festgelegt werden. Dies gilt insbe- Betreuungsleistungen übersteigt.
gleich dies rechtlich nicht zulässig ist. sondere für die Arbeits- und Ruhezeiten. Da Zur Bewertung der Kosten und Nutzen für
Diese Schätzungen sind Momentaufnah- diese Vorgaben zurzeit noch offen sind, wur- die Klienten und Angehörigen ist die Preis-
men in einem stark wachsenden Markt. Auf- de in der Regulierungsfolgenabschätzung die entwicklung der entscheidende Faktor. Wür-
grund der demografischen Entwicklung wird Regelung der Präsenzzeiten in drei Varianten den die befragten Anbieter allfällige Mehr-
die Zahl der pflegebedürftigen, älteren Perso- analysiert. In der Variante «Minimum» wird kosten vollständig auf die Klienten abwälzen,
nen bis ins Jahr 2030 vermutlich um knapp die die Präsenzzeit zu 10 Prozent als Arbeitszeit ist von monatlichen Preiserhöhungen zwi-
Hälfte steigen – wodurch auch die Nachfrage angerechnet und vergütet; in der Variante schen 1200 Franken (Variante «Minimum»)
nach Betreuungspersonal steigt. «Mittel» ist es die Hälfte und in der Variante und 10 500 Franken (Variante «Maximum»)
«Maximum» wird die Präsenzzeit zu 100 Pro- pro Betreuungsverhältnis auszugehen.
Fünf Instrumente – drei Varianten zent angerechnet und vergütet. Die Unter- Allerdings könnten sich die höheren Prei-
stellung unter das Arbeitsgesetz entspräche se in einer verbesserten Qualität der Betreu-
Die Lösungsvorschläge im Postulatsbericht, der Maximalvariante. Bei den anderen Instru- ungsleistungen niederschlagen (beispiels-
wie die Arbeitsbedingungen der Betreuerin- menten wäre die Flexibilität hingegen grös- weise aufgrund von vermehrter Weiterbil-
nen verbessert werden können, umfassen ser. dung) und die erhöhten Kosten daher mit
fünf Instrumente: einem Nutzenanstieg einhergehen. Anderer-
–– Unterstellung der Privathaushalte unter Preisanstieg zu erwarten seits ist es auch möglich, dass sich die Ge-
das Arbeitsgesetz; winnmargen der Anbieter etwas reduzierten.
–– Verordnung zum Arbeitsgesetz; Für die Migrantinnen in regulären Beschäfti- Dennoch wären die Preiserhöhungen
–– Verstärkung der kantonalen Normal- gungsverhältnissen würden sich die Arbeits- nicht für alle Klienten finanziell tragbar, wo-
arbeitsverträge (NAV)/Nationaler NAV be- bedingungen mit einer neuen Regelung ver- durch die Wahlfreiheit sinken würde und ins-
züglich Arbeitsbedingungen; bessern. Bei einer restriktiven Regelung – besondere bei der mittleren und der maxi-
respektive wegen der damit verbundenen malen Variante von einem Nachfragerück-
3 Betriebe, die einer Gruppe angehören, wurden als ein
Preiserhöhung – ist jedoch davon auszuge- gang auszugehen wäre. Als Alternative zur
Akteur gezählt. hen, dass die Anzahl irregulärer Beschäfti- 24-Stunden-Betreuung zu Hause nannten die

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  49
ARBEITSMARKT

Befragten in erster Linie das Pflegeheim. Eine bieten würden, da ihr Geschäftsmodell dann
ganz grobe Schätzung – basierend auf eini- nicht mehr rentierte. Sehr kritisch beurteilen
gen wenigen Expertenaussagen – geht da- die Unternehmen die Maximalvariante. Über
von aus, dass bei der mittleren Variante rund die Hälfte würde unter dieser Regelung das
10 bis 40 Prozent der Klienten in ein Pflege- Angebot nicht mehr weiterführen.
heim wechseln würden; bei der Maximalva-
riante unternähmen sogar 20 bis 60 Prozent Differenzierte Regelung prüfen
diesen Schritt.
Von einer solchen Verschiebung wären Angesichts der teils prekären Wohn- und Miriam Frey
Ökonomin, Projektleiterin bei B,S,S. Volks-
nicht nur die Klienten betroffen: Die Kos- Arbeitssituation der Betreuerinnen besteht wirtschaftliche Beratung, Basel
ten für die Krankenkassen und die öffentli- Handlungsbedarf. Dabei ist jedoch nicht nur
che Hand stiegen ebenfalls. Eine grobe Ab- die rechtliche Regelung relevant, sondern
schätzung geht bei der Minimalvariante von auch deren Vollzug stellt ein Schlüsselele-
Mehrkosten von bis zu 15 Millionen Franken ment dar. Mit anderen Worten: Es braucht
pro Jahr aus. Bei der mittleren Variante wä- Kontrollen, und illegal tätigte Anbieter müs-
ren es 15 bis 60 Millionen Franken mehr und sen sanktioniert werden. Zudem wären eine
bei der Maximalvariante 30 bis 90 Millionen vermehrte Information und die Sensibilisie-
Franken. rung aller Akteure sinnvoll.
Vor dem Hintergrund, dass sich die Be-
Anbieter bevorzugen Minimal- treuungsintensität je nach Klient stark unter-
scheidet, ist ein differenzierter Regelungsin-
variante halt möglicherweise zielführend. Während
Harald Meier
Jurist, Projektleiter bei B,S,S. Volkswirt-
Eine klare Regulierung wird von den Anbietern die Minimalvariante bei sehr seltenen Einsät- schaftliche Beratung, Basel
mehrheitlich begrüsst. Auf den Regelungsin- zen während der Präsenzzeit angebracht sein
halt bezogen werden die drei Varianten je- mag, ist sie für regelmässige, mehrfache Ein-
doch unterschiedlich beurteilt. So bezeich- sätze jede Nacht keine angemessene Lösung. Literatur
nen die meisten Anbieter die Minimalvariante Es wäre daher möglich, die Abgeltung der B,S,S. (2016). 24-Stunden-Betagtenbetreuung in
als gangbaren Weg. Teilweise werden die Be- Präsenzzeit von der Wahrscheinlichkeit eines Privathaushalten. Regulierungsfolgenabschätzung zu
den Auswirkungen der Lösungswege gemäss Bericht
dingungen bereits heute erfüllt. Einsatzes respektive vom Betreuungsbedarf zum Postulat Schmid-Federer 12.3266 «Pendel-
Die mittlere Variante beurteilen die meis- der Klienten abhängig zu gestalten. migration zur Alterspflege», Studie im Auftrag des
Staatssekretariats für Wirtschaft, Schlussbericht vom
ten Unternehmen als «tragbar». Etwa ein Der Bundesrat wird voraussichtlich Ende 29. Februar 2016.
Fünftel der befragten Betreuungsunterneh- Juni 2017 nach Kenntnisnahme der Regulie- Seco (2015). Rechtliche Rahmenbedingungen für
Pendelmigration zur Alterspflege, Bericht des
men gab allerdings an, dass sie die 24-Stun- rungsfolgenabschätzung über das weitere Bundesrates in Erfüllung des Postulats Schmid-
den-Betreuung in diesem Fall nicht mehr an- Vorgehen entscheiden. Federer 12.3266 vom 16. März 2012.

50  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


AUFGEGRIFFEN

Staatsunternehmen in der
politischen Zwickmühle
Die Auszeichnung sollte Anlass zur Freude sein: Der Energiekonzern BKW
erhält für seine offensive Aquisationsstrategie einen Swiss M&A Award 2017,
verliehen vom Beratungsunternehmen KPMG. In ihrer Beurteilung hebt die
Jury die Unternehmenseinkäufe hervor. So hat die BKW nebst Windparks im
Ausland vor allem auch Gebäudetechnik- und Ingenieurfirmen in der Region
Bern auf dem Radar.
Bedeutendste Aktionärin der BKW ist mit einem Aktienanteil von rund
53 Prozent der Kanton Bern. Bei dieser dominierenden Staatsbeteiligung
stellt sich die Frage, inwieweit die viel gelobte Übernahmestrategie, die auch
den Kauf privater Firmen im Fokus hat, volkswirtschaftlich gesehen sinn-
voll ist: Soll sich ein staatsnahes Unternehmen mit Staatsgarantie beliebig
in private, funktionierende Dienstleistungsmärkte ausbreiten können?
Dieses Thema beschäftigt auch die Politik: Auf Bundes- und Kantonsebene
sind dazu verschiedene parlamentarische Vorstösse eingereicht worden.
Staatlich beherrschte Unternehmen sind derzeit in verschiedenen Märkten
und auf allen unterschiedlichen Ebenen tätig. So agiert zum Beispiel die
Swisscom im Markt für Eventmanagement oder Gesundheit und profitiert
dabei von ihren angestammten Kernkompetenzen in der Informations-
und Kommunikationstechnologie (ICT). Und die Post setzt auf den On-
linehandel und vertreibt im Internet 3-D-Drucker, Tablets, Smartphones,
Haartrockner oder Tortenformen.
Den staatlich beherrschten Unternehmen ist in der Regel kein Vorwurf zu
machen. Der Gesetzgeber wollte mit einer schrittweisen Liberalisierung,

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  51
mit der Erschliessung von neuen Märkten sowie mit der Umwandlung von
ehemaligen Regiebetrieben in Aktiengesellschaften den «alten» Staats-
unternehmen mehr unternehmerische Freiheit verleihen. In Ergänzung
zu ihrem gesetzlichen Auftrag werden sie häufig explizit ermutigt, sich
innovativ in der Entwicklung neuer Geschäftsmöglichkeiten zu engagieren.
So gesehen hat sich die Politik eigentlich selber in die Zwickmühle ge-
bracht. Die Klagen der Wettbewerbsverzerrung staatlicher Beteiligung
ertönen typischerweise in Bezug auf Märkte, die erst seit einigen Jahren
unter hohem Anpassungsdruck stehen. Stromkonzerne sind unter Druck,
weil die übermässige Subventionierung von erneuerbaren Energien die
traditionellen Geschäftsmodelle in ganz Europa auflaufen liessen. Post-
unternehmen verlieren wichtige Ertragsquellen, weil der Monopolschutz
im Briefverkehr, dessen Ursprung auf einen Verfassungsartikel aus dem 19.
Jahrhundert zurückgeht, dank ICT-Applikationen auf Smartphones nicht
mehr greift. Und die Grundversorgung der Swisscom mit Telefonie, Tele-
fonkabinen und Fax machen in der heutigen Welt von Breitbandinternet,
Social Media und elektronischen Plattformen bestenfalls noch begrenzten
Sinn.

Privatisierung als Ausweg


Aus ökonomischer Sicht gibt es nur einen konsequenten Ausweg aus dem
politischen Dilemma: Die meisten staatsnahen Betriebe sollten privatisiert
werden. Grundversorgungsaufgaben können gegen Abgeltung auch
privaten Unternehmen übertragen werden. Mit dieser Lösung werden
Wettbewerbsverzerrungen verringert, Interessenkonflikte aus der gleich-
zeitigen Schiedsrichter- und Spielerrolle der staatlichen Eigentümer auf-
gelöst und finanzielle Risiken der Staatsgarantie ausgemerzt.
Allerdings ist ein Aufschrei gegenüber Privatisierungsvorhaben pro­
grammiert. Hatten solche Reformmassnahmen vor zwei Jahrzehnten
noch gewisse Chancen, stehen die politischen Vorzeichen heute schlecht.
Es ist offenbar kaum denkbar, sich die weitgehende Entstaatlichung von
Betrieben auf die politische Fahne zu schreiben. Deshalb sei die Prognose
gewagt: Bei den anstehenden parlamentarischen Debatten werden
Erstbest-Lösungen als nicht realistisch bezeichnet werden. Die Ver-
suchung der Politiker wird gross sein, an vermeintliche Zweit-, Drittbest-
oder Viertbest-Lösungen zu glauben.

Eric Scheidegger
Dr. rer. pol., Leiter der Direktion für Wirtschaftspolitik,
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), Bern
eric.scheidegger@seco.admin.ch

52  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

ISTOCK
Pensionskassen in Bedrängnis
Die tiefen Zinsen und die steigende Lebenserwartung stellen
die Pensionskassen vor grosse Herausforderungen. Um die garantierten
Leistungen für die Rentner erbringen zu können, findet aktuell eine
Umverteilung in Milliardenhöhe zulasten der Aktiven statt.
Bei einem Kapitaldeckungsverfahren wie der beruflichen Vorsorge ist
das nicht vorgesehen.
Gemäss Vera Kupper Staub, Vizepräsidentin der Oberaufsichts-
kommission Berufliche Vorsorge, stellen zu hohe Rentenversprechen und
die eingeschränkte Sanierungsfähigkeit die grössten Risiken für die
Vorsorgewerke dar. Viele Pensionskassen sind denn auch daran,
den technischen Zins- und den Umwandlungssatz zu senken. Laut Daniel
Greber und Markus Moor von der Zürcher Hochschule für Angewandte
Wissenschaften verschieben sie dabei immer mehr Verantwortung
auf die Aktiven. Zukünftig könnten die Leistungen auch vom Anlageerfolg
und von der Lebensdauer der Versicherten abhängig werden.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  53
PENSIONSKASSEN

Systemrisiken bei den Pensionskassen


Eine Umfrage zeigt, dass die hohen Zinsversprechen und die eingeschränkte Sanierungs-
fähigkeit die grössten Risiken für die Stabilität der Pensionskassen darstellen. Am höchsten
ist die Gefährdung bei den Kassen mit Staatsgarantie.   Vera Kupper Staub, Stefan Eggenberger

Abstract    Seit der Einführung des Obligatoriums im Jahr 1985 erwirtschafteten die 2016 ein technischer Zinssatz von 2,4 Pro-
Pensionskassen für ihre Versicherten mehr als ursprünglich erwartet. Eine Umfrage zent2 und Generationen­tafeln3 zur Abschät-
der Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) bei den Vorsorgeein- zung der zukünftigen Sterblichkeit verwen-
richtungen zeigt, dass aktuell die unrealistischen Umwandlungssätze im Obligatorium det.
und die im Durchschnitt reduzierte Sanierungsfähigkeit die zwei grössten finanziellen Die Deckungssituation hat sich im letzten
Risiken für Pensionskassen darstellen. Durch die bereits umgesetzten Senkungen der Jahr geringfügig verbessert. Grund dafür
Zinsversprechen konnte das Systemrisiko zwar teilweise abgebaut werden. Deut- waren die Anlagerenditen von durchschnitt-
lich höher als bei den Kassen ohne Staatsgarantie sind die finanziellen Risiken bei den lich 3,6 Prozent für Vorsorgeeinrichtungen
Pensionskassen mit Staatsgarantie. Um die Zinsversprechen  weiter zu senken, müssen ohne Staatsgarantie. 24 Prozent dieser Vor-
die Umwandlungssätze im Obligatorium reduziert werden, so wie es in der Reform sorgeeinrichtungen weisen diesbezüglich ein
«Altersvorsorge 2020» vorgesehen ist. Zudem sollten bei reduzierter Sanierungs- eher hohes bis hohes Risiko aus. Im Vorjahr
fähigkeit die Rentenverpflichtungen vorsichtiger bewertet werden. waren es 27 Prozent.

Zu hohe Zinsversprechen

P  ensionskassen haben in der Schweiz eine


lange Tradition. Viele der grossen firmen-
eigenen Kassen existieren bereits länger als
1936 im Jahr 2015 auf 1865 gesunken. Davon
nahmen rund 92 Prozent an der Umfrage teil.
Zum Zeitpunkt der Pensionierung gibt die
Vorsorgeeinrichtung durch die Umwandlung
des Sparkapitals in eine Altersrente ein impli-
90 Jahre. Die Versicherten haben dabei viel Vier Risikodimensionen zites Zinsversprechen ab. Je höher dieses no-
von diesen Kassen profitiert: Seit Einführung minale Zinsversprechen, desto risikobehafte-
des Obligatoriums 1985 wurde den Alters- Gemäss der Umfrageergebnisse wiesen per ter wird seine Erfüllung.
guthaben im Durchschnitt ein inflations- Ende 2016 88 Prozent der privat- und öffent- Die Analyse der Oberaufsichtskommission
bereinigter jährlicher Zinssatz von mindestens lich-rechtlichen Vorsorge­einrichtungen ohne zeigt, dass die hohen Zins­ versprechen in
1,9 Prozent gutgeschrieben. Das ist deutlich Staatsgarantie einen Deckungsgrad von min- den Umwandlungs­sätzen das grösste Risiko
mehr, als man 1985 erwartet hatte. Tatsächlich destens 100 Prozent aus. Das ist vergleichbar für die Vorsorgeeinrichtungen darstellen.
wurden viele Altersguthaben noch höher ver- mit dem Vorjahr, wo es 87 Prozent waren. Um Durch die Senkung der Umwandlungs­sätze
zinst, da zahlreiche Pensionskassen mehr als das Gesamtrisiko der Vorsorgeeinrichtungen ausserhalb des BVG-Obligatoriums konnten
die Mindestverzinsung gewährten. Und auch einzuschätzen, genügt der ausgewiesene De- die Vorsorgeeinrichtungen dieses Risiko
seit 2009 zeigt sich inflationsbereinigt ein ckungsgrad als alleiniger Parameter jedoch im Vergleich zum Vorjahr zwar reduzieren,
besseres Ergebnis, als die nominalen Zahlen nicht. Er sagt zu wenig über zukünftige Ver- dennoch verharrt es auf einem relativ hohen
vermuten lassen (siehe Abbildung 1). Doch wie änderungen aus. Die Einschätzung des Ge- Niveau. Aktuell tragen 52 Prozent der Vor-
sieht die Zukunft aus? samtrisikos basiert in der Studie deshalb auf sorgeeinrichtungen ohne Staatsgarantie ein
vier Risikodimensionen: eher hohes oder ein hohes Risiko. Im Vor-
Immer weniger Vorsorgeein- –– Deckungsgrad mit einheitlichen Grundlagen jahr waren es noch 66 Prozent. Im Durch-
–– Zinsversprechen für künftige Rentenleis- schnitt belaufen sich die Zinsversprechen
richtungen tungen bei Pensionierung auf 2,97 Prozent (Vorjahr:
Um die finanziellen Risiken des Pensionskas- –– Sanierungsfähigkeit in Abhängigkeit der 3,25%). Ein Vergleich dieses Werts mit dem
sensystems beurteilen zu können, führt die Versichertenstruktur Marktzinsniveau per Ende 2016 von –0,1 Pro-
eidgenössische Oberaufsichtskommission –– Renditevolatilität der Anlagestrategie zent zeigt, woher dieses Risiko kommt.
Berufliche Vorsorge (OAK BV) seit ihrer Grün-
dung im Jahr 2012 eine jährliche Umfrage zur Der Deckungsgrad ist die wichtigste Eingeschränkte Sanierungsfähigkeit
finanziellen Lage der Vorsorgeeinrichtungen Risikodimension und wird deshalb doppelt Falls eine Vorsorgeeinrichtung saniert wer-
durch. Die für die ganze Schweiz einheitliche gewichtet – die übrigen Dimensionen nur den muss, sind die Kon­sequen­zen für die ak-
Früherhebung ermöglicht eine aktuelle Ge- einfach. Dennoch: Dies ermöglicht nur eine tiven Versicherten und den Arbeitgeber in
samtsicht über die finanziellen Systemrisiken grobe Risikoabschätzung. Sie dient allein der Form von Zusatzbeiträgen oder Kürzungen
der beruflichen Vorsorge. Analyse der System­risiken und nicht der Be- von zukünftigen Leistungen erheblich. Der
Die aktuelle Umfrage1 für das Jahr urteilung der individuellen Situation einer eigentliche Risikofaktor dabei ist der Anteil
2016 zeigt, dass sich die Konzentration in Vorsorge­einrichtung.
2 Durchschnitt der technischen Zinssätze der Vorsorge-
der zweiten Säule fortsetzt. Die Zahl der einrichtungen ohne Staatsgarantie. Der Vorjahreszins
Schweizer Vorsorge­ ein­richtungen ist von Ungenügender Deckungsgrad betrug 2,6%.
3 Generationentafeln des Projektes «Technische Grund-
Für die Schätzung des Deckungs­grads mit lagen BVG 2015» der Pensionskassenexperten Aon
1 Siehe Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge
(2017). Online erhältlich auf Oak-bv.admin.ch.
einheitlichen Grundlagen werden per Ende Schweiz AG und Libera AG.

54  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

entsprechende Wert ­schwan­kungs­reserven


Abb. 1: BVG-Mindestverzinsung (1985–2017)
aufbauen.
6       In % Die Vorsorgeeinrichtungen haben
während der letzten Jahre den strategischen
Anteil der risikobehafteten Anlagen leicht er-
4
höht. Entsprechend stiegen auch die Risiken
im Bereich der Anlagestrategie. 2016 trugen
2 41 Prozent der Vorsorgeeinrichtungen ohne
Staatsgarantie ein eher hohes bis hohes
Risiko. Zum Vergleich: Im Vorjahr waren nur 33
0
Prozent der Pensionskassen derart gefährdet.
Solange die Zinsversprechen nicht aus-

SNB, BSV
-2 reichend gesenkt werden, wird der Rendite-
druck auch in Zukunft nicht abnehmen.
85

87

89

91

93

95

97

99

03

07

11

13

15

17
0

20

20

20
20
19

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19
19

19

19
19

20
19

20
20
19

20
  BVG-Mindestzinssatz        Inflationsbereinigte BVG-Mindestverzinsung Tieferes Gesamtrisiko der
  Durchschnitt Inflationsbereinigte BVG-Mindestverzinsung
Pensionskassen
Die Pensionskassen haben teilweise reagiert
und senken ihre Zinsversprechen langsam.
Abb. 2: Gesamtrisiko der Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatsgarantie
Insbesondere deshalb hat das Gesamtrisiko
der Vorsorgeeinrichtungen ohne Staatgaran-
tie 2016 abge­nommen: 24 Prozent dieser Vor-
sorgeeinrichtungen weisen ein eher hohes
2016
bis hohes Gesamtrisiko aus, wobei nur weni-
ge Vorsorgeeinrichtungen ein hohes Gesamt-
risiko tragen (siehe Abbildung 2). Im Vorjahr
waren es noch 32 Prozent der Pensionskassen
2015 ohne Staatsgarantie.
Für die Vorsorgeeinrichtungen mit Staats-
garantie5, welche mehrheitlich im System der
Teilkapitalisierung finanziert sind, zeigt sich
ein ähnliches, aber deutlich risikoreicheres
2014 Bild. In der Risikodimension Zinsversprechen
OAK BV

tragen 86 Prozent ein eher hohes bis hohes


0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Risiko (Vorjahr: 94%). Bei der Sanierungs-
In % fähigkeit sind sogar 93 Prozent derart ge-
  klein        eher klein        mittel        eher hoch        hoch fährdet (Vorjahr: 91%). Beim Gesamtrisiko
tragen gut 60 Prozent dieser Vorsorgeein-
richtungen ein so hohes Risiko. 2015 waren es
der Renten­verpflichtungen. Denn die laufen- Zunehmende Renditevolatilität noch 70 Prozent.
den Renten müssen stets mit­finanziert wer- Vorsorgeeinrichtungen sind nach dem Ge-
den. Je grösser dieser Anteil ausfällt, desto setz verpflichtet, ihr Vermögen so anzule- Risiken senken
kleiner ist letztlich die Wirkung einer Sanie- gen, dass neben dem Liquiditätsbedarf ins-
rungsmassnahme. besondere auch Sicherheit, genügender Er- Jedes Altersvorsorgesystem ist mit Risiken
Mit einem Anteil von 50 Prozent, die trag und eine angemessene Verteilung der verbunden. In der Schweiz erweisen sich die
ein eher hohes bis hohes Risiko haben, Risiken gewährleistet sind.4 Im aktuellen hohen nominalen Zinsversprechen und die
stellt die eingeschränkte Sanierungsfähig- Tiefzinsumfeld würde allerdings eine reine eingeschränkte Sanierungsfähigkeit als die
keit die zweitgrösste Gefahr für Vorsorge- Obligationen-Strategie für Arbeitgeber und beiden grössten Risiken. Im Gegensatz zur
einrichtungen ohne Staats­garantie dar. Die aktive Versicherte höhere Beiträge und tie- Sanierungsfähigkeit, welche in der Regel
eingeschränkte Sanierungsfähigkeit der fere Leistungen bedeuten. Deshalb müs- kaum veränderbar ist, können die nominalen
Vorsorge­ einrichtungen wird im aktuellen sen fast alle Vorsorgeeinrichtungen gezielt Zins­ver­sprechen für künftige Rentenleistun-
Tiefzinsumfeld noch akzentuiert, da zusätzliche Anlagerisiken eingehen. Sie in- gen grundsätzlich innerhalb kurzer Frist re-
Minder­verzinsungen nur noch ein sehr be- vestieren in Anlagekategorien, deren Wer- duziert werden. Für die Zukunft ist es deshalb
schränktes Potenzial haben. Für die Stabili- te sich im Gegensatz zu Obligationen nicht wichtig, dass Umwandlungssätze schneller
tät des Systems ist es darum zentral, dass zur gleich wie der Wert der Rentenverpflichtun- an sich ver­ändernde wirtschaftliche Realitä-
Bewertung der Verpflichtungen realistische gen verhalten und im Durchschnitt höhe- ten angepasst werden können.
versicherungs­ technische Grundlagen ver- re Renditen versprechen. Daher müssen sie
5 An der Umfrage haben sich 39 Vorsorge­einrichtungen
wendet werden. mit einer Bilanzsumme von insgesamt 103 Milliarden
4 Art. 71 BVG. Franken beteiligt.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  55
PENSIONSKASSEN

KEYSTONE
Die Sanierungsfähigkeit stellt bei vielen Vor-
sorgeeinrichtungen das grösste Risiko dar.
Demonstranten in St. Gallen fordern im finanziellen Chancen und Risiken ihrer Vor-
April 2017 eine 200-Millionen-Einlage in die sorgeeinrichtungen realistisch beurteilen,
Pensionskasse. ihre Rentenverpflichtungen versicherungs-
technisch korrekt bewerten, die not-
wendigen Beschlüsse fassen und ihre Ver-
Das Anlagerisiko ist im Kapitaldeckungs- sicherten transparent informieren.
verfahren systemimmanent und kann folg-
lich nie eliminiert werden. Es muss jedoch Tragbare Rentenreform not-
in einer für Versicherte und Arbeit­geber er- Vera Kupper Staub
träglichen Höhe gehalten werden. Dies
wendig Dr. oec. publ., Vizepräsidentin
Oberaufsichtskommission Berufliche
ist von realistischen Zinsversprechen und Risikomindernde Massnahmen erfolgen fast Vorsorge (OAK BV), Bern
realistischen technischen Zinssätzen ab- ausschliesslich auf Kosten der aktiven Versi-
hängig. cherten und der Arbeitgeber. Angesichts der
Schliesslich sollte auch die finanzielle geringen durch­ schnittlichen Sanierungs­
Lage der Vorsorgeeinrichtungen verbessert fähigkeit, des sehr tiefen Zinsniveaus und
werden. Aktuell sind die Wertschwankungs­ der zu erwartenden Erhöhung des Renten-
reserven der Vorsorgeeinrichtungen trotz der anteils sind aber auch weitere Kreise aus
vergangenen mehrheitlich guten Anlagejahre Wirtschaft und Politik gefordert, um realisti-
nur zu 39 Prozent geäufnet. Grund dafür sche und für alle Beteiligten tragbare Lösun-
ist, dass ein erheblicher Teil der Erträge der gen zu ermöglichen. Mit der Umsetzung der
Stefan Eggenberger
letzten Jahre für die vorsichtigere Bewertung Rentenreform «Altersvorsorge 2020» könn-
Eidg. dipl. Pensionsversicherungsexperte,
der Rentenverpflichtungen eingesetzt ten die Risiken im Bereich der beruflichen Leiter Risk Management, Oberaufsichts-
werden musste. Vorsorge reduziert werden. Auch Vorsorge­ kommission Berufliche Vorsorge (OAK BV),
Diese Massnahmen zur Verminderung einrichtungen mit einem hohen Anteil an Bern
der Risiken müssen von den aus aktiven obligatorischem BVG-Altersguthaben könn-
Versicherten und Arbeitgeber zusammen- ten dadurch ihre Umwandlungssätze redu- Literatur
Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (2017).
gesetzten Leitungsorganen der Vorsorgeein- zieren und somit der wirtschaftlichen Reali- Bericht finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen
richtungen getroffen werden: Sie müssen die tät annähern. 2016.

56  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

Umverteilung von Jung zu Alt


Das Kapitaldeckungsverfahren in der beruflichen Vorsorge steht unter Druck. Die Umver-
teilung der Vermögenserträge von den Aktiven zu den Rentnern nimmt zu. Die Pensions-
kassen müssen den technischen Zinssatz und den Umwandlungssatz senken.  
Patrick Spuhler

40 Milliarden und in der zweiten Säule rund


Abstract  Das System der beruflichen Vorsorge in der zweiten Säule basiert auf dem 35 Milliarden Franken. Trotzdem besteht we-
Kapitaldeckungsverfahren. Das bedeutet, dass jede versicherte Person ihre Rente zu- gen der Demografie sowie der rekordtiefen
sammen mit den Beiträgen des Arbeitgebers grundsätzlich selber anspart. Allerdings Zinsen Anpassungsbedarf. Das ist unbestrit-
ist man in den letzten Jahren von diesem Grundsatz abgewichen, denn es findet eine ten, auch wenn diese Anpassungen während
zunehmende Umverteilung von den aktiven Versicherten zu den Rentenbeziehenden
der parlamentarischen Beratungen zur Ren-
statt. Die Gründe dafür sind die schwierige Situation an den Anlagemärkten mit den
tenreform 2020 teilweise zum Zankapfel in
rekordtiefen Zinsen und die Zunahme der Lebenserwartung. Umverteilung ist ein
der Politik geworden sind.
wichtiges Merkmal der ersten Säule. In der zweiten Säule ist sie in diesem Umfang
In den letzten Jahren hat sich in die zweite
aber nicht vorgesehen. Um sie zu verringern oder gar zu beseitigen, sind die Pensions-
Säule allerdings ein Merkmal der ersten Säule
kassen gezwungen, den technischen Zinssatz und den Umwandlungssatz zu senken.
eingeschlichen: die kasseninterne Umver-
teilung von den aktiven Versicherten zu den
Rentnern (siehe Abbildung).

D  as Vorsorgesystem in der Schweiz


basiert auf drei Säulen. Die erste Säule
besteht aus der Alters- und Hinterlassenen-
Solidaritäten. Diese systemnotwendigen und
erwünschten Solidaritäten sind allerdings zu
unterscheiden von teils unerwünschten Um-
Während der letzten zehn Jahre erhielten
die Rentenbeziehenden in der zweiten
Säule jährlich über 1,5 Prozent mehr Zins als
versicherung (AHV) und der Invalidenver- verteilungen. den aktiven Versicherten gutgeschrieben
sicherung (IV). Sie stützt sich auf einen wurde. Die Verzinsung der Sparguthaben der
Generationenvertrag. Die Finanzierung Umverteilung bei der Verzinsung aktiven Versicherten wird jährlich durch die
erfolgt hauptsächlich mittels einer Um- Pensionskasse festgelegt. Sie hängt einer-
verteilung von den Erwerbstätigen zu den
nimmt zu seits von der finanziellen Lage der Pensions-
Rentnern. Damit ist die erste Säule stark von Die Schweiz wird oft beneidet um ihr Vorsor- kasse und andererseits von der erzielten Ver-
der Demografie, jedoch kaum vom Kapital- gesystem mit der ersten Säule im Umlage- mögensrendite ab. In den vergangenen zehn
markt abhängig. Genau umgekehrt ist es bei verfahren, der zweiten Säule im Kapitalde- Jahren betrug die Verzinsung im Durch-
der beruflichen Vorsorge, der zweiten Säule: ckungsverfahren und dem freiwilligen Spa- schnitt 2,35 Prozent pro Jahr. Der Zins für
Sie folgt dem sogenannten Kapitaldeckungs- ren in der dritten Säule. Erste und zweite die Rentenbeziehenden entspricht hingegen
verfahren. Das bedeutet, dass jede aktive Säule richten dabei etwa gleich viele Leistun- dem technischen Zinssatz. Der technische
versicherte Person ihre Altersleistungen gen aus. 2015 waren das in der AHV/IV circa Zinssatz ist der Zins, welcher im Deckungs-
zusammen mit den Beiträgen des Arbeit-
gebers für sich selber anspart. Anders als in
der ersten Säule besteht hier also eine hohe Zinsumverteilung von Aktiven zu Rentenbeziehenden (2005 bis 2015)
Abhängigkeit vom Kapitalmarkt und nur ein 150       Verzinsung (indexiert) SWISSCANTO VORSORGE AG (2016), SCHWEIZER PENSIONSKASSENSTUDIE / BFS (2016), PENSIONS-

geringer Einfluss der Demografie – sofern die


richtigen versicherungstechnischen Para-
140
meter gewählt werden. Damit diversifizieren
sich diese beiden Systeme bestens.
In der zweiten Säule sind zusätzlich zu 130
den Altersleistungen während der Erwerbs-
tätigkeit auch Invaliditäts- und Todes-
120
fallleistungen versichert – Letztere auch
KASSENSTATISTIK 2014 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

noch nach der Pensionierung. Diese Ver-


sicherungen funktionieren nach dem Solidari- 110
tätsprinzip. Alle Versicherten finanzieren
durch die geleisteten Risikoprämien ge-
110
meinsam die neuen Versicherungsfälle wegen
Tod und Invalidität. Auch zwischen den
Rentenbeziehenden, welche früher als ver- 90
sicherungstechnisch eingerechnet sterben, 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015
und denjenigen, die länger leben, spielen   Verzinsung Aktive; Durchschnitt 2005–2015: 2,35%        Verzinsung Rentner; Durchschnitt 2005–2015: 4,01%

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  57
PENSIONSKASSEN

KEYSTONE
Eine Umverteilung, die in der 2. Säule eigentlich
nicht vorgesehen ist: Pensionierte profitieren
kapital der Rentenbeziehenden eingerechnet kung des technischen Zinssatzes zu einer Er- von den Kapitalrenditen der Arbeitenden.
ist und jährlich gutgeschrieben werden muss höhung der Rentendeckungskapitalien. Diese
– unabhängig von der finanziellen Lage Erhöhung wird meist zulasten der sogenann-
einer Pensionskasse. Dieser Zinssatz lag in ten Wertschwankungsreserve und damit wie- Aber: Ohne Begleitmassnahmen führt eine
den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich derum auf Kosten der aktiven Versicherten fi- Senkung des Umwandlungssatzes zu ein-
4 Prozent. nanziert, die neben den Arbeitgebern die Ri- schneidenden Kürzungen. Die unmittelbar
Solange der technische Zinssatz über der sikoträger sind. Bei guten Anlageergebnissen vor der Pensionierung stehenden Personen
Verzinsung der Sparguthaben der aktiven bauen die Pensionskassen mit den zusätzlich können diese allein nicht mehr ausgleichen.
Versicherten liegt, erfolgt eine Umverteilung erwirtschafteten Überschüssen die Wert- Doch auch für die Jüngeren bleibt es offen,
von den aktiven Versicherten zu den Renten- schwankungsreserve auf, um bei schlechter ob die künftigen Anlagejahre wieder besser
beziehenden. Das ist heute der Fall: Nimmt Finanzmarktlage die tiefen Renditen auszu- ausfallen und dadurch die Reduktion des
man beispielsweise den BVG-Mindestzins- gleichen. Wenn die Wertschwankungsreser- Umwandlungssatzes je wieder ausgeglichen
satz von aktuell 1 Prozent als Massstab für ve sinkt oder sogar eine Unterdeckung ein- werden kann.
die Verzinsung und berücksichtigt, dass trifft, müssen die aktiven Versicherten diese Insbesondere was die Generationenge-
der technische Zinssatz bei den Renten- beispielsweise durch eine Minderverzinsung rechtigkeit anbelangt, sind die Pensions-
beziehenden gemäss Bericht zur finanziellen ihrer Sparguthaben wieder aufbauen. kassen deshalb so stark gefordert wie noch
Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2016 bei Um die in der zweiten Säule in diesem nie seit Einführung des Pensionskassen-
rund 2,5 Prozent1 liegt, erkennt man den Ausmass nicht vorgesehene Umverteilung obligatoriums im Jahr 1985.
Handlungsbedarf. nachhaltig zu reduzieren, bleibt nur eine
Senkung des Umwandlungssatzes. Denn der
Technischer Zinssatz und Umwandlungssatz gibt das Zinsversprechen
für die Neurentner implizit vor. Hinzu
Umwandlungssatz sinken kommt die stetige Zunahme der Lebens-
Bleiben die Zinsen so niedrig und wollen die erwartung. Auch sie verlangt nach einer zu-
Pensionskassen die Umverteilung zulasten sätzlichen Senkung des Umwandlungssatzes.
der aktiven Versicherten vermindern, bleibt Aus diesen Gründen haben viele Pensions-
ihnen nur eins: Sie müssen den technischen kassen ihren Umwandlungssatz bereits ge-
Zinssatz senken. Da die laufenden Renten senkt2 oder sind daran, ihn zu senken3.
nicht gekürzt werden dürfen, führt eine Sen- Patrick Spuhler
2 Beispielsweise die BVK des Kantons Zürich: Der Um- Eidg. dipl. Pensionsversicherungsexperte
wandlungssatz liegt heute unter 5 Prozent. und Partner des Pensionskassenberatungs-
1 Siehe Oberaufsichtskommission OAK (2017). Bericht 3 Die Publica, die Pensionskasse des Bundes, auf 5,09 unternehmens Prevanto AG, Basel
finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen 2016. Prozent.

58  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

Die kapitalgedeckte Vorsorge im


Tiefzinsumfeld
Das System der kapitalgedeckten Vorsorge in der 2. Säule kann im aktuellen Tiefzinsumfeld
keine sicheren Renten gewährleisten. Sozialpolitische Mindestleistungen sollten deshalb
nicht in der beruflichen Vorsorge verankert werden.   Yvonne Seiler Zimmermann,
Heinz Zimmermann

Abstract    Die aktuellen Zinsen für risikolose Anlagen bewegen sich nahe bei null. relevant ist. Die heute geltende Fristenstruk-
Das stellt das berufliche Vorsorgesystem vor grosse Herausforderungen. Denn die tur der risikolosen Zinssätze zeigt, dass bei-
garantierten Leistungen werden aus Vorschriften abgeleitet, die die Realität der spielsweise für einen Franken, der in 20 Jah-
Kapitalmärkte nicht korrekt abbilden. Die goldene Regel besagt, dass die Renten nicht ren fällig wird, zum heutigen Zeitpunkt 0,957
mehr gesichert sind, wenn die risikolos erzielbaren Renditen unter dem Nominallohn- Franken in Bundesobligationen investiert
wachstum liegen. Das ist heute der Fall. Momentan kann die Rentensicherheit nur werden müssten (siehe Tabelle 2) – die Beiträ-
durch Umverteilung auf die nächsten Generationen erreicht werden. Um diese Um- ge wären so unbezahlbar.
verteilung zu stoppen, braucht es eine Entkoppelung von sozialpolitischen Mindest- Doch die Konsequenzen dieser Situation
leistungen und kapitalgedecktem Vorsorgesparen. manifestieren sich im Navigationssystem
der Pensionskassen leider nicht, so dass die
Probleme weitgehend unerkannt bleiben.

I  m Schatten der aktuellen Vorsorgereform


2020 werden die Probleme, welche mit den
historisch tiefen Zinssätzen für das Vorsorge-
prozente) mit einer Rente von mindestens
36 Prozent des letzten Lohnes gerechnet
werden. Zusammen mit der AHV führt das zu
Die technischen Zinssätze, welche zur Dis-
kontierung der späteren Leistungen ver-
wendet werden,3 liegen immer noch massiv
system verbunden sind, von der Öffentlich- einer Lohnersatzquote von mindestens 60 über den eigentlich relevanten, risikolosen
keit und der Politik in der Schweiz kaum wahr- Prozent.1 Zinssätzen, die heute bei rund null Prozent
genommen. Doch die sich hier abzeichnenden Liegt jedoch die Kapitalrendite unter liegen: Bei den privatrechtlichen Kassen liegt
Probleme sind erheblich. Denn das System dem Lohnwachstum und wird zusätzlich der der Median des angewandten Satzes bei 2,5
der beruflichen Vorsorge ist nicht geeignet, Rentenumwandlungssatz an die tatsäch- Prozent und bei den Kassen mit Leistungs-
die Situation an den Kapitalmärkten und die liche Kapitalrendite angepasst, kann dieses primat bei 3,25 Prozent.4 Der auf dieser
damit verbundenen Risiken abzubilden. Die Versprechen nicht mehr eingehalten werden Basis ausgewiesene Deckungsgrad liefert
Kosten dieser Versäumnisse werden gegen- (siehe Tabelle 1). Genau dies ist jedoch der Fall, also ein viel zu optimistisches Bild über die
wärtig den kommenden Generationen auf- wenn man für die Berechnungen die aktuelle finanziellen Möglichkeiten der Kassen, die
gebürdet. risikolose Verzinsung zugrunde legt. Stellt versprochenen Leistungen später tatsächlich
dies die Effizienz des Kapitaldeckungsver- – und risikolos – erbringen zu können.
Niedrigzinsen bedrohen sichere fahren infrage? Zwar werden die technischen Zinssätze
seit Jahren herabgesetzt, aber offenbar noch
Altersrenten viel zu wenig. Die verwendeten Zinssätze
Kapitalmarktferne
Zur Sicherung der projizierten Renten ist ein würden nur dann ein zutreffendes Bild liefern,
kapitalgedecktes System auf die Erwirtschaf-
Verzinsungsannahmen wenn die Kassen ihr Vermögen tatsächlich
tung hinreichend hoher Erträge auf dem Vor- Dazu stellt sich zunächst die Frage, ob der ri- so investieren könnten, dass der technische
sorgevermögen angewiesen. Die Zielset- sikolose Zinssatz tatsächlich massgebend Zinssatz erwirtschaftet werden kann: durch
zung der beruflichen Vorsorge besteht darin, ist für die Interpretation der goldenen Regel. Aktien, Immobilien oder Unternehmensan-
die Rentenhöhe in Abhängigkeit des Loh- Nach der gängigen Auslegung der gesetz- leihen. Das bedeutet aber die Abkehr von
nes festzulegen, der in der Regel zuletzt vor lichen Grundlagen des BVG2 müssen die Al- sicheren Renten, selbst bei einem langen Bei-
der Pensionierung erreicht wurde. Deshalb tersleistungen mit Sicherheit erbracht wer- trags- und Anlagehorizont.
kommt dem Verhältnis zwischen Kapitalren- den. Zudem wird die Höhe der Rente auch Ähnlich verhält es sich bei den Kassen mit
dite und Lohnwachstum eine entscheidende nicht nachträglich gekürzt. Dies bedeutet, Beitragsprimat: Sie sind gezwungen, den vom
Bedeutung zu. dass zum Zeitpunkt, in dem eine später mit Bundesrat jährlich neu festgelegten BVG-
Dieser Zusammenhang wird durch die Sicherheit zu erbringende Zahlung festge-
«goldene Regel» zum Ausdruck gebracht: Ist legt wird, tatsächlich der risikolose Zinssatz 3 Bei Kassen mit Leistungsprimat dienen die technischen
Zinssätze zur Berechnung des Vorsorgekapitals (VK)
die Kapitalrendite mindestens so hoch wie der Aktiven und bei sämtlichen Pensionskassen zur Be-
das Lohnwachstum und wird der Renten- 1 Die Summe der Altersgutschriften (500%) multipliziert rechnung des VK der Rentenbezüger. Der Referenzzins-
mit einem UWS von 7,2% ergibt eine Rente von 36% – satz der Schweizerischen Kammer der Pensionskassen-
umwandlungssatz (UWS) unabhängig von und zwar (approximativ) in Bezug auf den letzten Lohn, Experten (SKPE), der aktuell bei 2,25% liegt, dient
der Kapitalrendite auf 7,2 Prozent fixiert, kann wenn die Lohnwachstumsrate gleich hoch ist wie die lediglich als Obergrenze der VK der Rentenbezüger. Der
Kapitalrendite. Diese Lohnersatzquote ist unabhängig anzuwendende Satz wird vom zuständigen Organ der
bei den geltenden Altersgutschriften von ins- von der Höhe von Lohnwachstum und Kapitalrendite. PK festgelegt.
gesamt 500 Prozent (die Summe aller Lohn- 2 BVG Art. 1, BVG Art. 15, Abs.2, BVV2, Art. 50, Abs. 2 4 Siehe PPCmetrics (2016), S. 5.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  59
PENSIONSKASSEN

Tabelle 1: Altersrente in Prozent des letzten Lohns nach Lohnwachstum, Kapitalrendite und Umwandlungssatz
Lohnwachstum 0% 1% 2% 3% 4%
Kapitalrendite Umwandlungssatz
0% 25,0% 21,5% 18,7% 16,5% 14,7% 5,0%

EIGENE BERECHNUNGEN DER AUTOREN


1% 32,6% 27,7% 23,9% 20,8% 18,4% 5,5%
2% 42,7% 35,9% 30,6% 26,4% 23,0% 6,1%
3% 56,4% 46,8% 39,4% 33,6% 29,0% 6,7%
4% 74,9% 61,4% 51,1% 43,1% 36,8% 7,4%

Die Zahlen beziehen sich auf eine aktive Beitragsperiode von 40 Jahren und eine Rentenbezugsperiode von 20 Jahren. Die Beiträge werden aufgrund der effektiven,
altersabhängigen Lohnprozente berechnet. Die Summe der Altersgutschriften beträgt 500 Prozent. Der verwendete Zinssatz zur Berechnung der Lohnersatzquote
entspricht der Kapitalrendite während der Beitragsdauer.

Tabelle 2: Fristenstruktur der risikolosen Zinssätze

SNB, EIGENE BERECHNUNGEN DER AUTOREN


Laufzeit Bundesobliga-
1 Jahr 2 Jahre 3 Jahre 4 Jahre 5 Jahre 6 Jahre 7 Jahre 8 Jahre 9 Jahre 10 Jahre 20 Jahre 30 Jahre
tionen
Kassazinssätze Bundes-
–0,63% –0,77% –0,80% –0,72% –0,59% –0,47% –0,35% –0,25% –0,17% –0,10% 0,22% 0,33%
obligationen
Heute zu investierender
Betrag um in n Jahren 1,006 1,016 1,024 1,029 1,030 1,028 1,025 1,020 1,015 1,010 0,957 0,907
1 Franken zu erhalten

Monatsschlusswerte, März 2017

Mindestzins gutzuschreiben, der seit mittler- wird heute ignoriert: Jeder Franken, der als Legt man dem Nominallohn-Wachstums-
weile über 20 Jahren über dem risikolosen Rente ohne Risikopartizipation ausbezahlt vergleich aus Tabelle 1 beispielsweise die
Zinssatz festgesetzt ist (siehe Abbildung 1). oder schon nur gutgeschrieben wird, be- durchschnittliche Kapitalrendite eines
Will man keinen sinkenden Deckungsgrad lastet die kommenden Generationen. Die typischen BVG-Portfolios6 anstelle der risiko-
riskieren, lässt sich diese Zielsetzung nur jährlichen Umverteilungseffekte von Jung losen Verzinsung zugrunde, muss auch die
durch höherrentierende Vermögensanlagen zu Alt liegen im Milliardenbereich, wie ver- goldene Regel nicht mehr verworfen werden
erreichen – doch dadurch wird es unmöglich, schiedene Schätzungen zeigen.5 Diese sind (siehe Abbildung 2).
die Sicherheit der damit finanzierten Renten jedoch unsichtbar, da die Renten bisher
zu garantieren. noch immer uneingeschränkt bezahlt und Mindestleistungen und kapital-
die Sanierungen von der aktiven Generation
getragen wurden.
gedeckte Vorsorge entkoppeln
Risikobehaftete Kapitalanlagen
Auch aus wirtschaftswissenschaftlicher Lassen die gesetzlichen Grundlagen über-
unumgänglich Sicht macht es wenig Sinn, die Kapitalver- haupt eine Investition in riskante Anlagen zu?
Die Schlussfolgerung ist so naheliegend wie zinsung der goldenen Regel als risikolose Ver- Im Überobligatorium ist dies möglich, aber
einfach: Positive Renditen können im ak- zinsung von Staatsschulden zu interpretieren. die Flexibilität bezüglich der Anlagemöglich-
tuellen Null- oder Tiefzinsumfeld nur noch Denn aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive keiten sollte besser genutzt werden. Im obli-
durch Risikoprämien verdient werden, also muss sich ein kapitalgedecktes Vorsorge- gatorischen Teil wird der Sicherheitsanspruch
über Vermögensanlagen, welche mit Risiken system aus den Erträgen des volkswirt- zudem oft überinterpretiert. Der Gesetzge-
verbunden sind. Wer argumentiert, dass mit schaftlichen Realkapitalstocks finanzieren, ber spricht von «angemessener» Fortsetzung
Aktien oder Immobilien langfristig gar nicht wozu Staatsschulden nur zu einem geringen der gewohnten Lebenshaltung und von der
so hohe Risiken verbunden seien, verkennt Teil gehören dürften. Doch die Erträge auf «Sicherheit der Erfüllung der Vorsorgezwe-
(ausser dieser an und für sich unkorrekten Aktien, Immobilien oder langfristigen In- cke» – nicht von der Sicherheit der Renten.
Behauptung) die Tatsache, dass es dann lang- vestitionen von Firmen sind wesensgemäss Und: Wenn im Zusammenhang mit der Be-
fristig mit diesen Anlagen auch gar keine Risi- mit Risiken verbunden, die darüber hinaus rechnung des BVG-Mindestzinses explizit er-
koprämien zu erzielen gäbe. nur unvollständig diversifiziert und deshalb wähnt wird, dass nebst der Rendite von Bun-
Wenn jedoch Risiken unvermeidbar sind, auf dem Kapitalmarkt mit einer Risikoprämie desobligationen zusätzlich jene von «Aktien,
steht ein kapitalgedecktes Vorsorgesystem entschädigt werden. Anleihen und Liegenschaften» zu berücksich-
im Widerspruch zum Erfordernis sicherer
Renten – auf dem heute angestrebten, 5 Siehe Credit Suisse (2017), S. 15–16 sowie eigene 6 Es werden die Renditen des BVG2000-Index von Pictet
lohnabhängigen Niveau. Dieser Umstand Berechnungen. & Cie. mit einem Aktienanteil von 40% verwendet.

60  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

Abb. 1: BVG-Mindestzinssatz und risikoloser 1-Jahres-Zinssatz (1985–2017) verbunden ist. Dieser muss sich jedoch auf
ein zu definierendes Existenzminimum be-
9       Zinssatz, in %
schränken. Es ist diskutabel, ob die heutige
8
AHV mit oder ohne Ergänzungsleistungen

SNB, BSV, EIGENE BERECHNUNGEN DER AUTOREN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


7
diesen Anspruch erfüllt. Es handelt sich dabei
6
jedoch um eine sozialpolitische Frage, welche
5 losgelöst vom Vorsorgesparen im Sinne
4 der individuellen Vermögensbildung be-
3 antwortet werden muss. Eine Entkoppelung
2 von sozialpolitischen Mindestleistungen und
1 kapitalgedecktem Vorsorgesparen ist an-
0 gesagt.
1
2
85

87

89

91

93

95

97

99

03

07

11

13

15

17
0

20

20

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  BVG-Mindestzinssatz       Zinssatz auf 1-jährige Bundesobligationen

Abb. 2: Lohnwachstum und Kapitalrenditen: Risikolos und typisches


BVG-Vermögen (1985–2016)
12 Yvonne Seiler Zimmermann

BFS, SNB, PICTET, EIGENE BERECHNUNGEN DER AUTOREN / DIE VOLKSWIRTSCHAFT


11 Professorin für Finanzmarkttheorie,
10 Financial Products und Asset Management,
9 Institut für Finanzdienstleistungen IFZ,
8 Hochschule Luzern
7
6
5
4
3
2
1
0
-1
-2
85

87

89

91

93

95

97

99

03

07

11

13

15
0

Heinz Zimmermann
0

20

20

20
19

20
19

19
19

19
19

20
19

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20
19

20

Professor für Finanzmarkttheorie, Wirt-


  Durchschnittliches Lohnwachstum über 10 Jahre       Durchschnittlicher Kassazinssatz 10-jähriger Bundesobligationen schaftswissenschaftliche Fakultät (WWZ),
  10-jährige Durchschnittsrendite auf typischem BVG-Vermögen mit 40%-Aktienanteil Universität Basel

tigen sind,7 wäre es ein Gebot der Logik den Es stellt sich damit die Frage, wie die
zukünftigen Wert dieser Vermögensanlagen Risiken, welche durch ein kapitalgedecktes
für die Bemessung der Renten heranzuziehen System zwingend verbunden sind, durch Literatur
– und nicht eine risikolos zu erreichende Min- sozialpolitische Instrumente aufgefangen Credit Suisse (2017). Schweizerische Pensionskassen-
destverzinsung. werden können. Es gehört zum Verständ- umfrage: Tiefe Zinsen und Demografie als zentrale
Herausforderungen.
7 Siehe die in Fussnote 2 angegebenen gesetzlichen
nis unseres Vorsorgesystems, dass mit dem PPCmetrics (2016). 2. Säule 2016. Analyse der
Quellen. Rentenanspruch eine minimale Sicherheit Geschäftsberichte von Pensionskassen.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  61
PENSIONSKASSEN

Das Risiko tragen die Versicherten


Die Pensionskassen wollen ihren Versicherten mehr Selbstverantwortung übertragen: Die
Altersleistungen werden teilweise abhängig vom Anlageerfolg oder von der Lebensdauer
der Rentner. Das gefährdet das Vertrauen in die 2. Säule und schadet ihrer Systemstabilität.  
Daniel Greber, Markus Moor

Leistungen wird oft ganz auf die Versicherten


Abstract    Die Pensionskassen reduzieren ihre Umwandlungssätze und übertragen
übertragen.
immer mehr Risiken an die versicherten Personen. Im Zuge des Wechsels vieler
Die Risiken und die damit verbundene
Kassen vom Leistungs- zum Beitragsprimat müssen die Arbeitnehmenden mehr Ver-
finanzielle Verantwortung gehen sowohl auf
antwortung übernehmen. Die Einführung variabler Renten, die vom Anlageerfolg der
der Beitrags- wie auch auf der Leistungsseite
Vorsorgeeinrichtung abhängig sind und der Zwang, Teile des gesparten Vorsorge-
zunehmend von der Pensionskasse auf die
guthabens als Kapital zu beziehen, setzen die Unsicherheit auch im Rentenalter fort.
Individualisierung und Entsolidarisierung stellen das Vertrauen der Bevölkerung in die versicherten Personen über. So haben erste
Vorsorge auf die Probe und machen Sanierungsmassnahmen immer schwieriger. Vorsorgeeinrichtungen die Altersrente bereits
in eine fixe und eine variable Komponente
aufgeteilt. Bei diesem Modell ist ein Teil der

D  ie Pensionskassen wollen ihre Um-


wandlungssätze reduzieren. Der Um-
wandlungssatz bestimmt die Höhe der
die Reglementsanpassungen in den Vorsor-
geausweisen der versicherten Personen zwar
wachsende Einkaufsmöglichkeiten vor, doch
Altersrente vom jährlichen Anlageerfolg der
Vorsorgeeinrichtung auf den Finanzmärkten
abhängig. Dadurch ist die finanzielle Un-
jährlichen Altersrente auf Basis des Vorsorge- die Finanzierung des Einkaufs von höheren sicherheit in der beruflichen Vorsorge für die
guthabens. Einige Kassen senken diese Sätze
von rund 6 auf unter 5 Prozent (siehe Tabelle).
Dadurch kann die Höhe der Altersrenten bei
Die Pensionskassen senken ihre Umwandlungssätze
gut ausgebauten Vorsorgeeinrichtungen um
über 30 Prozent abnehmen. Pensionskasse Zukünftiger Umwandlungssatz
Zwar schaffen einzelne Pensionskassen im
ABB 5,25%
Gegenzug auch Kompensationsmassnahmen
wie höhere Sparbeiträge, Einlagen oder Um- Bernische Lehrerversicherungskasse (BLVK) 5,20%
wandlungsverlustbeiträge des Arbeitgebers, BVK Kanton Zürich 4,76%
um die Leistungseinbussen zu verringern.
Coop 5,50%
Oft gehen diese Massnahmen jedoch zu
einem grossen Teil zulasten der versicherten Credit Suisse Group 4,865%
Personen. Die Vorsorgeeinrichtungen treten Manor 4,76a%
so tendenziell immer mehr Verantwortung Publica 5,09%
an die Arbeitnehmenden ab und übertragen
SBB 5,16%
ihnen damit auch die entsprechenden Risiken.
Diese Entwicklung hat mit dem Wechsel Sulzer 4,80%
vieler Pensionskassen vom Leistungs- zum Swisscom 5,34%
ZHAW

Beitragsprimat begonnen. Beim Leistungs-


primat tragen hauptsächlich der Arbeit- a Im neuen Pensionierungsalter von 65 Jahren: 5,0%
geber und die Vorsorgeeinrichtung das
finanzielle Risiko. Anders beim Beitrags- Glossar: Berufliche Vorsorge
primat: Das Risiko liegt dort vor allem beim –– Im Beitragsprimat sind die des versicherten Lohns be- BVG-Grenzbetrag individuelle
Arbeitnehmenden. Altersleistungen von der rechnet. Die Pensionskasse Anlagestrategien für die
Höhe der einbezahlten trägt die Verantwortung Versicherten anbieten.
Beiträge abhängig, die dafür, dass sie die für die 2017 lag diese Schwelle bei
Reduktion der Leistungen sich aus Arbeitgeber- und Leistungsversprechen 126 900 Franken. Die Arbeit-
Arbeitnehmerbeiträgen erforderlichen Einnahmen nehmenden entscheiden auf-
Viele der freiwilligen Kompensationsmass- zusammensetzen. Bestand- erzielt. Das Leistungsprimat grund ihres Risikoprofils und
teil des Altersguthabens hat gemäss Statistik stark ihrer Renditeerwartungen
nahmen im Rahmen der Senkung des Um-
sind neben den Beiträgen an Bedeutung verloren. Nur selbst über ihre Anlage-
wandlungssatzes sind jedoch einseitige Zu- auch die Zinsen. Gemäss dem noch rund 3 Prozent der 1782 strategie. Sie tragen in der
satzbelastungen für die Versicherten. Das in Bundesamt für Statistik (BFS) Schweizer Pensionskassen Folge die Verantwortung über
der beruflichen Vorsorge geltende Prinzip, gehören über 90 Prozent sind im Leistungsprimat. die Wertentwicklung und
der aktiv Versicherten einer –– Mit den 1e-Plänen können müssen bei einem Austritt aus
dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber mindes- Kasse mit Beitragsprimat an. Pensionskassen für der Pensionskasse Verluste
tens je die Hälfte der Finanzierung überneh- –– Im Leistungsprimat werden Lohnanteile über dem selbst tragen.
men, wird teilweise aufgehoben. So sehen die Altersrenten in Prozent anderthalbfachen oberen

62  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

SHUTTERSTOCK
Die Versicherten sind immer mehr auf sich alleine
gestellt. Die traditionelle Solidarität zwischen
Pensionskasse, Arbeitgeber und Arbeitnehmer Vorsorge auf die Probe. Es droht, dass das den Forderungen aus Wissenschaft und Praxis
nimmt ab. Vertrauen der Bevölkerung in die zweite Säu- – nicht weniger, sondern mehr Einfluss auf die
le abnimmt. Wissenschaftliche Untersuchun- Ausgestaltung der Altersvorsorge nehmen
gen zeigen, dass bei sinkenden Umwand- wird.
versicherten Personen nicht nur auf die aktive lungssätzen vermehrt das Kapital an Stelle
Berufszeit beschränkt, sondern schlägt sich der Rente bezogen wird.2
auch in der Einkommenssituation als Rentner Das wirkt sich auch auf die Führung der
nieder. Pensionskassen aus. Denn, wenn für über-
Aufgrund neuer gesetzlicher Bestim­ obligatorische Teile des Altersguthabens nur
mungen rechnet man in der 2. Säule damit, noch Kapital und keine Renten mehr aus-
dass sich sogenannte 1e-Pläne, die nach dem bezahlt werden, hat dies zur Folge, dass die Vor-
entsprechenden Gesetzesartikel1 benannt sorgeeinrichtungen im Falle einer schwierigen
sind, zunehmend verbreiten (siehe Kasten). finanziellen Situation deutlich weniger flexibel
Daniel Greber
Diese Pläne übertragen nicht nur das An- Massnahmen ergreifen können. Weil ein Leiter des Zentrums Risk & Insurance,
lagerisiko, sondern auch das Risiko der Lang- grösserer Teil des Vorsorgevermögens für die School of Management and Law, Zürcher
lebigkeit vollständig auf die versicherte Kapitalauszahlung reserviert ist, steht weniger Hochschule für Angewandte Wissenschaf-
Person. Das würde bedeuten, dass es den Vorsorgevermögen zu Anlagezwecken zur ten (ZHAW), Winterthur
Versicherten im Alter nicht mehr möglich ist, Verfügung. Zudem muss dieser kleinere Teil
für Lohnanteile ab dem anderthalbfachen aufgrund der abnehmenden Risikofähig-
des oberen BVG-Grenzbetrags (CHF 126 900) keit auch konservativer angelegt werden. In
eine Rente zu beziehen, sondern nur noch vielen Fällen ist er aber zu klein, um erfolgreich
das Kapital. Der Zwang zum Kapitalbezug Sanierungsmassnahmen in die Wege leiten zu
könnte im Prinzip bereits bei der Schwelle können.
zum Überobligatorium – ab einem Ein- Zudem hat das Parlament bei der Reform
kommen von 84 600 Franken – einsetzen. der Altersvorsorge 2020 entschieden, dass die
vorgesehenen Leistungsreduktionen in der
Systemstabilität gefährdet beruflichen Vorsorge durch eine Erhöhung der
Markus Moor
AHV-Altersrenten teilkompensiert werden. Es Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum
Die wachsende Individualisierung und die ab- ist zu befürchten, dass die Politik – entgegen Risk & Insurance, School of Management
nehmende Solidarität stellen die berufliche and Law, Zürcher Hochschule für
2 Siehe Zito, M.G. (2012). Auswirkung der Senkung des Angewandte Wissenschaften (ZHAW),
Umwandlungssatzes. In: Schweizer Personalvorsorge, Winterthur
1 Art. 1e BVG. 05/12, S. 59–61.

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  63
PENSIONSKASSEN

Die Vergleichbarkeit von Pensionskassen


verbessern
Wie lässt sich sagen, welche Pensionskasse ihre Rentenversprechen sicher erbringen kann
und welche nicht? Das Anlagerisiko und der Anteil Rentenbeziehender machen einen Ver-
gleich schwierig.   Dominique Ammann, Alfred Bühler

amtes für Sozialversicherung und der Ober-


Abstract  Das stark gesunkene Zinsniveau stellt für viele Vorsorgeeinrichtungen eine aufsichtskommission Berufliche Vorsorge
grosse Herausforderung dar, die garantierte und versprochene Verzinsung der Vor-
(OAK BV) solche Kennzahlen entwickelt, die
sorgeverpflichtungen sicherzustellen. Der Wunsch nach Kennzahlen, welche die Vor-
einen Vergleich zwischen den Pensions-
sorgesicherheit messen und Massnahmen vergleichbar machen, ist gestiegen. Das
kassen erlauben.
schweizerische Investment-Beratungsunternehmen PPCmetrics hat zwei Kennzahlen
erarbeitet, welche die Sicherheit der Rentenerbringung messen und die Pensions-
kassen diesbezüglich vergleichbar machen. Die Vorsorgesicherheit wird primär von Zwei objektive und vergleichbare
der finanziellen Lage, der Struktur der Vorsorgeeinrichtung – etwa dem Rentneranteil Kennzahlen
– und dem Anlagerisiko bestimmt. Berechnungen mit diesen Kennzahlen zeigen: Je
Um die Sicherheit von Vorsorgeeinrichtun-
mehr Vermögen bei gegebenen Leistungsverpflichtungen vorhanden ist, je tiefer der
Rentneranteil und das Anlagerisiko, desto sicherer ist die Erbringung der Rentenver- gen vergleichen zu können, müssen die ver-
sprechen. schiedenen Sicherheitsaspekte in möglichst
wenigen und voneinander unabhängigen
Kennzahlen zusammengefasst werden. Die-
ses Ziel lässt sich am besten mit zwei Kenn-

W  ie die Vorsorgeleistungen sicher er-


bracht werden können, ist eine
Frage der Perspektive. Aus Sicht der Vor-
sichereren Leistungen. Andere Perspektiven,
etwa die der Rentner, der Arbeitgeber, der
Aufsicht oder des Sicherheitsfonds sind
zahlen erreichen. Die erste Kennzahl ist der
Risikotragende Deckungsgrad (RTDG). Er
fasst die aktuelle Situation bezüglich der De-
sorgeeinrichtung können die Leistungen entweder aufgrund gesetzlicher Garantien ckung der Verpflichtungen, der Struktur und
sichergestellt werden, indem zukünftige weniger im Fokus oder decken sich weit- der Sanierungsfähigkeit zusammen.
Leistungen – beispielsweise mittels Senkung gehend mit den anderen beiden Sichtweisen. Die zweite Kennzahl ist der sogenannte
des Umwandlungssatzes – angepasst oder Eine möglichst objektive Beurteilung der RTDG@risk. Er beschreibt das Ausmass
indem Sanierungsmassnahmen ergriffen Sicherheit setzt demnach Kennzahlen voraus, der Anlagerisiken und der versicherungs-
werden. Aus Sicht der aktiven Versicherten die diese unterschiedlichen Perspektiven ab- technischen Risiken anhand möglicher Ver-
reduzieren solche Massnahmen hingegen die bilden können. Das schweizerische Invest- änderungen der ersten Kennzahl mittels eines
versprochenen Leistungen oder sie erhöhen ment-Beratungsunternehmen PPCmetrics sogenannten Extremwertmodells. Mit diesen
die geplanten Beiträge – beides führt nicht zu hat in einer Studie im Auftrag des Bundes- beiden Kennzahlen können die aktuelle
Situation und die Risiken bestmöglich ge-
messen werden (siehe Abbildung).

Weiterentwicklung des Best-Estimate-Modells zur Bewertung der Renten-


garantie und des Risikotransfers Risikogerechte Bewertung:
Der ökonomische Deckungsgrad
Generationentafeln Eine zentrale Rolle bei der Beurteilung der Si-
Einheitliche Modelle
Bewertungsmodell «best estimate» cherheit spielt das Verhältnis des vorhande-
nen Vermögens zu den sicherzustellenden
Bewertung Rentengarantie Leistungen. Der Deckungsgrad ist die nahelie-
Risikogerechte Bewertung
«Ökonomischer Deckungsgrad» gende Kennzahl, um dieses Verhältnis zu be-
urteilen. Während das Vermögen aufgrund
Berücksichtigung Struktur Berücksichtigung Risikotransfer einheitlicher Kriterien1 marktnah bewertet
«Risikotragender Deckungsgrad» wird, ist die Bewertung der Verpflichtungen
jedoch nicht einheitlich geregelt und deshalb
EIGENE DARSTELLUNG DER AUTOREN

nicht vergleichbar. Um die Vergleichbarkeit zu


gewährleisten, genügt es allerdings nicht, die
Versicherungstechnische Risiken Berücksichtigung Extremwerte Bewertungsgrundlagen wie technischer Zins-
(z. B. «viele IV-Fälle»)
Anlagerisiken «RTDG @risk»
(z. B. «Börsencrash») 1 Gemäss den gesetzlichen Vorschriften zur Rechnungs-
legung von Vorsorgeeinrichtungen FER 26.

64  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


DOSSIER

satz und Sterblichkeitsmodell für jede Vorsor- neranteil einen höheren oder tieferen Teil des Kennzahlen zur Bewertung von
geeinrichtung identisch festzulegen. Solange Altersguthabens oder der beitragspflichtigen Massnahmen
nämlich der technische Zinssatz über den risi- Lohnsumme ausmachen. Bei gleichem öko-
kolosen Kapitalmarktzinssätzen liegt, enthält nomischem Deckungsgrad muss also die- Modelle und Kennzahlen für das Risikoma-
das Vorsorgekapital implizit ein nicht gemes- jenige Vorsorgeeinrichtung mit dem grös- nagement von Vorsorgeeinrichtungen müs-
senes Anlagerisiko. Dieses Risiko ist abhängig seren Rentneranteil die Verzinsung weiter sen auch für den Vergleich der Sicherheit
vom Anteil der garantierten Leistungen, ins- senken oder höhere Sanierungsbeiträge er- der Vorsorgeleistungen anwendbar sein. Die
besondere vom Vorsorgekapital der Rentner: heben, um die Deckungslücke zu schliessen. Kennzahlen müssen Veränderungen der Si-
Mit einem höheren, einheitlich festgelegten Um auch diese Struktur der Vorsorgeeinrich- cherheit, wie sie beispielsweise aufgrund von
technischen Zinssatz liegen die Deckungsgra- tung zu berücksichtigen, hat PPCmetrics das Mitteleinschüssen, Leistungsreduktionen
de der rentnerlastigen Vorsorgeeinrichtungen Konzept des Risikotragenden Deckungsgra- oder Veränderungen der Anlagestrategie ein-
vergleichsweise höher und täuschen so eine des (RTDG) entwickelt. Dazu wird dem Netto- treten können, korrekt wiedergeben.
höhere Sicherheit dieser Vorsorgeeinrich- Vorsorgevermögen das marktnah bewertete Zudem hilft die Vergleichbarkeit der Kenn-
tungen vor. Dieser trügerische Einfluss kann Vorsorgekapital der Rentner abgezogen und zahlen im Zeitablauf und relativ zur Peer Group
nur eliminiert werden, wenn alle garantier- das Restvermögen ins Verhältnis zu den Al- bei der Beurteilung der aktuellen Situation
ten Rentenverpflichtungen marktnah bewer- tersguthaben gesetzt. Das Konzept lässt sich und darauf basierender Massnahmen. Die
tet werden, d. h. wenn die erwarteten Cash- sinngemäss auf alle drei ökonomischen De- Kennzahlen RTDG und RTDG@Risk er-
flows mit den laufzeitengerechten risikolosen ckungsgrade I, II und III übertragen. füllen diese Anforderungen und sind deshalb
Kapitalmarktzinssätzen von Bundesobligatio- Selbst bei demselben RTDG kann die zentrale Elemente des professionellen Risiko-
nen diskontiert werden. Sicherheit der Vorsorgeleistungen zweier managements einer Vorsorgeeinrichtung.
Das Verhältnis zwischen dem Vorsorge- Vorsorgeeinrichtungen je nach Anlage-
vermögen und den marktnah bewerteten risiko oder versicherungstechnischen Risiken
Rentenverpflichtungen ist der ökonomische unterschiedlich sein. Um den Einfluss dieser
Deckungsgrad. Verwendet man für die Be- Risiken auf die Vorsorgesicherheit zu messen,
wertung der Verpflichtungen nur die gesetz- werden die verschiedenen Risiken aggregiert
lich garantierten Leistungen (insbesondere und daraus ein sogenannter RTDG@Risk-
die laufenden Renten), so spricht man vom Wert bestimmt. Die Parameter Ausfall-
ökonomischen Deckungsgrad I. Werden zu- wahrscheinlichkeit und Zeithorizont werden
sätzlich die im Vorsorgereglement ent- im Extremwertmodell einheitlich festgelegt.
haltenen Leistungsziele, wie der Um- Dominique Ammann
wandlungssatz, die Anwartschaften usw., be- Widerspruchsfreie Resultate Dr. rer. pol., Gründungspartner,
rücksichtigt, spricht man vom ökonomischen PPCmetrics AG, Zürich und Nyon
Deckungsgrad II. In unserer Studie gehen Um die Aussagekraft der Kennzahlen zu tes-
wir davon aus, dass die reglementarischen ten, wurde in der Studie die Vorsorgesicher-
Leistungsziele für fünf Jahre gewährleistet heit von 17 Vorsorgeeinrichtungen mit stark
werden sollen. Berücksichtigt man zusätz- unterschiedlicher finanzieller Lage, Versi-
lich noch den Barwert der einheitlichen chertenstruktur und unterschiedlichen reg-
Sanierungsmassnahmen, erhält man den lementarischen Leistungen analysiert und die
ökonomischen Deckungsgrad III. Ergebnisse mit den vorgeschlagenen Kenn-
zahlen verglichen. Der Ansatz der risikoge-
Strukturgerechte Bewertung: rechten Bewertung und die Methodik des
Alfred Bühler
risikotragenden Deckungsgrades erlauben
Der risikotragende Deckungsgrad eine widerspruchsfreie Beurteilung der Si-
Dr. oec. HSG, Gründungspartner und Mit-
glied der Geschäftsleitung, PPCmetrics AG,
Angenommen zwei Vorsorgeeinrichtungen cherheit von Vorsorgeeinrichtungen. Die Be- Zürich
mit demselben ökonomischen Deckungsgrad rechnungen haben gezeigt, dass die Renten-
weisen dieselbe Deckungslücke in Prozenten versprechen umso sicherer sind, je tiefer der Literatur
des marktnah bewerteten Vorsorgekapitals Rentneranteil und das Anlagerisiko sind und PPCmetrics (2017). Vorsorgeeinrichtungen vergleichbar
machen? Machbarkeitsstudie im Auftrag des BSV und
auf. In dieser Situation einer Unterdeckung je mehr Vermögen bei gegebenen Leistungs- der OAK BV. (Voraussichtlicher Publikationstermin:
kann jedoch die Deckungslücke je nach Rent- verpflichtungen vorhanden ist. Sommer 2017)

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  65
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13. November 2017


KKL Luzern

www.europaforum.ch

Rolf Christoph Doris Anita Ulrich


Dörig Franz Leuthard Roth Spiesshofer
VR-Präsident, VR-Präsident, Bundespräsidentin, Head of Policy Research, Präsident und CEO,
Swiss Life Holding Roche Holding Vorsteherin des UVEK Airbnb (USA) ABB Group worldwide

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Die Volkswirtschaft VSUD
UnternehmerZeitung Zuger Wirtschaftskammer
ZAHLEN

Wirtschaftskennzahlen
Auf einen Blick finden Sie hier die Kennzahlen Bruttoinlandprodukt, Erwerbslosenquote und Inflation von acht Ländern, der EU und
der OECD. Zahlenreihen zu diesen Wirtschaftszahlen sind auf Dievolkswirtschaft.ch aufgeschaltet.

Bruttoinlandprodukt: Bruttoinlandprodukt:
Reale Veränderung in % gegenüber dem Reale Veränderung in % gegenüber dem Vorquartal1
Vorjahr
2016 1/2017 4/2016 3/2016 2/2016
Schweiz 1,3 Schweiz 0,3 0,1 0,1 0,6
Deutschland 1,9 Deutschland 0,6 0,4 0,2 0,5
Frankreich 1,2 Frankreich 0,3 0,5 0,2 –0,1
Italien 0,9 Italien 0,2 0,2 0,3 0,1
Grossbritannien 1,8 Grossbritannien 0,2 0,7 0,5 0,6
EU 1,9 EU 0,5 0,6 0,4 0,4
USA 1,6 USA 0,3 0,5 0,9 0,4
Japan 1,0 Japan 0,5 0,3 0,2 0,4
China 6,7 China 1,3 1,7 1,8 1,9
OECD 1,7 OECD 0,4 0,7 0,5 0,4

Bruttoinlandprodukt: Erwerbslosenquote:3 Erwerbslosenquote:3


In Dollar pro Einwohner 2015 (PPP2) in % der Erwerbstätigen, Jahreswert in % der Erwerbstätigen, Quartalswert
2016 2016 1/2017
Schweiz 63 616 Schweiz 4,6 Schweiz 5,3
Deutschland 49 077 Deutschland 4,1 Deutschland 3,9
Frankreich 41 945 Frankreich 9,9 Frankreich 10,1
Italien 37 964 Italien 11,7 Italien 11,7
Grossbritannien 42 898 Grossbritannien 4,8 Grossbritannien –
EU 38 918 EU 8,6 EU 8,1
USA 57 325 USA 4,9 USA 4,7
Japan 41 694 Japan 3,1 Japan 2,9
China – China – China –
OECD 42 096 OECD 6,3 OECD 6,1

Inflation: Inflation:
Veränderung in % gegenüber dem Veränderung in % gegenüber dem
Vorjahr ­Vorjahresmonat
2016 April 2017
Schweiz 0,0 Schweiz 0,4
Deutschland 0,5 Deutschland 2,0
Frankreich 0,2 Frankreich 1,2
Italien –0,1 Italien 1,9
Grossbritannien 0,7 Grossbritannien 2,7
EU 0,3 EU 2,0
SECO, BFS, OECD

USA 1,3 USA 2,2


Japan –0,1 Japan 0,4
China 2,0 China 1,2
Weitere Zahlenreihen
OECD 1,1 OECD 2,4
1 Saisonbereinigt und arbeitstäglich bereinigte Daten.
www.dievolkswirtschaft.ch d Zahlen
2 Kaufkraftbereinigt.
3 Gemäss ILO (Internationale Arbeitsorganisation).

Die Volkswirtschaft  7 / 2017  67
Freiwilliges Engagement in der Schweiz nimmt ab
Neben der Lohnarbeit und der Arbeit im eigenen Haushalt leisten viele Einwohner in der Schweiz Jahr für Jahr aus freien Stücken und
weitgehend unbezahlt einen Beitrag zum Gemeinwohl. Doch dieses Engagement nimmt ab, wie eine Studie der Schweizerischen
Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG) und des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern aus dem Jahr 2016 zeigt. So sinkt
etwa der Anteil Freiwilliger, die sich in Vereinen und Organisationen engagieren. Unklar ist der Trend bei den informell Freiwilligen,
die sich etwa in der Nachbarschaft oder in der Betreuung engagieren: Hier betätigen sich zwar wieder mehr Menschen als noch vor
fünf Jahren, sie wenden im Durchschnitt aber deutlich weniger Zeit auf als früher.

Informelle Freiwilligenarbeit Freiwilligenarbeit in Vereinen


und Organisationen

Meistgenannte Meistgenannte
Betätigungsfelder (2014) Betätigungsfelder (2014)

praktische

43% Hilfeleistungen
(z. B. Einkaufen oder
Gartenpflege für Nachbarn)
Sportverein 12%
Kinderbetreuung
38% (ohne Betreuung
eigener Kinder)
Spiel-, Hobby-,
Freizeitverein 8%
Betreuung und Pflege
13% von Behinderten
und / oder Alten
Kirchliche 7%
Organisation
(ausserhalb des eigenen Haushalts)

Organisation und
8% Durchführung Kultureller 6%
von Treffen und Verein
Veranstaltungen

* Die Werte für die formelle Freiwilligkeit von 2006 und 2009 können nicht mit den Werten von 2014
verglichen werden, da Erstere den Aufwand für die Haupttätigkeit ausweisen, während Letztere den

Anteil der informell Anteil der formell


gesamten Aufwand aller Tätigkeiten der formellen Freiwilligkeit beinhalten.

Freiwilligen (Wohn- Freiwilligen (Wohn-


bevölkerung über bevölkerung über
SGG, FREIWILLIGEN-MONITOR SCHWEIZ 2007, 2010 UND 2016 / DIE VOLKSWIRTSCHAFT

15 Jahren) 15 Jahren)
Durchschnittliche Durchschnittliche
Arbeitszeit pro Freiwilligen Arbeitszeit pro Freiwilligen
(in Std./Monat) (in Std./Monat) *

38% 38%
29% 28% 26% 25%

13,7 15,0 10,9 14,7 13,9 17,4

68  Die Volkswirtschaft  7 / 2017


2006 2009 2014 2006 2009 2014
VORSCHAU

88e année   N°5 /2017
90. Jahrgang   Nr. 5 /2015 sFr.
Frs.12.–
12.–

La
DieVie économique
Volkswirtschaft
Plattformdefür Wirtschaftspolitik
Plateforme politique économique

FOKUS

Eine bargeldlose Schweiz ist


in weiter Ferne
Mit den Negativzinsen zahlreicher Zentralbanken rückt die Diskussion um die bargeldlose Gesellschaft in
den Vordergrund. Denn: Würden die Banken die Negativzinsen auf die Kunden überwälzen, horteten diese
ihr Geld zu Hause. Bereits gibt es Länder, in denen Bargeld nur noch eine geringe Rolle spielt. Vorreiter in
Europa ist Skandinavien. So finden in Schweden beispielsweise nur noch zwei Prozent aller Transaktionen
in bar statt. Während die Europäische Zentralbank und andere Notenbanken mit der Abschaffung grosser
Geldnoten gegen die Schattenwirtschaft vorgehen, hält die Schweiz weiterhin an der Tausendernote fest.
Lesen Sie in der nächsten Ausgabe, ob elektronisches Geld ein effektives Mittel gegen die Schattenwirt-
schaft ist und wie es in der Schweiz um das Bargeld steht.

Entwicklung der Zahlungsmittel in der Schweiz


Tobias Trütsch, Universität St. Gallen

Vom Naturaltausch zum Buchgeld


Professor emeritus Ernst Baltensperger, Universität Bern

Warum die SNB am Bargeld festhält


Fritz Zurbrügg, Schweizerische Nationalbank

Reduziert die Abschaffung von Bargeld die Schattenwirtschaft und die Kriminalität?
Professor Friedrich Schneider, Universität Linz

Bargeld und die Null-Zins-Politik der Europäischen Zentralbank


Professor Hans Gersbach, ETH Zürich, Professor Martin Hellwig, Max-Planck-Institut zur Erforschung von
Gemeinschaftsgütern und Universität Bonn

Die Zukunft der mobilen Bezahllösungen


Professor Andreas Dietrich, Hochschule Luzern, Institut für Finanzdienstleistungen Zug

Hat für Händler die Kryptowährung Bitcoin eine Zukunft?


Patrick Comboeuf, Beratungsfirma Carpathia, Zürich

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