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Pressezentrum Dokument: 2236

Sperrfrist: 26.05.2006; 14:30 Uhr

Veranstaltung: Geistliches Zentrum: Abschied vom lieben Gott

Referent/in: Müller, Rainer-Matthias

Ort: Wirtschaftsgymnasium, Vorstadtstr. 36

Programm Seite: 141

Abschied vom lieben Gott.

Eine Einladung, Gott ganz anders zu sehen...

1. Die Gotteskritik

- Gott als Projektion des Menschen

- Der „erfundene Gott“ als Lückenbüßer

2. Die monotheistischen Gottesbilder des AT und NT

- Gott der Schöpfer, Befreier, Streitende

- Gott als der „Ich bin da“

- Gott als Bundespartner

- Gott als „Guter Hirte“, als einer, „der Leid zulässt“, „als der Unbegreifliche“

- Gott als „Vater“ (Archetyp der Barmherzigkeit)

- Gott als „Gott ist Liebe“

3. Vom Teddybär zum Lieben Gott? (Frühkindliche Ausprägung)

4. Gotteserfahrung heute („Nachts allein mit Gott“)

5. Abschied vom „Lieben Gott“

- Ein Erstes: Gott ist zumutend.

- Ein Zweites: Gott ist herausfordernd.

Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.


Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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- Ein Drittes: Der liebende Gott.

Gedanken zum Einstieg (Paul Roth)

Der Allzu —Bekannte

Wie viele Namen hast du eigentlich, Gott?


Und welcher ist der richtige?
Soll ich dich Vater nennen?
Väter können Tyrannen sein.
Soll ich dich Herr nennen?
Herren können Despoten sein, die Sklaven regieren.
Soll ich dich König nennen?
Aber was sind Könige heute noch:
Staatssymbole mit ‚keep smiling’ für Illustrierte!

Ich weiß, ich weiß,


all diese Namen sind nur Chiffren,
sind Hilfswörter für Unbegreifliches,
Unaussprechbares.
Sie sagen etwas von dir, über dich.
Sie sagen noch mehr über uns
Und unsere Vorstellung von dir.

Es gibt keinen Namen für dich, der


alles sagt,
für alle Zeit, für jeden.
Weil nicht alles gesagt werden kann,
weil jede Zeit und jeder Mensch
dich und deinen Namen neu finden muss.

Doch ich muss mit dir reden,


will dich ansprechen mit deinem Namen.
Die alten sind mir fremd geworden.
Und ohne Namen, fürchte ich, bist du mir fremd
wie die Stimme am Telefon,
die ‚Hallo’ ruft.

Paul Roth

1. Die Gotteskritik

Vielleicht ist es seltsam, einen Vortrag über Gott mit der Kritik an Gott oder besser: der
Infragestellung der Existenz Gottes zu beginnen. Große Gestalten wären hier zu nennen:
Kritiker auf Seiten der Psychologie etwa wie Sigmund Freud oder Tilman Moser, auf Seiten
der Philosophie wie Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Ludwig Feuerbach oder von Seiten der
Naturwissenschaften vor allem jene Forscher, die in der Diskussion um Evolution und Urknall
alle biblischen Sprachbilder von Gott als naiv und nicht beweisbar verwerfen.

Dieser Vortrag sucht aber nicht primär in erster Linie die missionierende Auseinandersetzung
mit Psychologie, Philosophie oder Naturwissenschaft. Er hat auch nicht zum Ziel, die
Existenz Gottes zu beweisen oder zu begründen. Mein Ausgangspunkt ist dieser: Glaube ist
immer eine Entscheidung. Wer glaubt, hat sich bereits entschieden, für Gott entschieden.
Wer nicht glaubt hat sich ebenso entschieden. Ob er sich gegen Gott oder die Möglichkeit
Gott zu denken entschieden hat, müssen wir offen lassen.

Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.


Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Dennoch sollten wir die Kritik an der Entscheidung für den Glauben an Gott bei unseren
Betrachtungen mitschwingen lassen. Exemplarisch möchte ich daher tatsächlich zwei
grundlegende Kritikansätze herausgreifen, damit wir nicht im eigenen Saft der religiösen
Selbstsicherheit braten:

Gott als Projektion des Menschen

Als erste nenne ich die Theorie von der Projektion eines Gottes aufgrund eines
menschlichen Defizits. Es sind vor allem Friedrich Nietzsche und Ludwig Feuerbach, die mit
ihrer Religionskritik hier zu nennen sind. In der Feststellung „Gott ist tot!“ manifestiert sich
das Ergebnis einer ergebnislosen Suche nach Gott.

Sowohl Nietzsches als auch Feuerbachs Gedanken lauten so: Nicht Phantasie oder Gefühl
veranlassen den Menschen zum Gottesglauben, sondern sein Trieb, glücklich zu sein: Der
Mensch glaubt an ein unsterbliches, ewiges Wesen, weil er nicht sterben will, und an ein
vollkommenes Wesen, weil er sich danach sehnt, vollkommen zu sein. Folglich hält Religion
an der Unvollkommenheit des Menschen fest, während sie von Gott behauptet, er sei
vollkommen. Gott ist demnach das, was der Mensch von sich verneint. Gott ist der ganz
Andere, das Gegenüber des Menschen, und zugleich der Mensch par excellence; denn was
Gott als Eigenschaften zugeschrieben wird, das sind im Kern Tugenden des Menschen. Was
er nicht ist, aber sein will, das schreibt er den Göttern zu. Gott ist - so der zwingende Schluss
Feuerbachs, die fantasierte Realisation menschlicher Wünsche, ihr Konkretwerden in der
Projektion!

Feuerbach schlussfolgert daher: Zunächst muss diese Selbsttäuschung beseitigt werden, in


der der Gläubige irrtümlich Gott als vom Menschen unabhängige Größe versteht. Dann
können die Energien, die bisher auf Kult und Verehrung Gottes verwendet wurden, auf die
Humanisierung des Menschen und seiner Zukunft gerichtet werden. Die Liebe zu Gott sollte
in die Liebe zum (Mit-)Menschen umgemünzt und die Kandidaten des Jenseits zu Studenten
des Diesseits und zu freien, selbstbewussten Bürgern der Erde erzogen werden.

Der „erfundene Gott“ als Lückenbüßer

Die zweite große Theorie ist die des „Platzhalters“, des „Lückenbüßers“ bzw. des erfundenen
Gottes. Was ist damit gemeint?

Der große evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer schrieb einmal: „Es ist mir ganz
deutlich geworden, dass man Gott nicht als Lückenbüßer unserer unvollkommenen
Erkenntnis figurieren lassen darf; wenn nämlich dann - was sachlich zwangsläufig ist - sich
die Grenzen der Erkenntnis immer weiter herausschieben, wird mit ihnen auch Gott immer
weiter weg geschoben und befindet sich demgemäß auf einem fortgesetzten Rückzug. In
dem, was wir erkennen, sollen wir Gott finden, nicht aber in dem, was wir nicht erkennen;
nicht in den ungelösten, sondern in den gelösten Fragen will Gott von uns begriffen sein. Das
gilt für das Verhältnis von Gott und wissenschaftlicher Erkenntnis. (...) Gott ist (...) kein
Lückenbüßer; nicht erst an den Grenzen unserer Möglichkeiten, sondern mitten im Leben
muss Gott erkannt werden; im Leben und nicht erst im Sterben, in Gesundheit und Kraft und
nicht erst im Leiden, im Handeln und nicht erst in der Sünde will Gott erkannt werden.“

Was meint Bonhoeffer? Der Ansatz der Schöpfungslehre wie sie uns die Bibel in den beiden
Schöpfungsmythen überliefert, wird häufig kritisiert: Gott hat nur deshalb überhaupt eine
Existenz erhalten, da er der Lückenbüßer unverstandener Phänomene ist. Früher oder
später werden durch Forschung ungelöste Fragen beantwortet, was zu einer „Wohnungsnot“
Gottes führen wird. Die wenigen letzten unerklärlichen Phänomen dieser Welt verdrängen
Gott in die Abstellkammer der noch vorläufigen Ungereimtheiten.

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Die Missernte in früheren Zeiten war so lange Folge einer Sünde des Menschen und wurde
als Strafe Gottes verstanden, wie die Wetterveränderungen nicht erklärbar waren. Anders
gefragt: Wird also Gott als Schöpfer immer dann bemüht, wenn wir Phänomene im Mikro-
und Makrokosmos nicht verstehen? Wenn das so wäre, könnte man mit Recht eine
zunehmende Einengung des „Handlungsspielraums“ Gottes anprangern, denn unser Wissen
nimmt stetig zu. Irgendwann wird alles – so könnten wir vermuten – erklärbar sein. Dann
braucht es Gott nicht mehr.

Wenn wir unseren christlichen Gottesbegriff tatsächlich in seiner ganzen Tiefe verstehen
suchen, dann müssen wir hinabtauchen in die Welt des Volkes Israel und in seinen
Erfahrungsraum mit Gott.

2. Die monotheistischen Gottesbilder des AT und NT

Welche biblischen Gottesbilder werden uns in der Entwicklung der Heiligen Schrift
vorgestellt?

Wir müssen zunächst einmal festhalten, dass die Gotteserfahrungen einzelner oder des
ganzen Volkes Israels nicht im Sinne einer aufzählenden Chronologie zu erfassen sind,
sozusagen mit der ersten Gotteserfahrung beginnend, bei der letzten, der aktuellsten
beendend. Zu unterschiedlichen Zeiten haben Menschen und haben Völker verschiedene
Gotteserfahrungen gesammelt und diese wiederum auf unterschiedliche Weise festgehalten.
Mag sein, dass die Gotteserfahrung des JHWH, übersetzbar mit „Ich bin da“ die
grundlegende monotheistische Ausformung im Glauben des Volkes Israel ist. Dennoch wirft
die Heilige Schrift verschiedene Scheinwerfer auf die menschlichen Erfahrungen. Die
Strahlen der Lichter beleuchten dies Lebensszenen und lassen weniger das feste statische
Bild als vielmehr die lebendigen Erfahrungen aufleuchten. Die Grafik zeigt dies in der ganzen
Mehrdimensionalität:

Die Grunderfahrung mag – wie schon angedeutet – die Tatsache sein: Ich, der Herr, dein
Gott, bin der einzige Gott! Ich bin der Ich bin da. Rückblickend und auf den Anfang schauend
wird diese Erkenntnis dreifach entfaltet: Gott ist als der Schöpfer da, von Anbeginn der Zeit.
Er ist der Baumeister und Gestalter allen Lebens, er steht am Anfang und wird der Vollender
sein. Die zweite Erfahrung ist die Erfahrung der Befreiung. Gott führt hinaus in die Weite des
Lebens. Im Ringen um die eigene Identität, im Streit mit Gott sozusagen, erlangt der Mensch
Segen. Die dritte Gotteserfahrung der Väter mündet darin: Der Kampf des Jakob am Jabbok
dient der Namensgebung: Israel soll Jakob von nun an heißen.

Am Sinai erschließt sich eine neue Erfahrung Gottes. Der befreiende und namensstiftende
Gott schließt einen Vertrag, den Bund, mit seinem Volk. Im Dekalog, den Zehn Geboten, tritt
Gott als zuverlässiger Vertragspartner seinem Volk wie ein Ehepartner entgegen. Die
Jungfrau Israel ist seine Braut. Die Qualität der Beziehung ist die „Hräsed“ Gottes, seine
Treue und Liebe.

Aus dieser tiefen Liebe und Treue heraus verkünden die Propheten Gott als den sich
sorgenden „Guten Hirten“, zugleich aber als den, der zumutet und das Leid zulässt, wie es
uns auf tragische Weise von Hiob geschildert wird. Letztlich aber – bei allem Kampf um
Gottes Gegenwart – bei aller Sehnsucht sogar, kann Gott nur als der völlig unbegreiflich
Transzendente erfahren werden. Im 19. Kapitel des 1. Buches der Könige wird dies
geschildert: Gott war nicht im Sturm, nicht im Feuer, nicht im Erdbeben, sondern im Nichts,
im Säuseln des Windes. Gott manifestiert sich in der Unbegreiflichkeit, im wahrsten Sinne
des Wortes: nicht ergreifbar und doch ergreifend.

Dass letztlich dieser Gott dann aber doch auch begreifbar wird, wird uns mit Jesus Christus
als dem lebendigen Wort Gottes deutlich: Er geht in die Beziehung mit Gott hinein, Gott ist
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das personale „du“, das Gegenüber des Mannes aus Nazareth. Gott ist Vater, er ist die
Grundgestalt des barmherzigen Vaters, er ist der Archetyp der Barmherzigkeit schlechthin.
Diese Dimension sprengt das bisher Erfahrene. Vermessenheit und zugleich
Aufgeschlossenheit prägen diese Gotteserfahrung. Vermessen deshalb, weil nur Jesus
selbst von Gott so als Vater sprechen kann, wie er es tut. Aufgeschlossenheit deshalb, weil
er uns damit die Beziehung zu Gott in neuer Weise erschließt.

Diese neue Beziehung aber erfüllt sich dann in der Formulierung „Gott ist Liebe“, wie sie
auch Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika beschreibt: „Deus caritas est“. Die innige
Beziehung zwischen Gott als dem Vater und Jesus als dem Sohn zeigt sich in der sich
einerseits an den Sohn verschenkenden Liebe in der Menschwerdung (Weihnachten),
andererseits in der für den Vater sich hingebenden Liebe am Kreuz (Kenosis). Die Kraft, die
das bewirken konnte und damit über sich hinaus den Menschen, also uns, zu Gott
emporhebt - diese Kraft ist der Geist Gottes selbst.

3. Vom Teddybär zum Lieben Gott? (Frühkindliche Ausprägung)

Doch wie entsteht Gott in mir und in meinem Glauben? Wie komme ich dazu, mich für den
Glauben an einen Gott zu entscheiden? Wir machen einen Sprung aus spirituell-biblischen
Betrachtung der Gottesbilder zu uns hin. Wie kommt es, dass wir als Kinder schon lernen, an
einen Gott zu glauben?

Für das Baby und das Kleinkind sind die entscheidenden Primärpersonen Mutter und Vater.
An ihnen orientiert es sich, an ihnen misst es sich, an ihnen erfährt es Glaubwürdigkeit und
Echtheit, aber auch Zweifel und Not. Weisheit, Kraft und Liebe können so früh im Kind
verankert werden.

Der erste Bruch allerdings geschieht, wenn das Kleinkind abends allein einschlafen soll. Die
Nacht als das Symbol der Einsamkeit und des Todes löst Furcht aus, Angst und Zweifel.
Wenn nun Mutter und Vater nicht anwesend sind oder sein möchten, um das Kind in die
Eigenständigkeit zu führen, nimmt ein Gegenstand diesen Platz ein. Es sind die
Kuscheltiere, die Liebesobjekte der frühen Kindheit, mit denen wir so viel an Erfahrungen, an
Geborgenheit und Trost verbinden. Ihnen vertrauten wir die großen Geheimnisse unserer
kurzen Erdenzeit an. Bei ihnen konnten wir – sie fest im Arm haltend – uns ausweinen und
schluchzen. Bei ihnen fanden wir Nähe und Wärme, im Fell eine gewisse spürbare
Zärtlichkeit. Doch das Kuscheltier von sich aus ist nicht zur Kommunikation fähig. Es kann
nicht sprechen, vermag es höchstens in unserer Phantasie zu hören. Es kann sich nicht
selbst bewegen, und doch spüren wir seine Nähe im unmittelbaren Hautkontakt.

In dieser Phase, so können wir ohne naive Theologie betreiben zu wollen, das Entstehen
und die erste Erfahrung Gottes in kindlicher Weise festhalten. Was das Kind hier mit dem
Kuscheltier, dem Übergangsobjekt seiner Kindheit zum Jugendlichen, erfährt, ist Gottes
verborgene Gegenwart, welche es in sich selbst trägt. Rede und Antwort als zärtlicher Dialog
zwischen Kind und Kuscheltier sind Beginn dessen, was wir nur wenige Jahre später schon
als Gebet bezeichnen. Durch die Eltern hat das Kind bis zu diesem Zeitpunkt erlernt, dass
nicht das Kuscheltier und nicht die Eltern Gott sind, sondern dass Gott noch darüber hinaus
als der Große Unbekannte eine eigene Existenz aufweist. Doch im Umgang mit dem
Übergangsobjekt der Kindheit manifestiert sich die Sehnsucht des Kindes nach dem „du“,
dem personalen Gegenüber, welches ebenso vertraut, liebevoll und zärtlich an der Seite des
Menschen verweilt.

Dieses personale Du nennt Martin Buber „Gott“. Alles wirkliche Leben, so sagt er, ist
Begegnung mit diesem „du“. Es gilt nun darauf zu schauen, wie wir Menschen dieses „Du“
Gottes dann im Laufe unseres Lebens vermittelt bekommen.

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Dieses „Du“ ist vor allem mit einem Gefühl verbunden und wird uns dann in der Kindheit
geraubt und ersetzt durch die Sprachwelt der Erwachsenen. Wir werden jetzt sehen, wie sich
dieser „Raub“ auswirkt... Warum wird uns – statt des Gefühl der Liebe – ein „lieber Gott“
vermittelt? Warum lernen wir nicht, wie Gotteserfahrung geht, sondern erlernen in der
Schule, der Katechese und in der Sprachwelt der Liturgie die verschiedenen statisch
wirkenden „Gottesbilder“? Dieser Frage ist wollen wir nachgehen. Damit ist nämlich in letzter
Linie auch die Option verbunden, von einem „lieben Gott“ Abschied zu nehmen und neue,
andere Erfahrungen zu machen!

4. Gotteserfahrung heute („Nachts allein mit Gott“)

Schon an der Überschrift lässt sich ersehen, dass wir nun einen Grundwechsel vollziehen,
was die Sprache angeht. Nicht mehr von Gottesbildern sprechen wir – und sollten wir
eigentlich auch nicht mehr, - sondern von Gotteserfahrungen.

Wann immer das Wort „Gotteserfahrung“ fällt, werden viele aufgeklärte Zeitgenossen
skeptisch. Kann man Gott überhaupt „erfahren“? Klingen die Geschichten der Bibel und die
Biographien der großen Mystiker und Heiligen nicht doch zu „weltfremd“, geradezu exotisch
und sonderbar seltsam? Klingen die Berichte nicht oft wie fromme Märchen für einfältige
Menschen? „Erfahrung“ im spirituellen Sinne meint nicht empirische Nachprüfbarkeit von
naturwissenschaftlich eindeutigen Forschungsexperimenten.

Die Theologie kennt das Phänomen der Gotteserfahrung und ist kritisch genug, um bloße
Phantasie von tiefer mystischer Vision zu unterscheiden. Interessanterweise ist gerade der
Zeitpunkt der Nacht einer der in der Bibel und von Mystikern am häufigsten genannten
Momente der Begegnung mit Gott. Es handelt sich bei vielen Schilderungen um eine innere
Erfahrung, die oft einhergeht mit dem äußeren Dunkel der Lebenssituationen, in denen wir
stecken. Unter dem Licht Gottes kann sich der Mensch diesen Nachterfahrungen öffnen, d.h.
er sieht seinem Leben ins Angesicht und erkennt die vielen Wegmöglichkeiten, die sich ihm
erschließen.

Die Passionsgeschichte Jesu beginnt in der Nacht, mit der Dunkelheit, und zeigt damit
überdeutlich die Verzweiflung und diabolische Anfechtung Jesu von Nazareth. Die Nacht
zum Karfreitag ist – so lesen wir in den vier Evangelien – für Jesus die furchtbarste
Erfahrung der Gottesferne, ja, ich erlaube mir auch hier zu sagen: der Gottesfinsternis in
seinem Leben. Der „Höhepunkt“ wird auf dem Gipfel der Angst und des Todes erreicht, auf
der Schädelhöhe Golgotha. Wo alles in die Dunkelheit und in die Nacht des Todes mündet,
da stößt jener Jesus noch einmal den sehnsuchtsvollen Schrei nach der Nähe Gottes aus,
wenn er betet:

„Mein Gott! mein Gott!


Warum hast du mich verlassen?
Bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage!
Mein Gott!
Ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort!
Ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe!“

Diese Zeilen aus dem Psalm 22 machen deutlich, welch tiefe Verzweiflung ein Mensch
durchlebt, der sich ganz und gar von Gott verlassen fühlt und sich der Gottesfinsternis
ausgesetzt glaubt.

Damit kommen wir zu einer Grundoption und einer ersten Antwort auf die Frage, ob es
möglich ist, in der Nacht eine Gotteserfahrung zu machen. Die Antwort lautet: Insofern der
Mensch offen ist für das, was Christen, Muslime oder Juden Gott nennen, was Buddhisten
oder Hindus „göttliche Energie“ oder Geist nennen, ist es ihm auch möglich, eine
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Gotteserfahrung zu durchleben und in der Eigenreflektion als solche auch zu erkennen.


Lassen Sie mich dies mit Blick auf die Heilige Schrift verdeutlichen:

Die Heilige Schrift erzählt mit menschlichen Worten von einem Gott, der in der Nacht
einerseits das Schöpfungswerk beginnt, andererseits die Nacht vollendet und in den Tag
führt. Der rote Faden wird vom Buch Genesis im 1. Kapitel, Vers 2 („Finsternis lag über der
Urflut“) bis hin zum letzten Kapitel der Offenbarung in immer neuen Facetten gezogen: „Es
wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen weder das Licht einer Lampe noch das Licht
der Sonne. Denn der Herr, ihr Gott, wird über ihnen leuchten, und sie werden herrschen in
alle Ewigkeit“ (Offb 22,5).

Gerade durch das Wort „Nacht“ im Alten wie im Neuen Testament offenbart sich ein eigener
theologischer Zeitpunkt des Heilshandelns Gottes („Kairos“). Man könnte geradezu meinen,
die Heilige Schrift basiere auf dem komplementären Konstrukt eines Tag-Nacht-Schemas
und manifestiere genau darin ihre grundlegende Heilsaussage: Die Nacht ist der bevorzugte
Ort der Gotteserfahrung und als Augenblick des Heils-Durchgangs zum neuen Tag des
Menschseins notwendig.

Ein großartiges Beispiel sei hier die Geschichte vom Kampf des Jakob am Jabbok. Andere
Geschichten finden sich im AT wie im NT. Hier nur einmal die Auflistung:

Nachterfahrungen im Alten Testament

- Die Nacht der Schöpfung

- Die nächtliche Himmelsleiter

- Der nächtliche Kampf am Fluss

- Der königliche Traumdeuter

- Der Auszug in der Pesach-Nacht

- Davids Versuchung in der Nacht

- Elijas Wüstennacht

- Jona in der Finsternis des Fischbauches

- Judiths Nacht-Gebet

- Die Nacht auf der Tenne

- Die Blindheit des alten Tobit

- Die Nacht des Hiob

- Das Volk, das im Dunkeln wandert

Nachterfahrungen im Neuen Testament

- Die Träume des Josef

- Die Geburt Jesu in der Nacht

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- Der Gang Jesu auf dem Wasser

- Das Nikodemusgespräch

- Das Mahl in der Nacht

- Die Nacht der Verzweiflung im Garten Getsemane

- Verhandlung, Verleugnung und Verurteilung

- Der Tod als Ausdruck der unendlichen Nacht

- Der Gang zum Grab in der Nacht

- Die Jünger von Emmaus

- Die Blindheit des Paulus

- Die Befreiung des Petrus aus der Kerkerhaft

- Die letzte Nacht der Welt

Ich muss es – angesichts der Zeit – Ihrem persönlichen Studium überlassen, sich den
verschiedenen biblischen Geschichten einmal zu widmen, die uns von nächtlichen
Gotteserfahrungen erzählen. Dazu sei der Hinweis auf mein Buch gegeben: „Nachts allein
mit Gott. Wenn Menschen Gott erfahren.“

5. Abschied vom „Lieben Gott“

Kommen wir zum Kerngedanken dieses Vortrages: unserer Überlegungen, wer oder was
Gott ist, wie und wann wir ihn erfahren können und warum wir überhaupt glauben können,
dass es einen Gott gibt. Warum sprechen wir in der Alltagssprache so oft vom „Lieben Gott“?
Wenn wir Gott „erfahren“ können, dann stellt sich doch die Frage: Wie erfahren wir ihn? Die
biblischen Zeugnisse machen deutlich: Es geht nicht um einen lieben Gott. Sie erzählt ganz
anders von Gott.

Lassen Sie es mich deshalb provozierend einmal sagen: Es gibt keinen lieben Gott. Es hat
ihn nie gegeben. Der „liebe Gott“ ist in der Tat eine Art Erfindung von Menschen, die gerne
hätten, dass er lieb und nett ist. Dahinter aber steckt das Bild, die Fiktion oder noch besser:
die Projektion eines alten, ergrauten Mannes mit langem Bart auf irgendeiner Himmelswolke.
Er blickt gütig, und doch auch ohnmächtig auf die Erde. Der so genannte „liebe Gott“. Nein,
es gibt ihn nicht, den „lieben Gott.“

Wer aber ist er dann? Im Schleudergang der Zeitgeschichte und der unzähligen politischen,
sozialen und persönlichen Ereignisse stellt sich die Gottesfrage zumindest für das
Christentum in neuer, ungewohnter Weise. Mit Sicherheit ist er für die Christen nicht der
Gott, der zum Heiligen Krieg aufruft. Er ist auch für viele nicht mehr der Gott, der unseren
Alltag auf ganz selbstverständliche Weise bestimmt, der „omnipräsente“ Gott, der
Allgegenwärtige.

Im Schleudergang der Gegenwart hat sich das christliche Gottesbild verändert. Vielleicht
lassen sich drei neue „Gesichtszüge“ Gottes umschreiben:

zumutend – herausfordernd - liebend

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Ein Erstes: Gott ist zumutend.

Gott ist zumutend. Das klingt für viele Menschen befremdlich. Gott mutet dem Menschen im
Laufe seines Lebens unendlich viel zu. Er mutet uns zu, geboren zu werden, damit die Uhr
gestellt wird bis zur Stunde des Todes. Er mutet uns zu, Krankheiten und Leid zu ertragen.
Ungerecht, wie es uns oft erscheint. Begrenzungen, die uns physisch und psychisch an die
Barrieren der Menschlichkeit und des Erträglichen führen. Schicksale werden uns
zugemutet: Geburt eines behinderten Kindes oder gar Totgeburt, ein Verkehrsunfall mit
tragischen Folgen: Querschnittlähmung; die Scheidung nach über 20 Jahren Ehelebens;
Arbeitslosigkeit und sozialer Abstieg; AIDS oder Krebs – nahezu unheilbare Krankheiten, die
das ganze Leben über den Haufen werfen. Dies sind nur einige, wenige, ausschnitthafte
Beispiele der Zumutungen Gottes. In vielen Punkten fühlt sich der Mensch überfordert.
Lebensperspektiven? Der zumutende Gott erscheint vielen als der Gott, der sie
niedergestreckt am Rand des Weges liegen lässt.

Die Heilige Schrift berichtet von solchen Menschen. Auch wenn das Buch Hiob, Tobit, Rut
oder Jona nur „Erzählgeschichten“ sind ohne direkten historischen Zusammenhang, so
machen sie dennoch einiges deutlich von der Wirklichkeit, wie wir sie oft erleben. Aber die
Bibel berichtet auch davon, dass Gott in aller Zumutung auch der Aufrichtende ist. Er holt
sein Volk aus dem Staub und erhebt den Wehrlosen aus dem Schmutz. Er stellt den
Kranken und Ohnmächtigen auf die eigenen Füße; ruft dem Lebensmüden zu: „Steh’ auf und
iss! Geh’ deinen Weg durch die Wüste!“ (1 Könige 19,7).

Vielleicht mutet Gott dem Menschen aber auch nur so viel zu, wie er ertragen kann. So
jedenfalls wird es ab und an formuliert: Jeden Menschen ereilt ein anderes Schicksal. Gott
stimmt die Zumutungen ab auf das Ertragen des Einzelnen. Und: In und trotz aller Zumutung
spricht Gott auch Mut zu.

In Gestalt des Mannes aus Nazareth, Jesus, den wir als den Christus bekennen, ruft er die
Menschen heraus: „Ruft ihn her! (...) Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!“ (Markus 10,49). Ob
einen blinden Bartimäus, wie gerade zitiert, der nichts anderes möchte, als sehend den
Durchblick haben, oder einen zaghaften Petrus, der sich auf Geheiß seines Herrn „Komm!“
(Matthäus 14,29) auf das Wasser wagt und viel Mut beweist, bevor ihm der wässrige Boden
unter den Füßen doch das Fundament raubt, oder ein totgemachter Lazarus, der mit dem
Ruf „Lazarus, komm heraus!“ (Johannes 11,43) die Fesseln seines Lebens und die
Ohnmacht seines Menschseins abwirft und wieder ans Licht tritt, wo gerade zuvor noch alles
bis zum Himmel stank (vgl. Johannes 11,39). In allen Geschichten – und derer gibt es noch
viele mehr – wird uns berichtet, wie Menschen in der Zumutung ihres Lebens auch den Mut
zum Aufbruch spürten. Gott mutet zu. In der Tat. Und er schenkt Mut.

Ein Zweites: Gott ist herausfordernd.

Gott ist herausfordernd. Probleme gibt es in unserem Alltag zuhauf. Probleme, an denen wir
scheitern könnten. Auch hier: Null Lebensperspektiven? Doch Probleme sind letztlich nichts
anderes als Herausforderungen. Es sind und bleiben Forderungen, die offen stehen, die
erfüllt werden wollen. Aber sie sind nicht statisch, sie frieren nicht in der Ausweglosigkeit ein,
sondern: sie rufen heraus, sie fordern heraus. Bewegung, Veränderung, Aufbruch,
Neuanfang. Das sind die Worte, die mit Herausforderung einhergehen. Der christliche Gott
ist auch ein Gott der Herausforderung. Das Volk Israel, das nach langen Jahren der
Sklaverei in Ägypten den Auszug und Aufbruch in die Freiheit vollzogen hat (vgl. Exodus
13,17 – 14,31), es muss erst die Herausforderung der Wüste und des Suchens überstehen
und durchleben (vgl. Exodus 15,22 – 17,16). Gott ist herausfordernd. „Ek-Klesia“ heißt
Kirche im Griechischen. Die „Herausgerufenen“, so könnte man es übersetzen. Christen sind
Menschen, die nicht statisch vor Problemen stehen bleiben und ohne Lebensperspektiven

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ihren Alltag gestalten. Christen haben einen Gott, der sie herausruft, der ihnen vorangeht,
der mit ihnen geht. Aber er fordert. Er fordert zu aller erst das Aufgeben der gewohnten und
vertrauten Machenschaften. Er fordert das Verlassen der alten Wege und das Beschreiten
neuer Straßen, die zu einem neuen Horizont führen. Einem Horizont der Erkenntnis allen
Werdens. Gott fordert heraus.

Auch Jesus hat die Menschen immer wieder herausgerufen und herausgefordert. Das
Ereignis mit dem „Ausstieg“ des Petrus auf das Wasser wurde eben schon erwähnt. Aber
schon ganz zu Anfang seines Wirkens beruft er Menschen in seine Nachfolge. Frauen und
Männer verändern nicht nur den Tagesablauf und bauen ein paar Stunden „Jesus-
Nettigkeiten“ mit ein, sondern schließen sich ihm, dem Wanderpropheten, an, ohne zu
wissen, wo er sie hinführen wird. „Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu
Menschenfischern machen!“ (Markus 1,17). Die Herausforderung Jesu liegt im Wandel der
bisherigen Tätigkeit. Gleich wie wir unser Leben gestalten, die Umkehr und Herausforderung
zu Jesus hin beginnt mit einer „Zusatzqualifikation“ für den neuen „Arbeitsplatz“, an den er
uns beruft: Wir werden zu Menschenfischern, das heißt zu Zeugen des Evangeliums. Das
„Netz“ sind die Worte und Taten Jesu, der „Köder“ ist das „Leben in Fülle“, das uns
verheißen ist. Die „Fische“ sind die Menschen, die wir für die Sache Jesu begeistern, nicht
aber knebeln sollen!

Die größte Herausforderung aber, so erzählt uns die Bibel, liegt nach Jesu Tod und
Auferstehung in der Himmelfahrt. Schon in seinen Abschiedsreden im Johannesevangelium
kündet Jesus seinen Jüngern dieses „Fortgehen“ an. „Es ist gut für euch, dass ich fortgehe.
Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so
werde ich ihn zu euch senden!“ (Johannes 16, 7). In diesem Fortgehen Jesu liegt einerseits
die Trauer über den unmittelbaren Verlust, andererseits aber die Herausforderung, mit der
Kraft von „oben“, dem Heiligen Geist, diese Trauer zu überwinden und in Freude zu
verwandeln. Es ist die Kraft, die befähigt, auf den eigenen Füßen zu stehen, das Leben in
die Hand zu nehmen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

In ähnlicher Weise berichtet uns das Johannesevangelium von der Begegnung Jesu und
Marias am Ostermorgen. Maria, die erst im Laufe des Gespräches Jesus erkennt, will ihn
umklammern und festhalten. Doch seine Antwort ist klar: „Halte mich nicht fest!“ (Johannes
20,17). Die Herausforderung auch hier liegt in der Umkehr, in der „Umdrehung“ oder der
Kehrtwende. Nicht in das dunkle Grab hinabschauen, ist die Perspektive und Aufgabe eines
Menschen, der Christus nachfolgt. Sondern die Wende zum Leben, der Weg nach vorn. Was
für das Leben eines Einzelnen gilt, gilt gleichermaßen für die Kirche in der Gesamtheit. Die
Herausforderung der Kirche liegt in der ständigen Umkehr und Suche nach dem Weg Gottes
mit ihr.

Ein Drittes: Der liebende Gott.

Es gibt keinen „lieben Gott“ – so die These eingangs. Aber es gibt einen liebenden Gott.
Nicht der Gott der leeren Worthülse „Liebe“. Ein abgedroschenes Wort, weil schon
tausendmal und oft mit leeren Versprechungen verknüpft. Ein „liebender Gott“ – ein Spiegel
der Liebe zwischen zwei Menschen, die zueinander Ja gesagt haben, für immer. Nicht von
ungefähr ist die Eheschließung, das Sich-Anvertrauen vor dem Altar, der Bund der Ehe ein
Sinnbild für die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Mann und Frau sind aufeinander
bezogen in einer einzigartigen schöpferischen Gemeinschaft. In ihrer liebenden
Verschmelzung entsteht neues Leben. Im treuen Mitgehen des Lebenspartners oder der
Lebenspartnerin, in den guten wie den schlechten Tagen, wie es heißt, in Gesundheit und
Krankheit, bis dass der Tod die beiden voneinander trennt, in diesem treuen Mitgehen
ereignet sich die Wirkkraft des liebenden Gottes. In der Sorge der Eltern um ihr Kind, in der
Fürsorge des Freundes um seinen Freund, in der verständnisvollen Umarmung der Freundin

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mit ihrer Freundin – überall dort ereignet sich das Geheimnis des liebenden Gottes. Ein
liebender Blick, eine liebende Geste, ein liebendes Loslassen auch im Tod. Ein liebender
Gott.

Kein anderer hat diese Liebe so greif- und spürbar gezeigt, wie Jesus. Aber auch er konnte
nur so umfassend lieben, weil sie ihm selbst von Gott geschenkt worden war: „Wie mich der
Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! Wenn ihr meine
Gebote haltet, werdet ihr in meiner Liebe bleiben, so wie ich die Gebote meines Vaters
gehalten habe und in seiner Liebe bleibe. (...) Das ist mein Gebot: Liebt einander, so wie ich
euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde
hingibt.“ (Johannes 15,9-13). Die Gebote sind die Richtschnur, Wegmarkierungen und
Straßenlaternen. An der Schnur kann ich mich wie bei einem Bergwanderseil festhalten, an
den Wegmarkierungen kann ich mich orientieren, ohne Gefahr zu laufen, vom Weg
abzukommen, die Straßenlaternen erhellen und erleuchten die dunklen Abschnitte und sind
Blickpunkte, auf die ich meine Augen richten kann. Darin zeigt Gott, wie liebend er wirklich
ist.

In wunderbarer Weise beschreibt der Prophet Jesaja diese Liebe in einer Liebeserklärung
Gottes an den Menschen: „Jetzt aber, so spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob,
und der dich geformt hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst, ich habe
dich beim Namen gerufen, du gehörst mir. Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir,
wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du
nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen. Denn ich, der Herr, bin dein Gott. Ich der
Heilige Israels, bin dein Retter. Ich gebe Ägypten als Kaufpreis für dich, Kusch und Seba
gebe ich für dich. Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe,
gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker. Fürchte dich nicht, denn
ich bin mit dir.“ (Jesaja 43,1-5).

Abschlussgedanken

Die Welt, in der wir leben, hat sich verändert. Das ist nicht resignative Feststellung, sondern
Beschreibung der Anzeichen einer neuen Wirklichkeit. Und in dieser Wirklichkeit hat sich
auch das christliche Gottesbild verändert. Aber es passt sich nicht an wie ein Produkt auf
dem Markt an den Bedarf oder die Nachfrage der Verbraucher. Das christliche Gottesbild
verändert sich, indem es klarer seine Konturen zeigt, sein Profil zum Vorschein bringt.

Es gibt ihn nicht, den „lieben Gott“, von dem wir als Kinder noch glaubten, dass er dieser
nette, alte Mann auf der Wolke sei. Es hat ihn so nie gegeben. Der christliche Gott der
Gegenwart und der Zukunft ist ein zumutender, ein herausfordernder und ein die Menschen
unendlich liebender Gott. Es ist Zeit, diesen Gott zu denken und zu erfahren.

Doch wir wollen nicht nur die Frage nach Gott überhaupt stellen, sondern: Dürfen wir
überhaupt noch von „Gottesbildern“ sprechen? Zwar unterliegen wir nicht dem jüdischen
Bilderverbot, wie es uns im Alten Testament überliefert ist. Dennoch fragen wir: Sollten wir
nicht viel mehr von „Gotteserfahrungen“ sprechen? Ist nicht die gesamte Bibel vielmehr ein
Erfahrungsbuch? Sind „Gottesbilder“ letztlich nicht zu statisch, zu starr? Liegt es nicht nahe,
aus Gott dasselbe zu machen, was wir in Stein- und Holzskulpturen aus den großen
Glaubensgestalten, den Heiligen, gemacht haben? Wir haben sie fest gefroren und auf
Sockel gestellt. „Gottesbilder“ haben ähnliche Gefriertendenzen. Aber das sollte nicht unser
Anliegen sein. Wir sollten unsere Erfahrungen auftauen und verkosten.

Rainer-Matthias Müller, geb. 1969, Studium in Mainz, Trier und Toulouse. Seit 2003
Schulpfarrer und Religionslehrer in Saarlouis, Bibliodramaleiter und Gestalttherapeut i.A.,
Sozialkompetenztrainer und Buchautor mehrer geistlicher Bücher, Autor von

Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.


Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Rundfunkbeiträgen für den Kirchenfunk des Saarländischen Rundfunks, Mitglied des Dritten
Ordens der Franziskaner, seit 2004 Promovent im Fach Pastoraltheologie (Bamberg), Leiter
des SCG (Seminar für kreative Formen christlichen Glaubenskommunikation), Dozent in der
Erwachsenenbildung Saarlouis / Dillingen.

Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.


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