Versicherheitlichung wird dem Verständnis des SFB/TRR 138 zufolge als ein Prozess gefasst,
in dem Akteure unter Rückgriff auf Heuristiken und Repertoires Situationen als
sicherheitsrelevant definieren. Versicherheitli- chung liegt dementsprechend dann vor, wenn
etwas im Rahmen einer kollektiv geteilten Situationsdefinition zum Sicherheitsthema wird.
Eine solche Definition von Versicherheitlichung ist insofern breiter als die Kopen- hagener
Definition, als sie Versicherheitlichung nicht an die Autorisierung außergewöhnlicher
politischer Maß- nahmen koppelt. Um die verschiedenen Bestandteile von Versicherheitlichung
analytisch zu differenzieren, unterscheiden wir folglich zwischen einer
sicherheitsrelevanten Situationsdefinition, Heuristiken, die von Akt- euren verwendet werden,
um eine Situation als sicherheitsrelevant zu markieren, und den – demgegenüber
handlungsbezogenen – Repertoires, die gesellschaftlich zur Verfügung stehen, um
(wahrgenommenen) Si- cherheitsproblemen zu begegnen. Heuristiken und Repertoires sind
demzufolge zwei (aufeinander bezogene) Modi, um eine Situation als sicherheitsrelevant zu
definieren.
a) Als Versicherheitlichung wird ein politischer Prozess bezeichnet, innerhalb dessen ein
Thema im Rahmen einer kollektiv bindenden bzw. kollektiv geteilten Situationsdefinition als
Sicherheitsthema gilt oder interpretiert wird. Situationen sind nicht einfach gegeben, sondern
müssen sinnhaft von Akteuren gedeutet werden, damit Interaktion stattfinden kann. Solche
(gemeinsamen) Deutungen werden dadurch erleichtert, dass Akteure auf gesellschaftlich
institutionalisierte Rahmen zurückgreifen können, die ein gewisses Maß an sozialer Verbind-
lichkeit besitzen. Analog dazu ließe sich sagen, dass Situationen nur dann als riskant, gefährlich
oder bedroh- lich – oder im Gegenteil als sicher – erscheinen, wenn Individuen über solche
Rahmen verfügen, die es ihnen erlauben, bspw. die Anwesenheit anderer Personen oder Objekte
oder bestimmte Informationen entsprechend zu deuten. Zugleich sind Situationsdefinitionen nie
vollständig stabil, sondern können stets Gegenstand impli- ziter oder expliziter Aushandlung
zwischen Akteuren werden (Goffman 1977). Mag es auch sein, dass be- stimmte Situationen
über lange Zeiträume hinweg auf der Basis institutionalisierter Deutungsmuster als be- drohlich
und bestimmte Repertoires als „taken for granted“ betrachtet werden, so bleibt dies letztlich
abhängig von gesellschaftlichen Festlegungen und ist insofern auch prinzipiell wandelbar.
Der SFB/TRR nimmt Goffmans These, dass über den Bezug auf Deutungsmuster soziale
Situationen erst ermöglicht werden, als Ausgangspunkt, erweitert und modifiziert sie allerdings.
Ist Goffmans Situationsbegriff in hohem Maße auf konkrete Interaktionen zwischen leiblich
anwesenden Individuen bezogen, so dient der
Begriff der Situation im vorliegenden konzeptuellen Rahmen eher als analytisches Hilfsmittel,
um deutlich wer- den zu lassen, dass Sicherheit bzw. Bedrohungen nicht einfach vorgefunden
werden, sondern dass etwas erst kollektiv als sicherheitsrelevant definiert werden muss. Das
erlaubt es auch, von konkreten Situationsdefiniti- onen, wie sie in historischen Quellen zu
finden sind, auf kollektive und verbindliche Deutungs- und Handlungs- muster zu schließen.
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Wissenschaftliches Profil
oder Gefahren abzuwehren. Zugleich definiert es damit bestimmte Aspekte als
Sicherheitsprobleme. Ein in- stitutionalisiertes (Sicherheits-)Repertoire reproduziert insofern
Versicherheitlichungen, als es routinemäßig bestimmte Aspekte als sicherheitsrelevant markiert
und bearbeitet, etwa durch juristische Kasuistik, Techniken des Profilings bei der Einschätzung
von Gefahren, durch die Abfassung von Verträgen zur Sicherung des Friedens oder durch die
Berufung auf bestehende Festungsanlagen. Zugleich rufen Heuristiken bestimmte Repertoires
auf, durch die Sicherheitsprobleme in angemessener und wirksamer Weise bearbeitet werden
sollen. Die Weiterentwicklung von Repertoires – bspw. aufgrund technischer Innovationen –
kann wiederum auch zu neuen sicherheitsbezogenen Situationsdefinitionen führen. Repertoires
und Heuristiken stehen somit innerhalb von Dynamiken der Sicherheit in einem rekursiven
Verhältnis.
Mit den aufeinander bezogenen Konzepten von Heuristik, Repertoire und Situationsdefinition
wird versucht, zwei Betrachtungsweisen auf Versicherheitlichung rekursiv miteinander zu
verbinden: eine, die die kognitiven Deutungs- und Bewertungsleistungen von Akteuren in den
Mittelpunkt stellt und im Feld interpretativer Ansätze verortet ist, und eine, die das praktische
Verstehen der Akteure fokussiert. Im ersten Fall spielen Diskurse und kognitive Schemata,
kurz: ein „knowing that“, im zweiten Verhaltensroutinen, ein „knowing how“, die Hauptrolle
(Reckwitz 2008, 112f). Es geht an dieser Stelle weder darum, zwischen diesen beiden
Perspektiven zu ent- scheiden, noch darum, eine übergreifende Theorie zu formulieren.
Vielmehr soll ein analytischer Rahmen
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Wissenschaftliches Profil
aufgespannt werden, der es erlaubt, empirisch nach den Beziehungen zwischen Deutungs- und
Bewertungs- schemata und praktischen Routinen bei der Entstehung von Dynamiken der
Sicherheit zu fragen. Dies ermög- licht, unterschiedliche Ansätze der critical security
studies auf der gleichen analytischen Ebene und nicht län- ger als sich tendenziell
ausschließende theoretische Schulen zu behandeln. Darüber hinaus trägt dieser ana- lytische
Zugang dazu bei, Versicherheitlichung stärker als einen graduellen Prozess zu verstehen
(Abulof 2014), also nicht einfach unterscheiden zu müssen, ob etwas versicherheitlicht wurde
oder nicht, sondern differenzierter analysieren zu können, inwiefern etwa unterschiedliche
Grade der Akzeptanz bzw. Nicht-Ak- zeptanz von Bedrohungen innerhalb eines
Sicherheitsrepertoires bzw. bei unterschiedlichen, konkurrierenden Sicherheitsrepertoires
existieren. Entsicherheitlichung ließe sich vor diesem Hintergrund als – ebenfalls gra- dueller
– Prozess verstehen, innerhalb dessen sicherheitsbezogene Situationsdefinitionen an
Plausibilität ver- lieren, entweder weil dahinterliegende Heuristiken nicht mehr überzeugen
oder weil Sicherheitsrepertoires – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr als notwendig
oder angemessen betrachtet werden.
Ein besonderer Schwerpunkt im SFB liegt darauf, Prozesse des Wandels und der Tradierung
von Sicherheits- repertoires und Sicherheitsheuristiken zu untersuchen. Ein nicht unerheblicher
Vorteil der gleichzeitigen Be- rücksichtigung von Wahrnehmungs- und
Bewertungsmechanismen (Sicherheitsheuristiken) und handlungs- bezogenen
Bearbeitungsformen (Sicherheitsrepertoires) besteht darin, nach der Stabilisierung und
Tradierung sicherheitsrelevanter Situationsdefinitionen unterhalb diskursiver und begrifflicher
Veränderungen suchen zu können, auf die u. a. in der historischen Forschung mehrfach
hingewiesen wurde. Insbesondere sollen auch jene politischen Prozesse bzw. Prozesse der
Politisierung beleuchtet werden, die durch Versicherheitlichung erst ermöglicht werden, weil
in der Versicherheitlichung kollektive Verbindlichkeit, Zugzwang und die Relatio- nierung
Bedrohtes/Bedrohung zusammengeführt werden und einander bedingen.--