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Nietzsche: Heideggers Widerstand


Von
BABETTE BABICH
New York, USA

1. Nietzsche lesen ais eine "Konfrontation"

mit dem l'Jationalsozialismus

In seinem oft zitierten Interview aus dem J ahr 1966 mit dem Wochenmaga­
zin Der Spiegel stellte Heidegger den Anspruch auf, dass seine U niversitats­
vorlesungen über Nietzsche und Holderlin nichts weniger Romantisches - und
nichts noch weiter Hergeholtes - gewesen seien aIs das, was er seinen Wider­
stand gegenüber der nationaisozialistischen Bewegung in Deutschland nannte.!
Indem er eine Sprache benutzt habe, die so nietzscheanisch wie biblisch war,
behauptete Heidegger, hatten "alle, die horen konnten", auch horen konnen,
"daG dies cine Auseinandersetzung mit dem Nationaisozialismus war"2. An
spaterer Stelle in diesem Interview wiederholt Heidegger diese Selbstdeutung:
Seine Nietzsche-Vorlesungen soilten nichts weniger sein aIs eine "Auseinander­
setzung mit dem N ationaisozialismus". 3
Heidegger hatte dieselbe These schon früher einmai aufgestellt, aIs cr nahe­
zu dieselben Worte benutzte, um diese Behauptung zu formulieren, namlich in
einem Brief an Karl Jaspers vom 8. April 1950. Nachdem cr behauptet hatte,
dass die Lehrveranstaltungen über Nietzsche aIs Akt des Widerstandes zu lesen
seien, hob Heidegger dies en Punkt noch weiter hervor, indem er sagte: "Dies
schreibe ich wieder nicht, um darzutun, daG ich etwas gcleistet hatte, obwohi
jeder Hellhorige in den Jahren 1935-44 wissen konnte, daG an der hiesigen Uni­
versitat keiner das gewagt hat, was ich wagte." 4 Heidegger fuhr fort: "Um so
hùter traf mich, was dann 1945/46 und eigentlich bis zur Stunde gegen mich
unternommen wurde." 5 An früherer Stelle in demselben Brief hatte cr sich da-

1 Vg!. Manin Heidegger, "Nur noch ein Gun kann uns renen", in: Der Sjnege!, 30. Jg., Nr. 23
(31. Iv! ai 1976); hier zitien nach Günter N eske / Emil Keneri ng (H rsg.), AntLé'urt. M artm H ei­
deggerim Gesprùh, Pfullingenl98S, 81-118.

Manin Heidegger, "N ur noch ein Gott kann uns renen", 93.

Martin Heidegger, "Nur noc11 cin Gort kann um rencn", 95.

; Martin Heidegger / Karl Jaspers, Hncf"c;,·cchsc!. 1920-/%3, hrsg. von \V,llter Diemel und H,lIlS
Saner, Münchcn 1992,202.
I\lartin Heidegger / Karl Jaspers, Briefü-'('chsel. /920'-/963,202.

Heidegger-Jahrbuch 5
Babette Babich

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.. _~-_ ..

rauf berufen, dass seinem Eindruck nach in seinen Nietzsche-Vorlesungen zeit­


weise ein N azispion anwesend gewesen sei. 6
Heidegger behauptete, einen Kampf gegen den N ationalsozialismus geführt
zu haben: Indem er mit seinen Studenten Nietzsche las und dies gegen die
Interpretation Nietzsches, die von der nationalsozialistischen Politik seiner Zeit
favorisiert wurde, wie sie exemplarisch in den Schriften Alfred Rosenbergs (der
ein ausgepragt politischer, politisierter, zudem auBerst politisch gewandter Aka­
demiker war, aber keineswegs ein Nietzscheaner) oder den Werken Alfred
Baeumlers (der jedoch jenseits seiner politischen Vorstellungen gewiss ein
Nietzscheaner war) deutlich wird. 7 Letzdich aber scheint die Strategie, Nietz­
sche (oder Holderlin oder wen auch immer) zu lehren, meiner Auffassung nach
ziemlich schwach, vor allem wenn es um eine Kritik der nationalsozialistischen
Politik geht. 8
Ohne Heideggers These von der politischen Dimension seiner Nietzsche­
Interpretation stogen wir nur auf eine fast unmerkliche "Verfehlung" (bzw.
Fehlinterpretation) Nietzsches, wie wir hoflich sagen konnten und es herrscht
ja wahrlich kein Mange! an so1chen Missversrandnissen bei groBen und weniger
grog en Geistern. 9 Versteht IIeidegger einfach Nietzsche schlecht, wie oft argu­
mentiert worden ist? Ist seine Philosophie, um Bernd Magnus' Bonmot zu vari­
ieren, schlecht verstandener Nietzsche, Kant oder Aristoteles, aber "guter" I-Iei­
degger?;8 Was letztendlich gegen Magnus einzuwenden ist, ist, dass Heideggers
Auslegungen von Aristoteles, Descartes oder Kant nicht nur zu einem besseren
Hcidegger-Verstandnis beitragen, sondern auch zu einern besseren Verstandnis

" Martin Heidegger 1 Karl] aspers, BriefZ:.'CChsel. J920~ J963, 201.


- Mark Roche bestreitet, dass "the National Socialism of Rosenberg originatcs out of the :\fierz­
schean notion of rclativism and suspension of thc law non-contradiction" in seinem Text
"National Socialism and the Desintegration of Values: Rcfleerions on Nietzsche, Rosenberg,
,1I1d Broch", in: The Journal of Value !rzqulry 26 (1992), 367~380, 367. Dass es eine wirkliche
nationalsozialistische Annexion von :\fietzsche gegeben hat, steht kaum in Frage. Siehe den
noch i111111er mitzlichen Aufsatz von Crane Brinton, "The Nation:d Socialises' Use of Nietz­
sche", in: Iournal History of Idcas 1 (1940), 131~15C. Vgl. hier auch Alfred Rosenberg,
Der de5 20. J,dJTIJllnderts: Elne W7ertung der Gestaltenkànzpfe unse­
rer Zcit, \Iii nchen 1943.
!vl:lI1 kann daran erinnern, dass der Inrerviewer des selbst Akzentuierungen
relatÎ\'Îerre, indcl11 el" Heidegger auf ein anderes Tbemas hinlenkte, wahrend Heidegger selhse
nidH nUI" dar:\uf insistierte, bei diese111 Punkt zu sondern ihn sog.lr noch weiter aus­
fijhrt\:, indem er den Kuntext binzufügte, der in seiner Korrespondenz der spiitell 19..J.Cer und
frühell 1950er Jahre ein Echo findet (Martin Heidegger, "Nur noch l'in Gort bnn uns ITtten",
95 ).
Es gibt j.l cinen Reichtum an Korn.:krurcn an Heideggers Nietzschc~ Intcrprct.ltion: wie und
\Vu Heidegger Nietzsche falsch n:rsteht, \Vie gefahrlicb cs ist, den Willen zm \Ltcht und die:
Le:hn: \on der e\Vigen Wiederkehr engzuführen, wic irrtümlich cs ist, das verôHcntlichte \\1crk
zu GUlIstcn des unpublizit:rtcl1 N'leh/asses zurückzl1wciscn und su wcitcr.
Bcrnd l\hgnus, ,,[ntroduction", in: Karl LLiwith, " ftcl'rwl ReCIf/"­
rClicc afthe ÜbtT')Ctlt \"lm]. H,llTC\' LOl11ax, Berke\cv 1<)97, x\·ii.

Heidegger Ja hrbuch
Nietzsche: Heideggers Widerstand

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von Aristoteles, Descartes, Kant oder anderer Denkern führen konnen. Ich gehe
seit Iangem davon aus, dass dies auch für Heideggers Nietzsche-Ausiegungen
zutrifft. Aber was bedeutet dies dann?
Heidegger sagt uns selbst, dass man Nietzsche so lesen müsse, wie man
Aristoteles lese. Das Problem besteht darin, dass Heideggers Leser zumeist we­
niger geneigt sind, Nietzsche zu Iesen, aIs sie zur Aristoteles-, Descartes- oder
Kantlektüre neigen. Diese Abneigung Îst problematisch. Eine Abhilfe ist aller­
dings alles andere ais einfach zu finden. Der springende Punkt ist, dass Nietz­
sche nach Heidegger eben kein Philosoph ist, auf den man einfach zugehen und
den man geradewegs les en konne. Vielmehr muss man, was Nietzsche auch viel­
fach anzeigt, Iernen, wie seine Schriften zu les en sind, um mit der Lektüre über­
haupt beginnen zu konnen. Soleh eine Anleitung wird aber in Heideggers Vor­
lesungen gewiss geboten. Es ist sinnvoll hinzuzufügen, dass die Zuordnung
Nietzsches zu jenen Denkern, die hermeneutische Schwierigkeiten bereiten, al­
so zu jenen Denkern, die zu lesen man zuerst lernen müsse, kontra-intuitiv Îst
und sich ohne Zweifel gegen die allgemein verbreiteten Annahmen richtet. 1l
Nietzsche sagt uns selbst, dass uns das Vermogen, einen beliebigen Text zu
lesen, nicht wie von selbst, nicht gleichsam automatisch, zukomme. Wir müssen,
wie cr uns sagt, erst lesen lernen, und dann müssen wir faktisch oder tatsachlich
lesen. Soleh ein "sorgsames" Lesen bringen wir Akademiker nul' mit Widerwil­
len auf und nur bei Autoren, die es wert zu sein scheinen oder bei denen die
Investition uns etwas zurückgeben kann - oder, wie Nietzsche sagt, zu dem
Zwecke, ein eigenes Buch oder einen Aufsatz zu schreiben. Doch in all solchen
Fiillen liest man gar nicht, wie Nietzsche hervorhebt.
Stathis Gourgouris hat das Dilemma des modernen Gelehrten zutreffend
und mit einer einnehmenden Direktheit anhand der Diskussion aufgewiesen,
die auf Papst Benedikts XVI. vermeintliche Verunglimpfung des Islam folgte
(der Schauder des politisch Korrekten wird immer starker zu der einzigen In­
stanz in unserer von den Medien in Atem gehaltenen Welt, die unsere Aufmerk­
samkeit mit Garantie wachhalt und das Recht beansprucht, den Ruf und An­
spruch der \Vissenschaft radikal in F rage zu stellen). tIier habe es sich um eine
Krankung gehandclt, die, so der Vorwurf der Papstkritiker, auf sein Zitat eines
(byzantinischen) Kaisers aus dem 14. Jahrhundert zurückgehe: Manuel II. Pa­
laeologos. Auch wenn Gourgouris anmerkt, dass zweifellos grogere Sorgfalt in
der Ansprache des Papstes erforderlich gewesen ware, und er betont, dass deren
Fehlen zweifelsohne eine anti-isJamische Geste verr~ne, ermahnt cr uns, diesen
Anti- Islamismus in einen Kontext zu setzcn (insbesondere unter Einbeziehung
"des gcgcnwartigcn Verhaltcns der oHiziellen Stellen der amerikanischen Regie­
mng"), indem el' hervorhcbt, dass das tatsachliche Problem die DomÎnanz der

!; \'),;1, <lb,,]' J,l, l'l'ste l\.,'pilcl ,,7u :\Jlctzsd1CS Sril" von Babctte Babich: "FlIles Gotles Gliùk
,'0//('1 ,tldcht und ricbt, 211 llo/der/m, {-{eidegger, Wcin1,1l' 200'1,8,,27,

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Babette Babich

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heutigen Massenmedien sei: "Dass Gelehrte und Akademiker diesen Satz miss­
verstanden, ist vor allem eine enttauschende Erinnerung daran, dass sie nicht
lesen." 12
lndem er si ch mit Judith Butlers scherzhaft gemeinter, an den Papst gerich­
teter Frage "Wen hat er gelesen?" auseinandersetzt, gibt Gourgouris die folgen­
de Antwort: "Doch da ist eine wirkliche und offensichtliche Antwort, soweit
ich es verstehe. Er hat, natür1ich, Manuel Palaeologos gelesen, doch es besteht
kein Zweifel, dass er auch (vor langer Zeit und in der ganzen Brcite) seinen Kant,
seinen Hegel, seinen Nietzsche, seinen Heidegger gelesen hat. Und obwohi er
die hochste Autoritat der katholischen Theologie verkorpert, kennt er seinen
Martin Luther auswendig. Es ist ein einfaches, weltliches, sakulares Faktum,
das jedem zu trivial scheint, um es zu bemerken: Der Papst ist ein deutscher
lntellektueller. « 13 Für Gourgouris ist der Schlüssel zu der Lektüre des Papstes
einzig dies, den Papst selbst zu lesen. Nietzsche tadelte uns, namlich gleicher­
maBen Philosophen und Philologen (was heute Analytiker und Theoretiker ein­
schlieBen würde Gourgouris charaktcrisicrt Butler aIs eine Vertreterin des
lctzteren Typus), dafür, dass wir nicht lesen. Wichtig ist hier, dass dies sowohl
in Bezug auf unsere \vahrnehmung von Nietzsche wie von Heidegger, der
Nietzsche ausIegt, gilt.
Evidenz dafür kann man in den allerjüngsten franzosischen Debatten über
Heidegger finden: gibt eine ganze Reihe von Beitragen zu dieser Debatte,
unter denen man eine Auswahl treffen kann: beginnend mit Victor Farîas' H ei­
degger et le Nazisme H über die Kritik Dominique Janicauds an der Herrschaft
der plü.nomenologischen Theologie oder seine meisterliche Überblicksdarstel­
lung Heidegger en France' bis zu Emmanuel Fadas-Reprise in seinem
noch eindrücklicher betitelten Heideggeï: L'Introduction du nazisme dans La
philosophie 16 und - das jüngste Bcispiel von a11en François Fédiers kollektiver
Antwort auf Faye, die untel' dem Titel Heidegger à plus forte raison erschien. 17

St:tthis Gourgouris, Present ot a Ddllsion", in: Ward Blanton 1 Creston Davis / Hent de
Vries (Hrsg.), Paul tm" tbe Durh,ln12009.
St.uhis Gourgouris, Present of .1 Delllsi,)J1". Manllskript.
H Victor Farîas, Hculcgga le .\t1LISJi?C. Paris 1997. Vgl. ais Ant\\'ort der Auwrin dieses 8el­
tLlg<:S ,lUf E1I'ias: "The Ethic1i ,1Ild the Linguistic , in: Babett<è Babich, WOT'ds in
Wood, Llk.'e Flo'i.:.'Crs. New York 2006.
[ Dominique J,micaud, Heidegger Cil l'l'ml( cl-II, Paris 2001.

li, Emrnanlld Ln·e. Heidegger L'm!mdifC!i()1! dll nûzisnlc d,ViS ['1 , Paris 2005.

[7 Fral1~'ois Fédier. e r,IIJOII, Paris 2::::'7. In T'ë~'('ntieth


mlLl Tbmker,\ (New Yurk wirt! die Behauptung
dass Heidegger in fr.1nkrl'ldl .Hl bnfluss \erliere, \Vas dem Enthusiasmus für all:t­
philosophi~che 'ici. wie el' fur \Vic Jules Vuil-
Gaston GLlI1gcr, !)oll\ercsse lI.a. kennzeichnend sei. VgL zur Problematik
B"bctte und die ,1lIdlnisch-kontinentale Trcnllung in der Phi­
. in: R,ll1<ène R,lbj..-h. "Fille, Cotte, G!iic.k~·()!Icr .\1,lchl mul Licbe", 210233, und

Heidegger-Jahrbuch 5

Nietzsche: Heideggers Widerstand

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2. Opposition

Heideggers "Fall" hat viel mit Nietzsches Der Wille zur Macht zu tun, in
dem Sinne, in dem Heidegger zu Beginn seiner Vorlesungen des Jahres 1937 die
Frage nach dem Status dieses Nachlasswerkes aufwirft. lch habe auf die Rele­
vanz von Heideggers Befassung mit Nietzsches Nachlass für unser Verstandnis
der Beitrage hingewiesen und diese aIs eine Art von "prapariertem" 18 oder "kos­
metischem" Nachlass gedeutet: ein von ihm selbst ediertes Arrangement post­
humer Hinterlassenschaft. 19 Die Beschaftigung mit seinem eigenen Nachlass
war Heideggers vorherrschende Sorge insbesondere nach der Publikation von
Sein und Zeit im Jahr 1927, in deren Zusammenhang Heidegger nicht nur mit
enormem und plotzlichem philosophischen Erfolg konfrontiert wurde, sondern
auch mit seiner Ablehnung dieser Popularitiü in ihrem Kern. Wie Kant und vide
andere Philosophen war sich auch Heidegger nicht sicher, ob selbst seine Ver­
teidiger ihn verstanden hatten. Dieselbe Furcht brachte Nietzsche dazu, zu fra­
gen: "Werde ich verstanden? Hat man mich verstanden?" Und indem er seine
eigene Frage immer negativ beantwortete und dieses Nicht-verstanden-Werden
ais seine Bestimmung sich zu eigen machte, schrieb Nietzsche: "lch werde nicht
gelesen. lch werde nicht gelesen werden." Doch unternahm er auch fortgesetzt
die Anstrengung der Selbst-Anzeige und des wiederholten Publizierens, der
Selbst-Edition. 20
Da wir so oft an der Oberflache einer Schrift Hait machen, geschieht es,
dass Heideggers interpretatorische Emphasen an uns vorbeigehen. Damit ver­
lieren wir zugleich die stilistischen und rhetorischen Bewegungen von Heideg­
gers Denken aus den Augen. Als bewusst didaktisch verfahrender Autor, der
seine Vorlesungen in einem genau bestimmten universitaren Kontext abfasste,
hatte Heidegger oft sehr gute Gründe dafür, mit einem Gemeinplatz zu begin­
nen, einzig, um sodann darüber zu reflektieren und ihm eine besondere Aus­
zeichnung zu verleihen und damit nicht nur den Gemeinplatz zu transformie­
ren, sondern ihn aIs AbstoBungspunkt für die "Ausfahrt" ins Denken zu
akzentuieren.
Nachdem er auf die \Vichtigkeit und Allgegenwartigkeit von Wochen­

aus historischer Sicht - Ethan Kleinbergs. GenerarlOli LXlsremia!. Mal/zn H eùleg,ger~, Phllos(j~
in France 1927~196J. Ithac<1 2005,
le "Pr;ipariert" in der modernen musik,11ischen Bedeuwng. in der !1lan von eiller Kompllsition
flir pLlpariertes Klavier Qohn sprechen bnn,
!" Ich thematÎsiere den Einfluss von Nietzsdws Dellke11. aber auch \'011 Nietzs(!ws Stil und das

sehr kompliziene (u l11sùndliche) Fak tUlll \ (1 li Nictz~dles .\,.chla,;, i 111 Verlùltni, zu 1- Icideggcrs
PI"',1(U"" in Babette Babich, "Die Jls Heideggers Wille zm !\hcht". in: lL1bettc' B.1blCh
"Emes Gortes G/ùck voiler Macht /lnd Liebe'" 178-209.
VSL Sarah Kafman. ExplOSIOn 1: De /'"EcceHomo" de P,lris 1992; Babette Babich.
"Le son du Nachlag: le problème de l'n::mre , in: p,]sc,11c HUl11md (I-Irsg,). MéfiL'~
re; / T',]ris 2009,123-1-10.

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Babette Babich

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schauen und Dokumentarfilmen Bezug genommen hat (und wir bemerken die
bitter ernste historische Bedeutung dieser Bezugnahme nach ailem, was im Na­
tionalsozialismus geschehen soilte), nachdem er dann von der allzu anthropolo­
gisch und historistisch ausgerichteten Berichterstattung über aIle menschlichen
Aktivitaten in Ton und Bild, durch Fotografien und Reportagen, gesprochen
hat, die jedes Mag vermissen lasse, betont Heidegger: "Nietzsche gehort zu
den wesentlichen Denkern."21 Heidegger beginnt genauso in seiner früheren
Vorlesung, wenn er Nietzsche ebenso zu den grogten Denkern ziihlt, indem er
sich gegen die These von seiner vermeintlichen Neuartigkeit richtet. Daher ar­
gumentiert Heidegger 1939 für die Notwendigkeit einer Auslegungsbewegung
jenseits des verfestigten Bildes von Nietzsche aIs "schicksalsschwerem Los":
"Unumgehbar ist, was in Nietzsches Gedanken yom Willen zur Macht sich ins
Wort gebracht hat aIs der Geschichtsgrund dessen, was in der Gestalt der abend­
landischen Neuzeit geschieht."22 Was Heidegger unter jenem modernen Zeit­
alter versteht, hatte er schon angedeutet. Wir müssen hier nur auf die Bedemung
von Heideggers Vortrag "Die Zeit des Weltbildes"23 aus dem Jahre 1938 hinwei~
sen und an seine Kritik des kalkulatorischen Wesens der modernen Wissenschaft
und Technik erinnern. Dies ist der Zusammenhang seiner Auslegung des moder­
nen Weltalters der Wissenschaft imJahr 1938. Und es ist diese Kritik, die seine
Kritik des Nationalsozialismus maggeblich bestimmt.
lm Gegensatz dazu ist es ohne aIlen Zwang moglich, Heidegger eines an­
dauernden Glaubens an cine romantische Version des Nationalsozialismus zu
überführen, die auch von der nationalsozialistischen Propaganda erzeugt wurde:
Hitler auf einer Ferienterrasse mit Bergblick, die deutsche Jugend bewundcrnd,
zwischen Blumen sitzend, abgehobcn gcgen den ticfblauen Himmel, der Hitlers
Augen entsprechcn solI. 24 Propaganda ist, welm sie wahrgenommen wird, bes­
ser gesagt: wenn sie aIs solche benannt werden 5011, eine in sich ironische An­
gelegenheit, die cines externen Blickpunktes bedarf, um scharfer und manchmal
Ul11 überhaupt gesehen zu werden. 25
Eine Unterscheidung muss daher zwischen dem manifesten Gchalt und der
Substanz von Heideggers Denken getroffen werden, zumal I-Ieidegger wieder
und wieder im ()ffentlichen Kontext (etwa in seinen Nietzschc-Vorlesungen
und in seiner Einfühnmg in die /V! etaphysik) ebcnso wie in seinel1 unverbffent­

:1 Martin Heidegger, :\ielz5cbc 1. Pfu!lingen 1961,475.

I\1artin Heidegger, Vielz5che 1, 481.

,~ ~'1artin _Heideggcr~ "l)ie Zcit des W'cltbildcs", in: Nlartin lieideggcr, Frankfurt ,1111
M"in 1950, 73- Il C.
Yg!. Alexander Nehanus' Bcschreibung von Hans Castorp am Beginn seine~ Buchcs The Art
oI Berkelev 2C02.
,\Lm vcrgleichc die Katcgorie ,,11<\tionalc Sicherheit", 50 wic sic in den hcuIÎgen USA gebr~lUchr
wird und im l1atiollalsuzialisrischl'll [)eut~chlalld gcbraucht wurdc. Siche dazu Jacques El!uL
Paris l ':J62.

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lichten Beitragen betont, dass der Nationalsozialismus (im "Wesen") das Selbe
wie der Boischewismus und auch wie der amerikanische Kapitalismus sei. Diese
Selbigkeit im Wesen hat in der modernen Wissenschaft und - vor allem - in der
modernen Technik ihre Wurzeln. Heidegger zufolge verhiilt es sich so: "Zu den
wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit gehort ihre Wissenschaft. Eine dem
Rang nach gleichgewichtige Erscheinung ist die Maschinentechnik."26
Heideggers Kritik des Nationalsozialismus in seinem Vortrag aus dem Jahr
1938, die in seinen Nietzsche-Vorlesungen ein Echo findet und sein ganzes Le­
ben hindurch aufrechterhalten wird, Îst seine endgültige (kaum seine ursprüng­
liche) Deutung des Wesens des Nationalsozialismus aIs technisch-wissen­
schaftlich und daher ais im Wesen identisch mit anderen Staatsformen. Der
Nationalsozialismus selbst würde, insofern er seine Andersheit sowohl gegen­
über dem Amerikanismus wie gegenüber dem Bolschewismus betonte, diese
"Selbigkeit" zurückweisen. Was unsere eigene Perspektive betrifft, so sind wir
offensichtlich aus andersartigen politischen Gründen in der selben Not, unsere
eigene radikaie Differenz gegenüber dem Nationalsozialismus und jedem ande­
ren totalitaren und wie wir heute sagen würden terroristischen Regime zu
bekunden und aufrechtzuerhalten. Doch aIl diese Regimes (einschlieBlich der
islamischen Theokratien) waren für Heidegger das "Selbe" in eben dem Mage,
in dem sie alle damaIs wie heute - an das wissenschaftliche und technische und
schlief~lich rechnerisch-rationalistische Ethos der modern en Welt, wie wir sie
sehen, gebunden sindY
Jenseits von Wissenschaft und Technik kann man den modernen Begriff der
Kunst "aIs Ausdruck des Lebens des Menschen", ais einer rein subjektiven Er­
fahrung hinzufügen. In derselben Weise wird "das menschliche Tun" "aufgefagt
und vollzogen" ais Kultur. 28 In diesem Kontext ist "Entgotterung" ein Phiino­
men, das die Quintessenz der Moderne betrifft. Dieser Punkt betraf für Heideg­
ger ebenso wie für Nietzsche weniger die Frage des Atheismus ais die Herzmitte
der modernen rationalen, kognitiven und akademischen Sicht der Dinge.
Aus diesem Grund, so argumentiert Heidegger, bedeutet die Beschworung
"religioser Erfahrung" nichts anderes, aIs anzuzeigen, dass die Gotter geflohen
seien. 29 Die Moderne sei radikal wissenschaftlich, in ihrer Erkenntnis "up to
date" oder "aufgeklart", und diese aufgcklarte Sensibilitat ist Teil des akademi­

26 Manin Heidegger, "Die ZeÎt des \'V'cltbildes", 73,


17 sagt~ ÎSt tingst nicln das Glciche.
I)as Selbe, wlc J:-Ieidegger uns
2.\ Manin Heidegger, "Die Zen des Weltbildes", 73.
Daher richren wir unsere Energien auf Studicn über den ,,\1nhos". Heideg­
gers Anspiclung galt 7U dieser Ze'il Ernst Bcrtr,lIn. Heute konmcl1 \vÎr Manfred Frank oder
Philippe Lacoue-Labanhe über die Themarik des Mnhos zu Rate zichen. Ygl. David Pan,
"Rcvising the DialectÎc of Enlightcnment. Alfred B,leumler and the Nazi Appropriation of
Mvrh", 111: l'·./e'i{· Genn{vz Critique R-+ (FJII 2001), 37-5-+, für einc Diskussion der Kominuiùü
zwischcn dcn I1,lzistÎschen Rcflexionen üher den i\tn!Jos und den ReflexÎonen beÎ Frank und
LJcoue- Llharthc.

Heldegger-Jahrbuch 5
Babette Babich

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schen Unternehmens, das Heidegger aIs Betrieb charakterisiert hat, ein Begriff,
der uns aus seinem Text Die Frage nach der Technik vertraut ist. AIs ein exakt
vonstatten gehendes Unternehmen ist akademische Forschung daher aus­
schlieglich etwas, das institutionalisiert werden und in eine Disziplin eingefügt
werden kann. Heidegger zufolge ist die Idee akademischer Forschung das fun­
damentale Charakteristikum der modern en \X1issenschaft. 30
Heideggers oppositionelle Einwendungen gegen den Nationalsozialismus
beginnen auf diesem Niveau und bleiben auf ihm. Er formuliert eine In-Frage­
Stellung, die die Wissenschaft, die Humanwissenschaften, die Kunst oder die
Religion umfasst. Wenn wir diesem Ausmag seiner Diagnose nachgehen, so ge­
langen wir auf die Bahn von Heideggers Herkuleischer Auseinandersetzung mit
jenem Phanomen, das er Macht nennt. So konnen wir uns seine Analyse dies es
Phanomens in seiner Einfùhrung in die M etaphysik in Erinnerung rufen, aber
auch an die Machenschaft in seinen Nietzsche-Vorlesungen (dieser Begriff ist
nach der Veroffentlichung der Beitrage noch signifikanter geworden) denken,
doch unsere Lektüre von Heideggers Analyse des "Modernen" in "Die Zeit
des Weltbildes" schliegt die Wirksamkeit der Kunstfertigkeit ein und damit die
"Berechnung", da dies für Heidegger immer mit der Beherrschung und der Aus­
beutung und Aneignung der Erde zusammenhangt. Die in dies en Tendenzen
sich augernde einebnende und angleichende Dynamik ist jene des Nihilismus:
Das Real wird darin virtuell oder illusorisch. Heutige Medien (einschliemich des
Internet, des Fernsehens oder des Films) würden in Heideggers Blickfeld gera­
ten, insofern es eine Parallele zwischen der kabellosen Übertragung und der
"Vernichtung der grogen Entfernungen durch das Flugzeug" oder dem "belie­
bigen, durch einen Handgriff herzustellenden Vor-stellen fremder und abgelege­
ner Welten in ihrer Alltaglichkeit durch den Rundfunk"31 gibt. Das Schatten­
spiel des Nihilismus ist wirksam im rechnenden Denken. J2
Heidegger schlieih seine Reflexionen über die Herausforderung oder Ge­
fahr des unberechenbaren tlerzens der Berechnung mit einem Bezug auf das
"kreative Fragen", die "Reflexion" und das sehr nietzscheanische, eben moder­
ne und politische Bild des "künftigen Menschen", der "in jenes Zwischen" ver­
setzt sei, des Wesens, das "dem Sein zugehort und doch im Seienden einFremd­
Iing bleibt" Y Heidegger unternimmt dies in einem anderen Sinne aIs T. S. Eliot,
der ahnlich modern über die Rückkehr eines Grundes, der dem Menschen aus­
drücklich erlauben würde, "den Platz der ersten Zeit zu kel1Oen", nachdcnkt.
Heidegger ruft hier Holderlins Erinnerung an die griechische (Be-)Deutung
des Todes aIs eine Warnung an die Deutschcn ins Gedachtnis: Hier werde die

vgl. Martin Heidegger, "Die Leit des Wlèltbildes" , 81 f.


], Martin Heidegger, "Die Leit de~ \Vdtbildd', 93.
Martin Heidegger, "Die Lelt de;, \X\:lrhildes". 93,
Martin Heidegger, "Die Leit des \Vdtbildcs", 94,

Heidegger-Jahrbueh 5
Nietzsche: Heideggers Widerstand
1
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Zukunft eines Menschen beschworen, der dazu bestÎmmt sei, unbehaust zu­
rückzubleiben: "trauernd verweilest du,1 dann am kalten Gestade 1 Bei den
Deinen und kennst sie nie." 34
rleidegger liest Nietzsches Erkliirung des Willens zur Macht nicht so, dass
er den Willen zum Willen (aIs solchen) oder den Willen des Machtvollen impIi­
ziert, sondern in Begriffen des Wissens und der \'Vissenschaft ais solcher: "Wis­
senschaft z. B., Erkenntnis überhaupt, ist eine Gestalt des \'Villens zur Macht.
Eine denkerische Besinnung (im Sinne des Denkers Nietzsche) auf die Erkennt­
nis - und \'Vissenschaft im Besonderen - muB sichtbar machen, was Wille zur
Macht ist." 3') Für Nietzsche und für Heidegger ist es die Wissenschaft, die in
Frage gestellt werden müsse: "Wir fragen deshalb mit Nietzsche", so schreibt
Heidegger: ,,\'Vas ist Erkenntnis? Was ist Wissenschaft? Wir erfahren durch die
Antwort - sie sei Wille zur Macht - sogleich und zugleich, was Wille zur Macht
meint. "36 Doch exakt soleh eine Verbindung ist problematisch in einer wissen­
schaftlichen (also "objektiven" oder, wie Heidegger sagen würde, "subjekti­
ven") Epoche wie der unseren.
lm Kontext der unter dem NatÎonalsoziaiismus radikal veranderten Uni­
versirat war die Zusammenstellung der Thematik "Nietzsche und die Macht"
mit der Thematik "Nietzsche und die Wissenschaft" unmittelbar relevant. Hei­
degger wirft diese Frage ausgehend von seiner eigenen fehlgeschiagenen An1ts­
zeit ais Rektor auf - und es ist schwer, den transparenten Subtext zu überhoren,
der suggeriert, dass cr aIs Rektor die Universitat und das Projekt der Wissen­
schaft in eine andere Richtung geführt haben würde.
Für Heidegger schlieBt das Thema "Nietzsche und die Wissenschafr" die
Infragestellung der damaIs herrschenden Vorannahmen l'in: "Die Frage nach
ErkenntnÎs überhaupt und nach der \'Vissenschaft im besonderen solI jetzt den
Vorrang haben, nicht nul' weil die ,Wissenschaft' unseren eigenstcn Arbeits­
bcreich bestil11l11t, sondern vor allem deshalb, weil Erkenntnis und Wissen in­
nerhalb der Geschichte des Abendlandes zu einer wesentlichen Macht gclangt
sind. ,Wissenschaft' ist nicht lediglich ein Feld ,kultureller' Betatigung unter
anderen, sondern \'Vissenschaft ist eine Grundmacht in derjenigen Auseinander­
setzung, kraft deren sich der abendlandische Mensch überhaupt zum Seienden
yerlùlt und sich darin behauptet."r \'Vissenschaft dient somit dem intellcktucl­
!en Erkenntnisgewinn, aber unter den damaIs vorherrschendcn politischcn Vor­
zeichen bcdeutct dies vor allem: \'Vissenschaft um der Flerrschaft willen.
Die Nationalsozialisten gingen davon aus, sie kbnnten die \'Vissenschaft an­
wendcn, um die Welt zu erobern. Doch hat sich daran in der Zwischenzcit etwas

\, !vl.min Heidl'ggl'r, "Dil' Zcit des \X/eltbildes", 94.


\, :vbnin I-Icidcggt'r, ;\ietzsche 1, 493.
\,. 0.Lnin :\'Ù:tz5ctJe 1, 493.
!\ LlItÎ Il H l'id è"gcr, .\I<'lZ :;che l, -+ 94.

5
Babette Babich

406

verandert? Tun wir dies nicht aIle: ob die deutschen Faschisten der 1930er und
1940er Jahre, die Sowjets der 1950er und 1960er Jahre oder andere Akteure heu­
te in einem anderen Land, in einem anderen Jahrtausend, gleichgültig, ob
deutsch-, ob franzosisch- oder ob englischsprachige (vollstandig globalisierte)
Imperialisten, die Forschung in staatlich und in zunehmend privat gesponsorten
Forschungsunternehmen betreiben lassen, verfolgen wir nicht aile recht offen­
kundig die Absicht, die \Velt durch \Vissenschaft zu erobern, sei es um des Frie­
dens oder, was noch immer verbreitet ist, um des Krieges willen oder schliemich
im Namen der aufrechterhaltenen Ausbeutung oder Ausnutzung der Reichtü­
mer und Ressourcen der Erde? \Venn wir genügend Geld in Grundlagenfor­
schung investieren, dies ist das Vermachtnis der Bush-DoktrÏn, werde uns, "wie
wir denken mogen"38 , die \Vissenschaft retten. Dieses auf Forschung bezogene
(und zugleich ideologische) Erbe des Manhattan-Projektes gilt unbefragt bis
zum heutigen Tag. 39
Nachdem er die Bedeutung des Verstandnisses von Nietzsches wissen­
schaftstheoretischen Reflexionen in seinen eigenen Begriffen festgehalten hat,
wendet sich Heidegger, der die Frage nach dem Wesen der \Vahrheit aufwirft,
direkt einer Überlegung zu Nietzsches KrÎtik an der Wahrheit zu. Nietzsche
verbinde Wahrheit und Illusion. Heidegger zitiert hier Nietzsches Aussage:
",dass die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist'."40 An die­
ser Stelle zitiert Heidegger ebenso wie au ch an anderen Stellen Nietzsches Aus­
sage, wonach "die Kunst mehr wert ist, aIs die Wahrheit". Und er zitiert auch:
"Wir haben die Kunst, damit '[;.lir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen."41
Nietzsches Aussage, die Wahrheit sei eine Illusion, konne, so Heidegger,
leicht durch jeden beliebigen Philosophieprofessor ais Illusion erwiesen werden:
"Die Wahrheit sei eine Illusion, sagt rIerr Nietzsche. Dann ist doch, wenn
Nietzsche ,konsequent' sein will - und es geht nichts über die ,Konsequenz' -,
dann ist doch auch der Satz Nietzsches über die Wahrheit eine Illusion, und
dann brauchen wir uns nicht Linger mit ihm abzugeben. "42 \Venn Heidegger
damit fortfahrt, eine Zurückweisung der Standard-Vorwürfe gegen Nietzsches
Wissenschaftstheorie zu enrwickeln, sollte dieser Versuch mit seiner eigenen

,~ Vanncvar Bush, We ;-'1:1\ Thillk", in: Ar/,mlic ldonth/y, JuIl' 1945, Bd. 176, Nr. 1, 101~108.
Vsl. auch die Abbildungcll im 19. Novembcr 1945.
Siehl' Horst Rtirig, Dl(' M.lrê'um Straté'gien der lnteraktzvitdt. Begnj];
hmktionsnll1ster, ;-'lümtcr 1(;0('); Annl' Firzp,Hrick, "Teller's Technical Nemeses. The Al1lcrican
H \"lhogcn Bomb ,1Ild its Dcw!opmcm w[thin a Techno!ogicallnfLlstrucrure", in: Phzl Tee/>­
ne 33/3 (19%), 10-1 Sikio Victt,l. Kritik am l\!ationalsozialismus und cUl der
Teclmik, Tübingen 1989,
4: ;\Llltil1 Heidegger, .\·/é'[z;che /, +99, Friedrich Nietzsche, Der Witte zur Macht, §602.
41 ;\LJrtinl ieideggl'r. Sletz:schc 1,500. hieJrich Nl<èrZsch<è, Der \Xlille zur i'vfacht, liS3 und 812.
~: l'v1artin r-Ieidegger, .\c/(-'tL::.cbe f, )01.

Heidegge r-la hrbuch 5


Nietzsche: Heideggers Widerstand
-------------------~-.-.--.~--.-- 407

Gegenposition gegen Carnap zusammen gesehen werden. 43 Doch Heidegger


erinnert uns daran, dass "Satze von der Art der Nietzscheschen [ ... ] sich über­
haupt nicht widerlegen [lassen] [ ... ] Wenn die Wahrheit in allem Denken herr­
schen solI, kann ihr Wesen vermutlich nicht durch das gewohnliche Denken und
dessen Spielregeln begriffen werden. "44 Wenn wir auf die Bewegung achten, die
Heidegger zu Nietzsches Verteidigung vollzieht (und es ist Iohnend, darauf zu
achten, dass Heideggers letzter Punkt formaler Natur ist und mit einer Anspie­
lung auf Godel komplettiert wird), so wird deutlich, das Heidegger Nietzsche
nicht aIs irrational der philosophischen Tradition oder dem (überlicferten) Den­
ken emgegensetzt. Vielmehr hangt für Heidegger "die Wesensbestimmung der
Wahrheit aIs ,Illusion' wesentlich mit der metaphysischen Auslegung des Seien­
den zusammen [... ] und [ist] deshalb so ait und anfanglich [ ... ] wie die Meta­
physik selbst". 45
Heideggers Nietzsche ist daher weder ein Romantiker no ch ein irrationaler
Lebensphilosoph, sondern ein Philosoph des metaphysisch (kosmologisch) be­
griffenen Willens zur Macht. Heideggers frühe Vorlesungen über Nietzsche ma­
chen diese polemische Emphase noch deutlicher, aber ich konzentriere mich
darauf, die Aufmerksamkeit auf die Frage von Heideggers Lektüre des Willens
zur Macht ais Erkenntnis zu richten, also auf Heideggers Kritik der nationalso­
zialistischen Weltsicht. Es geschieht eben in diesem Zusanunenhang, dass Hei­
degger an dem jetzt erreichten kritischen Punkt sich der Frage der "Züchtung"
zuwendet, in einem Abschnitt, der betitelt ist "Nietzsches angeblicher Biologis­
mus".46 Hier denkt Heidegger noch einmal über das \Xlesen der Wissenschaft
nach. lndem er Nietzsche aIs einen Erkenntnistheoretiker liest, ergibt sich ais
Ertrag ein Nietzsche, der mit derselben Art von Fragen bcfasst ist wie die tradi­
tionelle Philosophie und der, wie es die traditionelle Philosophie unternimmt,
Heideggers Rückkehr zu jenem Bereich, den er Denken nenm, unterstützt.

3. Der letzte der Metaphysiker: Ein Schritt zurück

Nietzsche wird von Heidegger mit der Geschichte der Metaphysik in Ver­
bindung gebracht, und dies von Beginn der VorJesungcn an, die Heidegger im
Wintersemester 1936/37 an der Universiüit Freiburg hieltY Heideggers Einord­

" Vgl. Michael Friedman, 0/ the W'~I)'s. Heidegger, Chicago 2000;


James Luchrc, "Martin Heidegger and Rudolf Cm1ap. Radical Phenomenology, Logic.l! Po­
sÎtÎvism and the R,)ots of rhe Conrinent,d! i\nalytic Divide", in: ?bilosophy Toda)' 51 (2007),
241- 260; Babetre Babich, "Die Beltràge ais Heidegger'i \Ville zur Macht", in: Baberte Babich,
"Eines Cultes GlÙL'k'uollcr /'v! adn Imd Llebe ", 17R-2e9.
4; Martin Heidegger, /Vletzscbe l, 503.

"5 Manin Heidegger, Nietzsche l, -t05.

"h Martin Heidegger, Nietzsche l, 517 ff.

J- Daher ist das erste Kapitèl VOl! Heioeggers Nietzsche l. Dn \\ille "tir A",Hht ais Kunst bctÎtclr

Heidegger-Jahrbuch 5
Babette Babich

408 ---­ --------~--

nung Nietzsches in die metaphysische Tradition lauft allen denjenigen Interpre­


ten zuwider, die Nietzsche aIs Antimetaphysiker lesen. Natürlich war die Meta­
physik, wie Eugen Fink in seiner eigenen Nietzsche-Deutung betont, aIs solche
ein wesentlicher Gegenstand für Nietzsche wie auch für Schopenhauer oder
Kant. 48 Nietzsches Metaphysik wird im Hinblick auf seine Auseinandersetzung
mit der Religion,49 mit der Philosophie und mit der Wissenschaft verstanden. Es
handelt sich dabei um eine Auseinandersetzung, die Nietzsche dazu bewegte,
das zu umreifSen, was er den perspektivischen Charakter des Lebens nannte. So
heifSt es auch in dem Motto, das Heidegger über den ersten Band seiner Nietz­
sche-Vorlesungen setzte: "Die sein Denken bestimmende Erfahrung nennt
Nietzsche selbst: ,Das Leben [ ... ] geheimnisvoller von jenem Tage an, wo der
groGe Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment
des Erkennenden sein dürfe'." 50
Ein Element dessen, was einer Heidegger gegenüber grofSzügigen Lektüre
Nietzsches entgegenstehen konnte - und gewiss sollte Heideggers Nietzsche­
Lektüre aIs groGzügig gehen SI -, kann man in folgender Aussage Heideggers
finden: "Nietzsches Denken geht in der langen Bahn der alten Leitfrage der
Philosophie: ,Was ist das Seiende?"'52 Wir kennen diese Aussage schon, finden
wir sie doch in der Einführung in die M etaphysik. Aber ist dies nicht eben das
Moment, das wir von Heidegger erwarten? Der SchIüssel zur "wirklichen" Phi­
losophie sei das Denken des Seins. In dem AusmaH, in dem Nietzsche dies den­
ke, konne cr aIs Philosoph gelten, und zwar nicht aIs ein spezifisch national­
sozialistischer Philosoph, sondern aIs Philosoph im Sinne der gesamten
philosophischen Tradition.
Indem er dies sagt, kehrt Heidegger die seinerzeit und teils 110ch immer
verbreiteten Standardinterpretationen von Nietzsches Philosophie aIs des Den­
kens cines philosophischen Augenseiters um. "Dann ist Nietzsche", 50 formu­
lien Heidegger seine Herausforderung, "gar nicht so modern, wie es nach dem
Linn, der um ihn herumgeht, den Anschein hat" - und "gar nicht so umstürz­
1erisch, wie el' selbst 5ich zu gebarden scheint". Für Heidegger, der kaum beab­
sichtigt hab en dürfte, Nietzsches Rang zu mindern, indem er ihn in die west­

"Nietzsche .lIs Illctaphysischer Denker". Im Jahr 1936 beginm .weh Iicidq;gcrs denkerischc
mit dem die in den zn/' Philowphlf ihren Niederst:hlag findet.
J'Eugen Fink, ,\!/eiZ;ches NnlosopÎJ/e, Stuttgart 1960. Vg!. insbesondere K,tpitcl 5.
Heidegger nilllmt ab ]\10rto für seincn Vorlcsungskurs Nictzs(he~ sich im Anl1cJJ1isr findcndc
\\'ulldef\~ojlePJ'()\'ukation gcgcnüber dCl1l M\111othcisll1uS cm ,ici] ,1llf: "Zwci j.lhrtauscnde bci~
nahe und niclu l'in ejnziger nCl1cr Gott!"
l\Lmin 1lcidcggcr, Sie/z5cbe 1, 7.
OffensÎchtlich triltt dics nichr für aUe sdbst~rctlcxi\"t;n 1'ornll'n der Lcktüre Zll. ~ictLsches
selbsr~rcflcxin: Dcumngell scheinel1 l'in Gcgcnbeispiel d,1f7uslt>Jlen. E.s würde uns Zll welt
\0111 \Veg abbringC::!1, zu zcigen, chss d,trin Heidegger nicht ulühnlich Nietzsche wic die
lllcistell Gdchrtcl1 lU sich sclhst viel frcundlichcr ist. ab ge!1leinhin ,mgcll0ll1111Cll \Vire!,
J\Lmin f leidegger, .\'/(;[2$c/;(' 1, 11.

5
----~~~---~-~---_._--_._-------------
409
liche Philosophietradition einordnet, setzt die Behauptung, dass "Nietzsche
wusste, was Philosophie ist", diesen an die Spitze (akme) der Tradition: "Nur
die grogen Denker besitzen es [sc. dieses Wissen]." 53
Wer nach einem Reichsphilosophen Ausschau hielt, suchte in jedem Fall
einen revolutionaren Denker: ein neues Denken für ein neues Reich. Wir suchen
noch immer nach diesem "neuen" Nietzsche. Daher neigen auch heutige Nietz­
sche-1nterpreten zu einer seltsamen Furchtsamkeit gegenüber Heideggers
Nietzsche-Deutung, wobei sie zumeist Derrida folgen oder zumindest in sei­
nem Kielwasser fahren. Sie fürchten, dass Heideggers Deutung sie dazu verfüh­
ren konnte, den anti-traditionalistischen, ja anti-traditionellen, anti-metaphysi­
schen Denker innerhalb und nicht augerhalb der metaphysischen Tradition zu
verorten. Gegen typische Verunglimpfungen Nietzsches ais "irrational", aIs
"Dichter-Philosophen" oder aIs einen Denker, der nicht streng denken konne­
Verunglimpfungen, die zwar oft kaum noch bemerkbar, aber immer noch leben­
dig sind -, und gegen jene, die Nietzsche einen "Lebensphilosophen" nennen,
begreift Heidegger Nietzsche ais einen Denker des Willens zur Macht, indem er
sich mit Nietzsches Denken über das Denken (und d. h. über Erkenntnis, Logik,
\Xlissenschaft) ernsthaft auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung mît Nietz­
sches Willen zur Macht (ais Erkenntnis) stellt die gangige nationalsozialistische
Lesart von Nietzsche ais einem Philosophen des "Willens" oder des "Lebens"
von Grund auf in Frage und bleibt zugleich gegenwartigen Nietzsche- Lesarten
entgegengesetzt.
Heidegger unternimmt diese 1n-Frage-Stellung der nationalsozialistischen
Nietzsche-Deu tung und -Vereinnahmung aIs eines Philosophen des "Willens"
im Zusammenhang seiner Erwagungen über das Werk, das aIs Der Wille zur
Macht bekannt ist, ein Meisterwerk, das niemals zur "Vollendung" gebracht
wurde, wie er seinen Studenten von Beginn an erlautert, das aber ais eine Samm­
lung von "Vorarbeiten und stückweise[n] Ausarbeitungen zu diesem Werk"54
wichtig bleibt. Heidegger augert hier seine provokativste, gegen die zeitgenôs­
sische Nietzsche-Forschung gerichtete Auffassung: "Was Nietzsche zeit seines
Schaffens selbst veroffentlicht hat, ist immer Vordergrund."55 Dieser Vorder­
grund würde dann Die Geburt der TrL1godie ebenso umfassen wie Die frohliche
Wissenschaft, Zur Genealogie der Moral und viele andere Werke. Heidegger
bemerkt in diesem Sin ne: "Die eigentliche Philosophie bleibt ais ,NachlaH' zu­
rück."56 Selbst Also sprL1ch Zarathustra sei eine bloge "Vorhalle"Y Es ist wich­
tig, hier festzustellen, dass Heidegger diese Deutung nicht als Missachtung der

Manin Heidegger, /'vletz)c!;e l, IL

Martin Heidq~ger, !\il'IZ5Chc l, 15.

Martin Heidegger, '\Ictz,cbc !, 17.

Manin Heidegger, :\ïclz5che 1, 17.

!\hrtin Heidegger, Slet%5Chc 1, 4.

Heidegger-Jahrbuch 5
Babette Babich
410
von Nietzsche publizierten Werke versteht, sondern dass er - wortlich - sich auf
Nietzsches Charakterisierung seines eigenen Hauptwerkes beruft.
Für Heidegger stellt sich die Frage, welche Herausforderung es bedeutet,
einen Autoren zu lesen, der wie Nietzsche Aphorismen geschrieben hat. Das
Problem besteht darin, dass bei Nietzsche gilt: "Nicht jede kurze Aufzeichnung
ist schon ein Aphorismus, d. h. eine Aussage oder ein Spruch, der in sich rein
abgegrenzt ist gegen alles U nwesentliche und nur Wesenhaftes eingrenzt. Nietz­
sche bemerkt einmal, er habe den Ehrgeiz in einem kurzen Aphorismus das zu
sagen, was andere in einem ganzen Buch - nicht sagen." 58 Heideggers elliptische
Bezugnahme auf Nietzsche gilt seiner Schlussfolgerung in der Vorrede von Zur
Genealogie der Moral und Nietzsches eigenem Protest gegen diejenigen seiner
Leser, die Schwierigkeiten hatten, sein aphoristisches Schreiben zu verstehen,
der darin besteht, dass er solchen Lesern unterstellt, dass sie wie die groge Mehr­
heit moderner Leser überhaupt die "Kunst der Auslegung" verlernt hatten, die
unabdingbar für die Kunst, Aphorismen zu lesen, sei. 59
Wie sollen wir also Nietzsches Aphorismen lesen? Und was wird dies für
unsere Nietzsche-Lektüre selbst bedeuten? Diese Frage ist wichtig, wenn wir
uns, so wie es Heidegger unternimmt und wie es nur wenige heutige Nietzsche­
Leser tun, Nietzsches scheinbar entgegengesetzte "Lehren" des Willens zur
Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen zuwenden. 60 Hier nennt Hei­
degger zwei denkbar unterschiedliche, aber zugleich ganz tradition elle Interpre­
tationen und ihre Begründungen: die Interpretationen von Alfred Baeumler und
Karl ]aspers,r)] die beide allerdings aus ganz verschiedenen Gründen - aus­
schliegen, dass die Lehre von der ewigen Wiederkehr mit der Lehre vom Willen
zur Macht zusammengedacht werden konne.
Am Beginn der Vorlesung von 1938 über "Die ewige \'Viederkehr des Glei­
chen" finden wir nicht nur, was wir an anderem Ort ais eine Signal-setzende
Auseinandersetzung mit Baeumlers Lehre von der ewigen Wiederkehr auf­
gewiesen hab en, sondern wÎr horen das nachhallende Echo des Mottos, das Hei­
degger über seine Beitrdge gesetzt hat: "Bliebe unsere Kenntnis auf das von

Martin Heidegger, Nietzsche l, 20.

Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral. VOlTc'dc, § vu!. Es ist cine Ironie, doch auch l'in

Anzeichcn dafür. wic wichtig es 1st. dicscn Gcd,lnkcn nachzugdlCtl, dass der Kommentar, auf

den sich bislang die Diskussion über diescn Aphorismus stützt, nur darum kreist. dcn Apho­

rismus zu idemifizieren (oder falsch zuzuordnèn). .luf den el' Bezug lhlhm. V gl. rùher dazl.l

Babette Babich, "Zu Nierzsches Sri]", 8-29.

"Wer den Gedankcn der ewigen Wiederkehr llj~·ht aIs das philosoplmch éigentlich ZlI Denkcn·

de mit dem Willen zur ~1achr /usamll1endenkr, bègreift dl.lch nichr den rnctaphysischen Gehalt

der Lehrc vom \Vilien zur Macht hinrcichcnd III seiner g,lll/en Tragweite" ("'Tanin Heidegger,

Nietzsche l, 29) .
.,; Heideggers Gründc, Bacumlcrs Zurückweisung der Lehrl' \on der eVligen Wiederkehr auch
seinerseits zurückzuweiscn, bestchen .. so tcilt er uns mit zumindesr tcilweisc dari n, dass
Bacumler den Willen zu rvlaclH pri\ilegicrt, den el', SI) argull1cnrÎcrt jedenfalls Heidegger. poli·
tÎsch interpretiae.

5
Nietzsche: Heideggers Widerstand

411
Nietzsche selbst Veroffentlichte beschrankt, dann konnten wir niemals erfah­
ren, was Nietzsche schon wufhe und vorbereitete und standig durchdachte, aber
zurückbehielt."62 Die veroffentlichten Aphorismen müssen - dies besagt Hei­
deggers D nterscheidung des Exoterischen yom Esoterischen - gegen bzw. in
Kontrast zu den in einer spezifischen Weise unveroffentlichten Texten gelesen
werden. In dieser esoterischen oder "zurückgehaltenen" Sphiire von Nietzsches
Denken sind die unveroffentlichten Texte "still" und "verschwiegen". Man den­
ke hier daran, was Kierkegaard über Sokrates sagte und wie Nehamas diese
unheimliche und sonderbare Ironie betonte. Für Heidegger ist dieses Schweigen
ein sprechendes oder entdeckendes Schweigen: nicht ein Schweigen, das sich
selbst verrat oder sich selbst weggibt, sondern ein authentisches oder originares
Schweigen.
Es ist hochst kennzeichnend, dass Heidegger an diesem kritischen Moment
damit fortfahrt, die Produktion der akademischen Gelehrten zu verurteilen und
in diesem Zusammenhang die Zukunft der gesamten akademischen Forscher­
gemeinschaft, da sie dem Muster der Naturwissenschaften folge. Selbst die
Naturwissenschaften haben ihre politische Seite ebenso wie ihre ideologischen
Moden, wie Heidegger gegen die nationalistische Tendenz der nationalsozialis­
tischen oder "deutschen" Wissenschaft betont: "Dm beiliiufig ein Gegenbeispiel
zu erwiihnen: es steht fest, dass die Russen heute auf dem Gebiet der Physiologie
mit grogen Kosten Untersuchungen anstellen, die bereits vor lS Jahren in Ame­
rika und bei uns erledigt wurden, von denen sie aber zufolge der Abriegelungen
gegen die ausLindische Wissenschaft nichts wissen konnen. "6}
Gegen die nationalsozialistische Ideologie des Volkischen, insbesondere ge­
gen die germanische Wissenschaft, stellt Heidegger die deutsche Tendenz, das
Fremde auszuschliegen, wie es in seinen Worten heigt, radikal in FrageY Damit
ist noch nicht Heideggers eigentliches Anliegen genannt. Denn Heidegger be­
tont die zunehmende Dominanz des technischen Industriecharaktcrs der Wis­
senschaften, eine Analyse, die an Ernst Jünger erinnert, die man aber auch aus
Carl Schmitts Analyse des Wesenswande1s der Souveranitiit in d:r mo.derne.n
politischen Welt heraushoren kann. 65 Indem er auf die spiltere Artlkulatlon sel­

~1artin Heidegger, Nietzsche /, 266. V gl. Bahette Bahieh, "Heideggers Wille zut I\laehr". !ch
biete hie[ auf den Seiten 184 f. eine Explikanol1 von Heldeggers Motro zu den Bet/ragen.
hl Martin Heidegger, Nietzsche /, 267. .... .. '. .',.. .
'" Heideggers Interpretation von Hülderlins Bnd an BohlendorH kann auch,ll,l dl~S~;TIr ?l11n~
0

gelesen werden. Vgl. Babette Babich, "Between Holderlm ,1nd Ilèldcggcr. Nletzsl he sIl ans
tiguration of Philosophy", in: Nietz5che-Studien 29 (2000), 267-301. '.. .' .. .. .... .
Mich,1.cl Zimrnerman har ncbcn anderen Forschem dlcs erforscht. V g1.! ur ,:ll1C Dlsku5~lOn \ o~
] ünv>l"s
. hl ~ 1
The5en über dic Technik auch Friedrich Strack (Hrsg.), Titan Tecbmk Llnhsr /Ill 1
. ,.. . "b . d Würzbuf cr 2000. Vgl. 11ll~r clue Car
!-nedne J linge! u el tH D... 'r' .
'.h . . ' 7'[ ,·Iog'c B'rl'ln 191"1 sowic H.annah Arendt uber da, Probkm von \\15­
Sc min, I)EO, "t ~- . . . . J' . 1·.·· J-l
'115 ,111ft und Technik und die damit verbundenc Dcposltlol1lerung der 1 h11l)50P m: ln. "il­
sc . l , . , ' > , 19t ,'\ '8-47
n,1.h Arendt, Vit,t altzè'il oder L,om Le/Jell, Stllttb;U t hl, ­ _.

Heidegger -Ja h rbuch 5


Babette Babich
412 --_._--_._--------------------------­
nes Denkens über die Technik und die wissenschaftliche Weltsicht vorausweist,
schreibt Heidegger: "Ohne die Technik der graBen Laboratorien, ohne die
Technik eines vollendeten Nachrichtenwesens [und wir konnen hier unterbre­
chen, um uns zu fragen, was anders denn das Internet ist aIs eine solche Maschi­
ne für scheinbar standige, weil scheinbar standig erneute Veroffentlichung,
B. B.] Îst eine fruchtbare wissenschaftliche Arbeit und eine dementsprechende
Wirkung heute undenkbar."66 Heidegger spricht aber auch nicht die Sozialwis­
senschaften und noch viel weniger die Geisteswissenschaften Frei, da auch sie
gefangen seien (so, wie wir heute noch immer gefangen zu sein scheinen) in der
"Eile des Herausbringens" und der "Angst des Zuspatkommens" y
Heidegger nennt dann im weiteren Verlauf eine seiner Schlüsselstrategien in
der Kunst, Nietzsche zu lesen cine Strategie, die unsere ganze Aufmerksam­
keit erfordert: Wir "vergegenwartigen uns deshalb zunachst die von Nietzsche
selbst gegebenen Mitteilungen .... Darauf folgt die Übersicht über das Zurück­
gehaltene." 6B AuE diese \'Veise und im Gegensatz zu den allgemein verbreiteten
Behauptungen wahlt Heidegger aus Nietzsches Texten nicht nach freiem Belie­
ben willkürlich Elemente aus, sondern diskutiert zunachst die exoterischen
(oder publizierten) Texte, bevor er dieselben Texte mit Nietzsches esoterischen
(unpublizierten) Schriften in einen Zusammenhang bringt. DemgemaB befasst
sich Heidegger, wenn cr es unternimmt, Nietzsches Denken ais das Denken
des Gedankens der ewigen Wiederkehr zu deuten, zunachst mit Nietzsches Dar­
stellung der ewigen Wiederkehr aIs einem Gedankenexperiment in Die frohliche
Wissenscha(t. In diesem Kontext wirft el' die entscheidende Frage (gleichsam das
experiment/1m crucis) auf, was Wissenschaft ais solche für Nietzsche bedeute.
Dieser Bezug zur Wissenschaft kann als Bezugnahme auf die zentrale Unter­
scheidung zwischen den publizierten (exoterischen) und den unpublizierten
(esoterischen) Àugerungen der Lehre von der ewigen Wiederkehr verstanden
werden.
Heideaüer betont seinen Gegensatz zur nationalsozialistischen Deutung
der Philos;;hie Nictzsches noch ~usdrückljcher im Jahr 1939: ."Für ein solches
Wissen rückt sie wiederum in dic Notwendigkeit jencr Aus-ell1andcr-setz~ng,
in der 5ich und für die sich die abendlandische Metaphysik ais das Ganz~ .ell1c.r
vollendeten Geschichte in die Gewesenheit, d. h. in die endgültige Zukünt.tlgkc~t
zurücksetzt."(,9 Jedcr mit "Ohren, um zu horen" konnte dies wohl a~s cme dl
reln gezielte Pnn'okatÎon gegen die nationalsozialistischen lnterpr.etanonen vo.n
Niet~sche verstehen. Heide~ger wendet SiC~l radikal dage~~n, "~lctzsch~:,, r.hl~
losophie vordergründig aulzufasscn und SIC als ,Herakhtlsmus, ais ,'Y. rllcns

hh ivlMtin I-L:ide~~ger. _\ 1.268


l'lIMon Il 1.168 f.
" l\IMtin tleidl'~~er..\ 1, 26'1. .
l\1.lrtllll· .\u:i/sdJc If, Ptull1I1gcll 196[, Y.

Heidegger-Jahrbuch 5
Nietzsche: Heideggers Widerstand

413
metaphysik', aIs ,Lebensphîlosophie' in die üblichen historÎschen Abstempelun­
gen einzureihen"/c Jeder mit "Ohren, um zu horen" kann dies aIs radikale An­
frage gegen traditionelle Interpretationen von Nietzsches Philosophie verste­
hen. Die Begriffe, die Heidegger hier nennt, namlich "Willensmetaphysik",
"Lebensphilosophie" oder die parallelen Linien einer totalisierten Geschichte,
dessen, was gewesen ist, und der auGersten Zukünftigkeit, sind nicht nur diesel­
ben Begriffe, die auch heute noch immer heraufbeschworen werden, um den
"Irrationalismus" zu belegen, der mit Gewissheit Nietzsche aIs einen Vorlaufer
des Faschismus erweist, sondern es sind ebenso populare Begriffe, in denen
Nietzsche aIs potentieller Philosoph des nationalsozialistischen Denkens gele­
sen werden sollte und auch tatsachlich gelesen worden ist.
Wenn Heidegger nichts anderes getan hatte, aIs Nietzsche in die philosophi­
sche Überlieferung einzuordnen, so widersetzte er sich schon der Tendenz, ei­
nen Nietzsche zu finden, der augerhalb der Philosophie und ihrer Tradition
stehen sollte. Seine Konfrontation mit dem NatÎonalsozialismus ist daher heute
noch immer wirksam, und zwar in der Idee von Nietzsche aIs einem Denker;
dies bedeutet auch: ais einem Denker innerhalb - vielmehr aIs augerhaib - der
Tradition der westlichen Metaphysik und des philosophischen Denkens. Man
muss sagen, dass diese Ebene von Widerstand keinesfalls mit aktivem Herois­
mus zusammenfallt, doch daraus foigt nicht, dass sie keine Art von Widerstand
gewesen ware.

4. AbschlieBendes Postskritpum vom Rand her

\X1enn wir über Nietzsches agonales Oenken, seinen Beitrag zu einer mog­
lichen demokratischen, ja sogar liberalen Theorie oder seine kritische Heraus­
forderung der expliziten Idee der Kritik sprechen konnen, ,:as haben "\~i~ damit
gewonnen? An anderem Ort lube ieh gezeigt, dass trotz sell1e.r OppOSItlO~ ~e­
gen die Demokratie und vielleieht sogar gerade aufgrund dleser ~PP?SltlOn
Nietzsche der demokratisehste aller Denker genannt werden kann. Dles 1st des­
halb der FaU, weil Nietzsche keine normative Idee demokratischer. GJeichhe~t
hat, wohl aber eine genau und individuel! nuancier~e Idee demokratlscher Ind1­
vidualitat.71 Hieraus kann viel für die Theorie und tür das Verstehen der Demo­
ki-atie crewonnen werden. Doch ob iell den immer 110ch unvorstell~aren und
tatsachlich stillschweigend weitergehenden Krieg im Irak wi~ a~ch 111 Afgh.a­
nistan unterstütze oder kritisiere oder ob ich Anteilnehme (wle 1ch unbestrel.t­
bar _ wenn auch urltiüicr - tatsachlich tue) an der Tragôdie in Darfur ode~' 111
Tibet oder in den vicle~, wcniger stark publizistisch priisenten oder wemger

.\Lmin Heidegger, L8 , .

Babette Babich: \V())"ds in B{oocl, llke Flo;.;'ers, 166 \L

Heidegger-Jahrbuch 5
Babette Babich

414

wahrgenommenen Mord- und Volkermordkatastrophen, an all den Komplexi­


taten jener Geschichten, von denen die Bewohner der westlichen Welt (womit
ich uns Europaer und Amerikaner meine und jene, die wie wir denken) gar nicht
wissen konnen, wle sorgsam sie die Weltnachrichten auch verfolgen mogen (hier
sind wir wieder bei Nietzsches Protest gegen die Zeitungen - heute: das Fernse­
hen oder das Internet), ich verfehle schon die reinen Tatsachen.
Dabei spreche ich noch in nicht genügendem MaRe (und was ware denn
genügend?) von der monstrosen Grausamkeit gegenüber Tieren, die offen und
in auffalliger Weise durch unsere Methoden fabrikmaRiger Landwirtschaft fort­
gesetzt wird - was Heidegger nur allzu schlicht die "Fabrikation von Leichen"
nannte. 72 Was für eine Vorstellung haben wir denn, was in den so genannten
"Fleischfabriken" vor sich geht? Die Zahlen gehen in die Dutzende, Hunderte,
Tausende, ja Millionen pro Stunde, wenn wir die Tiere, die im Dienst der Wis­
senschaft "geopfert" werden, mit in Rechnung stellen. Und dann gibt es den
Fang von Fischen so vieler ungezahlter Arten, dass es einem schwindelt. Oder
denken wir an die Angriffe gegen die Erde selbst.
Rettet das, was ich sage oder hier schreibe, irgendein Leben? Kann es das
überhaupt? Kann es die Ausrichtung der amerikanischen Augenpolitik beein­
flussen? Oder die Praxis in den Schlachthausern, Totungsfabriken oder For­
schungslaboratorien der Universitaten? Dies ist nur ein akademischer Artikel,
wird man sagen. Und man wird damit recht haben. Was aber, wenn der Heraus­
geber einer grog en Zeitung verrückt würde und mich einladen würde (es besteht
keine Gefahr, dass dies eintreten wird), für die New York Times oder die Lon­
doner Times, die Herald Tribune, Die Zeit oder Le .Monde einen Artikel zu
schreiben, würde dieser dann eine Rolle spielen? Bitte denken Sie daran, dass
ich nicht erwarte, in irgendeiner anderen Weise zu schreiben ais hier, denn ich
beanspruche nicht, Nietzsche zu sein. Und doch muss ich angesichts der Evi­
denz, die wir haben, sagen, dass ich nicht sicher bin, dass Nietzsche, der Meister
der Rhetorik und des St ils, der er war, hinsichtlich diesel' Probleme es bessel'
lùtte machen konnen.
Gibt es hier, kann es hier \'Viderstand geben? Was sollte in ciner Zeit wie der
unseren getan werden? Heidegger versagte, wenn er meinte, dem Nationalsozia­
lismus Widerstand zu leisten, indem er Nietzsche zu lesen lehrte, ein Versagcn,
insbesondere da Heidegger den Ansatz seiner Kritik verdarb, indem cr es ver­

- Von wekhen Lelchell ist hier die Rcde' Von l1lcnschlichcn und nul' von mcnschlichen? Was
sind Fleischschwarten von Rindcrn oder Schweinen im Konrext der tcchnisicrten Landwirt­
schah anderes, wcnn nicht LeichlM!11e. die aIs solcbc(abnkm,l(?lg vcrarbeitet werden? Selbst in
der cnglischen Sprache lst dieser Gebrauch versündlich, wesh"lb C:;eoq~e BernMd Shaw scinen
Vegcrarismus 50 crkhne: "lch môchte aus meillcm t\hgen nicht ein Gr,lb tur tore Tiere ma­
ch~n_" Vgl. hier auch Charles P,ltterSOll, Ftir die 71ere Ist - heu/mk.,_ Über die Ur­
des mclustntl/isierten Tôterl5, Frankfurt am rvhin .:!OCH; Siegfried Giedion, Die Herr-
Eill /.In {/)lI)lIymol Geschichte. Fr.lnkfun am 0.hin 1987.

Heidegger·Jahrbuch 5
Nietzsche: Heideggers Widerstand

415
saumte, etwa seine Kritik der \X1issenschaft und der Technik angemessen zu er­
klaren, ebenso wie ich selbst meine eigene Argumentation verunreinigt habe,
indem ich auch die Grausamkeit in ihren gedankenlosen, alltaglichen Formen
unserer bis ins ÂuBerste gehenden Empfindungslosigkeit angesichts des Todes
und Leidens der Tiere dieser Erde erlautert habe. Aber was das Wichtigste von
allem ist: Alles das, was in unsere Sorge f:illt, ist zu viel, um darüber nachzuden­
ken. Und genau deshalb tun wir es niche
Was hatte Heidegger tun sollen? Was hatte er tun kannen? Was müssen wÎr
tun?

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