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2013/14-02

Im Zeitalter der Scharlatane: 13


Hüther, Precht, Fratton & Co. bei Lichte besehen
Von Roger von Wartburg

Was sind Scharlatane? Gerald Hüthers rhetorische Fähigkei-


Die Etymologie vermutet, dass der Be- ten sind unbestritten. Immer spricht er
griff «Scharlatan» einer Verschmel- frei, wenn er im Stile eines «amerikani-
zung des italienischen Ortsnamens schen Predigers»3 langsam die Bühne
«Cerreto die Spoleto» und dem italie- abschreitet. Das Konzept seiner Vorträ-
nischen Wort «ciarlare» («schwätzen») ge hat sich bewährt: «Hüther ver-
entstammt. Die Cerretani, die Einwoh- knüpft kleine Anekdoten mit psycho-
ner des besagten Städtchens, standen logischem Lehrbuchwissen, basale Er-
im Mittelalter im Ruf, durch die Ge- kenntnisse der Bindungsforschung mit
gend zu ziehen und den Menschen mit Lebensweisheiten. Anfangs schlägt er
Gaukeleien das Geld aus der Tasche zu oft einen pessimistischen Ton an […].
ziehen. Ängstigen muss sich aber niemand.
Hüther verpackt die Zivilisationskritik
Sehr aufschlussreich ist, wie der «Char- in Ironie und Geschichten. Jahrelang
latan» im Jahr 1857 in Heinrich August würden Kinder spielend und unge-
Pierers «Universal-Lexikon der Gegen- zwungen lernen, schwärmt er – ‹und
Sie stürmen Bestseller- wart und Vergangenheit» beschrieben dann schicken wir sie in die Schule›. Da
listen, erobern das wurde: Dort ist zu lesen, dass es sich ist ihm der erste Lacher sicher. […] Der
öffentlich-rechtliche hierbei um jemanden handle, der es Mensch ist gut, das Kind unschuldig.
verstehe, «sich den Schein von Gelehr- Nur die Welt ist es leider nicht. Da sind
Fernsehen, desavouieren
samkeit und Weisheit zu geben», die Eltern, die an ihnen herumerzie-
pauschal das bestehende «durch niedere Mittel die öffentliche hen, […] und Lehrer, die Noten geben.
Bildungssystem inklusive Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen» Dabei sollte man die Kinder nur sich
Lehrpersonen und finden suche sowie «die Meinung des Publi- selbst überlassen: im freien Spiel, in der
unkritische Gefolgschaft in kums über seine Fähigkeiten und Leis- Natur, im gemeinsamen Unterrichts-
der Politik. Dass die tungen zu täuschen» wisse. projekt. […] Der Saal jubelt.» 4
selbsternannten Bildungs-
Gerald Hüther, Popstar Arme Kinder, böse Schule,
experten den Schulalltag Wäre es übertrieben, zu behaupten, pädagogische Poesie und ein
grösstenteils nur vom dass sich mehrere Aspekte der zitier- wenig Wissenschaft
Hörensagen kennen, führt ten «Scharlatan-Definition» in den ak- Neben seinen Verkäufer- und Präsenta-
nicht etwa dazu, dass ihre tuellen Bildungsdebatten wiederfin- tionsqualitäten ist sicherlich auch Ge-
Diagnosen und den lassen? Wagen wir den Vergleich: rald Hüthers Nimbus als einer der «re-
Ende August 2013 fand in Berlin die nommiertesten Hirnforscher Deutsch-
behaupteten Heilmittel
«Vision Summit EduAction» statt, an lands» mitverantwortlich für seinen
argwöhnisch beäugt welcher sich Deutschlands populärste Erfolg. Mit Verweis auf die behauptete
würden, sondern das Wortführer zugunsten einer allumfas- Hirnforschung suggerieren Hüther und
Gegenteil ist der Fall: senden «Bildungsrevolution» versam- Konsorten die immer gleiche Botschaft:
«Befreit von akademischen melten und gegenseitig beweihräu- Kinder wollen nichts lieber tun als ler-
Skrupeln»1 und «den cherten. Grösster Star des Kongresses nen – bloss hindert sie die Schule daran.
war Gerald Hüther, der nicht weniger
Mühen der Empirie»2
als fünf Auftritte bestritt. Spätestens Einwänden, wonach französische Vo-
dürfen sie umso unge- seitdem sein Werk «Jedes Kind ist hoch kabeln oder das Prozentrechnen an-
hemmter ihre Konzepte begabt» 2012 zum Kassenschlager ders gelernt werden müssen als etwa
zur angeblich dringend wurde, surft Hüther auf einer nicht das Krabbeln oder Laufen, begegnen
erforderlichen «Schul- verebben wollenden Erfolgswelle. die Bildungsgurus mit zwei Strategien:
revolution» verkünden. Wenn er mit seinem «Schule im Einerseits mit der lapidaren und jede
Aufbruch»-Team durch die Lande Diskussion von vorneherein abwürgen-
Der vorliegende Artikel
zieht, strömen Tausende herbei, um den Feststellung, dabei handle es sich
unternimmt den Versuch seinen Ausführungen zu lauschen – lediglich um «die zu erwartende Re-
einer Bestandesaufnahme. und um seine Bücher zu kaufen. aktion Betriebsblinder»5, andererseits
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mit «pädagogischer Poesie»6: Gerade- Psychiatrie und Psychotherapie. Eine nennt man solche Hochschulangehö-
zu inflationär verwendet Hüther etwa reguläre Hochschullehrerstelle hat er rigen in den USA. Nur selten aber
die Begriffe «Potenzialentfaltung», niemals innegehabt. kommt es vor, dass das, was innen als
«Gelingen» und «Begeisterung». Letz- «totes Holz» gilt, nach aussen als blü-
tere sei entscheidend, denn nur was Für seine Auftritte lässt sich Hüther hendes Beispiel der Disziplin er-
mit Begeisterung gelernt werde, blei- jeweils als Leiter der «Zentralstelle für scheint. So wird Hüther in der Öffent-
be auch wirklich hängen und sei «Dün- neurobiologische Präventionsfor- lichkeit mal als Arzt (Neurologe) vor-
ger fürs Hirn». Als hätte Johann Amos schung» ankündigen, was «nach vie- gestellt, mal als Experte, der «weltweit
Comenius nicht bereits vor über 300 len Mitarbeitern und bedeutender zum richtungweisenden Dutzend
Jahren in der «Didactica Magna» die Forschung»8 klingt. «Dabei gibt es seines Fachs gehört» («manager ma-
Erkenntnis formuliert, dass emotional weder eine Disziplin namens «neuro- gazin»). Schmunzelnd erinnert sich
gefärbte Erlebnisse besser als neutrale biologische Präventionsforschung» der Klinikchef […] an Fragen von Be-
erinnert werden! noch eine entsprechende Forschungs- kannten, ob er «an Herrn Professor
einrichtung. […] Bis vor kurzem sug- Hüthers Klinik» arbeite.»9
Im Weiteren schwärmt Hüther vom gerierte die Homepage der «Zentral-
«wunderschönen Gehirn jedes Kindes», stelle», sie sei eine Einrichtung der Neid- oder Sachdebatte?
das aber nur lernen könne, wenn «das Hochschule. Das jedoch ist falsch. Laut Man könnte nun dem Verdacht erlie-
kognitive und emotionale Netzwerk Universität war sie allein ein «Projekt gen, derartige Ausführungen zu Hü-
gleichzeitig aktiviert» würden. Als hät- von Herrn Prof. Hüther». Das Gleiche thers nicht vorhandenem akademi-
te es vor Hüther Pestalozzis «Kopf, Herz gilt für seine Vorträge, Stiftungsakti- schem Renommee seien lediglich auf
und Hand» noch nicht gegeben! Ergo: vitäten und Bücher. […] Auf Anfrage gekränkte Eitelkeiten von Wissen-
Uralter pädagogischer Wein in pseudo- […] stellt Hüther klar, die Zentralstelle schaftlern zurückzuführen, die im Ver-
modernen neurodidaktischen Schläu- sei nur eine «Arbeitsplattform» zur gleich zu Hüther keine öffentlichen
chen! Das hindert Hüther nicht daran, Koordinierung verschiedener For- Huldigungen erfahren. Dem wider-
im gleichen Atemzug staatliche Schulen schungsprojekte […] gewesen. Seit spricht Matthias Burchardt von der Pä-
pauschal als «Dressuranstalten» zu dif- Anfang dieses Jahres habe er diese dagogischen Hochschule Ludwigsburg
famieren, in denen die Schülerschaft Tätigkeit beendet und damit auch in aller Deutlichkeit: «Tatsächlich ge-
ein Dasein als «gehorsame Pflichterfül- diese Zentralstelle aufgelöst, auf winnen die einschlägigen Experten er-
ler» zu fristen habe. Sancta simplicitas! Klappentexten aktueller Bücher heblichen Einfluss auf die öffentliche
taucht sie freilich noch auf. Im Übri- Meinung und politische Entscheidungs-
Allein: Mit Hirnforschung hat dies herz- gen sei er mit Schulthemen als Exper- träger, da gehört es sicher zur staats-
lich wenig zu tun. Bei genauerer Be- te in vielen Gremien befasst, habe bürgerlichen Verantwortung des Wis-
trachtung stellt man fest, dass die Hirn- aber nie behauptet, Forschungen auf senschaftlers, dafür zu sorgen, dass
forschung, auf die Hüther sich beruft, dem Gebiet von Bildung, Schule oder Diskussion sachgerecht geführt und
in seinen Vorträgen kaum vorkommt. Pädagogik durchgeführt zu haben. Entscheidungen besonnen getroffen
Er vertraut vielmehr der «Magie, die Letzteres stimmt tatsächlich. Statt- werden. […] Dazu gehört auch das Ent-
Wörter wie ‹präfrontaler Kortex›, ‹emo- dessen hat Hüther viele Jahre lang in larven von Scharlatanen, die den Nim-
tionale Zentren im Mittelhirn› oder der neurobiologischen Grundlagen- bus des Akademischen zum Ausweis
‹neuroplastische Botenstoffe› im Publi- forschung gearbeitet, Untergebiet ihrer Autorität in Anspruch nehmen,
kum entfalten.»7 Neurochemie. […] Meist arbeitete er um dann umso leichter auf empirische
mit Ratten. […] Heute bezieht Gerald Belege oder systematische Begründun-
Renommierter Hirnforscher? Hüther zwar das Gehalt eines wissen- gen verzichten zu können.»10
Gerald Hüther ist Angestellter der schaftlichen Mitarbeiters. Wissen-
Universität Göttingen, die tatsächlich schaftlich tätig im herkömmlichen Burchardt verleiht ausserdem seinem
als gute Adresse für Neurowissen- Sinn ist er aber seit Langem nicht Unbehagen darüber Ausdruck, wie im
schaften gilt. Nur: Hüthers Name mehr. Fragt man Göttinger Neurobio- öffentlichen Diskurs die Rollen zwi-
taucht in keinem neurowissenschaftli- logen nach Hüther, so erhält man schen «Experten» und Wissenschaft-
chen Institut seiner Hochschule auf! meist eine von zwei Antworten: «Die lern verteilt seien: «Unbeholfen er-
Zu finden ist er dort einzig auf einer Veröffentlichungen des Kollegen sind scheinen Kollegen in Talkshows, wo
Liste mit drei Dutzend «wissenschaft- mir nicht bekannt» oder «Ist das der sie, um Genauigkeit und Differenzie-
lichen Mitarbeitern» an der Klinik für aus dem Fernsehen?». Dead wood rung bemüht, mitunter üble Bruchlan-
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dungen in Fettnäpfchen erleiden. An- «Leider verhält es sich mit der modi- dern: Durchleuchtet doch jedes einzel-
ders dagegen die Experten: Sie tragen schen «Neurodidaktik» ähnlich wie mit ne Schülerhirn! Von allen Hindernissen
Cowboy-Stiefel oder einen angegrau- dem Märchen von des Kaisers neuen einmal abgesehen: Selbst das löste das
ten Menschenversteherbart, so dass Kleidern: Es geht vor allem um grosse Problem nicht. Denn anders als die po-
Kameras, Mikrophone und Bildungs- Versprechungen. […] So scheitert die puläre Rede suggeriert, können Hirn-
lobbyisten sie einfach liebhaben müs- Neurodidaktik bereits an der Tatsache, forscher dem Organ eben nicht beim
sen, wenn sie […] Revolutionen, Hirn- dass jedes Gehirn einzigartig ist. Gene, Denken zuschauen, sondern nur Korre-
dünger oder das Gelingen predigen. Umwelt und Erziehung formen es so lationen zwischen Denkvorgängen
Dem Wissenschaftler bleibt dann nur unverwechselbar wie den Fingerab- und neuronalen Aktivitäten herstellen.
noch die Rolle des gekränkten Spielver- druck. […] Neurobiologische Studien […] Man sieht zwar manche Gebiete
derbers, wenn er auf Qualifikationen, aber machen in der Regel keine indivi- heller leuchten als andere; was dort
Belegen und Begründungszusammen- duellen, sondern allgemeine, statisti- aber genau vor sich geht, weiss man
hängen besteht.»11 sche Aussagen zum Gehirn. Sie erklä- nicht. […] Aus diesen (und vielen ande-
ren also, wie Lernen im Prinzip funkti- ren) Gründen kam eine Expertise des
Genereller Zweifel am Nutzen oniert – sagen aber nichts darüber aus, Bundesforschungsministeriums schon
der Neurobiologie für die Schule warum sich der eine gerade mit Mathe, 2005 zu dem Schluss: «Die häufig ge-
Doch selbst wenn man die Vorbehalte die andere mit Sprachen schwertut. äusserte Vorstellung, wonach die Hirn-
der akademischen Zunft Hüther ge- Genau das aber müssen Lehrer wissen. forschung zur Klärung theoretischer
genüber ausser Acht lassen würde, Die allgemeinen neurophysiologischen Kontroversen in der Pädagogik beitra-
käme man nicht um die Frage herum, Gesetze des Lernens nützen ihnen im gen könnte, trifft nicht zu.» Daran hat
ob es überhaupt gerechtfertigt ist, Unterricht wenig. Die Lernforscherin sich bis heute nichts geändert – was
dass der Neurobiologie aktuell ein so Elsbeth Stern vergleicht das mit dem erstaunlicherweise Hirnforscher wie
grosses Gewicht beigemessen wird, Versuch, einen Flugzeugabsturz mit Gerald Hüther nicht davon abhält, im-
wenn es um das angestrebte Verbes- den Worten zu erklären, im Prinzip sei mer wieder die angebliche Relevanz
sern konkreter Unterrichtsprozesse die Schwerkraft schuld gewesen. Das der «vielfältigen Ergebnisse» ihrer
geht. Der Wissenschaftsjournalist Ul- stimmt zwar. Aber es nützt dem Prak- Zunft für den Schulunterricht zu prei-
rich Schnabel hat sich mit dieser The- tiker wenig, der wissen will, warum sen. Dabei verbirgt sich hinter neurodi-
matik auseinandergesetzt und gelang- gerade dieses und kein anderes Flug- daktischen Rezepten oft gar keine
te zu einem enttäuschenden Fazit: zeug abstürzte. Nun könnte man for- Hirnforschung. Vieles entstammt der
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Entwicklungspsychologie, anderes ist Bedingungen erfolgreichen Lehrens den Unterricht unmöglich. […] Man
altbekannte Pädagogik. […] Neu er- und Lernens höchst bedeutungsvoll kann im Schulalltag durchaus etwas
scheint diese Einsicht nur, wenn sie mit sind. Dies betrifft etwa die wichtige verändern, und zwar auf einer wissen-
bunten Hirnbildern und Fachbegriffen Rolle der Lehrerpersönlichkeit und des schaftlich-empirischen Grundlage. Da-
[…] garniert wird. […] Ihren Nutzen of- vertrauensvollen Verhältnisses zwi- für sind die Erkenntnisse der Neurobio-
fenbart die Hirnforschung bislang vor schen Lehrenden und Lernenden, die logie genauso unabdingbar wie jene
allem bei der Klärung pathologischer Bedeutung von Vorwissen, Aufmerk- der empirischen Lernforschung und
Fälle […], bei denen sich neuronale Ab- samkeit und Motivation beim Lernen, der pädagogischen Psychologie. Das
weichungen zeigen. Zur Frage, wie das Verhältnis von lehrergeleitetem wirklich Mühsame ist die Übertragung
man das Lernen gesunder Kinder in der Lehren und selbst reguliertem Lernen, auf den Schulalltag. Lehrer sind, was
Schule fördert, hat sie wenig beizutra- von Intelligenz, Fleiss und Wiederho- Veränderungen betrifft, […] leidge-
gen. Wie könnte sie auch? Neurowis- lung. Dazu gehört auch die Frage einer prüfter als andere Bevölkerungsgrup-
senschaftliche Studien finden meist mit «hirngerechten» Darbietung des Stof- pen. Aber bei ihnen und ihrem Alltag
wenigen Probanden im Labor statt. Die fes. Das bedeutet Rücksichtnahme auf muss man ansetzen, nicht primär bei
vielfältigen Beziehungen in einer Klas- die Eigenheiten des Arbeitsgedächtnis- den Schulbehörden und erst recht
se zwischen Schülern und Lehrern spie- ses, insbesondere hinsichtlich seines nicht bei den Kultusministerien. Diese
len da keine Rolle. «Solche sozialen extrem begrenzten Fassungsvermö- nämlich sind besonders in Gefahr,
Interaktionen sind für das Lernen aber gens. Es gilt auch zu beachten, wie Auf- Scharlatanen hinterherzurennen. […]
extrem wichtig», sagt die Erziehungs- merksamkeit und Vorwissen sich auf Verordnungen von oben anstelle von
wissenschaftlerin Nicole Becker […]. Sie die Verankerung aktuellen Wissens im Veränderungen ganz unten sind dage-
hat einst in einem Projekt unter Lei- Langzeitgedächtnis auswirken. Ihr gen zwecklos.»13
tung des Bremer Neurobiologen Ger- kommt also hier eine wichtige Schieds-
hard Roth die Chancen und Grenzen richterrolle zu in Form der Frage: Wel- Richard David Precht, Popstar
einer Verbindung von Neuro- und che Lehr- und Lernmethoden können Zu Gerald Hüthers engsten Wegge-
Lernforschung ausgelotet. Das Ergeb- als erfolgreich gelten, wenn man das fährten zählt Richard David Precht, der
nis? «Ernüchternd», sagt Becker. Allen gegenwärtige Wissen darüber, wie in den vergangenen Jahren mehrere
Neurodidaktikern schreibt sie ins Wahrnehmen, Verstehen, Gedächtnis- Sachbücher zu den unterschiedlichsten
Stammbuch: «Wer als Wissenschaftler bildung und Erinnern funktionieren, Themen (z.B. Vegetarismus, Fitness-
Aussagen zur Schule macht, sollte auch betrachtet? Die Neurobiologie spielt wahn, Liebe, Egoismus) in den Bestsel-
schulrelevante Forschung betreiben. hinsichtlich der pädagogischen Psycho- ler-Listen platzieren konnte. Damit
Die aber gibt es in der Hirnforschung logie insofern die Rolle einer Basiswis- nicht genug: Seit September 2012 ist
bislang nicht.»12 senschaft, so wie es Physik und Chemie Precht mit seiner Sendung «Precht» of-
wiederum für die (Neuro-)Biologie tun. fiziell Deutschlands öffentlich-rechtli-
Neurobiologie als Schiedsgericht Aber in derselben Weise, wie sich aus cher Fernsehphilosoph und damit
für Lehr- und Lernmethoden? den physikalischen Gesetzen allein Nachfolger der beiden profunden Den-
Der in Ulrich Schnabels Artikel erwähn- nicht die Evolutionsbiologie oder die ker Peter Slooterdijk und Rüdiger Saf-
te Neurobiologe Gerhard Roth melde- Neurophysiologie ergibt, folgt aus den ranski, die jahrelang das «Philosophi-
te sich unlängst selbst in dieser Ange- Einsichten der Neurobiologie selbst- sche Quartett» moderiert hatten.
legenheit öffentlich zu Wort. Er ver- verständlich nicht direkt ein besserer
tritt eine gemässigte Position, die sich Schulunterricht. Der Weg vom Labor Slooterdijk seinerseits, augenschein-
einerseits von Bekundungen im Stile ins Klassenzimmer ist lang und dornig. lich gekränkt durch das Absetzen sei-
Hüthers klar distanziert, andererseits Zuallererst bedarf es einer engen Zu- ner Sendung, vermochte es nicht zu
aber auch nicht jenen Skeptikern Recht sammenarbeit zwischen Neurobiolo- unterlassen, Precht in einem Interview
geben mag, die der Neurobiologie jeg- gen und pädagogischen Psychologen als «Popularisator von Beruf» zu be-
lichen Nutzen für Unterrichtszwecke oder empirischen Lernforschern. Das zeichnen und ihn mit dem TV-Geiger
absprechen: gilt für die Experimente selbst und André Rieu zu vergleichen. Was er da-
auch für die Deutung der Ergebnisse. mit sagen wollte: «Sein Nachfolger
«Hirnforscher – oder besser: Neurobio- […] Ohne Erfahrung vor Ort ist eine tänzelt bestenfalls im Walzerschritt
logen – haben in enger Zusammenar- Anwendung neurobiologischer und durch die Geisteswelt, richtig ernst
beit mit Psychologen […] Erkenntnisse psychologischer Erkenntnisse zum Ler- nehmen kann ihn keiner, der wirklich
gewonnen, die für die Frage nach den nen und zur Gedächtnisbildung auf vom Fach ist.»14
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Prechts Gast in seiner ersten Sendung muss man gar nicht darüber spekulie- densten Ebenen bearbeitet und the-
beim ZDF (reisserischer Titel: «Skandal ren, ob Oskar nicht vielleicht doch matisiert. Precht macht nichts anderes,
Schule – Macht Lernen dumm?») war ganz gute Lehrer hat und der Herr als sie zu wiederholen und «opfert die
selbstredend niemand anderes als – Precht etwas übertreibt. Entscheiden- Inhalte seines Buches einem maximal
Gerald Hüther, mit welchem er sodann der scheint vielmehr der Hinweis, dass alarmistischen Ton und damit seinen
ein kontroversfreies «Aphorismen- Precht mit seiner autobiographischen Verkaufserfolgen.»21
Pingpong»15 über die behauptete Erfahrung alles andere als ein Einzel-
deutsche Bildungskatastrophe auf- fall ist. Zahlreiche Eltern werden zu Vorwurf 1: Pauschalisierung,
führte und auf diese Weise schon den Bildungsexperten, sobald ihre eigenen Undifferenziertheit, Übertreibung
(Vermarktungs-)Boden für sein nächs- Kinder zur Schule kommen. Allerdings Damit sind wir beim ersten Vorwurf
tes Werk bereitete: «Anna, die Schule kommen die wenigsten deshalb gleich angelangt, der von verschiedener Sei-
und der liebe Gott» erschien im April auf die Idee, ein ganzes Buch darüber te an Precht herangetragen wird: dem-
2013. Das Buch repräsentiert eine Fun- zu schreiben.»16 jenigen der pauschalen Herabwürdi-
damental-Kritik am deutschen Schul- gung und skandalisierenden Darstel-
system, welches die Kinder zu «langsa- Michael Felten haut in dieselbe Kerbe, lung des bestehenden Schulsystems.
men Anpassern» dressiere, anstatt ihre wenn er schreibt: «Prechts stärkstes Bei Jürgen Kaube heisst es: «Verrat,
Kreativität und Neugier zu fördern. Argument für seine totale Schulschelte Bankrott, Katastrophe, die Titanic
Bildungsreformen genügen Prechts erweist sich bei genauerem Hinsehen kurz vorm Untergang. Richard David
Anspruch längst nicht mehr, offen ruft als besonders schwach: die angebliche Precht zieht bekannte Register. Die
er nach der «echten Bildungsrevoluti- Position eines Aussenstehenden, der deutschen Schulen sind furchtbar. […]
on». Dazu fällt einem fast nur noch die Dinge überaus nüchtern beurteilen Dass die deutschen Schulen im Durch-
Karl Kraus ein: «Eine der schlimmsten könne. Precht ist aber keinesfalls ein schnitt schrecklich sind, weiss Precht
Krankheiten ist die Diagnose.» Unbeteiligter […]. Er schreibt nämlich schon vor aller Empirie.»22
auch als Vater – und wäre nicht der Ers-
Bildungsexperte über Nacht te, der sein Familienklima in der Schule Brodkorb schreibt dazu: «Wer wissen
Wie kam es aber dazu, dass Precht sich wiederfinden möchte.»17 will, was er über Deutschlands öffent-
mit seinem letzten Buch inhaltlich auf liche Schulen denkt, muss das Buch […]
einmal der Bildung zuwandte? Offen- Nicht alles ist falsch, nicht einmal lesen. Es reicht völlig hin,
bar hat Prechts neunjähriger Sohn Os- aber nichts ist neu einen Blick auf die Titelgrafik zu wer-
kar den Anlass für das Werk geliefert. Nun wendet Peter Keller treffend ein, fen: Gezeigt wird ein verschüchtertes
Der sei nämlich, wie Precht in seinem dass Vorsicht geboten sei, «wenn das Mädchen an einer Schultafel, das – of-
Buch selbst schreibt, «ein neugieriges, Feuilleton so einmütig zur Verdammnis fenbar als Strafaufgabe – immer wie-
ungemein wissbegieriges Kind», habe schreite»18 wie in Prechts Fall, zumal der den Satz «Ich darf nicht denken»
aber eben überhaupt keine Lust auf dessen eindrücklicher Erfolg ja für ihn notieren muss. Das ist es also, was un-
Schule. «Was ich gerne hätte, wäre ein spreche. So halten ihm die meisten Re- sere Lehrerlein den armen Schülerlein
Kind, das voll Freude in eine ganz an- zensenten denn auch zu Gute, dass er tagtäglich eintrichtern!? Da ist wirklich
dere Schule geht. Eine Schule, die ein einige richtige Beobachtungen mache: Fremdschämen angesagt. Entweder
Lern-Abenteuer ist, die die Neugier «Dass die Lehrpläne zu vollgestopft dafür, dass Precht wirklich so einfältig
entzündet, die Potenziale entfaltet sind, dass zu viel «teaching to the test» denkt oder dafür, dass er dem Verlag
und den Sinn dafür schärft, wie un- betrieben wird, dass die Noteninflation nicht in den Arm gefallen ist. […] Das
endlich spannend die Welt ist. Doch die Zertifikate uniformativ macht, dass Schulsystem […] sei einem «krebskran-
wenn Oskar an die Schule denkt, auf es zu viel nutzlose Didaktiken gibt und ken Patienten» vergleichbar und be-
die er geht, denkt er an Langeweile die Lehrerbildung im Argen liegt.»19 dürfe dringend einer «umfangreichen
und an mühseliges Stillsitzen.» Keller billigt Precht das Treffen eines Therapie». […] Und das ist offenbar die
empfindlichen Punktes zu, wenn im Rolle, die Precht sich selbst zugedacht
Mathias Brodkorb, seines Zeichens Bil- Buch «die sinnlose Faktenschinderei an hat: Er ist der grosse Oberarzt in einer
dungsminister in Mecklenburg-Vor- den Schulen»20 kritisiert werde. schul-onkologischen Abteilung und
pommern und mit grosser Wahrschein- für eine flächendeckende schulische
lichkeit einer der scharfsinnigsten Ver- Aber: All diese Feststellungen wurden Chemotherapie zuständig. […] Geht es
treter seiner Gilde, hat sich Gedanken längst schon von anderer Seite ge- eigentlich auch eine Nummer kleiner?
zu dieser Konstellation gemacht: «Nun macht und werden auf den verschie- […] Er überzieht in der Beurteilung
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von öffentlichen Schulen und Lehr- An anderer Stelle schreibt Brodkorb: «Kronzeugen dafür, dass nicht der
kräften derartig, dass man vor lauter «Charakteristisch für Prechts Argu- Stoff, sondern das Lernen des Lernens
Zurückweisung dieser Übertreibungen mentation ist […] meist, dass er aus […] im Mittelpunkt der Schule»26 zu stehen
kaum noch dazu kommt, mit dersel- Beobachtungen Dinge schlussfolgert, hätte. Precht behauptet, Humboldts
ben Intensität die tatsächlichen Män- die zu schlussfolgern er unter Beach- Schule habe keiner Prüfungen be-
gel im Schulsystem zu diskutieren.»23 tung logischer Grundregeln schlicht durft, weil man die Persönlichkeit
nicht berechtigt ist. So ist es zwar wahr, eben nicht prüfen könne. Dumm nur,
Vorwurf 2: Ein Philosoph dass es eine Reihe von Lehrkräften dass Jürgen Kaube nachweist, dass
ohne Logik gibt, die schlechten Unterricht machen man in den Studien Heinrich Bosses,
Precht hat unter anderem Philosophie und daher für die schlechten Leistun- die Precht in seiner Literaturliste auf-
studiert. Brodkorb, ebenfalls ein pro- gen ihrer Schüler mitverantwortlich führt, ausfindig machen kann, «dass
movierter Philosoph, hält ihm vor, sind. […] Aber es ist eben logisch unzu- Humboldt ein wahrer Prüfungsenthu-
dass er sich nicht einmal an elementa- lässig und in der Sache unsinnig, we- siast war. Weshalb? Weil er Bildung
re philosophische Prinzipien halte, gen dieser Teilmenge der Lehrerschaft gegen Privilegien stellte, und wenn
wenn er aus seiner subjektiven Wahr- eine systemische Revolution zu for- nicht geprüft wird, geht es noch unge-
nehmung, dass sein Sohn Oskar eine dern, die ausnahmslos alle Lehrkräfte rechter zu als ohnehin.»27
miserable öffentliche Schule besuche, betrifft – also auch jene, die nachweis-
schlussfolgere, dass alle öffentlichen lich guten Unterricht machen.»25 Kaube wirft Precht vor, er sei «high in
Schulen miserabel seien. Schliesslich personality, but low in information»,
lerne man «im ersten oder zweiten Vorwurf 3: Mangelhafte sein Buch strotze geradezu vor Un-
Semester an jeder deutschen Univer- Recherche und intellektuelle kenntnis und mangelnder Expertise
sität […], dass Induktion kein logisch Schlampigkeit für die Themen, über die er schreibe.
gültiges Schlussverfahren» sei. «Aber In einem Kapitel seines Buches schwa- Etwas boshaft fügt Kaube an: «Wer
für eben diese Kleinigkeit, nicht von droniert Precht, der Noten, Hausauf- Prüfungen ablehnt, weil es törichtes
Einzelfällen vorschnell auf die Allge- gaben und Jahrgangsklassen abschaf- Prüfen gibt, müsste auch gegen Sach-
meinheit zu schliessen – in politischen fen, Fächer zugunsten von Projekten bücher sein. Der Nachweis, dass es tö-
Kontexten nennt man das «Vorurtei- auflösen und nur noch Gesamtschulen richte gibt, wird täglich geführt.»28
le» und noch viel Schlimmeres –, hat anbieten will, ausgiebig über die preu-
Herr Precht entweder keine Zeit oder ssische Bildungs-Koryphäe Wilhelm Ins gleiche Horn stösst auch Mathias
keinen Willen […].»24 von Humboldt und erhebt diesen zum Brodkorb, wenn er Precht vorwirft,
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sich immer wieder auf die PISA-Studi- (oder bestraft), entwertet die Lust am durch bestimmte Wortwahl, Kontexte
en zu berufen, um mit dem Verweis Lernen zu einem Mittel zum Zweck.» oder anderes. So schreibt der Medien-
auf die angeblichen Erfolgsnationen Statt der Zensuren plädiert Precht für philosoph beispielsweise über PISA
Schweden, Finnland oder Dänemark eine wertschätzende Anerkennungs- vordergründig kritisch und brand-
sein Plädoyer für die Gemeinschafts- kultur der Lehrkräfte, zum Beispiel markt den Messwahn. Doch beruft er
schule zu begründen. «Dass Finnland durch Lob, auf der Grundlage individu- sich andererseits immer wieder gerade
bei den PISA-Studien stets gut ab- eller Leistungsnormen und -beurteilun- auf PISA, um die deutsche «Bildungs-
schneidet, ist allseits bekannt. Daraus gen. […] Es ist zwar wahr, dass Noten katastrophe» zu belegen.»31
lässt sich lediglich schlussfolgern, dass einen überwiegend extrinsischen Cha-
Gemeinschaftsschulen hohen Leistun- rakter tragen […], allerdings trifft dies Mathias Brodkorb erläutert dieses Phä-
gen nicht entgegenstehen müssen, ebenso auf jedes Lob zu, das eine Lehr- nomen folgendermassen: «Nur wenige
aber eben keinesfalls, dass Gemein- kraft ausspricht […]. Prechts Vorschlag Seiten, nachdem Precht sich unter Be-
schaftsschulen eine notwendige Be- läuft somit darauf hinaus, eine Besse- zugnahme auf die PISA-Studien in
dingung für eben diese sind. Das wird rung der Schule durch Ersetzung eines Rage geredet und so seine Forderung
allein schon deutlich, wenn man einen vorwiegend extrinsisch funktionieren- nach einer umfassenden Bildungsrevo-
Blick auf die anderen skandinavischen den Mechanismus durch einen anderen lution begründet hat, kritisiert er eben
Staaten wirft: Seit wann nämlich ge- extrinsischen Faktor herbeizuführen jene PISA-Studien […] aufgrund ihrer
hören zum Beispiel Schweden und Dä- […]. Genau genommen gibt es analy- empirischen Haltlosigkeit in Grund und
nemark zu den PISA-Hochleistern? […] tisch gar keinen wirklich relevanten Boden: Die Studien würden den Men-
Precht hat sich offenbar nicht einmal Unterschied zwischen einer Note und schen nicht umfassend abbilden, son-
die Mühe gemacht zu überprüfen, ob einem Lob oder einer Ermahnung. […] dern eben nur seine scheinbar auf dem
die empirischen Fakten seine steilen Und was genau ist der Unterschied zwi- Markt verwertbaren Kompetenzen,
Thesen überhaupt stützen. Tatsächlich schen einem besonders grossen Lob überhaupt würden Multiple-Choice-
nämlich versucht er der deutschen Öf- und einer «1»? Es gibt keinen, ausser Testungen den Kern von Bildung ver-
fentlichkeit mitunter Schulsysteme als jenen natürlich, dass Noten hoch ver- fehlen […]. Für diese Thesen gibt es in
Vorbilder zu verkaufen, deren Leis- dichtete Urteile darstellen und insofern der Tat gute Argumente und es wäre
tungsparameter in Wahrheit schlech- undifferenzierter ausfallen als schriftli- ohne Zweifel lohnend, hierüber bil-
ter sind als die des deutschen.»29 che oder mündliche Beurteilungen. Ge- dungspolitische Debatten zu führen.
nau deshalb lässt es sich auch keine Aber zur Erinnerung: Zwischen PISA-
Auch im Bereich der von Precht gefor- gute Lehrkraft nehmen, Noten durch Lob und vernichtender PISA-Kritik lie-
derten Abschaffung von Noten weist schriftliche oder mündliche Erläuterun- gen bei Precht nur knapp zehn Seiten!
Brodkorb ihm eine widersprüchliche gen zu präzisieren.»30 Selten hat sich jemand mit so lautem
Argumentation nach: «Precht verweist Getöse mit einer Hochleistungsketten-
[…] auf die Tatsache, dass Menschen Vorwurf 4: Der grosse PISA- säge den Ast selbst abgesägt, auf dem
intrinsisch, also durch sich selbst zum Widerspruch er sitzt.»32
Beispiel durch pure Lernfreude, oder Im Kontext der PISA-Studien und de-
extrinsisch, also durch Anreize von aus- ren Einordnung taucht in Prechts Buch Vorwurf 5: Ein Gebildeter erklärt
sen, motiviert werden können. Was zu ein Widerspruch auf, der sich schlicht Bildung für überholt
einem besseren Ergebnis führt, ist da- nicht übersehen lässt. Jochen Krautz Precht präsentiert in seinem Buch ele-
bei für ihn völlig klar: «Wer für sein Tun beschreibt es in einem Interview so: gant und kurzweilig diverse tragende
oder Lernen einen extrinsischen Anreiz «Liest man […] das Buch von Herrn Säulen der deutschen Geistesgeschich-
bekommt, verliert oft und schnell seine Precht genauer, erweist es sich als te von Humboldt über Kant und Her-
intrinsische Motivation. Die Ursprungs- Meisterwerk des Spin-Doctorings. Ein der bis Hegel – auch wenn Brodkorb
motivation wird durch die Belohnung «Spin» ist die Technik, der Darstellung dazu spitzzüngig anmerkt: «Nirgend-
korrumpiert und somit zerstört.» Die eines Sachzusammenhangs untergrün- wo tiefgründig, nirgendwo hinter-
Schlussfolgerung scheint auf der Hand dig eine bestimmte Interpretations- gründig, aber doch irgendwie gebil-
zu liegen, die Noten müssen als extrin- richtung zu geben, die jedoch dem det.»33 Keller beschreibt es so: «Nach-
sische Motivation entfallen, um die Rezipienten nicht bewusst werden dem sich der TV-Philosoph im ersten
Lernfreude bei den Schülern zu stärken: soll. Also keine offenen Lügen und Kapitel ausgiebig über «Bildungsspies-
«Ein Schulsystem, das seine Schüler mit Verzerrungen, sondern eine subtil ten- ser» und «Bildungshuberei» ausgelas-
der Aussicht auf Zensuren belohnt denziöse Umdeutung von Fakten sen hat, macht er sich umgehend dar-
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an, auf den nächsten dreihundert Sei- alles studieren zu können. Es wäre vor selbst am meisten von der klassischen
ten seinen inneren Bildungshuber von allem dies: sich in der Welt und mit sich bildungsbürgerlichen Attitüde, die er
der Leine zu lassen. Kaum ein Ab- selbst zurechtfinden.» Ungeachtet des- für alle anderen für überflüssig zu er-
schnitt ohne Verweis auf eine Autori- sen, was damit konkret gemeint sein klären nicht müde wird.»35
tät aus Forschung und Wissenschaft.»34 soll, steht für Precht fest, dass das Be-
herrschen diverser Wissensgebiete Vorwurf 6: Geschwurbel anstelle
Gerade Humboldt scheint es Precht an- heute überflüssig geworden sei: von konkreter Aussagen
getan zu haben, wenn er rühmt, dass der Algebra über die korrekte Recht- Was aber versteht Precht selbst denn
es diesem noch um «Allgemeinbildung schreibung bis hin zur Grammatik. nun eigentlich unter dem Begriff «Bil-
als wahre Menschenbildung» gegan- dung» in der heutigen Zeit? So richtig
gen sei, welche die Grundlage von Frei- Brodkorb bezeichnet es als «putzig», klar wird das während der Lektüre sei-
heit, Selbstbestimmung und einer ent- dass ausgerechnet «der Salonphilo- nes Werks nicht. Precht verrät lieber,
wickelten Demokratie darstelle. Wer soph Precht gegen traditionelle bil- was Bildung nicht sei: «Wer in Gesell-
nun aber glaubt, Precht würde auf die- dungsbürgerliche Überzeugungen schaft Goethe zitiert, macht zwar von
ser Basis ein solides Allgemeinwissen argumentiert – eben jene kulturellen seinem Gedächtnis Gebrauch, verrät
auch in Gegenwart und Zukunft weiter Dispositionen, ohne die er weder sei- aber noch nicht zwingend Bildung.»
hochhalten wollen, reibt sich bald er- ne Bücher schreiben noch in seinen An einer anderen Stelle schreibt er, Bil-
staunt die Augen. Gemäss Precht soll Fernsehsendungen eben jene Effekte dung bestehe darin, «viele verschiede-
Bildung heute nicht mehr aus dem Kon- auf Seiten des Publikums erzielen ne Dinge produktiv miteinander in
zept bestehen, «einen jeden Gymnasi- könnte, die seinen Status als einen Verbindung bringen zu können und
asten in die Lage zu versetzen, auf- weisen und belesenen Mann begrün- vielfältige eigene Gedanken zu entwi-
grund eines bewältigten Fachwissens den. In Wahrheit nämlich lebt Precht ckeln.» Aha.
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Im Weiteren erfährt der Leser nur, Hass auf Fächer, die keinen unmittelba- ligten untereinander: «Ein im Erkennt-
weshalb das «althergebrachte Klassen- ren Bezug zu einer Praxis haben: alte nissinne Lust und Freude bereitender
zimmer-Modell» nicht mehr tauge: Sprachen, Philosophie, Mathematik, Unterricht ist etwas anderes als ein
«Die historischen Gründe, die den klassische Literaturen, Kunst und Mu- Abenteuerpark oder eine Spassfabrik.
Frontalunterricht, die Fünfundvierzig- sik.» Ersetzt wird dieses suspekt ge- Der Abenteuerpark ist eine Dienstleis-
Minuten-Taktung, das Unterrichten wordene «Wissen, das aus der Vergan- tungseinrichtung, in der einem an-
nach Jahrgängen und die Notwendig- genheit stammt» durch «ein flüchtiges strengungslos gegen Eintritt ein Spass
keiten von Zensuren, Klausuren und Stückwerkwissen, das gerade reicht, nach dem anderen geboten wird. An-
Hausarbeiten einmal auf den Plan ge- um die Menschen für den Arbeitspro- strengungslos ist dabei das entschei-
bracht haben, sind eben dies: «histo- zess flexibel zu machen und für die dende Stichwort. […] Es gab einmal
risch». Aus einer Zeit stammend, in der Unterhaltungsindustrie zu begeistern. Zeiten, in denen galt Bildung als ein
fleissige Industriearbeiter gebraucht Wissen unter diesen Bedingungen er- begehrenswertes, persönlichkeitsbil-
wurden, die sich brav dem Takt der scheint vor allem unter dem Aspekt der dendes, als ein kostbares Gut, das man
Maschinen unterzuordnen hatten. Mit Verblüffung, der oberflächlichen Neu- sich unter erheblichen Mühen selbst
dem 19. Jahrhundert habe unsere Ge- gier, dem Verdacht ausgesetzt, die erarbeiten musste. In idealtypischen
genwart jedoch nichts mehr zu tun, grundlegenden Zusammenhänge und Konstellationen wirkten Lehrer und El-
meint Precht.»36 Wahrheiten zu übersehen.»38 tern zu diesem Zweck gemeinsam för-
derlich auf die Kinder und Jugendli-
Derartige «Argumentationen» rufen Auch der zweite Teil des Buches, der chen ein: motivierten und förderten
bei Jürgen Kaube massiven Wider- sich der eigentlichen «Bildungsrevolu- sie, aber ermahnten sie auch, wo es
spruch und eine grosse Portion Sarkas- tion» widmet, vermag keine tatsächli- nötig schien, damit sie am Ball blieben.
mus hervor: «Was etwa folgt daraus, che Klärung der Frage nach Prechts […] Im Gegensatz hierzu ist Schule heu-
dass die Zukunft unbekannt ist? Für Bildungsverständnis herbeizuführen. te zu einer Art Dienstleistungseinrich-
Precht, dass man die Schulfächer zu- Zehn eher beliebig aneinandergereih- tung geworden, in die Steuer zahlende
gunsten von «Projekten» aufgibt. te «Prinzipien», mehr ist da nicht. Alt- Eltern ihre Kinder schicken, um das Abi-
Denn die Fächer seien nur für eine «ar- bekannte Gemeinplätze werden be- tur einzulösen: Es sind Betriebe mit […]
beitsteilige Arbeiter- und Ange- müht, von der «intrinsischen Motivati- Erfolgsgarantie und Rückgaberecht.
stelltengesellschaft» gut gewesen, für- on» über das «individuelle Lernen» Der Erwerb des Abiturs ist unter dieser
derhin brauche es «Selbstkompetenz», und die «Beziehungs- und Verantwor- Bedingung nicht mehr in erster Linie
interdisziplinäre Vernetzung – ohne tungskultur» bis hin zur «lernfreundli- Aufgabe und Herausforderung für den
vorher disziplinär geschult zu sein? – chen Schularchitektur». Kellers Fazit Schüler oder die Schülerin, sondern
und nicht Chemiestunden. Dynamisch lautet deshalb: «Seine «Bildungsrevo- ausschliesslich für die Lehrkraft. Jeder
sei die Welt heute, flexibel und origi- lution» entpuppt sich als wiederaufge- Abbrecher, jeder Sitzenbleiber, jeder
nell sei der Mensch. Wir brauchen kei- kochtes Reformsüppchen […].»39 Liess- Durchfaller bezeugt nicht auch Fehlleis-
ne Postpferde, sondern Rennpferde, mann schreibt: «Die Verkündigung des tungen oder unglückliche Umstände
und die brauchten Charakter. Was Neuen ist unter anderem deshalb so auf Seiten der Schülerschaft, sondern
heisst das für Abiturienten? Sie brauch- einfach und risikolos geworden, weil wird stets allein als Versagen einer
ten die Fähigkeit, «verschiedene Exper- kaum noch erkannt wird, wie alt das gleichgültigen und unfähigen Lehrer-
tisen multiperspektivisch zu einem Er- vermeintlich Neue mitunter ist."40 schaft interpretiert: «Appelle an ver-
kenntnisprozess zu ordnen und daraus antwortungslose Elternhäuser, ihre
Strategien zu generieren.» Gut, dass Vorwurf 7: Precht entbindet die Kinder anders zu erziehen, haben noch
hier endlich mal ein Rennpferd ohne Schüler von ihrer Eigenverant- nie Früchte gezeitigt. Und Klagen über
Phrasendrescherei auskommt!»37 wortung und hetzt die Eltern uninteressierte und unaufmerksame
gegen die Lehrpersonen auf Schüler fallen immer auf den Klagen-
«Man tut», klagt der Philosoph Konrad Mathias Brodkorb ortet in Prechts For- den zurück.» [Zitat aus Prechts Buch]
Paul Liessmann, «als müsse man gegen derung an die Adresse von Eltern, ge- Dass sich unter dieser Perspektive jene
die verstaubten Bildungsideale des 19. gen die Lehrer «aufzubegehren», wenn Schüler, um die es geht, keine selbstkri-
Jahrhunderts kämpfen. Kein wirt- es ihnen in der Schule nicht spassig ge- tischen Fragen stellen werden, weil ja
schaftsnaher Reformer, der nicht statt nug zuzugehen scheint für ihre Kinder, nicht auch sie selbst, sondern allein die
bildungsbürgerlicher Kopflastigkeit fatale Konsequenzen für das Verhältnis Umstände für ihr Scheitern verantwort-
Praxisnähe einfordert. […] Daher der und Rollenverständnis der Schulbetei- lich erscheinen und sie genau deshalb
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auch keinerlei Veranlassung haben, «Bringe mir nichts bei!» Historiker und Studiendirektor Eber-
durch eigene Anstrengung etwas an Die Theorien von Fratton lassen sich hard Keil bringt sein Missfallen diesem
ihren Leistungen zu verändern, dürfte am einfachsten anhand seiner provo- Vergleich gegenüber mit deutlichen
da nicht mehr Wunder nehmen.» 41 kanten «vier pädagogischen Urbitten» Worten zum Ausdruck: «Die Karikatur
skizzieren: «Bringe mir nichts bei», «Er- des an unseren öffentlichen Schulen
Indirekt (und sicherlich auch unbe- kläre mir nicht», «Erziehe mich nicht» gegenwärtig praktizierten Klassenun-
wusst) erfuhr Brodkorbs Gesellschafts- und «Motiviere mich nicht». Als Konse- terrichts als eines gleichgeschalteten,
kritik diesen Sommer sogar Rückende- quenz daraus propagieren Fratton & die Schülerindividuen vergewaltigen-
ckung von US-Präsident Barack Oba- Co. einen Unterricht, der von grösst- den, fliessbandartigen Pauk-Unter-
ma, der in einem viel beachteten möglicher Individualisierung, selbstge- richts im Gleichschritt zeigt, dass Mül-
Interview seinem Bedauern darüber steuertem Lernen und Kompetenzras- ler und Fratton keine Ahnung von un-
Ausdruck verlieh, dass der Amerikani- tern geprägt ist. Lernen geschieht an- serer schulischen Realität haben und
sche Traum vieler junger Menschen geblich als autonome «Konstruktion» dass sie einen Popanz «Frontalunter-
heute nicht mehr aus einem guten Zu- des Lerners und dieser «steuert» sich richt» brauchen, um ihre eigene skur-
hause, einer guten Arbeit und dem selbst mit Hilfe von Computern, Lern- rile «neue Lernkultur» als erlösendes
Anstreben einer höheren Ausbildung büros, Checklisten und Arbeitsplänen. Lernkonzept zu verkaufen.»45
bestehe. Stattdessen konstatiert Oba- Wohlgemerkt: Die Rede ist von Kin-
ma seitens der jungen Generation eine dern und Jugendlichen. Warnsignale missachtet
verbreitete Orientierung am dekadent Ein kurzer Blick auf Peter Frattons Vita
zur Schau gestellten Luxusleben be- V-8-Begleitung statt genügt, um seinen späteren Aufstieg
rühmter Persönlichkeiten als verfehl- 7-G-Unterricht zum heimlichen Kultusminister Baden-
ten Gradmesser für Erfolg. Auf der Website von Frattons «Freier Württembergs als geradezu surreal
Schule Künzelsau» wird das pädagogi- erscheinen zu lassen, denn bereits
Peter Fratton, sche Konzept traditionellen Unterrichts 2007 war in der Schweiz medial darü-
gestrauchelter Popstar als «7-G-Unterricht» dargestellt: «Alle ber berichtet worden, dass die wohl-
Gerald Hüther und Richard David Precht gleichaltrigen Kinder sollen beim glei- klingenden «Selbstlernprozesse» an
haben medial und/oder politisch Karri- chen Lehrer mit dem gleichen Lehrmit- Frattons damaliger Privatschule offen-
ere gemacht und verdienen mit ihren tel im gleichen Tempo das gleiche Ziel sichtlich nicht erfolgreich umgesetzt
Büchern zweifelsohne sehr viel Geld. zur gleichen Zeit gleich gut erreichen.» worden waren: «Die 24 Absolventen
Die dritte schillernde Persönlichkeit, die Auch wenn man «die Schulentwick- des Touristik-Colleges der Academia
im Rahmen dieses Artikels ausgeleuch- lung von wenigstens einem halben Euregio Bodensee (AEB) in Romans-
tet werden soll, ist der Schweizer Schul- Jahrhundert ausblenden»43 muss, um horn erlebten an der letztjährigen
unternehmer und Ex-Reallehrer Peter hierin eine angemessene Darstellung Thurgauer KV-Lehrabschlussprüfung
Fratton, der, im Verbund mit seinen der heutigen Unterrichtsrealität zu er- ein Fiasko: Die Hälfte fiel durch. […] Es
Geschäftspartnern Andreas Müller (In- kennen, ist das Beschriebene im Kern war eine miserable Quote – im Kan-
stitut Beatenberg) und Christoph Born- nicht falsch: «Unser Klassenunterricht tonsdurchschnitt erhielten 95 Prozent
hauser (SBW Haus des Lernens, Ro- umfasst Kinder und Jugendliche glei- der Prüflinge ihr Diplom als Kauffrau/
manshorn), in Süddeutschland unlängst chen Alters, die mit ihrem Lehrer oder Kaufmann.»46 Nicht gerade ein berau-
eine märchenhafte Laufbahn hingelegt ihrer Lehrerin unter Einsatz von Medi- schender Leistungsnachweis für 4000
hat, bevor er im Juli 2013, als Folge an- en und Materialien ein bestimmtes Fr. Elterngeld pro Kind und Quartal!
wachsenden Drucks aus Politik und Me- Stundenthema behandeln, das heisst
dien, den Rückzug antreten musste.42 gemeinsam lernen.»44 Im Gegensatz Fünf Jahre danach dokumentierte ein
dazu propagieren Fratton, Müller & Co. weiterer Artikel die Unwirksamkeit der
Die Geschichte von Peter Fratton zeigt das individuelle Lernen und nennen es selbstentdeckenden, individualisierten
exemplarisch auf, wie leicht es in unse- «V-8-Begleitung»: «Auf vielfältigen Lernformen: 40% der Absolventen des
rer Zeit der bildungs- und gesellschafts- Wegen mit vielfältigen Menschen an von Peter Fratton gegründeten SBW
politischen Orientierungslosigkeit ist, vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zei- Euregio-Gymnasiums Romanshorn be-
zu einem Hoffnungsträger und Heils- ten mit vielfältigen Materialien in viel- standen die Maturaprüfung nicht! Der
bringer emporstilisiert zu werden, fältigen Schritten mit vielfältigen Ide- zuständige Schulleiter L. redete dieses
selbst wenn die Fakten eigentlich dage- en in vielfältigen Rhythmen zu ge- Desaster ganz im Sinne der «pädagogi-
gen sprechen würden. meinsamen Zielen.» schen Urbitten» Frattons schön: «Die
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Matura sei auch ein Reifeprozess, und in Prechts TV-Sendung nahelegen: «Es henden Bildungssystems einerseits so-
gerade die männlichen Anwärter hät- geht nicht mit Argumenten, wenn et- wie das Postulieren höchst fragwürdi-
ten sich im Schutz der starken Buben- was passieren soll, sondern Leiden- ger Heilmittel zwecks Errichtung einer
gruppe damit teilweise etwas länger schaftlichkeit muss erwachen in der utopischen Schulrealität andererseits.
Zeit gelassen, erklärte L. So sei es ge- Gesellschaft! […] Gegen diese Barrie- Josef Kraus schreibt, dass wir in der
kommen, dass nicht die ganze Klasse die ren werden nicht die Politiker anren- «sich als progressiv verstehenden
Prüfungen bestanden habe. Vier wer- nen. […] Dagegen müssen die Bürger Schulpädagogik» permanent einen
den sie wiederholen, einer tritt nicht im Land anrennen.» Spätestens dann, «Triumph der Ideologie über das Ur-
nochmals an. L. betonte, dass das Grup- wenn in einem politischen Diskurs im- teilsvermögen, des Bedarfs an Wohl-
pengefühl und die Verbundenheit der pulsive Eruptionen über die Kraft der befinden über die Erkenntnis»49 erle-
Lerngruppe besonders stark gewesen Argumente gestellt werden, müssten ben würden.
seien. Die Jugendlichen hätten enge überall sämtliche Alarmglocken läuten.
Freundschaft gepflegt und gemeinsam Die Situation, in welcher Gefühle und Wissenschaftliche Belegbarkeit, päda-
das Leben genossen, sei es bei Klassen- Leidenschaften über Denken und Er- gogische Spitzfindigkeiten, Umset-
fahrten oder in den Pausen in der Sonne fahrung dominieren, brandmarkte be- zungsunmöglichkeiten, die ellenlange
vor dem Lernhaus. Dies sei eine Form reits Karl Popper in seinem Hauptwerk Historie didaktischer Luftschlösser, die
von Glück, die nicht unterschätzt wer- «Die offene Gesellschaft und ihre Fein- Unwägbarkeiten des Unterrichtsalltags
den dürfe, auch wenn dabei manchmal de» (sic!) als «orakelnden Irrationalis- – all das sind für die Herren «Bildungs-
der Blick auf die Realitäten etwas zu mus» – wider jegliche Realität! experten» keine Themen, mit denen
kurz gekommen sei, sagte L.»47 Auch sie sich herumschlagen wollen. Statt-
hier hatte sich also die Investition von «Schön falsch ist auch schön!» dessen verkaufen sie der Öffentlichkeit
21‘700.- Fr. Schulgeld jährlich plus 1000.- All dies hielt die damalige Kultusminis- lieber «einzelne Vorzeigeeinrichtun-
Fr. Materialkosten plus Anmeldegebüh- terin Baden-Württembergs, Frau War- gen wie eine Berliner Privatschule als
ren plus separate Abrechnungen für minski-Leitheusser, jedoch nicht davon Leitbild – dabei hat diese bisher noch
Exkursionen, Lager, Gesangs- und Ins- ab, Frattons «Expertisen» für teures nicht einen Jahrgang durchs Abitur ge-
trumentalunterricht sowie Prüfungs- Geld einzukaufen, darauf basierend bracht.»50 Mit Bezug auf Frattons Wir-
vorbereitungen nicht bezahlt gemacht. das Schulsystem ihres Bundeslandes – ken in Baden-Württemberg schrieb
welches zuvor im gesamtdeutschen Peter Müller, die Bildungsrevolutionä-
Fehlende Nachweise Vergleich hervorragend dagestanden re hätten dort nicht eine Schule aus
Ganz generell gibt Eberhard Keil zu hatte! – von Grund auf neu aufbauen Stahl und Stein mit echten Kindern und
bedenken, dass weder Beatenberg zu wollen und Fratton mit der Entwick- Lehrern in echten Unterrichtseinheiten
noch Künzelsau noch weitere ver- lung und Leitung der dafür erforderli- gebaut, «sondern aus bunten Bildern
gleichbare Privatschulen bisher durch chen Lehrerfortbildung zu betrauen. und klingenden Begriffen, in Power-
Abschlussprüfungen je bewiesen hät- Man glaubt an einen schlechten Scherz, Point-Präsentationen, in Videos, in
ten, dass sie «die Ergebnisse durch- wenn man hört, dass Fratton anlässlich Vorträgen und in Zeitungen, die noch
schnittlicher staatlicher Schulen errei- der betreffenden Landtagsanhörung nicht erkannt haben, dass es sich bei
chen oder gar übertreffen» 48 würden. sagte, er habe keine Ahnung, was da- dem Trend um nicht mehr als die
Und dies trotz extrem günstiger Vor- bei herauskomme, aber schön falsch sei Dampfplauderei von selbsternannten
aussetzungen dadurch, dass sich nur auch schön. Leider entspricht diese An- Propheten handelt.»51
zahlungskräftige Eltern diese Schulen ekdote verbürgter Wahrheit. Folgt die
überhaupt leisten könnten, weshalb Politik vorbehalt- und kritiklos einem Die permanent wiederholte Botschaft
dort keine Kinder aus «bildungsfer- Mann, der solche Äusserungen tätigt, von dem guten Kind und der bösen
nen» und sozial benachteiligten Schich- dann trifft tatsächlich die Losung Gesellschaft mit ihren schulischen
ten zu finden seien, im Gegensatz zu «Dümmer geht’s nümmer!» zu. Zwangsanstalten kennt man spätes-
manchen staatlichen Schulen. tens seit Jean-Jacques Rousseaus «Emi-
Wessen Lied singt die blumige le». So erstaunt es nicht, dass sich die
Wer aber will sich schon an mühsam zu Reformlyrik in Wirklichkeit? Rhetorik der heutigen Schulrevolutio-
erbringenden Beweisen aufreiben, Was Hüther, Precht, Fratton und Kon- näre «dem Anschein nach in der Tradi-
wenn man für die Schulrevolution auf sorten gleichermassen kennzeichnet, tion der Aufklärung und der Reform-
eine Art Wutbürgertum zu setzen ist das öffentliche Etablieren eines pädagogik des letzten Vierteljahrtau-
scheint, wie Aussagen Gerald Hüthers Zerrbilds über den Zustand des beste- sends»52 zu bewegen scheint.
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Erziehungswissenschaftler Prof. Jochen tionäre glauben mag und er der An- […] handelt es sich bei dieser «Autago-
Krautz jedoch hält dies für einen ge- sicht ist, ihre Konzepte von «Selbststeu- gik» […] um andressierte Selbststeue-
waltigen Etikettenschwindel. Seiner erung» würden in Wirklichkeit das rung […] oder um es noch deutlicher
Meinung nach hätten die grossen Bil- «Gegenteil von Selbständigkeit» bewir- zu sagen: um den Versuch totalitärer
dungsreform-Treiber der letzten Deka- ken, begründet er folgendermassen: Prägung. […] Ihrer Natur nach entlee-
de (die OECD mit den PISA-Tests, die EU «An der Oberfläche wird zwar eine ren Kompetenzraster den Wesenskern
mit der Bologna-Reform, neoliberale Zunahme von Selbstständigkeit und des Lernens sowohl seiner Gegenstän-
Think Tanks) nur ihre Kommunikations- damit verbunden Mündigkeit, Kritikfä- de (Inhalte) wie seiner Menschen, ihrer
Strategie geändert: «Statt der allzu be- higkeit, Verantwortlichkeit etc. sugge- Beziehungen und ihrer Interessen – sie
triebswirtschaftlich klingenden Rheto- riert. Also alles Ziele, die man gut teilen sind inhaltsleer und unpersönlich. […]
rik der letzten Jahre («Humankapital», kann. Aber wie soll das erreicht wer- Man suggeriert den Schülern perma-
«Output-Orientierung», «Qualitätsma- den? Die Protagonisten mit ihren «Mo- nent «ich-kann»-Erfolge, vermeidet
nagement» etc.) werden nun zuneh- dellschulen» zeigen es: In grossraumbü- systematisch jede Kritik, sorgt damit
mend reformpädagogisch klingende roähnlichen «Lernateliers» sitzen die für ein aufgeblähtes Selbstbewusst-
Begriffe und Konzepte vor den Reform- Schüler an einzelnen Arbeitsplätzen sein und verschleiert die tatsächlichen
karren gespannt. Das sieht dann huma- und arbeiten ihre Arbeitsblätter nach Leistungen und Ergebnisse dieses
nistischer und kinderfreundlicher aus, Wochenplänen ab. Es gibt Computer öden und isolierten Individual-Lernens
ist es aber […] nicht, sondern es sind die für jeden und jeden Tag einen «Input» […]. Bewertete und benotete Leis-
alten Konzepte neu verpackt.»53 Krautz vom «Lerncoach», so heissen dann die tungskontrollen sind für Schüler eine
bewertet ein solches Vorgehen als ei- Lehrer. […] All das führt aber nicht zu zuverlässigere Rückmeldung als ein
nen etwas plumpen Versuch, «mit ei- wirklicher Selbstständigkeit, denn die vage formuliertes, noch zu interpretie-
nem Plädoyer für eine «Bildungsrevolu- Schüler arbeiten streng nach von aus- rendes Feedback […]. Unpersönliches
tion» einerseits fortschrittliche Leute sen gesetzten Vorgaben. Sie bewerten Material- und Maschinenlernen funk-
anzusprechen und andererseits ver- sich selbst, indem sie ihre «Kompeten- tioniert bei einem hochmotivierten
meintlich «Konservative» als Reform- zen» in Raster eintragen, vollziehen Erwachsenen in begrenztem Masse,
feinde zu diskreditieren.»54 damit aber nur die ihnen vorgegebene für Kinder und Jugendliche ist es […]
Bewertung selbst. Und vor allem fehlt ein verdinglichtes, entfremdetes, frus-
Krautz erwähnt in diesem Zusammen- ihnen mit dem Lehrer und der Klassen- trierendes Lernen. […] Und schliesslich
hang auch die eingangs erwähnte gemeinschaft ein menschliches Gegen- geht es bei diesem ganzen System
Grossveranstaltung «Vision Summit über und Miteinander, in dem man in nicht um Bildung – also um ein wach-
EduAction», die im August 2013 in Ber- personaler Beziehung das Denken und sendes Verstehen der Welt, um demo-
lin stattfand: «So etwas findet ja nicht Argumentieren üben kann, in dem man kratische Teilhabe an der Gesellschaft,
zufällig statt und ist auch nicht ganz zuhören und tolerieren lernen kann um die Befähigung zum eigenen Ur-
billig. […] Schaut man etwas genauer […]. Dieser ganze Ansatz übersieht, teil, um Mündigkeit, um die Einlösung
nach, ist dabei hochinteressant, dass dass Lernen eben kein einsames Ge- eines grundgesetzlichen Menschen-
zum Beispiel einer der Veranstalter ein schehen in einem richtig zu bewirt- rechts –, sondern – und da ist die Spra-
in den USA angesiedelter Think Tank schaftenden Gehirn ist, sondern ein che Müllers sehr ehrlich – um «Ausbil-
ist, dessen Gründer von McKinsey durch und durch sozialer Prozess, der dung», «Training», «Coaching», «Lern-
kommt […]. Und das alles nun mehr deshalb auf menschliche Begegnung, Jobs» zur Erlangung effizienter,
und mehr unter einer Rhetorik, die sich Erfahrungsteilung und eine kooperie- verwertbarer, «wertschöpfender»,
humanistisch darstellt und auch für die rende Gemeinschaft angewiesen ist.»57 reibungs- und widerspruchslos funkti-
politische Linke passend klingen soll, onierender Fähigkeiten und Einstel-
progressive Inhalte jedoch kaum zu Drastischer noch fällt die Wortwahl lungen. Dass man diese moderne Kas-
bieten hat.»55 Michael Felten schliess- Eberhard Keils aus: «Im Unterschied par-Hauser-Pädagogik unter der Paro-
lich bezeichnet Prechts Vorschläge un- zur «Pädagogik», die den Umgang von le «Kein Kind wird zurückgelassen» /
verhohlen als «neoliberale Vision»56. Erwachsenen mit Kindern erforscht «No child left behind» der Öffentlich-
und lehrt […], plädiert er [gemeint ist keit und unbedarften Politikern als
Anspruch und mögliche Frattons Geschäftspartner Andreas pädagogische Wunderdroge andreht,
Wirklichkeit der Schulrevolution Müller] für «Autagogik», den «selbst- ist ein grandioser Marketing-Erfolg
Weshalb Krautz nicht an die «pseudo- gesteuerten» Umgang der Kinder mit der beteiligten Firmen und ihrer Part-
progressive Rhetorik» der Schulrevolu- sich und der Welt […]. In Wirklichkeit ner in den Ministerien.»58
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Eine Revolution auf dem Buckel grosse Probleme haben. Er braucht bildungsfernen Familie. Ein proppen-
der Schwächeren eher klare Strukturen statt Selbstorga- volles Bücherregal hat man im Wohn-
Jochen Krautz bezeichnet es als über- nisation.»60 Fast identisch argumen- zimmer meiner Kindheit vergebens
aus wichtige zivilisatorische Errungen- tiert Michael Felten, der mit Verweis gesucht. […] Ich wollte nie das Gymna-
schaft, dass man jedem Menschen zu- auf Precht schreibt, dieser spreche «als sium besuchen. Es war nicht meine Ent-
traue, seine Möglichkeiten zu entwi- Teil der gesellschaftlichen Elite» und scheidung, dass ich dort gelandet bin.
ckeln und über Bildung zu mehr unterschätze «die Schwierigkeiten bil- Schule hat mir Spass gemacht. Sie hat
wirtschaftlicher und demokratischer dungsfern aufgewachsener Kinder, mir neue Welten eröffnet, Wissen ver-
Teilhabe zu gelangen. Allerdings er- sich in einem schon früh flexibilisierten mittelt, mich befähigt, weiter zu den-
kennt er in den aktuellen Entwicklun- Wissenswettlauf zurechtzufinden.»61 ken und vor allem, zu erkennen, dass
gen das genaue Gegenteil davon: «Ich man hart arbeiten muss, wenn man
plädiere daher dafür, sehr genau hin- Eine junge Lehrerin schliesslich formu- etwas erreichen will, dass Lernen nicht
zusehen, worum es eigentlich jeweils lierte ihre Gedanken zu Spiewaks Arti- zwangsläufig Spass macht, die An-
geht und was man womit überhaupt kel in ihrem Blog so: «Während meines strengung sich aber lohnen kann. Und
erreichen kann. Systemreformen hel- Referendariats wurde ich in regelmäs- ganz besonders geholfen haben mir
fen zunächst einmal nicht, pädagogi- sigen Abständen durch das Studiense- dabei: Lehrer […].»62
sche Probleme zu lösen. Die löst man minar gezwungen, mir Vorträge ver-
nur pädagogisch. […] Zudem benach- meintlicher Bildungsgurus anzuhören. Pädagogik und Kitsch –
teiligt ja gerade das, was derzeit als Alle Pädagogen liefen danach mit ei- ein Dauerbrenner
letzte Weisheit der Didaktik und Me- nem seltsam verzückten Gesichtsaus- Wie die junge Kollegin aus dem vorher-
thodik überall angepriesen wird – also druck aus dem Saal und waren auch gehenden Abschnitt schlägt auch Mi-
offener Unterricht und das so genannte Tage später noch in höheren Sphären chael Felten ähnliche Töne wider die
selbstgesteuerte Lernen – die Kinder zugegen. Kritik durfte natürlich nicht pädagogisch überhöhte Schwärmerei
mit schlechteren Voraussetzungen, geäussert werden, schliesslich handel- an, wenn er niederschreibt, was doch
weil sie sich eben schlechter selbst or- te es sich bei den in den Vorträgen er- eigentlich jedem halbwegs vernunft-
ganisieren können und einer engen sonnenen Bildungsphantasien um das begabten Individuum aufgehen müss-
Bindung und Anleitung bedürfen. […] Nonplusultra der Bildungszukunft. Ich te: «Der Erwerb von Allgemeinbildung
Mittelschicht-Elternhäuser können ih- fragte mich regelmässig, ob die Redner in hoch entwickelten Gesellschaften ist
ren Kindern zuhause das an Systematik tatsächlich mal längere Zeit in einer eben über weite Strecken kein Kinder-
und Übung nachliefern, was die neue Schule verbracht hatten und ob auch spiel, sondern erste harte Arbeit – zu-
Methodenlehre in der Schule nicht nur einer von ihnen aus einem bil- mal in Fächern, die einem nicht liegen;
mehr leistet und leisten will. Die ande- dungsfernen Elternhaus stammte, mal bei Lehrern, zu denen man keinen
ren haben dann schlicht Pech gehabt. ganz echte Disziplinprobleme in der Draht bekommt; in der Pubertät, wo
Und das soll nun fortschrittlich sein?»59 Schule hatte oder sich in irgendeiner die Lust am Bildungskrempel der Er-
Weise in Kinder und Jugendliche aus wachsenen vordergründigeren Reizen
Ähnlich klingt es auch bei Martin Spie- bildungsfernen Schichten hineinver- weicht. Ausserdem ist Schule aus gu-
wak: «Während es einem Schüler aus setzen kann. Alles frei, alles selbststän- tem Grund auch eine kollektive Veran-
dem bildungsbürgerlichen Berlin-Mit- dig, alles toll. […] So eine romantische staltung – spätestens jetzt sollten jun-
te leichtfallen mag, sich den Unter- Ätzsosse findet tatsächlich Anklang bei ge Menschen lernen, ihre individuellen
richtsstoff selbst zu erarbeiten, kann hochgebildeten Menschen? […] Ich Bedürfnisse mit den Notwendigkeiten
der Hartz-IV-Junge aus Neukölln damit gebe es zu: Ich komme aus einer eher einer Gruppe auszutarieren.»63
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In der Folge wirft Felten die Frage auf, nannt. Und in der Tat zählen nicht we- kürzlich so: «Ich konnte fast nicht glau-
warum nur das Pädagogische nicht ge- nige Lehrpersonen zu den flammends- ben, dass diese Schülerinnen und Schü-
gen Kitsch gefeit ist – und liefert gleich ten Verehrern von Exponenten wie ler – obwohl sie im leistungsstärksten
selbst eine mögliche Antwort: «Viel- Hüther, Precht oder Fratton: Sie reisen Niveau waren – wirklich überhaupt kei-
leicht, weil Erziehungs- und Bildungs- zu deren Vortragsveranstaltungen, nerlei Bock darauf hatten, Französisch
fragen eine gewisse Vieldeutigkeit in- berichten im Lehrerzimmer mit leucht- zu lernen. Während meinen Praktika
newohnt – nur selten sind die Dinge enden Augen von der Lektüre ihrer hatte ich schlicht nicht realisiert, dass
nämlich exakt richtig oder falsch, meist Bücher oder gründen «Potenzialent- die Klassen nur deshalb so gut mit-
geht es um ein «sowohl als auch» oder faltungs-Fan-Gruppen» in sozialen machten, weil hinten im Zimmer gleich-
ein «von Fall zu Fall». Hinzu kommt, Netzwerken. zeitig auch immer noch ihr Klassenleh-
dass sich die Folgen heutigen Handelns rer sass, der zuvor schon zwei Jahre
in Familie wie in Schule oft erst nach Martin Spiewak hat sich Gedanken da- lang auf dieses kooperative Verhalten
Jahren zeigen. Nicht zuletzt ist Erzie- rüber gemacht, warum das so sein ihrerseits hingearbeitet hatte.»
hen wie Unterrichten zwar schön, aber mag: «Die Sehnsucht, endlich von den
auch mühselig – da braut sich dann Mühen des Alltags zwischen erster Wie bei Kierkegaard und Camus?
schnell mal die Sehnsucht nach einfa- Stunde und abendlicher Klassenar- Wenn diese Interpretation tatsächlich
chen Lösungen zusammen.»64 beitskorrektur befreit zu werden, zutreffend sein sollte, bestünde zwi-
scheint gross zu sein. Ebenso die Hoff- schen jenen Lehrpersonen, die Hoff-
Primär auf der «Zeitgeist-Schiene» ar- nung, dass es doch eine andere Welt nungen in die Exegeten einer ganz
gumentiert Peter Müller: «Das Konzept gibt. Eine Welt, in der die Schüler ganz neuen Schulkultur setzen, und jenen,
[…] erfreut sich auch deshalb so grosser von alleine einsehen, dass sie sich an- die dies verweigern, eine ganz ähnli-
Beliebtheit, weil es gezielt Wünsche strengen müssen. In der Lehrer nicht che Konstellation, wie sie in der Philo-
bedient, die in den letzten Jahren im- mehr Lehrer sind, sondern Coaches sophie – notwendigerweise verein-
mer lauter von Eltern und Bildungspo- und, ja, Freunde. «Aus der Alltagsver- facht dargestellt – zwischen Sören
litikern geäussert worden sind: […] der zweiflung vieler Lehrer erwächst der Kierkegaard auf der einen und Albert
Wunsch nach einer Schule, an der die Wunsch nach Feldgottesdiensten und Camus auf der anderen Seite zu finden
Kinder ohne […] Stress […] die gleichen Priestern», sagt der Journalist und Fil- ist. Wie ist das gemeint? Sowohl Kier-
Lernerfolge erzielen […].»65 Gleichzei- memacher Reinhard Kahl.»67 kegaard als auch Camus zählen zu den
tig erhebt Müller in diesem Kontext Vertretern der Existenzphilosophie.
schwere Vorwürfe: «Schule als soziales Sollten Spiewak und Kahl recht haben, Beide erkennen im menschlichen Da-
Paradies darzustellen und Lernen als könnte man die Affinität einer nicht sein den Ausdruck von Absurdität. So
eine Mischung aus Trendsportart, Well- unwesentlichen Anzahl von Lehrperso- beschreibt Camus in seinem Schlüssel-
nessprogramm und Selbstfindungspro- nen für grosssprecherische Revolutions- werk «Der Mythos von Sisyphos» das
zess zu beschreiben, ist schlichtweg Phantasien also dahingehend deuten, Absurde unter anderem im Missver-
unehrlich. […] Auch wenn wir uns als dass diese Lehrpersonen in ihrem Be- hältnis zwischen den menschlichen Be-
Eltern und Lehrer vielleicht nach einer rufsalltag nicht das vorfinden, was sie strebungen und der Wirklichkeit, im
solchen Schule sehnen, wissen wir doch sich vielleicht einst im Rahmen ihrer Widerspruch zwischen den wirklichen
alle, dass Lernen oft auch ein mühsa- Berufswahlfindung aufgrund ihrer ei- Kräften des Menschen und den ge-
mer Prozess ist und dass die Gegenstän- genen Schulbiographie vorgestellt hat- steckten Zielen, zwischen Hoffnung
de nicht immer interessant sind. Genau ten. Und dass sie sich mit dieser ihrer und Ergebnis.
das wird aber ausgeblendet. Uns wird persönlichen Berufsrealität nicht abfin-
[…] eine Welt des Lernens vorgegau- den können oder wollen, sodass ihnen Übertragen wir diese Beschreibung in
kelt, die es nicht geben kann.»66 jeder marktschreierische Aufruf hin zu den Kontext des schulischen Berufsall-
einem angeblich idealen Schulkosmos tags, vermögen wir durchaus Paralle-
Die Attraktivität revolutionärer als Strohhalm erscheinen muss, an den len zu erkennen: So kann es beispiels-
Ansätze für Lehrpersonen man sich in der Hoffnung klammern weise berechtigterweise als «absurd»
Bei seiner Aufzählung jener Personen- kann, doch noch eine schönere, harmo- empfunden werden, dass man als Lehr-
gruppen, die sich manchmal eine uto- nischere Unterrichtswelt zu finden. person eine Unterrichtseinheit inhalt-
pische Schulrealität herbeisehnen, hat Eine junge Kollegin aus dem Aargau lich und methodisch perfekt vorberei-
Peter Müller also neben den Eltern formulierte ihren eigenen «Praxis- tet und folglich theoretisch einem er-
auch die Lehrpersonen explizit mitge- schock» zu Beginn ihrer Berufstätigkeit folgreichen Lernprozess nichts im
2013/14-02

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Wege zu stehen scheint – und dennoch lernwillig, pflegeleicht im Umgang und


die Möglichkeit besteht, dass die Un- überdurchschnittlich intelligent sind.
terrichtseinheit zu einem Flop wird, Kommt dann ein Prophet (oder wenigs-
beispielsweise verursacht durch schlich- tens ein goldenes Kalb) um die Ecke
te Unlust oder ungenügende Leis- und verspricht ihnen, dass sich diese
tungsbereitschaft der Schulklasse oder Vision tatsächlich erschaffen lasse,
durch zig andere Faktoren. Oder aber wenn man nur seinen Anleitungen Fol-
– um ganz eng am Bild des für alle ge leisten würde, dann neigen sie dazu,
Ewigkeit seinen Stein bergan rollenden diesen Akt des Vertrauens zu leisten.
Sisyphos zu bleiben – man führe sich
vor Augen, wie man eine Lerngruppe Die «Camus» unter den Lehrpersonen 1, 10, 11
Matthias Burchardt, Expertendämme-
mit beträchtlichem Aufwand auf einen dagegen sind dazu in der Lage, solche rung, http://bildung-wissen.eu/kommentare/
bestimmten Leistungs- oder Wissens- Absurditäten auszuhalten, sie als Be- expertendaemmerung.html
stand bringt, um nach Ablauf eines standteil der eigenen Existenz hinzu- 2-4, 6-9, 50, 60, 67
Martin Spiewak, Die Stunde der
Wochenendes, das ein Teil der Schüler- nehmen, ohne zu verzweifeln oder sich Propheten, DIE ZEIT, 29.08.2013
schaft fast vollumfänglich vor den Bild- den Heilslehren eines Gurus zu ver- 5, 17, 56, 61, 63-64
Michael Felten, Schule ist kein
schirmmedien verbracht hat, festzu- schreiben. Weil sie wissen, dass die Ar- Paradies, Kölner Stadt-Anzeiger, 11.05.2013
stellen, dass man im Prinzip noch ein- beit mit jungen Menschen auch bein- 12
Ulrich Schnabel, Märchenhaftes Versprechen,
mal von vorne anfangen muss. Die haltet, gewisse Herausforderungen DIE ZEIT, 06.09.2013
potenziellen Widrigkeiten der Wirk- immer und immer wieder in gleicher 13
Gerhard Roth, Der Weg ins Klassenzimmer ist
lichkeit übersteigen das Steuerungs- oder ganz ähnlicher Form meistern zu dornig, DIE ZEIT, 05.09.2013
vermögen der menschlichen Anstren- müssen. Und dass dafür ein gerüttelt‘ 14, 18, 20, 34, 36, 39
Peter Keller, Schönschwätzer und
gung in der Tat um ein Vielfaches. Mass an pädagogischer Standhaftigkeit Schulkritiker, Die Weltwoche, 02.05.2013
unabdingbar ist. Mehr noch: Camus‘ 15
Ingo Juknat, «Precht im ZDF – Bauchredner
«Vivre, c’est ne pas se résigner» berühmter letzter Satz im «Mythos von trifft Puppe und der Aufstand von unten»,
Die entscheidende Frage ist nun, wie Sisyphos» lautet: «Wir müssen uns Sisy- Waz.m.derwesten.de, 03.09.2012
mit dieser erlebten Absurdität umge- phos als einen glücklichen Menschen 16, 21, 23-25, 29, 30, 32-33, 35, 41
Mathias Brodkorb, Eine
gangen wird: Kierkegaard sieht den vorstellen.» Weil er in sein eigenes Da- Chemotherapie für die Schule?, PROFIL 6/2013
Glauben, das Transzendente als Aus- sein einwilligt und so Herr seines 19, 22, 26-28, 37
Jürgen Kaube, Oh ihr Rennpferde,
weg, welcher Heilung von der «Krank- Schicksals bleibt, indem er sich redlich fresst einfach mehr Phrasenhafer!, Frankfurter
heit des Absurden» ermöglicht. Genau und tapfer auf dem schwindelerregen- Allgemeine Zeitung, 28.04.2013
das lehnt Camus entschieden ab. Er will den Grat der Absurdität hält, ohne die 31, 53-55, 57, 59
http://www.nachdenkseiten.
radikal der Vernunft treu bleiben und Flucht ins Irrationale anzutreten. de/?p=18451
bezeichnet den Sprung in den Glau- 38, 40
Konrad Paul Liessmann, Theorie der
ben, diesen «blinden Akt des Vertrau- «Vivre, c’est ne pas se résigner», schrieb Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesell-
ens», gar als «philosophischen Selbst- Camus in einem seiner autobiographi- schaft, München 2010
mord». Deshalb wirft Camus Kier- schen Essays, die unter dem Titel «No- 42
vgl. dazu auch «Perlenfischen», lvb.inform
kegaard (und anderen Denkern wie ces» veröffentlicht wurden. «Alors, 01/2013-14
Jaspers oder Heidegger) «mystisches débrouillez-vous!», ist man versucht, 43-45, 48, 52, 58
Eberhard Keil, Schöne neue
Denken» vor, welches er als unzulässig hinzuzufügen. Und zwar ohne dabei Lernkultur, http://bildung-wissen.eu/
taxiert, weil es die Grenzen der Ver- jenen Flötentönen zu erliegen, die in wp-content/uploads/2013/06/Keil_Schöne-
nunft überschreite. der Sage den Kindern von Hameln zum neue-Lernkultur2.pdf
Verhängnis wurden. 46
Der Beobachter, Heft 8/2007
Diesen Unterschied wiederum in die 47
Thurgauer Zeitung, 22.09.2012
Schulrealität zu übertragen bedeutet 49
Josef Kraus, Bildung geht nur mit Anstren-
Folgendes: Die «Kierkegaards» unter gung, Classicus Verlag, 2011
den Lehrpersonen nehmen Absurditä- 51, 65, 66
http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/
ten des Alltags als Anlass, um inständig schule-und-unterricht/das-musterlandle-auf-
auf eine andere, ja die ideale «schuli- schulpolitischen-abwegen.html
sche Daseinsform» zu hoffen, in der alle 62
http://frauella.wordpress.com/2013/08/30/
Schülerinnen und Schüler permanent die-stunde-der-propheten/

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