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BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– Griechenland € 7,– Norwegen NOK 82,– Polen (ISSN00387452) ZL 32,– Slowakei € 6,60 Spanien

32,– Slowakei € 6,60 Spanien € 6,50 Tschechien Kc 185,- Printed in


Dänemark dkr 53,– Frankreich € 6,50 Italien € 6,50 Österreich € 5,80 Portugal (cont) € 6,50,– Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren € 6,70 Ungarn Ft 2350,- Germany

Warum die Grünen die


Partei der Stunde sind
Nach Bayern, vor Hessen

harmlosen Gras
Jugendliche Kiffer
Das Märchen vom
Aufholjagd
Beilage »Futura«
Europas digitale
die Weltpolitik erschüttert
Wie ein grausiges Verbrechen
UND DER MORD
DER PRINZ
Nr. 43 / 20.10.2018
Deutschland € 5,10
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Was hat
Hausmitteilung Günter Grass
Betr.: Stephen Bannon, Karrieren, SPIEGEL FUTURA
nicht gemacht?
USA-Korrespondent Christoph Scheuermann
saß mit einem Informanten in New York beim a Komponiert
Frühstück, als Stephen Bannon, der frühere
Chefstratege Donald Trumps, auf dem Telefon b Getanzt
seines Gegenübers anrief. Er liebe den SPIEGEL,
ließ Bannon ausrichten. Ob man sich mal zum c Gemalt
Kaffee treffen wolle? Er habe Pläne für eine
neue rechte Bewegung in Europa. Bannon ent- d Geschrieben
puppte sich als schwer berechenbar. Mal ließ
Bannon, Scheuermann in Rom er Termine platzen, mal verschickte er im Mi-
nutentakt Textnachrichten von seinem Smart-
phone. Als Scheuermann im September fragte, wann man sich denn sehen könne,
antwortete Bannon: »Können Sie übermorgen in Rom sein?« Scheuermann stieg ins
Flugzeug und fand ihn in einer Hotelsuite in der Nähe des Vatikans. Bannon verfüge
nicht mehr über die Macht eines Regierungsapparats, sagt Scheuermann, er versuche
jetzt die Medien zu benutzen, um seine Botschaften zu verbreiten. Seite 100

Das Gerücht, der Vorsitzende der jüdischen


Gemeinde im Hamburger Vorort Pinneberg
sei gar kein Jude, schien zu skurril, um wahr
zu sein. SPIEGEL-Mitarbeiter Moritz Gerlach
und Redakteur Martin Doerry gingen dem
Verdacht trotzdem nach. Nach monatelanger
JAN HELGE PETRI

Recherche in mehr als 20 Archiven und Ge-


sprächen mit vielen Zeitzeugen stellten sie fest:
Der seit 15 Jahren amtierende Wolfgang Seibert
ist ein mehrfach vorbestrafter Betrüger und Doerry, Gerlach
Hochstapler. Und tatsächlich kein Jude. Doerry
und Gerlach konfrontierten den Mann vergangenen Montag. »Zuerst hat er wider-
sprochen«, sagt Gerlach. »Aber dann räumte er ein, dass die Holocaust-Geschichte
seiner Familie erfunden ist.« Seite 74

Taschenbuch. € (D) 6,–. Verfügbar auch als E-Book


Mit Virtual Reality und künstlicher Intel-
ligenz, Robotics und Blockchain erleben
wir technische Entwicklungen, die weit-
reichende wirtschaftliche, gesellschaftliche
und politische Folgen haben, die digitale Wer gilt als Erfinder der Kriminalliteratur?
Revolution verändert die Ordnung der Wogegen hat Michael Endes Romanfigur
Welt. Wie kann es Europa künftig gelin- Momo zu kämpfen? Und wie viele Verse hat
gen, sich im technischen Wettbewerb mit ein Sonett? Testen Sie Ihr Wissen mit dem
den USA und China zu behaupten? Was großen SPIEGEL-Wissenstest Literatur:
ist nötig, um die Errungenschaften des de-
JAN HELGE PETRI

150 Fragen aus allen Genres und quer durch


mokratischen, freiheitlichen Kontinents
zu bewahren? Mit diesen Fragen beschäf-
die Geschichte – knifflig, überraschend,
tigt sich die erste Ausgabe von »SPIEGEL lehrreich und immer unterhaltsam.
Kuppi, Dohrmann, Hundertmark, Schnurr FUTURA – Ideen für die Welt von mor-
gen«, die diesem Heft beiliegt. Das Supple-
ment stellt Visionäre und Pragmatiker vor, die unsere Zukunft ent-
werfen. Konzipiert und gestaltet haben es Lynn Dohrmann, Elsa
Hundertmark, Jens Kuppi und Eva-Maria Schnurr. Überall im Heft
lassen sich mit dem Smartphone und einer App verborgene Inhalte
sichtbar machen, die Printbeilage wird durch Augmented Reality
digital. SPIEGEL ONLINE widmet sich nun einen Monat lang in
einem Themenschwerpunkt der Digitalisierung von Wirtschaft und
Gesellschaft, am 19. und 20. November findet schließlich in Hamburg
die SPIEGEL-Konferenz »Futura« statt.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 5 www.spiegel.de www.kiwi-verlag.de


Inhalt
72. Jahrgang | Heft 43 | 20. Oktober 2018

Titel Bayern Warum die Freien


Wähler bei der Wahl so gut
Saudi-Arabien Grausiger Krimi abgeschnitten haben . . . . . . . . 52
um den Thronfolger und das
Verschwinden eines Gegners 14 Nach 42 Jahren verlässt
Barbara Stamm den Landtag –
Ex-FBI-Agent Ali Soufan über und fordert ihre CSU
mögliche Motive für einen zu Veränderungen auf . . . . . . 54
Auftragsmord an Khashoggi 20
Rauschmittel Cannabis, die
unterschätzte Gefahr . . . . . . . 56
Deutschland
Eltern berichten, wie ihre
Leitartikel Warum die SPD Tochter in die Sucht abglitt 64
die Große Koalition verlassen
sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Terrorismus Der Mann im
Tower von Mogadischu

DOMINIK BUTZMANN / LAIF


Meinung Der schwarze Kanal / erzählt von der Entführung
So gesehen: Minister des der »Landshut« . . . . . . . . . . . . . 66
Innersten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Merkel erteilt Scholz’ Idee einer Gesellschaft


europäischen Arbeitslosenver-
sicherung eine Abfuhr / Seehofer Früher war alles schlechter:
droht Söder mit Abrechnung /
Unionspolitiker wollen Zuwan-
Grüner wird’s nicht Der Sinn von Strafen / Wie
findet man die richtige
derungsgesetz verschärfen . . . . 24 Den Grünen gelingt gerade fast alles: Stimme für den Bahnhof? . . . 72

Grüne Der Aufstieg der Partei Die Umfragewerte im Bund sind so hoch wie Eine Meldung und ihre
gefährdet ihre Identität . . . . . 28 seit Jahren nicht mehr, in Bayern Geschichte Warum eine
wurden sie zweitstärkste Kraft, in Hessen läuft Amerikanerin einen Bären
SPIEGEL-Gespräch mit es ähnlich gut. Woher kommt der Erfolg? in ihrem Auto einschloss . . . 73
Robert Habeck über den
Aufstieg seiner Partei . . . . . . 36
Und worüber könnten sie stolpern? Seiten 28, 36 Karrieren An der Spitze
einer jüdischen Gemeinde
Regierung Wie sich Armin steht ein Mann, der
Laschet und Christian Lindner kein Jude ist – die Geschichte
eine Neuauflage von Jamaika eines Hochstaplers . . . . . . . . . . 74
vorstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Homestory Was in jungen
Gleichstellung Die FDP will Leuten vorgeht, die Post von
ihr Frauenproblem lösen ... 42 der Rentenkasse kriegen . . . 80

Konjunktur SPIEGEL-Gespräch
BASTIAN BOCHINSKI

mit Wirtschaftsminister Wirtschaft


Peter Altmaier über seine
Pläne für den Industriestandort KBA prüft neueste Opel-
Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Modelle / Spotify & Co. erlösen
bald mehr als Radiosender /
Brexit Minister Olaf Scholz Deutsche Bank mit
auf Werbetour für den Nazis wegrocken Compliance-Problem . . . . . . . . 82
Finanzplatz Frankfurt . . . . . . 47
Das Chemnitzer Konzert gegen rechts hat die Konzerne Der Konflikt
Landtagswahlen Die Hessen- vorpommersche Punkband Feine Sahne Fischfilet zwischen VW und Prevent
Wahlkämpfer Volker Bouffier zeigt, wie fragil das
und Thorsten Schäfer-Gümbel
vollends bekannt gemacht. Sie spricht Verhältnis zwischen
wollen von Berlin nichts all jene an, die jung und wild sein wollen – aber Herstellern und Zulieferern
wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 keine »Faschobratzen«. Seite 132 mittlerweile ist . . . . . . . . . . . . . . 84

6 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


BENJAMIN GÜDEL / DER SPIEGEL
Prozesse Wie sich ein Berliner Wissenschaft
Unternehmer gegen den
Techriesen Apple wehrt . . . . 87 Fürsorgliche Gorillas haben
mehr Sex / Windkraftanlagen
China Die Elektronik- machen zu viel Lärm /
metropole Shenzhen will Kommentar: Höherer Finder-
sich neu erfinden . . . . . . . . . . . 88 lohn für Schatzfinder . . . . . . . 114

Finanzkrise Die Staats- Medizin Wie es Genforschern


garantie zur HRE-Rettung Umkämpftes Gras gelingt, das gesundheitliche
diente auch dazu, gravierende Schicksal der Menschen besser
Fehler der Bundesbank In Kanada kann man seit wenigen Tagen Cannabis vorherzusagen . . . . . . . . . . . . . 116
zu vertuschen . . . . . . . . . . . . . . . 91 als legales Genussmittel kaufen, in Deutschland
Forschung Wem gehört das
Lufthansa Teure Rekonstruk-
streiten Politiker erbittert über eine Freigabe der Wissen der Welt? . . . . . . . . . . 122
tion eines Flugzeug-Oldies 94 Droge. Vor allem Kinder und Jugendliche
wären gefährdet, meinen die Gegner. Seiten 56, 64 Geschichte Ein deutscher
Historiker erklärt
Ausland die seltsamsten Orte
der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . 126
Warum der orthodoxen
Kirche die Spaltung droht / Das Schicksal in den Genen Gartenpflege So gefährlich
Der frühere US-Botschafter sind Rasenmäher . . . . . . . . . . 128
Philip Murphy über die Forscher haben das Erbgut von Hunderttausenden
bevorstehenden Midterm- analysiert, um die Ursachen großer Volksleiden
Wahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Kultur
zu finden. Nun lässt sich überraschend gut
USA Wie Donald Trumps vorhersagen, ob jemand an Herzinfarkt, Diabetes Fotoausstellung »Antarktika« /
Ex-Stratege Stephen Bannon oder Alzheimer erkranken könnte. Seite 116 Dokumentarfilm »Ex Libris:
Europa nach rechts Die Public Library von New
rücken will . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 York« / Kolumne: Zur Zeit . 130

Kommentar Weshalb die EU Pop Ostdeutschland auf den


bei den Brexit-Verhandlungen Punk gebracht: die linke Band
Zugeständnisse machen Feine Sahne Fischfilet . . . . . 132
sollte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Sängerinnen Berühmt
Frankreich Präsident wurde sie mit »Je t’aime«,
Emmanuel Macron versucht nun veröffentlicht sie
einen Neuanfang . . . . . . . . . . 106 ihre Tagebücher – ein
Besuch bei Jane Birkin . . . . 136
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Sport Literatur »Mittagsstunde«


mit Dörte Hansen . . . . . . . . . 140
Profifußball im Visier der
Wettmafia / Magische Theaterkritik Die Dramen der
Momente: Das Erfolgsgeheimnis Antike in dem zehnstündigen
der Sensationsmannschaft Bühnenmarathon »Dionysos
F91 Düdelingen . . . . . . . . . . . . 109 Stadt« an den Münchner
Kammerspielen . . . . . . . . . . . 144
Sexueller Missbrauch Neue Unter Nordverdacht
Anschuldigungen gegen
Nationalhelden erschüttern Mit ihrem Debüt »Altes Land« wurde Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
die Skination Österreich 110 Dörte Hansen zur Fachfrau für warmherzige Impressum, Leserservice . . . 146
Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Justiz Die schlampige Arbeit
Prosa aus dem hohen Norden. Jetzt kommt Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 148
der Ermittler in der ihr zweiter Roman »Mittagsstunde«. Eine Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Sommermärchen-Affäre . . . 113 Begegnung mit der Autorin in Husum. Seite 140 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 154

Titelfotos [M]: Bloomberg via Getty Images; Photothek via Getty Images; Anadolu Agency/Getty Images; Fotos Grüne: Andrea Grambow & Joscha Kirchknopf 7
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Abschied von Godesberg


Leitartikel Wenn die SPD überleben will, braucht sie einen radikalen Schnitt.

D
er SPD geht es schlecht, historisch schlecht. Von der zuweilen mit einer sehr eigenen Sprache Milieus er-
Angst getrieben und von Selbstzweifeln zerfres- schloss, die sonst vielleicht gar nicht gewählt hätten, wusste
sen, irrlichtern die Genossen durch die politische das übrigens schon. »Hol mir mal ’ne Flasche Bier«, rief er.
Landschaft. Gut 150 Jahre nach ihrer Gründung Und plötzlich war Politik nahbar.
geht es um die Frage, ob die stolze, alte Sozialdemokratie Die Wähler emotional ansprechen, das heißt für die
überhaupt noch eine Zukunft hat. Und die Antwort von SPD: Programm entrümpeln, Botschaften vereinfachen,
Parteichefin Andrea Nahles lautet, dass man endlich anfan- Klarheit lernen, lebensnahe Themen richtig besetzen. Die
gen müsse, redlich und ruhig zu regieren. Schulmisere, das Verwaltungschaos, die Wohnungsnot, die
Das ist, mit Verlaub, Unsinn. Um die politischen Um- Drogenpolitik, die Pflege. Die SPD muss ein Stück zurück
wälzungen im deutschen und europäischen Parteiensystem in die Nische, die sie 1959 mit dem Godesberger Programm
zu überstehen, wird solide Regierungsarbeit für die SPD verließ. Und natürlich muss sie nach links. Es gibt in
nicht ausreichen, selbst wenn die Deutschland alles, nur keine
Große Koalition dazu noch ernst zu nehmende Kritik an
einmal in der Lage wäre. Um den Verzerrungen des globalen
zu überleben, braucht die SPD Kapitalismus, keinen Bernie
einen Bruch. Auch wenn das Sanders, keinen Jeremy Corbyn.
schmerzhaft ist: Sie braucht Die teils grotesken Ungerech-
einen Schnitt, personell, macht- tigkeiten unseres Wirtschafts-
politisch, vor allem aber, was das systems müssten es den Sozial-
eigene Selbstverständnis angeht. demokraten eigentlich leicht
Die SPD muss den Anspruch auf- machen zu emotionalisieren.
geben, Volkspartei zu sein, wenn Nur müsste die SPD dafür Din-
sie jemals wieder eine werden ge radikaler infrage stellen. Die
OMER MESSINGER / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

will. Weg von Godesberg. Verteilung von Reichtum, das


Bisher versuchten die Genos- Finanzsystem, internationale
sen, sich breiter aufzustellen, je Allianzen. Sie müsste auch mal
weniger Zuspruch sie erhielten ihre Liaison zur Autoindustrie
und je stärker die Konkurrenz wur- kündigen und ernsthaft durch-
de. Mal geben sie sich linker als buchstabieren, was sie darunter
die Linken, mal pragmatischer als versteht, wenn sie fordert, glo-
die Union, mal fast so populistisch bale Netzkonzerne einzuhegen.
wie die AfD. Aus Angst, weitere Dorthin gehen, wo es stinkt und
Wähler zu verprellen, versuchen brodelt, riet Sigmar Gabriel
sie, für so gut wie jeden etwas im einst seiner Partei. Das heutige
Angebot zu haben. Das hat die Führungsduo erscheint nicht
Partei entwertet, sie wirkt beliebig mal in Chemnitz.
und haltungslos. Die SPD ist zum Hertie der Politik gewor- Wahlen werden in der Mitte gewonnen, heißt es, und
den. Ein großes Kaufhaus, in das niemand mehr kommt. auch ansonsten wird es immer Argumente dagegen geben,
In Zeiten der Kanzler Willy Brandt oder Helmut dem Bauch mehr als dem Kopf zu folgen: die wirtschaft-
Schmidt war es für viele Menschen selbstverständlich, SPD lichen Folgen, die Glaubwürdigkeit. Aber wer sich nicht
zu wählen. Aber wer den Populismus bekämpfen will, mehr traut, kantige Haltungen einzunehmen, wird nieman-
muss verstehen, dass Politik anders funktioniert als in den den gewinnen. Die SPD muss auf Risiko setzen und bereit
Siebzigern und Achtzigern. Wer im heutigen politischen sein, sich wieder Feinde zu machen. Nur so wird sichtbar,
System ernst genommen werden will, muss zunächst ein- ob sie noch lebt.
mal wahrgenommen werden. Politik ist ein Konsumgut ge- In der Großen Koalition kann sich die SPD nicht retten.
worden, notfalls wechseln die Wähler eben den Laden. Jeder Kompromiss macht sie noch weniger erkennbar, als
Nahles setzt auf die Klassiker Rente, Löhne und Arbeits- sie es schon ist. Die Radikalität, die die Partei jetzt braucht,
plätze. Aber es reicht nicht mehr, materielle Versprechun- ist in der Regierung nicht möglich. Ein Bruch der Koalition
gen zu machen. »It’s the economy, stupid«, war Bill Clin- wird schwierig, man wird den Genossen Verantwortungs-
tons Motto, er gewann so einst eine Präsidentschaftswahl. losigkeit vorwerfen. Doch das Bündnis hat nie geleistet,
»It’s emotion, stupid«, muss es heute heißen. Wer nur die wofür es gebildet wurde. Es stabilisiert das Land nicht, im
fachliche, nicht aber die sinnliche Ebene bespielt, verliert Gegenteil. Die Genossen sollten gehen. Diese Koalition ist
gegen die Links- und Rechtsextremen. Gerhard Schröder, es nicht wert, dass sich die SPD für sie opfert. Veit Medick

8 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Exklusives Anbaugebiet Holsthum bei Bitburg im Naturpark Südeifel

So gut kann
Bier schmecken.

Andreas Dick,
Hopfenbauer für Bitburger

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Hallertau in Bayern, eines der Erfahrung angepflanzt wird
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im Naturpark Südeifel. Diese position aus Hallertauer und
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Meinung So gesehen

Ufer und Abgrund


Horst Seehofer und Ludwig II.
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
G Man konnte sich bislang kaum

Reden Sie nicht über Falten! vorstellen, was in Ludwig II., dem
Bayernkönig, vorging, als er am
Ufer des Starnberger Sees stand.
Darf man über Angela Mer- heit, wo die Grenze verläuft. Eine Und mit dem Leben und mit dem
kel sagen, dass sie müde Frage ist, ob man über eine Politikerin Tode rang.
aussieht? Im ARD-»Presse- noch sagen dürfte, dass sie jung und Das ist nun anders, jetzt, da ein
club« hat neulich ein Jour- unverbraucht wirke. Das bezieht sich anderer großer Sohn Bayerns,
nalist erklärt, man sehe der ja, zumindest teilweise, ebenfalls Horst Seehofer, der Nation Einblick
Kanzlerin die Erschöpfung auf das Äußere. Es stimmt übrigens in seine Seele gewährt hat, da er
an. Die 13 Jahre im Amt hätten auch nicht, dass bei Männern nicht sich wandelt vom Minister des
ihr erkennbar zugesetzt. Er wurde über das Aussehen gesprochen wird. Innern zum Minister des Innersten,
daraufhin von einer Journalistenkolle- Die Diskussion über den dunklen seines Innersten. Da sitzt er nun
gin zurechtgewiesen, dass es nicht okay Haaransatz von Gerhard Schröder in Preußen an der Spree und stellt
sei, bei einer Frau über Falten zu reden. beschäftigte die deutsche Öffentlich- sich coram publico existenzielle
Bei Adenauer oder Schröder habe man keit über Wochen. Und »Birne« Fragen: Geh ich nun, oder geh ich
das auch nicht getan. »Dass Frauen auf meinte nicht die Form der Schuhe nicht? Soll ich weitermachen oder
ihr Äußeres reduziert werden, ist All- bei Helmut Kohl. aufhören?
tag«, las ich anderntags bei den Kolle- Es ist eigenartig: Während in einem
gen von »Bento«. »Zum Glück gibt es Teil der Gesellschaft immer zügelloser
Journalistinnen, die darauf aufmerksam geredet wird, nimmt in einem anderen
und sich für Frauen stark machen.« die Rücksicht beständig zu. Mir wäre
Ich mag mich irren, aber ich glaube, es lieber, man würde sich in der Mitte
hier deutet sich eine neue Regel für treffen, also weniger Enthemmung hier,
das Reden über Politik an. Nach dem dafür etwas mehr Entspanntheit dort.
üblichen Verlauf solcher Debatten zu Die meisten Menschen machen sich
urteilen, sind bald nicht nur Beleidi- ohnehin ihre ganz eigenen Gedanken
gungen tabu, wie sie noch bei Wehner über die Politiker, die sie im Wahl-
oder Strauß an der Tagesordnung kampf sehen. Der einzige Weg, dieses
waren, sondern auch Beschreibungen, zu unterbinden, wäre ein generelles Dem Seehofer steht das Wasser bis
die als zu kritisch empfunden werden Bilderverbot, so wie bei Blindbewer- zum Hals, sagen die Preußen. Bayern
könnten. Wenn ich einen Politiker bungen, wo es keine Fotos gibt. Man ist ein Paradies, schwärmt Seehofer
sehe, der so dick ist, dass er sein könnte dann auch auf Alters- und in Berlin und schaut traurig wie ein
Jackett nicht zubekommt, frage ich Geschlechtsangaben verzichten. Wer alter Beagle über die Spree. Selbst
mich unwillkürlich, ob er auch im weiß, vielleicht ist das der nächste den Preußen kommen da die Tränen,
Umgang mit Steuergeldern nicht Nein Schritt hin zu einer vorurteilslosen na, sagen wir: einigen Preußen.
sagen kann. So darf man natürlich Politikbetrachtung. Klar wünscht man diesem großen
nicht denken, das ist mir bewusst. Bayern einen Platz im Paradies.
Wie immer, wenn man Neuland An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Aber das sagt man nicht, dazu hat
betritt, besteht am Anfang Unsicher- Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. man auch in Berlin zu viel Pietät.
Das könnte falsch verstanden wer-
den. Ludwig II. stand am Ufer des
Kittihawk Starnberger Sees, dann versank er.
Seehofer dagegen trieb schon im
Rhein. Und überlebte bestens.
Was der Seehofer alles durchlit-
ten hat. Er sei »verbrannt, aufge-
hängt und in den Rhein gekippt
worden«. Wenn die Macht sich
verflüchtigt, kommt die Sentimen-
talität. Er werde bald 70. Was solle
er da noch für Machtfragen verfol-
gen? »Ich bin froh, wenn ich mich
zu Hause durchsetze.«
Ein Mann am Abgrund also, am
politischen, aber tapfer, ein Steher,
jedenfalls verglichen mit Ludwig II.
»Ich stehe das durch«, sagt Seehofer.
Und Deutschland darf daran teil-
haben. Stefan Berg

10 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


RANGE ROVER EVOQUE BLACK EDITION

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Kronprinz bin Salman: Touristen mit Knochensäge im Gepäck

14
Titel

Tod am Bosporus
Saudi-Arabien Ein grausiger Kriminalfall erschüttert die Weltpolitik: Agenten des saudischen
Thronfolgers und Regenten sollen in der Türkei einen prominenten Kritiker zerstückelt
haben – der Skandal sorgt im Westen für Erschrecken und setzt Donald Trump unter Druck.

D
er Arzt Salah Muhammed Al- ist seit einem Besuch im saudi-arabischen Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed
Tubaigy ist ein Experte mit Konsulat in Istanbul an jenem 2. Oktober bin Salman beteuerte in einem Interview
außerordentlichen Fähigkeiten. verschwunden. mit Bloomberg, Khashoggi habe das Kon-
Sein Spezialgebiet sind schnelle Türkische Ermittler und Geheimdienst- sulat nach kurzer Zeit wieder verlassen.
Autopsien. In einem Interview mit einer ler glauben zu wissen, was in diesen Stun- Der Prinz hat bislang jedoch keine Bewei-
arabischen Zeitung hat er einst damit ge- den passierte: Das Kommando aus Riad se dafür erbracht. Leider seien sämtliche
prahlt, er könne eine Leiche in Rekordzeit wartete nach ihrer Version im Büro des Überwachungskameras ausgerechnet an
in handhabbare Teile zerlegen. Konsuls auf Khashoggi. Die Männer setz- dem Tag ausgefallen. Die Herstellerfirma
Tubaigy hat eine Bilderbuchkarriere im ten ihn unter Drogen und verprügelten des Systems allerdings schwört, das sei
saudi-arabischen Staatsapparat hingelegt: ihn. Dann hackten sie ihm, er war noch technisch unmöglich.
Nach dem Medizinstudium eröffnete er ei- bei Bewusstsein, die Finger ab. Und Eine Anfrage des SPIEGEL ließ das sau-
nes der ersten Forschungsinstitute für Fo- schließlich enthaupteten sie ihn. di-arabische Außenministerium unbeant-
rensik im Nahen Osten. Mittlerweile trägt Anschließend packte Forensiker Tubai- wortet. Laut CNN soll die Regierung eine
er den Rang eines Oberstleutnants und lei- gy seine Knochensäge aus, die er mitge- neue Erklärung vorbereiten, wonach Kha-
tet die Rechtsmedizin im Innenministeri- bracht hatte. Nach Erkenntnissen der Tür- shoggi bei einem aus dem Ruder gelaufe-
um. Er sollte die Forschung in Saudi-Ara- ken soll er sich Kopfhörer aufgesetzt ha- nen Verhör ums Leben gekommen sei.
bien auf den Stand des Westens bringen. ben, um Musik zu hören. Er empfahl den Der Fall Khashoggi erschüttert das Ver-
Nun haben aber er und 14 Männer fürs Leuten im Nebenraum, es ihm gleichzutun. hältnis zwischen Saudi-Arabien und dem
Grobe das Königshaus in eine der schwers- Das mache die Arbeit leichter. Westen. Er gefährdet auch die Herrschaft
ten Krisen seit den Terroranschlägen vom Und dann zerteilte er Khashoggis Leiche. von Mohammed bin Salman, der seine
11. September 2001 gestürzt. »Es war wie bei Tarantino«, sagt ein türki- Macht konsolidiert hat, seit ihn sein Vater,
Laut Ermittlungen der türkischen Poli- scher Fahnder. Die türkischen Behörden sol- König Salman, im Juni 2017 zum Kron-
zei landete Tubaigy am 2. Oktober um len laut einem Bericht der regierungstreuen prinzen ernannte.
3.13 Uhr gemeinsam mit acht saudi-arabi- Zeitung »Yeni Şafak« Tonaufnahmen besit- Der Skandal bringt zudem US-Präsi-
schen Geheimdienstlern und Militärs in ei- zen, die den Mord dokumentieren. dent Donald Trump in Bedrängnis, der
nem »Gulfstream IV«-Jet des Kronprinzen
Mohammed bin Salman am Flughafen Is-
tanbul. Sechs weitere Männer trafen einige
Stunden später mit einer zweiten Maschi- Vordereingang
ne in der türkischen Metropole ein. Jamal Khashoggi betritt am 2. Oktober
Überwachungskameras haben festgehal- um 13.14 Uhr das saudi-arabische Konsulat.
ten, wie Tubaigy in Lederjacke und Rin-
gelpullover den Passschalter passiert. Er
checkte für drei Nächte in einem Hotel
nahe dem saudi-arabischen Konsulat ein, Überwachungskameras
verließ die Stadt in Wahrheit jedoch schon Nach saudi-arabischen
am selben Tag wieder um 22.46 Uhr. Angaben war keine davon
Was in den neunzehneinhalb Stunden am 2. Oktober in Betrieb.
dazwischen geschah, darüber gibt es zwei
Versionen. Und welche auch immer davon
stimmt – auf jeden Fall geht es um einen Saudi-
Krimi, gegen dessen teils grausige, teils arabisches
groteske Details jeder James-Bond-Film Konsulat in
verblasst. Und der seit diesem Tag die der Türkei
Weltpolitik erschüttert. e
traß
aç-S
Das saudi-arabische Fernsehen behaup-
Istan b u l ağ
Ak
DD P/ABACA PR E SS

tet, Tubaigy und seine Kollegen seien als


Touristen nach Istanbul gereist. Schwer zu Hintereingang
glauben, weil die Truppe nach ein paar
Stunden schon wieder mit den Jets nach
Hause verschwand. Die türkische Polizei
ist hingegen überzeugt, dass die 15 Männer
eine entscheidende Rolle spielten bei dem »Macht das woanders, ihr bringt
mutmaßlichen Mord an dem saudi-arabi-
schen Regimegegner Jamal Khashoggi. Er mich in Schwierigkeiten.«
DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 15
Titel

Saudi-Arabien als einen der wichtigsten im Königshaus von Riad und den Schön- im vergangenen Herbst in die USA. »Seit
Verbündeten im Nahen Osten betrachtet heitswahn der Frauen von Dschidda – aber MbS Kronprinz ist, wird sofort und schnell
und privat, als Unternehmer, schon meh- auch über sich selbst, Saudi-Arabiens gro- zurückgeschlagen«, sagte er dem SPIEGEL.
rere millionenschwere Geschäfte mit Sau- ßen Welterklärer. Für die Rebellion bezahlte er einen Preis:
di-Arabern gemacht hat. Und er konfron- Wie kein anderer Journalist war Kha- Seine Frau reichte die Scheidung ein, Ver-
tiert die Europäer einmal mehr mit der shoggi vernetzt im Machtzentrum von wandte brachen den Kontakt zu ihm ab.
Frage, wie sie mit einem Königreich um- Riad. Er wusste von den Allianzen und Khashoggi weigerte sich zu schweigen:
gehen wollen, das durch sein Öl die Welt- der Konkurrenz der Prinzen, und er ver- »Ich kann sprechen, wenn so viele es nicht
konjunktur beeinflussen oder gar in eine stand es lange Zeit, sich sicher im Schutz können«, schrieb er in einer seiner Kolum-
Krise stürzen kann, Menschenrechte je- wechselnder Gönner zu bewegen. Er bau- nen für die »Washington Post«.
doch grob missachtet. te für Prinz Alwaleed Bin Talal, den heute Es heißt, das Königshaus habe im Som-
Bislang schien Mohammed bin Salman, reichsten Mann der arabischen Welt, einen mer noch einmal die Hand ausgestreckt:
33 Jahre alt, nach seinen Initialen kurz Fernsehsender auf. Und vor allem diente Mittelsmänner hätten Khashoggi angebo-
MbS genannt, mit seinem rabiaten Politik- er lange dem damaligen Geheimdienstchef ten, nach Saudi-Arabien zurückzukehren,
stil ungestraft davonzukommen. als Berater von MbS. Er habe
Er konnte einen zerstörerischen das ausgeschlagen. Hat diese
Krieg im Jemen führen, den liba- Entscheidung sein Schicksal be-
nesischen Premier Saad Hariri siegelt?
kidnappen, eine Blockade gegen Der britische Autor John Brad-
Katar verhängen und Widersa- ley, ein langjähriger Weggefährte
cher in Saudi-Arabien reihen- Khashoggis in Saudi-Arabien,
weise wegsperren, ohne dass vergleicht das Haus Saud mit der
irgendetwas davon für ihn oder Mafia, die ihre Gesetze selbst
sein Regime Folgen gehabt hät- schreibt und keine Skrupel kennt.
te. Der Fall Khashoggi ist nun Khashoggi habe sich lange da-

SUSANNE KOELBL / DER SPIEGEL


ein Wendepunkt. rauf eingelassen, sei Teil des Sys-
Khashoggi, bei seinem Ver- tems gewesen. Doch bekanntlich
schwinden 59 Jahre alt, ist mache die Mafia nur lebenslange
schließlich nicht irgendwer. Er Verträge, sagt Bradley. Ausstei-
war bestens vernetzt, Neffe des ger sind nicht vorgesehen. Kha-
Waffenhändlers und Milliardärs shoggis Situation sei am Ende die
Adnan Khashoggi und Cousin eines Mannes gewesen, der ver-
zweiten Grades von Dodi Al- suchte, die Mafia zu verlassen,
Fayed, dem Geliebten der ver- und deshalb »entsorgt« wurde.
storbenen Lady Diana. Khashoggis Verschwinden
Als Journalist war er welt- sorgt inzwischen weltweit für
weit geachtet. Er hat für saudi- Entsetzen: Die Gruppe der sie-
arabische und internationale ben führenden Industrieländer
Medien geschrieben, unter an- G 7 forderte in einer gemeinsa-
derem für den SPIEGEL. Zwei- men Erklärung am Mittwoch
mal übernahm er die Leitung eine »gründliche, transparente
der saudi-arabischen Zeitung und rasche Untersuchung« von
»Al-Watan«, zweimal musste er der saudi-arabischen Regierung.
wegen seiner kritischen Bericht- Trump schickte seinen Außen-
LEFTERIS PITARAKIS / AP

erstattung gehen. Zu Beginn sei- minister Mike Pompeo diese


ner Karriere sympathisierte er Woche eilends nach Riad und in
mit den Mudschahidin in Afgha- die Türkei. »Der politische Scha-
nistan und besuchte den spä- den ist schon jetzt enorm«, sagt
teren Qaida-Chef Osama Bin der ehemalige FBI-Agent Ali
Laden. In den vergangenen Jah- Regimekritiker Khashoggi, Verlobte Cengiz Soufan (siehe Seite 20).
ren wandte er sich liberalen »Ich mache eine harte, qualvolle Zeit durch« MbS hatte die Elite der inter-
Ideen zu und kritisierte die strik- nationalen Finanzwelt ausge-
te Lesart des Islam durch die radikalen Prinz Turki bin Faisal als Berater und Ver- rechnet für kommende Woche zu einer
Islamisten. trauter. großen Konferenz, bekannt als »Davos in
Khashoggi war ein großer Mann, buch- In dem Aufstieg von Mohammed bin der Wüste«, nach Riad eingeladen. Doch
stäblich zu groß für den in Saudi-Arabien Salman sah Khashoggi zunächst auch IWF-Direktorin Christine Lagarde, die
traditionell eng geschnittenen Thaub, das Chancen. Er traute dem Prinzen zu, das Chefs der Großbanken HSBC, Standard
weiße, knöchellange Männergewand: Er Land zu modernisieren. Bald jedoch war Chartered und Credit Suisse sowie andere
war schwer, energisch, ungestüm. Wo er er von dessen autoritärem Regierungsstil Wirtschaftsführer haben ihre Teilnahme
auftauchte, blieben Leute stehen, baten befremdet. In seinen Artikeln prangerte jetzt abgesagt. Auch die Finanzminister
ihn um Autogramme und wollten Selfies er die Politik von Mohammed bin Salman Frankreichs, Großbritanniens und der
mit ihm machen. Khashoggi sagte fast an, vor allem die Militäroperation im Je- USA sprangen ab.
immer zu, er fühlte sich wohl unter Men- men und die enge Partnerschaft mit der Bislang liegt der Weltöffentlichkeit kein
schen, er sprach eine einfache, moderne Trump-Regierung. eindeutiger Beweis für das grausige Ver-
Sprache, und die Strenge und Distanz der Nachdem Freunde verhaftet worden wa- brechen im Konsulat vor. Die türkische Re-
Eliten von Riad war ihm wesensfremd. Er ren und er selbst mit einem Publikations- gierung hat das mutmaßlich kompromit-
machte Witze über die »Bullenkämpfe« verbot belegt worden war, floh Khashoggi tierende Material aus dem Konsulat bis

16 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES

Türkische Ermittler im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul: Gemetzel im O-Ton

Donnerstagabend nicht öffentlich ge- Im Hof wachsen Bäume, im Hintergrund lamentarier aus Kuwait. »Istanbul ist die
macht, sondern nur einzelne Details durch- ragen Bankentürme in den Himmel. letzte Enklave des Arabischen Frühlings«,
sickern lassen. Wahrscheinlich auch des- Überwachungskameras der türkischen sagt Ayman Nour, ein ägyptischer Oppo-
halb, weil türkische Geheime das Konsulat Behörden zeichnen auf, wie Khashoggi sitionspolitiker und ehemaliger Berater
verwanzt hatten und die angeblichen Ton- am 2. Oktober um 13.14 Uhr das Konsulat des Ex-Präsidenten und Muslimbruders
aufnahmen so zustande gekommen sind. betritt. Er ahnt, dass er sich einem Risiko Mohamed Morsi. Nour lebt in Istanbul im
Denn damit würden Erdoğans Lausch-Ex- aussetzt, aber er hält dieses Risiko wohl Exil.
perten eingestehen, dass sie die diploma- für überschaubar. Gegenüber Bekannten Khashoggi begrüßte den Arabischen
tischen Gepflogenheiten nicht eingehalten sprach Khashoggi offen über seine Angst, Frühling. In einer Kolumne in der »Wa-
haben. Doch die Indizien, die auf einen entführt zu werden. shington Post« verteidigte er im Sep-
Mord hindeuten, verdichten sich. US-Geheimdienste hatten erst kürzlich tember die Muslimbruderschaft. Sollten
Der Krimi um Khashoggi beginnt am ein Gespräch abgehört, in dem saudi-ara- die Muslimbrüder ausgelöscht werden,
Freitag, dem 28. September, als der Jour- bische Offizielle darüber berieten, den schrieb er, käme das dem Ende der Demo-
nalist zum ersten Mal das saudi-arabische Journalisten im Auftrag von Kronprinz kratie in der arabischen Welt gleich. Er
Konsulat in Istanbul aufsucht, um Doku- Mohammed bin Salman zu kidnappen. stellte sich gegen Kronprinz Mohammed
mente zu holen. Die Mitarbeiter empfan- Doch in Istanbul fühlte sich Khashoggi bin Salman, der die Muslimbrüder als Be-
gen ihn freundlich. Sie sagen ihm, er möge sicher. Er ist mit Präsident Recep Tayyip drohung betrachtet und gemeinsam mit
nächste Woche wiederkommen, bis da- Erdoğan befreundet. Mohammed bin Sal- Ägypten und den Vereinigten Arabischen
hin hätten sie die Unterlagen fertig. Ein man, so vertraute er einem türkischen Emiraten dafür wirbt, dass Europäer und
Konsulatsmitarbeiter ruft ihn am Wochen- Freund an, würde einen Eklat mit Erdoğan Amerikaner die Bewegung als Terrorgrup-
ende an, um den Termin für Dienstag, den sicherlich scheuen. pe einstufen.
2. Oktober, zu bestätigen. Istanbul hat sich zu einem Fluchtpunkt Nach einem Bericht der amerikanischen
Das saudi-arabische Konsulat liegt im für Dissidenten aus der arabischen Welt Nachrichtenseite The Daily Beast soll
Geschäftsviertel Levent im Norden Istan- entwickelt: Rebellen der Freien Syrischen Khashoggi geplant haben, eine Lobbygrup-
buls. Es ist ein schlichter Bau, der wenig Armee halten sich ebenso in der Stadt auf pe zu gründen, um die verstreuten Exilan-
Ähnlichkeit hat mit den Palästen, die das wie Gegner der Militärjunta in Ägypten, ten des Arabischen Frühlings zu einen. In
Königreich in anderen Städten unterhält. Ex-Minister aus dem Jemen und Ex-Par- Istanbul traf er sich regelmäßig mit dem
Morsi-Berater Nour, einem langjährigen
Freund. Zudem soll Khashoggi vorgehabt
»Khashoggi wollte die Mafia verlassen haben, bei dem arabischen Fernsehsender
Al-Sharq einzusteigen, der den Muslim-
und sollte entsorgt werden.« brüdern nahesteht – auch das alles könnte

17
Titel

ein Grund dafür gewesen sein, dass er ster- laut türkischer Polizei. »Halt’s Maul, falls indirekt, indem er sagt, die Ermittler der
ben musste. du lebend nach Saudi-Arabien zurückkeh- türkischen Regierung hätten »weitreichen-
Im Mai lernte Khashoggi auf einer Kon- ren willst«, antwortet einer der Killer. Die de Erkenntnisse«.
ferenz die türkische Doktorandin Hatice türkischen Ortskräfte hatten an diesem Erdoğan lässt die Medien von den Be-
Cengiz kennen. Er pendelte von da an Tag kurzfristig freibekommen. hörden beinahe täglich mit Informationen
zwischen McLean, Virginia, wo er seit Um 15.08 Uhr verlassen die Männer füttern, ohne sich selbst ausgiebig zu den
2017 gemeldet ist, und Istanbul. Er kaufte laut Aussagen türkischer Offizieller in Ermittlungen zu äußern. Er versucht wohl
dort eine Wohnung, die er gemeinsam mit sechs Fahrzeugen das Konsulat. Zwei wei- auf diese Weise, den Westen auf seine Sei-
Cengiz einrichtete. Am 3. Oktober wollten tere Fahrzeuge machen sich auf den Weg te zu ziehen. »Die Informationen haben
die beiden heiraten. zur Residenz des Konsuls, die fast 200 Me- den Fall zum internationalen Thema ge-
Nach türkischem Recht müssen Paare vor ter vom Konsulat entfernt ist. In einem macht«, sagt Präsidentenberater Aktay ge-
der Hochzeit mit Dokumenten aus dem Hei- der beiden, so vermuten die Ermittler, be- genüber dem SPIEGEL.
matland belegen, dass sie nicht bereits an- findet sich der zerstückelte Leichnam von Das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien
derweitig verheiratet sind. Deshalb wandte Khashoggi. und der Türkei war bereits vor dem Ver-
sich Khashoggi an das saudi-arabische Kon- Hatice Cengiz wartet zu dieser Zeit schwinden des Journalisten angespannt.
sulat in Istanbul. Informanten aus dem Um- noch immer vor dem Konsulat auf ihren Beide Staaten ringen um Einfluss im Na-
feld von Kronprinz Mohammed bin Salman Verlobten. Sie fragt einen Wachmann am hen Osten. Ankara unterstützt die Mus-
hätten ihm versichert, dass er nichts zu be- Eingang nach ihm. Der Mann antwortet: limbrüder, die von Riad als Terrororgani-
fürchten habe, sagt Turan Kışlakçı, der Vor- »Hier drin ist niemand.« sation eingestuft werden. Im Konflikt zwi-
sitzende der türkisch-arabischen Medienge- Als Khashoggi gegen Mitternacht noch schen Saudi-Arabien und Katar schlug sich
sellschaft, ein Freund Khashoggis. immer nicht wieder aufgetaucht ist, ver- Erdoğan auf die Seite des Emirats. Mo-
Trotzdem lässt Khashoggi seine beiden ständigt sie Erdoğan-Berater Aktay und hammed bin Salman bezeichnete die Tür-
Telefone bei seiner Verlobten zurück, be- die Polizei. »Ich mache eine harte, qual- kei als Teil eines »Dreiecks des Bösen«.
Erdoğan hingegen stellt sich gern als
Schutzpatron gläubiger Muslime dar. Der
mutmaßliche Mord an Khashoggi muss ihn
provozieren, ärgern, weil er ihn als
Schwächling erscheinen lässt, der in sei-
nem eigenen Land nicht für Sicherheit sor-
gen kann. Beobachter vermuten, Erdoğan
wolle von Saudi-Arabien nun Zugeständ-
nisse bei Machtfragen in der Region er-
zwingen, etwa im Katar-Konflikt.
Denkbar ist auch, dass Ankara von Riad
Hilfsgelder für die angeschlagene türkische
Wirtschaft einfordern wird. »Wir können
Mohammed bin Salman einen Ausweg aus
der Affäre bieten oder ihn durch Enthül-
lungen noch weiter unter Druck setzen«,
sagt ein türkischer Regierungspolitiker.
»Die Frage ist, was ist dem Prinzen sein
Ruf wert?«
Wenn die Tonaufnahmen existieren –
und darauf deutet vieles hin –, sind sie Er-
doğans Faustpfand. Damit kann er die Sau-
dis am Nasenring durch die arabische Welt
AP

Mitglieder des mutmaßlichen Mörderteams*: Männer fürs Grobe führen. Ein Gemetzel im O-Ton, ausgestrahlt
in alle Welt, hätte verheerende Wirkung.
Bislang geht die Strategie der türkischen
vor er an dem Tag das Konsulat betritt. Sie volle Zeit durch«, sagte sie diese Woche Regierung auf. Saudi-Arabien erlaubte
wartet vor der Tür. Cengiz sollte im Notfall dem SPIEGEL am Telefon. »Ich fühle mich einer türkischen Delegation am Montag-
Yasin Aktay verständigen, einen Berater nicht mehr lebendig.« abend, das Konsulat zu inspizieren. Weni-
Erdoğans, mit dem das Paar befreundet ist. Es dauert, bis Informationen über den ge Stunden vor der Durchsuchung rückte
Das mutmaßliche Mordkommando aus Fall an die Öffentlichkeit gelangen. Zu- allerdings eine Putzkolonne mit Wisch-
Riad um den Gerichtsmediziner Tubaigy nächst heißt es, Khashoggi sei vielleicht mopps an. Die Reinigungskräfte machten
wartet nach Aussagen der Ermittler in die- verschleppt worden. Er wäre nicht der den mutmaßlichen Tatort sauber.
sen Minuten im Konsulat bereits auf Kha- erste saudi-arabische Journalist, den MbS Und es kamen offenbar auch noch Maler
shoggi. Als dieser das Haus betritt, greifen verschwinden lässt. Laut Reporter ohne an. Sie strichen in den Räumen. Womöglich
die Killer sofort zu. Der Konsul, Moham- Grenzen sind seit September 2017 mindes- hatte der Forensiker Tubaigy zwar schnell,
mad al-Otaibi, soll, so türkische Quellen, tens 15 Journalisten und Blogger ver- aber nicht wirklich sauber gearbeitet. Ein
die sich auf die Lauschprotokolle beziehen, schwunden. Oft wurden ihre Festnahmen Erwachsener hat fünf bis sechs Liter Blut.
noch protestiert haben. erst Monate später bekannt. Und Tubaigy hatte eine Säge, aber keinen
»Macht das woanders, ihr bringt mich Am Samstag, dem 6. Oktober, vermel- Seziertisch.
in Schwierigkeiten«, fleht der Diplomat det der Nachrichtendienst Reuters, die tür- In der Nacht von Mittwoch auf Donners-
kische Polizei gehe davon aus, dass Kha- tag durchsuchten türkische Ermittler auch
* Aufnahme einer Überwachungskamera am Istanbuler shoggi im Konsulat ermordet worden sei. die Residenz des Konsuls. Es gab die Ver-
Flughafen. Erdoğan-Berater Aktay bestätigt die These mutung, die Killer hätten Khashoggis zer-

18 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


REUTERS

König Salman (M.), Thronfolger bin Salman (4. v. r.): Erdoǧan kann die Saudis am Nasenring durch die arabische Welt führen

stückelten Leichnam im Garten vergraben. Vizechef des Geheimdienstes. Möglich ist schafter rauswarf, die Flüge der saudi-ara-
Denkbar war Donnerstagabend aber auch auch, dass der König außen- und sicher- bischen Staatslinie nach Toronto einstellte
noch, dass die Männer aus Riad Khashoggi heitspolitische Kompetenzen auf Moham- und seine rund 8300 Studenten in Kanada
in einem Istanbuler Wald verscharrt haben. med bin Salmans Bruder Khalid überträgt, zwang, in einem anderen Land weiterzu-
Erdoğan selbst deutete an, man habe der derzeit Botschafter in Washington ist. studieren.
im Konsulat möglicherweise »giftige Sub- Auf jeden Fall wurde er im Zuge der Kha- »MbS agiert wie ein verwöhntes Kind,
stanzen« gefunden. Der Konsul ist aus der shoggi-Affäre zurück nach Riad geholt. das plötzlich die Macht eines Diktators in
Türkei abgereist, mitsamt seiner Familie. Dabei hatten viele im Westen gerade seinen Händen hält«, sagt Loulouwa Al
Er soll gegenwärtig in Riad vernommen auf MbS gesetzt. Er stellt sich als Reformer Rachid, Co-Direktorin des Nahostzen-
werden. Das dürfte für MbS angenehmer dar, seit er faktisch die Macht von seinem trums der Carnegie-Stiftung in Beirut. Al
sein, als wenn die Türken den Mann in die Vater übernommen hat. Er hat die Reli- Rachid stammt selbst aus dem saudi-arabi-
Mangel nähmen. gionspolizei entmachtet, die bis dahin ge- schen Königshaus, als Kind spielte sie mit
Die saudi-arabische Regierung hat of- schminkte oder allein reisende Frauen auf- den Prinzen, inzwischen lebt sie im Exil in
fenbar erkannt, dass sie mit ihrer Legende, griff, um sie zu bestrafen oder ihrem Ehe- Beirut und Paris. Man müsse wissen, wie
wonach Khashoggi das Konsulat nach we- mann oder Vater zu übergeben. Er brachte MbS groß geworden sei. Anders als seine
nigen Stunden verlassen hat, nicht länger Konzerte und Kinos ins Königreich. Seit Brüder habe er nie im Ausland studiert.
durchkommt. König Salman hat eine in- Juni dürfen Frauen Auto fahren. Der Kronprinz breche mit einem Selbst-
terne Untersuchung angekündigt. Er plant Zugleich aber haben die Repressionen verständnis saudischer Herrscher: »Keiner
laut Medienberichten angeblich, die Ver- gegen Kritiker unter MbS zugenommen. der Könige war gefürchtet. Grausamkeit
antwortung für den Mord an untergeord- Vergangenen Herbst hat das Regime Dut- war nicht ihr Markenzeichen. MbS will
nete Beamte abzuwälzen, um seinen Sohn, zende Dissidenten festnehmen lassen, ei- das ändern. Er will gefürchtet werden wie
Kronprinz Mohammed bin Salman, aus nigen von ihnen droht die Todesstrafe. Im einst Saddam Hussein im Irak«, sagt Ra-
der Schusslinie zu nehmen. August reagierte das Königreich derart chid. MbS habe die Minister und Provinz-
In Riad heißt es, dass General Ahmad empört auf einen menschenrechtskriti- gouverneure der alten Elite entmachtet
Asiri zum Bauernopfer gemacht werden schen Tweet des kanadischen Außenmi- und sich eine Entourage aus der zweiten,
könnte, ein Berater des Kronprinzen und nisteriums, dass es den kanadischen Bot- dritten Reihe geholt. »Es gibt kein Korrek-
tiv mehr, das ihn zurückhalten könnte.«
Al Rachid hält es, wie viele Experten,
»MbS agiert wie ein verwöhntes für äußerst unwahrscheinlich, dass die mut-
maßliche Geheimoperation in Istanbul
Kind mit der Macht eines Diktators.« ohne Mohammed bin Salmans Wissen

19
Saudi-Arabien Der ehemalige FBI-Agent Ali Soufan über Motive für geschehen ist – oder gar gegen dessen
Willen.
den möglichen Mord an Jamal Khashoggi und die politischen Folgen »Warum haben die Saudis Offizielle, da-
runter einen Forensiker, nach Istanbul ge-

»Er wollte es brutal« schickt, wenn sie Khashoggi nur verneh-


men wollten?«, fragt ein türkischer Ermitt-
ler. »Wie konnten sie Khashoggi innerhalb
von zwei Stunden töten und seine Leiche
beiseiteschaffen, wenn sie das nicht vor-
Ex-FBI-Agent Sou- Produkt dieses Regimes. Er kannte das hatten?«
fan, 47, führte nach System von innen. Er besaß eine große Die türkische Zeitung »Sabah«, regie-
A. OLMOS / DDP IMAGES

dem 11. September Glaubwürdigkeit im Westen, bei Medien rungsnah und oft gut mit Informationen
2001 zahlreiche Ver- dort, aber auch im eigenen Land. Einer von höchster Stelle versorgt, hat eine Liste
höre mit verdäch- wie Khashoggi ist bedrohlich für so mit Namen und Fotos der 15 Männer ver-
tigen Qaida-Mitglie- jemanden wie MbS. öffentlicht, die am 2. Oktober aus Riad
dern. 2005 verließ SPIEGEL: Es heißt auch, Khashoggi habe nach Istanbul eingeflogen sind. Neben
er das FBI und grün- Insiderwissen zu der Rolle der Saudis bei dem Forensiker Tubaigy haben elf weitere
dete eine Consultingfirma, die besondere den 9/11-Anschlägen gehabt. von ihnen Verbindungen zum saudi-ara-
Expertise im Nahen Osten hat. Soufan: Daran glaube ich nicht. Es gibt bischen Sicherheitsapparat. Und vor allem
ja schon jede Menge Belege für die gehören viele dem direkten Umfeld von
SPIEGEL: Warum scheint es möglich zu angebliche saudische Beteiligung an den Kronprinz Mohammed bin Salman an.
sein, dass der saudische Kronprinz Anschlägen. Aber all das steht schon in Das macht es nahezu unmöglich, ihn aus
Mohammed bin Salman, auch MbS Anklageschriften der Opferfamilien, im der Schusslinie zu nehmen.
genannt, einen seiner Kritiker per Auf- Report der 9/11-Kommission und in Das mutmaßliche Killerteam setzte sich
tragsmord aus dem Weg räumen ließ? Regierungsdokumenten. Dafür muss zusammen aus jüngeren Leibwächtern für
Soufan: Der Fall entwickelt sich noch, man niemanden umbringen. den Kronprinzen. Ihnen zur Seite gestellt
wir haben nicht alle Informationen. SPIEGEL: Was werden die Auswirkungen waren ältere Sicherheitsbeauftragte, von
Aber alles deutet darauf hin, dass Khas- dieses Skandals für Saudi-Arabien sein? denen zwei direkt im Büro des Kronprin-
hoggi ermordet wurde. Es ist immer Soufan: Sollte bewiesen werden, dass zen tätig gewesen sein sollen, und einer,
schwierig, in die Köpfe von Diktatoren MbS einen Mord befahl, wäre der Scha- der den Kronprinzen dieses Jahr auf Aus-
und autoritären Herrschern zu schauen. den enorm. Die Glaubwürdigkeit des landsreisen begleitete.
Warum ließ Putin einst mitten in Lon- Kronprinzen ist dahin, sein Image als Unter den Bodyguards ist die Nummer
don einen Mann mit radioaktivem Mate- Reformer auch. Und wie der republikani- vier der »Sabah«-Liste ein Profi namens
rial vergiften? Ich glaube, MbS wollte sche Senator Lindsey Graham diese Mohammad Saad Al-Zahrani. Er war wäh-
ein Zeichen setzen. Die Nachricht hinter Woche sagte: Die Beziehungen der USA rend eines Empfangs jemenitischer Stam-
diesem Mord lautet: Wenn du gegen zu Saudi-Arabien können nicht mehr meschefs im April im saudi-arabischen
mich bist und mir gefährlich werden sein wie zuvor, solange MbS noch das Staatsfernsehen zu sehen – nur ein paar
willst, dann schlage ich zurück. Ich Sagen hat. Meter von MbS entfernt, wie es sich für
bekomme dich, egal wo du bist. Er woll- SPIEGEL: Das heißt, der König muss sich Leibwächter gehört. Direkt hinter ihm
te es genauso brutal, wie es war, und von seinem Sohn distanzieren? stand Thaar Ghaleb Alharbi, die Nummer
hat wohl gleichzeitig gehofft, dass er Soufan: König Salman müsste sich ent- zehn der Liste. Mohammed bin Salman
irgendwie davonkommt damit. scheiden, falls MbS das getan hat: Will beförderte ihn vor einem Jahr zum Leut-
SPIEGEL: Aber was war an Jamal Khas- er die Stabilität des Hauses Saud und nant – als Dank für seinen Mut bei der
hoggi so bedrohlich? die des Königreichs absichern oder die Verteidigung des Kronprinzenpalastes in
Soufan: Khashoggi ist nicht wie andere Zukunft seines Sohnes? Dschidda gegen einen Attentäter.
Oppositionelle im Ausland, er ist ein Interview: Britta Sandberg Auch die Nummer sechs der Liste, Kha-
lid Alotaibi, soll nach Recherchen der »Wa-
shington Post« Mitglied der königlichen
Leibgarde sein. Die »New York Times« hat
Nummer sieben, Abdulaziz Mohammed
Alhawsawi, als einen Leibwächter des
Kronprinzen identifiziert, der diesen bei
Reisen begleitete. Nummer acht, Waleed
Abdullah Alshehri, gehört der saudi-ara-
ANADOLU AGENCY / ABACA PRESS / DDP IMAGES

bischen Luftwaffe an und wurde 2017 von


Mohammed bin Salman persönlich zum
Major befördert.
Zu den älteren Sicherheitsbeauftragten,
die aus Riad nach Istanbul reisten, zählt
Maher Abdulaziz Mutreb, der bis 2007
als saudi-arabischer Diplomat in London
akkreditiert war. Ghanim Al-Dosari, ein
saudi-arabischer Dissident, der in London
lebt, ist sich sicher, dass Mutreb in London
für den saudi-arabischen Geheimdienst ge-
Verdächtige bin Salman, Leibwächter Mutreb (r.) in Boston: Enormer Schaden arbeitet hat. Mutreb begleitete dieses Jahr
Mohammed bin Salman nach Europa und

20 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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in die USA. Möglicherweise ist er inzwi-


schen der persönliche Sicherheitsbeauf-
tragte des Kronprinzen. »Sabah« veröf-
fentlichte am Donnerstag Fotos, die Mu-
treb am 2. Oktober angeblich vor dem
Konsulat und der Residenz des Konsuls in
Istanbul zeigen.
Die übrigen Namen auf der »Sabah«-
Liste sind bislang nicht eindeutig zu iden-
tifizieren. Ein Team von internationalen
Rechercheuren, das öffentlich zugängliche
Quellen auswertet, geht derzeit davon aus,
dass es sich bei ihnen um Mitglieder des
saudi-arabischen Geheimdienstes handelt.
Zwei von ihnen sollen direkt dem Kron-
prinzen unterstellt sein. Zumindest finden
sich in den sozialen Medien Hinweise, die
sie direkt im Büro von Mohammed bin
Salman verorten, einmal als Geheim-
dienstbeauftragten und einmal als Gene-
ralstabschef des Kronprinzen.

DPA
Bis vor wenigen Tagen haben die
meisten Mitglieder des mutmaßlichen Kil- Trump-Schwiegersohn Kushner, Königssohn bin Salman: Strategische Nähe
ler-Teams Facebook-Konten unterhalten.
Insgesamt fanden sich dort neun Team-
mitglieder, die sich selbst stolz als Militärs te Ermittlungen« von Riad. Über mögliche Tage in Riad festgehalten hatte, um ihn
bezeichneten. Ob die Profile tatsächlich Konsequenzen will man allerdings erst auf einen kritischeren Kurs gegenüber Iran
die der Gesuchten sind, lässt sich nicht sprechen, wenn die saudi-arabische Regie- einzuschwören. Saudi-Arabien hatte da-
überprüfen. Aber mittlerweile sind alle ge- rung, wie angekündigt, eine Erklärung vor- raufhin vorübergehend seinen Botschafter
löscht. Seltsam. gelegt hat. aus Berlin abgezogen, was auch die Wirt-
Was immer diese angeblichen Touristen Für die Bundesregierung kommt der schaftsbeziehungen zwischen beiden Län-
in Istanbul gemacht haben – sie sind die Fall Khashoggi zum denkbar ungünstigs- dern belastete.
Männer des Prinzen. Gerüchte über einen ten Zeitpunkt. Erst vor einem Monat ver- Als Maas das Außenministerium über-
Mord an Khashoggi stellt Riad als Ver- kündete Außenminister Heiko Maas an nahm, drängten ihn unter anderem Sie-
schwörung gegen das Königreich dar. Das der Seite seines saudischen Kollegen Adel mens und Daimler, das Verhältnis zu Sau-
Staatsfernsehen Al Arabiya strahlte eine al-Jubeir am Rande der Uno-Generalver- di-Arabien zu kitten. Fieberhaft arbeitete
40-minütige Sondersendung aus mit dem sammlung in New York die Rückkehr zu Maas an der Versöhnung. Er verteidigte
Titel: »Was hat Katar mit dem Verschwin- normalen diplomatischen Beziehungen. unter anderem die Lieferung von Patrouil-
den Khashoggis zu tun?« Das Twitter- Maas bedauerte »Missverständnisse«, die lenbooten und einem Radarsystem an das
Hashtag »Twittere deine Liebe für Saudi- durch seinen Vorgänger Sigmar Gabriel Königreich. Waffenlieferungen an Saudi-
Arabien« wurde zum Trend. User twitter- entstanden seien. Arabien sind schon traditionell umstritten
ten Fotos des Kronprinzen, der National- Gabriel hatte MbS »außenpolitisches im Bundestag, erst recht seit die Saudi-
flagge und Sätze wie »Wir sind stolz, wir Abenteurertum« vorgeworfen, weil er den Araber den Jemen bombardieren.
brauchen niemanden. Aber die ganze Welt libanesischen Premier Hariri mehrere Ein Treffen mit Mohammed bin Salman
braucht uns«. in Riad Ende Oktober hat Maas nun abge-
Aus dem Ausland sprangen bislang vor sagt. Sollte sich der Verdacht erhärten,
allem die üblichen Verdächtigen dem Kö- dass das saudi-arabische Regime Khashog-
nigreich bedingungslos bei: die Vereinigten USA 61 % gi hat ermorden lassen, dürfte Berlin wei-
Arabischen Emirate und Ägypten. Der emi- ter unter Druck geraten, Sanktionen gegen
ratische Außenminister, Anwar Gargash, Riad zu verhängen. »Ein politisch moti-
sprach von einer »bösartigen Kampagne«. Saudi-Arabiens vierter Mord wäre weit mehr als Abenteu-
Das ägyptische Außenministerium ärgerte rertum. Diese Art Gewalttaten kennen
sich über Versuche, »den Fall politisch ge- wichtigste gerade wir Deutschen noch aus den dun-
gen Saudi-Arabien zu instrumentalisieren«. Waffenlieferanten kelsten Zeiten des Kalten Krieges«, sagt
Ob Saudi-Arabiens arabische Verbündete Anteile an allen SPD-Politiker Sigmar Gabriel. »Der Wes-
über Khashoggis Verschwinden informiert Großwaffenimporten ten und vor allem Europa dürfen nicht
waren, ist unklar. Auffällig ist, dass die bei- 8,2% 2013 bis 2017 wegsehen aus Angst vor diplomatischen
den saudi-arabischen Jets auf dem Rück- Sonstige oder wirtschaftlichen Drohungen.«
weg nicht direkt nach Riad flogen – son- Die Frage, ob MbS trotz des mutmaß-
dern einen Umweg mit Übernachtstopp in lichen Mordes mehr oder weniger glimpf-
Kairo beziehungsweise Dubai einlegten: 23% lich davonkommt, wird sich aber vor allem
als hätte man den dortigen Geheimdienst- Deutschland 1,8% Großbritannien in den USA entscheiden. Trump folgte im
kollegen etwas erklären müssen. Im Jahr 2017 wurden in 3,6% Frankreich Fall Khashoggi bislang einem Zickzackkurs:
Die Europäer halten sich bislang mit Deutschland Kriegswaffen- Er drohte Riad in einem Interview mit dem
2,4% Spanien
Kommentaren zurück. Zwar forderten genehmigungen für Saudi- Sender CBS mit einer »schweren Strafe«,
Deutschland, Frankreich und England in Arabien im Wert von Quellen: Sipri,
nur um sich wenig später die saudi-arabi-
einem gemeinsamen Statement »ernsthaf- 152,2 Millionen Euro erteilt. Deutscher Bundestag sche Darstellung zu eigen zu machen, nach

22
Kushner und Mohammed bin Salman
sind in etwa gleich alt, zwei Glückskinder,
seit Geburt an Reichtum und Macht ge-
wöhnt, teilen politischen Ehrgeiz und
zählen zu einer Generation junger Ge-
schäftsleute und Entscheider, die sich in
der digitalen Welt zu Hause fühlen. Bei ei-
nem Besuch Kushners in Riad im Oktober
vorigen Jahres sollen sie bis vier Uhr mor-
gens wach geblieben sein, um Ideen aus-
zutauschen. CNN sprach vom »Märchen
der zwei Prinzen«.
Kushner wollte Frieden im Nahen Os-
ten, Mohammed bin Salman suchte Kon-
takte zu US-Investoren, die seine Vision
eines reformierten, ölunabhängigen Sau-
JONATHAN ERNST / REUTERS

di-Arabien unterstützen. Es war eine stra-


tegische Nähe, die der Mann aus Riad aber
offenbar besser für sich nutzte. Vertrauten
soll bin Salman erzählt haben, er habe
Kushner »in der Tasche«.
Der Fall Khashoggi hat das Vertrauen
Saudi-Freund Trump in Riad 2017: Schecks aus dem Königreich zwischen den beiden erschüttert. Kushners
Schwiegervater Trump hält bislang noch
an Saudi-Arabien als Partner fest – vor al-
der unbekannte »heimtückische Mörder« World Tower in New York gehört den Sau- lem wegen des Geldes, wegen milliarden-
für das Verschwinden von Khashoggi ver- dis. Im Präsidentschaftswahlkampf sagte schwerer Rüstungsaufträge, wie er mehr-
antwortlich sein könnten. Am Donnerstag Trump: »Ich komme mit allen in Saudi-Ara- fach betonte. Sein Problem ist, dass sich
räumte er ein, dass Khashoggi offenbar tot bien gut klar. Sie kaufen Apartments von inzwischen auch prominente Republikaner
sei. Das Ganze sehe »sehr schlecht« aus. mir. Sie geben 40 Millionen, 50 Millionen kritisch äußern. Der einflussreiche Senator
Trump sieht in Mohammed bin Salman Dollar aus. Soll ich sie dafür nicht mögen?« Lindsey Graham, ein Verbündeter Trumps,
einen Partner, der den USA helfen würde, Nach seinem Amtsantritt waren es Ge- forderte bereits knallharte Sanktionen.
die großen Probleme der Region zu lösen, sandte des Königreichs, die sich Vorteile Vizepräsident Mike Pence sagte, man müs-
insbesondere mit Blick auf Iran. Es passt von der Nähe zum neuen Präsidenten er- se die Täter zur Verantwortung ziehen.
in Trumps binäres Weltbild von Freund hofften. Es ging ihnen um ein US-Gesetz, Der Präsident könnte seine gesamte bis-
und Feind: MbS ist gut, Teheran ist böse. das mit den Anschlägen vom 11. September herige Nahostpolitik vergessen, wenn er
MbS würde, so hoffte Trump, Frieden im zu tun hatte und für Riad untragbar war. die Kontakte zu Riad einfrieren müsste.
Nahen Osten möglich machen, billiges Öl Das Gesetz trägt den sperrigen Titel Er braucht den König und noch mehr den
garantieren, Milliarden in die US-Wirt- »Akt für Gerechtigkeit gegen Unterstützer Kronprinzen. Es müsse die Unschuldsver-
schaft investieren, amerikanische Panzer des Terrorismus«, verabschiedet vom US- mutung gelten, sagte er am Dienstag. Es
und Kampfflugzeuge kaufen. Und er wür- Kongress im September 2016, gegen das war wohl der Versuch, Zeit zu gewinnen,
de im Konflikt mit Iran fest an der Seite Veto von Präsident Obama. Es ermöglich- in der Hoffnung, der Sturm werde über
Washingtons stehen. te den Verletzten und Hinterbliebenen des ihn hinwegwehen. Außenminister Pompeo
Im Gegenzug ist Trump entschlossen, 11. September, gegen Saudi-Arabien Klage riet Trump, dem Königshaus noch ein paar
die Sicherheit des Königreichs zu garan- zu erheben – aus saudischer Sicht eine ju- Tage Zeit zu geben, Ergebnisse der Ermitt-
tieren, den Kampf gegen Iran zu verschär- ristische, diplomatische und politische Ka- lungen zu präsentieren. Das Beruhigende
fen und im blutigen Jemenkrieg beide Au- tastrophe. Die Anwälte der Kläger behaup- für Trump ist, dass der US-Kongress bis
gen zuzudrücken. ten, dass saudi-arabische Staatsbedienstete zu den Zwischenwahlen Anfang Novem-
Trumps Zuneigung zu Autokraten ist be- den Terroristen von al-Qaida geholfen hät- ber pausiert. Das macht rasche Sanktionen
kannt. Er schätzt Kim Jong Un in Nordkorea, ten. Die saudi-arabische Regierung streitet unwahrscheinlich, wenn es sie denn über-
Wladimir Putin in Russland und Rodrigo bis heute sämtliche Vorwürfe ab. Im Früh- haupt geben sollte.
Duterte auf den Philippinen. Im Fall Saudi- jahr dieses Jahres entschied ein Richter in Jetzt ist nur noch die Frage, wie gut die
Arabien mischt sich Trumps Geschäftssinn New York, dass das Verfahren zulässig sei. neue Geschichte ist, die sich die Saudi-Ara-
mit politischer Notwendigkeit. Trump weiß Von Anfang an setzte das Königshaus ber ausdenken. Touristen mit Knochensä-
aus eigener Erfahrung, wie reich das Königs- alles daran, das Gesetz zu kippen. Die ge – diese Version kauft ihnen im Westen
haus ist. Und mal wieder sind es seine Ge- Scheichs heuerten Lobbyisten und An- niemand mehr ab.
schäftsinteressen, die ihm auf dem interna- waltskanzleien in Washington an, deren Sebnem Arsu, Susanne Koelbl,
tionalen Parkett zum Problem werden. Arbeit Millionen verschlungen hat. Sie Maximilian Popp, Christoph Reuter,
Mindestens zweimal retteten ihn Inves- bauen auf ihre Beziehungen zum Präsiden- Raniah Salloum, Christoph Scheuermann,
titionen aus Saudi-Arabien, als er dringend ten und zu dessen Familie, vor allem auf Christoph Schult, Bernhard Zand
Geld brauchte. 1991 erwarb der saudische Jared Kushner, Trumps Schwiegersohn.
Prinz Alwaleed Bin Talal die Jacht »Trump Kushner ist einer von Trumps Netzwer-
Princess«. 1995 kaufte Bin Talal erneut von kern im Nahen Osten. Seit Trumps Wahl Video
Was geschah
Trump, diesmal das Plaza Hotel in New näherte er sich Mohammed bin Salman an in Istanbul?
York für 325 Millionen Dollar. Und auch in und hat regelmäßig Kontakt mit Riad, teils spiegel.de/sp432018istanbul
den folgenden Jahren kamen Schecks aus ohne Wissen des US-Außenministeriums. oder in der App DER SPIEGEL
dem Königreich. Eine Etage des Trump Als Geheimdiplomat.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 23


Deutschland
»Uns haben Hunderttausende gewählt, die das noch nie vorher gemacht haben.« ‣ S. 28

STEFFENS / DDP IMAGES


EU-Gipfel

Kanzlerin führt Vizekanzler vor


Merkel erteilt Scholz’ Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung in Brüssel eine Abfuhr.

 Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Plänen von Bundes- systeme für Arbeitslose zu stützen: Diese könnten sich Geld
finanzminister Olaf Scholz (SPD) für eine europäische Arbeits- leihen, statt Leistungen kürzen zu müssen. Da sich die Beiträge
losenversicherung am Donnerstag beim EU-Gipfel eine Absage an der Höhe der Wirtschaftskraft orientieren würden, müsste
erteilt. »Es gibt dazu unterschiedliche Ansichten in der Bundes- Deutschland am meisten einzahlen.
regierung«, sagte Merkel beim internen Treffen der Staats- und Eine Mehrheit der Bundesbürger steht einer europäischen
Regierungschefs. »Daher kann das im Dezember kein Thema Arbeitslosenversicherung skeptisch gegenüber: Bei einer von
sein.« Dann stehen in Brüssel die Reformen zur Eurozone auf dem FDP-Europaabgeordneten Wolf Klinz beim Meinungs-
der Agenda. Spaniens Premier Pedro Sánchez stellte sich am forschungsinstitut Allensbach in Auftrag gegebenen Befragung
Donnerstag hinter Scholz’ Idee einer europäischen Arbeitslosen- von 1200 Bürgern lehnten 59,3 Prozent den Scholz-Plan ab.
versicherung. Der vom Vizekanzler konzipierte Stabilisierungs- Das Vorhaben ist Teil der im Juni in Schloss Meseberg beschlos-
fonds soll sich aus Beiträgen der Mitgliedstaaten speisen, um in senen deutsch-französischen Initiative für eine »Roadmap« zur
Zeiten großer Wirtschaftskrisen die nationalen Versicherungs- Stabilisierung der Eurozone. MP

Mautpläne erster Stelle steht die Anwaltskanzlei der CSU füllt in erster Linie die Auftrags-
»Goldesel für Berater« Greenberg Traurig, die 14,5 Millionen bücher der Berater, nicht aber das Steuer-
Euro kassieren soll, dicht gefolgt von säckel für Verkehrsinvestitionen«, sagen
 Die Pkw-Maut wird zum einträglichen PricewaterhouseCoopers (PWC), für die Grünenabgeordneten Stephan Kühn
Geschäft für die Beraterbranche. Das Bun- deren Wirtschaftsprüfer 14,1 Millionen und Sven-Christian Kindler. Sie fordern,
desverkehrsministerium (BMVI) rechnet Euro eingeplant sind. Trotz der umfang- das »europarechtswidrige Projekt« zu
zwischen 2017 und 2019 mit Honoraren reichen Beratung gibt es noch keinen stoppen. Auch bei der Lkw-Maut fallen
für Kanzleien, Wirtschaftsprüfer und Sach- Termin für die geplante elektronische hohe Beratungskosten an; bis 2019 will
verständige in Höhe von rund 47 Millio- Vignette. Zuerst sollte sie 2016 kommen, das BMVI insgesamt 35,5 Millionen Euro
nen Euro. Das zeigen Dokumente für den zuletzt war von 2020 die Rede. Kritik dafür ausgeben. Die Maut werde zum
Haushaltsausschuss im Bundestag. An kommt von den Grünen. »Die Pkw-Maut »Goldesel für Berater«, so die Grünen. SVE

24 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Bamf verhaltsaufklärung« oder »mangelnde

B. VON JUTRCZENKA / PICTURE ALLIANCE / DPA


Mängel in Bingen Qualitätssicherung«. Die hohe Mängel-
quote im rheinland-pfälzischen Bingen
 Das Bundesamt für Migration und stelle aber »einen Ausreißer dar«. An-
Flüchtlinge (Bamf) hat in Bingen am ders als in Bremen hätten die amtsinter-
Rhein eine weitere Problemaußenstelle. nen Prüfer keine Anhaltspunkte für eine
Bei einer stichprobenartigen Untersu- »bewusst manipulative Einflussnahme«
chung von 670 Asylakten aus dem Jahr auf Asylverfahren gefunden. Den Grund
2017 stellte sich heraus, dass 406 Fälle für die vielen Mängel in Bingen führt
mangelhaft bearbeitet wurden: eine Quo- das Bundesamt darauf zurück, dass die Brinkhaus
te von rund 60 Prozent. Von Mai bis Außenstelle erst in der Hochphase der
September war Bingen als eine von zehn Flüchtlingskrise aufgebaut wurde, mit
Außenstellen durchleuchtet worden, neuem, nicht ausreichend qualifiziertem Bundestag
die auffällige Anerkennungsquoten auf- Personal. Alle beanstandeten Verfahren Union für restriktives
wiesen. Laut Bamf kam es zu Regelver- werden nun einer Widerrufsprüfung
stößen, darunter »unzureichende Sach- unterzogen, so das Bamf. WOW Einwanderungsgesetz
 Die Unionsfraktion drängt auf eine
strenge Linie beim Fachkräfteeinwande-
Netzausbau struktur), Peter Altmaier (Wirtschaft) rungsgesetz. Bei einem Treffen mit Fach-
und Helge Braun (Kanzleramt) auf Ände- leuten aus dem CSU-geführten Bundes-
Regierung interveniert in rungen der Regeln für die im Frühjahr innenministerium mahnten Abgeordne-
Sachen Mobilfunk geplante Versteigerung, für die zehn Mil- te Restriktionen bei der Ausarbeitung
liarden Euro an Erlösen erwartet werden. des Gesetzes an. Sie trugen die Sorge
 Neuer Streit belastet die geplante Ver- Die Regierungsvertreter wollen, dass vor, dass manche Migranten die neuen
steigerung der Frequenzen für die nächs- Homann auch im ländlichen Raum super- Regeln nutzen könnten, um ohne Job
te Mobilfunkgeneration 5G. Nach schnellen Mobilfunk garantiert. Dafür im Land zu bleiben. Sie schlugen vor,
Beschwerden von Unternehmen schaltet sollen die Anbieter in dünn besiedelten die Staaten, aus denen Menschen mit
sich nun auch die Bundesregierung mit Regionen nur ein einziges 5G-Netz auf- Berufsqualifikation künftig zur Arbeits-
massiver Kritik an der selbstständigen bauen, dieses aber untereinander teilen. suche einreisen können, zu begrenzen:
Bundesnetzagentur ein. Deren Präsident Auch sollen bis auf die Ebene kommuna- etwa auf Länder, mit denen Deutsch-
Jochen Homann wurde diesen Donners- ler Straßen sichere Verbindungen gewähr- land zuvor Rückübernahmeabkommen
tag zu einem geheimen Krisentreffen ins leistet werden, um künftige Anwendun- geschlossen hat. Dann wäre gewährleis-
Bundesverkehrsministerium bestellt. gen wie das autonome Fahren von Autos tet, dass Ausländer im Falle eines Schei-
Dort drängten die Unionsminister Andre- zu ermöglichen. Im Wirtschaftsministe- terns auf dem Arbeitsmarkt leichter
as Scheuer (Verkehr und digitale Infra- rium will man die Fehler bei vergangenen wieder abgeschoben werden könnten.
Versteigerungen unbedingt vermeiden. Andere schlugen vor, die Frist, die Mi-
»Wir brauchen klare Vorgaben an die granten zur Suche eines Jobs bekom-
K.-J. HILDENBRAND / PICTURE ALLIANCE / DPA

Netzbetreiber, damit wir die Versorgungs- men sollen, zu halbieren: Ein Eckpunk-
lücken schließen und die Zukunft der tepapier der Koalition sieht sechs Mona-
Kommunikation nicht verschlafen«, heißt te vor. Das Vorgehen zeugt vom gewach-
es dort. Die Intervention aus Berlin bei senen Selbstbewusstsein der Fraktion
der Bonner Behörde ist heikel. Denn die unter ihrem Vorsitzenden Ralph Brink-
Auktion muss nach Auffassung der Bun- haus, es ist aber riskant: Die Eckpunkte
desnetzagentur ohne Einflussnahme der zur Fachkräfteeinwanderung wurden
Regierung erfolgen. Deshalb rechnet bereits vom Kabinett abgesegnet. Ände-
man in der Netzagentur mit Klagen von rungen könnten zu Streit zwischen SPD
Mobilfunkunternehmen. GT, ROM und Union führen. AMA, WOW

Parteien CSU bei der darauffolgenden Landtags- Seite 54). Auch der CSU-Ehrenvorsitzen-
Seehofer droht Söder wahl 17 Prozent der Stimmen verloren. de Theo Waigel drängt Weber anzutreten.
Nachdem Söder ihn, Seehofer, aus dem Dieser lässt Interesse am Parteivorsitz
 CSU-Chef Horst Seehofer hat dem Amt gedrängt habe, seien es nun 10 Pro- erkennen, will aber gleichzeitig in Brüssel
bayerischen Ministerpräsidenten Markus zent. »Revolutionen kosten Stimmen«, bleiben. Auch auf eine Kandidatur als
Söder mit einer Abrechnung gedroht. Bei sagte der CSU-Chef nach Anga- Spitzenkandidat bei der Euro-
der Sitzung der CSU-Landesgruppe am ben von Gesprächspartnern. pawahl will Weber nicht ver-
KOEHLER / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES

Dienstag sagte Seehofer, er sei gern zu Seehofers Gegner bringen den zichten. Das stellt auch deshalb
einer Analyse des schlechten Ergebnisses Vorsitzenden der EVP-Fraktion seine Anhänger in der CSU vor
bei der Landtagswahl in Bayern bereit, im EU-Parlament, Manfred ein Dilemma, weil der EVP-
aber »dann brauchen wir eine Analyse in Weber, als möglichen Nachfol- Spitzenkandidat den Anspruch
vollem Umfang. Dann müssen wir über ger im Amt des Parteichefs in erhebt, nächster EU-Kommis-
alles reden«. Was der Parteichef damit Stellung. So sagte die langjähri- sionspräsident zu werden. Das
meint, hatte er zuvor bereits im kleinen ge Landtagspräsidentin Bar- Amt würde sich mit dem des
Kreis klargemacht: Nach dem Sturz bara Stamm, Weber habe ihre CSU-Vorsitzenden kaum ver-
Edmund Stoibers im Jahr 2007 habe die Unterstützung (siehe Interview Weber einbaren lassen. RAN, MP

25
Arbeiterwohlfahrt
Schweriner Kitabetreiber
in Togo und Gambia
 Selten sind Kreisverbände der deut-
schen Arbeiterwohlfahrt (Awo) so in-
ternational aufgestellt wie der Verband
Schwerin-Parchim, der in Gambia,
Togo und Spanien aktiv ist. Das En-
gagement wirft bezüglich seiner Finan-
zierung und Zielsetzung jedoch Fragen
auf. In Westafrika werden über ein
ehrenamtliches Projekt unter dem Awo-
Dach zwei Vorschulen betrieben; doch
die knapp tausend Euro teure Reise zur
Eröffnung der Kita in Togo zahlte der
Kreisverband seinem Geschäftsführer
Axel Mielke aus Awo-Mitteln. Unter
den Förderern der Afrikaprojekte listet
der Verband fälschlicherweise auch das

PAUL SANDER / IMAGO


Bundesentwicklungsministerium auf.
Ein Sprecher des Ministeriums: »Das
genannte Projekt wurde nicht aus Mit-
teln des Bundesentwicklungsministeri-
Kohlmann Ende August auf einer Demonstration in Chemnitz ums unterstützt.« Die Awo Schwerin
räumt »ein Versehen« ein. Ähnlich
durcheinander scheint es auch bei der
Justiz dacht gegen ethnische Gruppen fördert«. Kita auf Mallorca zu gehen. Der Kreis-
Rechtsausleger Zudem habe die Bewegung auf Face- verband investierte dort 400 000 Euro
book einen geleakten Haftbefehl gegen über einen Kredit sowie 162 500 Euro
droht Ausschluss einen irakischen Beschuldigten ohne aus eigenen Rücklagen. Den Bundes-
Schwärzung veröffentlicht. Kohlmann verband machte das stutzig, die lokale
 Die Vereinigung von Strafverteidigern selbst habe dies in den ARD-»Tagesthe- Awo muss sich einem Prüfverfahren
in Sachsen und Sachsen-Anhalt will men« später gerechtfertigt. Auf einer stellen. Auch der Zweck der luxuriösen
einen führenden Kopf der rechten Grup- Demonstration im August habe Kohl- Kita scheint fragwürdig. Vorgeblich
pe »Pro Chemnitz« aus ihren Reihen mann zudem offen Selbstjustiz propa- sollen unter den örtlichen spanischen
ausschließen. Der Anwalt Martin Kohl- giert. Eine weitere Mitgliedschaft Kohl- Erziehern Fachkräfte für Deutschland
mann, der für Pro Chemnitz auch im manns, so das Schreiben, »lässt massiven gewonnen werden; de facto betreut
Stadtrat sitzt, habe »gröblich« gegen die Schaden für die Glaubwürdigkeit des die Awo auf dem 1000 Quadratmeter
Interessen des Vereins verstoßen, heißt Vereins befürchten«. Der Vorstand will großen Areal mit Pool 15 Kinder. Pro-
es in einem Schreiben des Vorsitzenden im November über den Ausschluss ab- jekte von Kreisverbänden im Ausland,
an die Mitgliederversammlung. Begrün- stimmen lassen. Kohlmann selbst spricht so die Sprecherin des Awo-Bundes-
det wird der Vorstoß damit, dass Pro von »teilweisen Falschbehauptungen« in verbands, seien eigentlich unüblich:
Chemnitz in »aggressiver Weise« aus dem Schreiben, er strebt zunächst eine »Wir sehen unsere Kernaufgaben im
»einzelnen Straftaten einen Generalver- vereinsinterne Klärung an. STW Sozialen vor Ort.« RED

Geschichtspolitik Hans-Georg Maaßen offenbar nicht


erneut öffentlich korrigieren möchte, ist
Neue SPD-Historiker- parteiintern jetzt von einer »Runde«
kommission
FRITZ FISCHER / PICTURE ALLIANCE / DPA

oder einem »Kreis« die Rede. Dieses


Gremium soll die SPD in historischen
 Der SPD-Geschichtsbeauftragte und Fragen beraten, etwa wie diese am besten
Schatzmeister Dietmar Nietan plant eine mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls
Neuauflage der im Sommer abgeschafften umgeht. Schatzmeister Nietan führt der-
Historikerkommission. Allerdings darf zeit Gespräche mit Kandidaten für den
das Gremium nicht den alten Namen »Kreis«; bis Weihnachten soll er stehen.
tragen. Die von Willy Brandt dereinst Er wird, wie einst die Hiko, beim Partei-
gegründete »Historische Kommission« vorstand angebunden sein. Die Historiker
(Hiko) hatte SPD-Chefin Andrea Nahles Brandt 1971 in Bonn pochen allerdings auf ihre Unabhängig-
aufgelöst – was zu einem verheerenden keit, sie wollen auch losgelöst von Wün-
Medienecho führte. Mehr als 1100 Wis- sie nur wenige Tausend Euro kostete schen der SPD-Spitze arbeiten können.
senschaftler protestierten; von der Partei- (SPIEGEL 30/2018). Weil die SPD-Vor- Neben Wissenschaftlern will Nietan einige
basis gab es scharfe Kritik. Nahles hatte sitzende sich nach dem Hin und Her im Parlamentarier und Parteifunktionäre
behauptet, die Hiko sei zu teuer, obwohl Streit um Noch-Verfassungsschutzchef berufen. KLW

26 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Deutschland

Alles im grünen Bereich


Grüne Es läuft so gut wie lange nicht. Doch die Parteichefs
Annalena Baerbock und Robert Habeck wollen noch höher hinaus. Kann das gelingen, ohne die
eigene Identität zu verraten? Von Christoph Hickmann und Ann-Katrin Müller

D
er Tag danach ist wie immer auch
der Tag davor. Hilft nichts, es
muss ja weitergehen, gerade jetzt,
also: Auftritt Robert Habeck und
Annalena Baerbock.
Montagnachmittag, dritter Stock der
Grünengeschäftsstelle in Berlins Mitte, die
Tür zum Besprechungsraum geht auf, die
beiden Parteichefs kommen herein.
Wie geht’s?
»Ich bin feddich«, sagt Baerbock.
»Ich auch«, sagt Habeck.
Nur: Sie wirken gar nicht so besonders
feddich. Eher im Gegenteil.
Es ist der Tag nach der bayerischen
Landtagswahl, Habeck ist nach der Wahl-
party in München um halb zwei ins Bett
gekommen und um halb fünf wieder auf-
gestanden, vorher war er zwei Wochen
am Stück in Bayern unterwegs, und jetzt
steht, nach kurzer Pause, gleich der nächs-
te Wahlkampf an. Eigentlich müsste er tat-
sächlich ziemlich fertig sein, aber seine Fin-
ger finden keine Ruhe, sie trommeln auf
den Tisch, spielen mit den Wassergläsern
vor ihm. Er sagt: »Jetzt wollen wir auch
in Hessen zeigen, dass wir die gesellschaft-
liche Stimmung drehen können.«
Baerbock war ebenfalls erst um halb
zwei nachts zu Hause in Potsdam, die After-
show bei »Anne Will« dauerte ein bisschen
länger, dann noch Besprechung mit ihrer
Pressesprecherin, aber sie ist kaum zu stop-
pen, sie redet und redet, man kommt nicht
dazwischen. Sie sagt: »Uns haben Hundert-
tausende gewählt, die das noch nie vorher
gemacht haben.« Das Ergebnis in Bayern
sei »ein Auftrag – für Hessen, für die Euro-
pawahl, für Ostdeutschland«.
Und warum nicht gleich die ganze Welt?
Wenn nicht alles täuscht, dann sitzen
hier zwei Parteivorsitzende, die sich gera-
de ein bisschen zusammenreißen müssen,
um nicht abzuheben.
Den Grünen gelingt gerade fast alles. In
Bayern holten sie mit 17,5 Prozent ein Re-
kordergebnis, im Bund sind die Umfrage-
werte so hoch wie seit der Nuklearkatas-
trophe von Fukushima im Jahr 2011 nicht,
und bei der Landtagswahl in Hessen am
28. Oktober dürfte sich ihr Aufstieg fort-
setzen. Am Ende könnten sie entscheiden,
ob Volker Bouffier Ministerpräsident
bleibt – und Angela Merkel Kanzlerin. Wahlsieger Hartmann, Habeck auf der Wahlparty in München

28
Doch für Baerbock und Habeck, seit man muss sich da nur mal ihre Werte unter 22 Prozent könnten sich schon nach der
Jahresbeginn Chefs der Grünen, geht es Industriearbeitern oder Arbeitslosen an- nächsten Wahl einen grünen Kanzler oder
um noch mehr, sie planen darüber hinaus. sehen. Doch statt aus zwei Volksparteien eine grüne Kanzlerin vorstellen.
Bayern war aus ihrer Sicht nur ein erster und ein paar Nischenkräften könnte das Baerbock und Habeck reden gern vom
Schritt. Ihr großes Ziel ist es, aus einer Parteiensystem der Zukunft aus mehreren »Bündnis« oder der »Allianz«, die sie
Spartenpartei etwas Neues, Größeres zu mittelgroßen Parteien bestehen, die um schmieden wollen, doch im Kern geht es
machen – nur, was eigentlich genau? die Spitzenposition ringen. Eine davon wä- ihnen schlicht darum, die Grünen breiter
Eine Volkspartei? Das hieße, für fast alle ren dann wohl die Grünen. Nach einer ak- aufzustellen als je zuvor. Fast vier Jahr-
Teile der Gesellschaft wählbar zu sein, und tuellen Umfrage für den SPIEGEL können zehnte nach ihrer Gründung wollen sie die
das trifft auf die Grünen selbst in ihrem sich 47 Prozent der Bürger prinzipiell einstige Protestpartei zur »führenden
aufgepumpten Aggregatzustand nicht zu, vorstellen, sie zu wählen. Und immerhin Kraft im linksliberalen Spektrum« ma-
chen, so drückt es Habeck aus.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Grü-
nen zu diesem Sprung ansetzen. Im No-
vember 2010 erschien der SPIEGEL mit
einer Titelgeschichte über »Die neue deut-
sche Volkspartei«. Damals war es unter
anderem die Atompolitik, die den Grünen
Umfragewerte deutlich über 20 Prozent
bescherte. Doch das war nicht alles.
Wie heute gab es damals breiten Ver-
druss über die Performance einer zerstrit-
tenen Bundesregierung. Was damals Stutt-
gart 21 war, ist 2018 der Hambacher Forst:
Aus einer regionalen Angelegenheit wurde
ein bundesweites Symbol für einen Staat,
der rücksichtslos vorgeht, um mutmaßlich
Widersinniges durchzusetzen. Wieder sind
es die Grünen, die vom Protest derjenigen
profitieren, für die Arbeitsplätze ein eher
nachrangiges Argument sind. Der Slogan
»Hambi bleibt« wirkt wie gemacht für die-
se Partei. Hambi bleibt, Bambi auch.
Doch dieses Mal könnte der Höhenflug
sich verstetigen. Nicht nur das Parteien-
system stellt sich ja gerade neu auf. Auch
das Personal der Grünen ist frischer als
das der Konkurrenz. Vor allem Habeck,
der einerseits knallharter Machtpolitiker
ist, andererseits immer ein bisschen aus-
sieht, als käme er gerade vom Strand, wo
er ein paar Haiku über das Auf und Ab
der Gezeiten verfasst hat, wirkt im links-
liberalen Milieu wie ein Magnet. Und die
Partei ist bereit, ihm zu folgen.
Die Frage ist, was auf dem Weg nach
oben auf der Strecke bleibt. Ob eine Partei
sich für die Belange der Mopsfledermaus
einsetzen und trotzdem das große Ganze
im Blick behalten kann. Ob eine Partei,
die breit werden will, noch spitz sein kann
und scharf. Schon jetzt haben die Grünen
viele Ecken und Kanten abgeschliffen. Aus
der chaotischen Truppe von einst ist eine
staatstragende, größtenteils wohlfrisierte
Partei geworden. Katharina Schulze und
Ludwig Hartmann, ihre Spitzenkandida-
ten in Bayern, hätten auch passable Chan-
BJÖRN KIEZMANN / ACTION PRESS

cen im Wettbewerb um die nettesten


Schwiegerkinder der Nation gehabt.
Was sind die Gründe für den Aufstieg
der Grünen, wo hat er seine Grenzen? Wer
sind die Wähler, die ihnen zulaufen? Und
was würde eigentlich passieren, wenn die
Grünen mal wieder regieren würden?
Hubert Kleinert kommt mit einer Roth-
am Sonntag: Es ist alles ein großer Spaß Händle zwischen den Fingern zur Tür sei-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 29


ner hübsch gelegenen Doppelhaus- Grünen in Bayern nicht 180 000
hälfte in Marburg-Bauerbach. Er Wähler von der CSU abziehen
habe gerade Kaffee gemacht, sagt können – fast so viele wie von der
er, zur weißen Hose trägt er SPD. Mit dem Ruf nach der offe-
schwarzes T-Shirt und schwarze nen Gesellschaft begeistert man
Socken, eine davon auf links. Mit keine Konservativen. Aber womit
einem Berlin-Mitte-Grünen hat dann?
Kleinert rein optisch so viel zu tun Christian Stöckel aus Höchberg
wie ein Campingplatzbewohner bei Würzburg, 53 Jahre alt, Ange-
mit Christian Lindner. Aber Klei- stellter bei der Sparkasse Main-
nert, 64, war schon Grüner, als An- franken, hat es getan. Stöckel, seit
nalena Baerbock aller Wahrschein- vielen Jahren CSU-Mitglied, Bei-
lichkeit nach noch Windeln trug. sitzer im Vorstand des christsozia-
Im Jahr 1983 zog er als einer len Ortsverbands Höchberg, hat
der ersten Grünenabgeordneten bei der Landtagswahl die Grünen
in den Bundestag ein, war später gewählt. Auch wenn es ihm am
hessischer Landeschef und galt als Ende schwerfiel.
Vertrauter Joschka Fischers. Von »Als es dann so weit war und
Wahlergebnissen wie heute konn- ich den Wahlzettel gesehen hab,
ten er und seine Mitstreiter allen- kam ich mir wie ein Verräter vor.
falls träumen, doch Kleinert Aber ich hab mir dann gesagt,
spricht nicht mit der Glut des Ve- Christian, hab ich gesagt, du darfst
teranen, sondern mit der Kühle jetzt nicht den Bauch entscheiden
des Wissenschaftlers, er lehrt mitt- lassen, es muss der Kopf sein«,
lerweile Politikwissenschaften und sagt Stöckel. Und dann habe er es
Verfassungsrecht an der Hessi- einfach getan.
schen Hochschule für Polizei und Es ist der Samstag vor der Bay-

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


Verwaltung. Und er beginnt nicht ernwahl, Stöckel hat als Treff-
mit den Grünen, sondern mit der punkt eine Weinstube in der Nähe
AfD. des Würzburger Hauptbahnhofs
Der AfD? vorgeschlagen. Er sitzt draußen im
»Die AfD ist ja letztlich das Er- Hof und trägt ein klein kariertes
gebnis des Protests gegen den Sakko, seine Finger verraten, dass
grün geprägten, kosmopolitisch- Parteichefs Habeck, Baerbock er ein bisschen aufgeregt ist. Un-
multikulturalistischen Zeitgeist«, »Du hast gesagt, du willst dich drum kümmern« entwegt kneten und knibbeln sie
sagt Kleinert. aneinander herum. Gewählt hat
Das heißt? Polarisierung sie, erst recht nach den Vor- er schon, per Brief, jetzt will Stöckel seine
»Die Grünen waren ja in den letzten gängen in Chemnitz.« Begründung geben, seine Botschaft.
Jahrzehnten sehr erfolgreich darin, die ge- Die Grünen verdanken ihren Aufstieg »Was sich unsere Landes-CSU in den
sellschaftliche Debatte zu prägen«, sagt also einem Monster, das sie selbst miter- letzten Wochen und Monaten geleistet hat,
Kleinert. »Und viele Menschen haben schaffen haben? Die These ist momentan das geht so nicht«, sagt Stöckel. Dann legt
eben mittlerweile den Eindruck, die Politik schwer in Mode, nicht nur unter Wissen- er los, es geht um die Straßenbauabgabe,
kümmere sich zu wenig um die Normalos schaftlern. Auch der ehemalige SPD-Chef um Seehofer und Söder und, natürlich, um
und zu viel um Minderheitenthemen. Wir Sigmar Gabriel wirft seiner Partei vor, sie das Thema Migration. »Unserem schönen
haben doch einen öffentlichen Diskurs, habe zu stark auf den liberal-grünen Zeit- Bayern steht es nicht an, Grenzzäune zu
der sich nach dem Empfinden vieler Men- geist gesetzt und darüber ihre Kernklientel errichten«, sagt er. Dann kommt er auf das
schen nur noch um Vegetarier und Vega- verloren. Man kann lange darüber streiten, Thema, das ihn offenkundig am stärksten
ner dreht und in dem man sich besser nicht wie viel Wahres da dran ist. umtreibt. »Mir geht es um den Umwelt-
als Bratwurstesser outet.« Nicht von der Hand weisen lässt sich al- schutz«, sagt Stöckel. Oder, wie er als
Aber selbst wenn – was hat das mit dem lerdings der zweite Teil der Diagnose: dass evangelischer Christ es ausdrückt: »die Be-
grünen Aufschwung zu tun? die Grünen derzeit Anlaufstelle für einen wahrung der Schöpfung«. Da hätten die
Kleinert hat sich die nächste Roth- Großteil derjenigen sind, die sich eine Grünen »einfach den richtigen Ansatz«
Händle angezündet. »Die Grünen«, sagt »offene Gesellschaft« wünschen, eine von und seien »im Grunde konservativer als
er, »profitieren vom Aufstieg der AfD, Toleranz, Vielfalt, Liberalität geprägte Re- die Regierungspartei«.
weil sie deren natürliche Antipoden sind. publik. Unter den 240 000 Menschen, die Stöckel ist kein Grüner, »eine schwarze
Weil sie auf der exakt entgegengesetzten kürzlich unter dem Motto »Unteilbar« in Seele bin ich«, sagt er, und dass er auch
Seite des Spektrums stehen. Und weil ihre Berlin auf die Straße gingen, dürfte der weiterhin in der CSU bleiben wolle, weil
Klientel, die noch immer vor allem aus Anteil der Grünenanhänger beinahe so er weder mit »Marihuana für alle« etwas
einem akademischen Linksbürgertum hoch gewesen sein wie einst unter Katho- anfangen könne noch mit der doppelten
besteht, nicht in Gefahr ist, von der AfD liken der Anteil der CDU-Wähler. Staatsbürgerschaft. Auch mit der Ehe für
angezogen zu werden.« Sie sei dagegen Es ist, nachdem sich die politischen La- alle habe er länger gehadert. Aber als er
»immun«. ger viele Jahrzehnte lang nach ihrer Hal- dann in Würzburg zu einer Veranstaltung
Wenn es etwa um das Thema Migration tung zu Gerechtigkeits- und Verteilungs- der Grünen gegangen sei, »mit schlechtem
gehe, sagt Kleinert, seien Union und SPD fragen sortiert haben, die neue politische Gewissen, weil man das ja eigentlich nicht
samt ihrer Anhängerschaft »tief gespal- Trennlinie: autoritär gegen liberal, offen macht, zum politischen Gegner gehen,
ten«. Die Grünen hingegen seien konsis- gegen geschlossen. Trotzdem ist das nicht aber auch mit dem Wunsch, den eigenen
tent. »Deshalb begünstigt die derzeitige alles. Wäre es nur das, dann hätten die Horizont zu erweitern«, da habe ihn Katha-

30 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Deutschland

rina Schulze, die grüne Spitzen- neuen Bundesvorstands entschie-


kandidatin, »einfach überzeugt«. dener erzählen, weiterführen.«
»Ich weiß ja, es heißt immer, die Es geht jetzt also um Leute wie
Grünen sind eine Verbotspartei«, Paul Peters, 27, blond, schlaksig,
sagt Stöckel. »Aber manchen Din- zwei Armbändchen am Handge-
gen kommt man eben nur mit Ver- lenk. Neun Jahre lang war er Mit-
boten bei.« Dem Verschwinden glied bei der SPD und den Jusos,
der Grünflächen zum Beispiel. machte mit, engagierte sich im
»Es kann doch nicht sein, dass hier Ortsverein. Doch seit zwei Wo-
jeder Bürgermeister nur daran chen ist er Mitglied der Grünen
denkt, was ihm ein neuer Super- und wird sie nun bei der hessi-
markt oder ein neues Einkaufszen- schen Landtagswahl auch wählen.
trum an Gewerbesteuereinnah- Warum?
men bringt.« So, sagt Stöckel, »Bei den Grünen fühle ich mich
»macht man unser schönes Bayern besser aufgehoben. Sie sind die
kaputt«. Einzigen, die auf echte Zukunfts-
Mit ihrem aggressiven Kurs in themen setzen.«
der Flüchtlingspolitik hat die CSU Peters sitzt in einem Restaurant
christlich geprägte Wähler ver- in Frankfurt am Main bei New
schreckt. Überhaupt haben die York Cheesecake und Apfelwein
Grünen in den vergangenen Jah- und zählt die Gründe auf, die ihn
ren systematisch das Kirchentags- vom Genossen zum Grünen wer-
milieu erobert, besonders das pro- den ließen. Er ist angehender Voll-
testantische. jurist, demnächst legt er das zwei-
Vor allem aber war ihr Kernthe- te Staatsexamen ab, entsprechend
ma, die Ökologie, seit Langem systematisch geht er vor, fängt bei
nicht mehr so präsent wie heute. der Umwelt an, spricht dann über

TIM WEGNER / DER SPIEGEL


Spätestens im gerade erst zu Ende Europa, Digitalisierung, Sozial-
gegangenen Dürresommer däm- politik, Feminismus. Auf jedem
merte den Deutschen, dass sich da dieser Felder hat die SPD aus sei-
gerade tatsächlich etwas ver- ner Sicht massive Fehler gemacht.
schiebt, der Klimawandel also Zum Beispiel, sagt Peters, hätte sie
womöglich doch keine grüne Er- nie zulassen dürfen, dass die Kli-
findung sein könnte. Es gibt das Ex-Sozialdemokrat Peters maziele gekippt werden.
Insektensterben, es gibt den Diesel- »Furchtbar verstaubt, sehr konservativ« Dann sagt er, die Genossen sei-
skandal und Bilder von zugemüll- en einfach »zu oft mit sich selbst
ten Weltmeeren. Alles ziemlich real, ziem- Mittlerweile liebäugelten verstärkt älte- beschäftigt«. Das fange schon im Ortsver-
lich konkret. re Frauen mit den Grünen, die früher CDU ein an: »Furchtbar verstaubt, sehr konser-
Trotzdem gibt es nach wie vor Milieus, und CSU gewählt hätten, heißt es in einem vativ, kümmern sich eher um die eigenen
die den Grünen verschlossen bleiben. internen Analysepapier der Grünenspitze. Probleme vor Ort.« Das mache keinen
Wähler von AfD und FDP wechseln so gut Und mit der Linkspartei gebe es »eine ver- Spaß. Bei den Grünen dagegen könne man
wie nie zu ihnen. Und bei der Bundestags- schärfte Konkurrenz« in den Großstädten, direkt auf Kreisebene mitmachen, also
wahl 2017 waren es eben doch vor allem schreibt darin der Bundesgeschäftsführer eine Etage höher, sagt Peters. »Toll.«
Westdeutsche und Großstädter, eher Jün- Michael Kellner. Doch mit Abstand die Es ist genau das, was sie bei der SPD
gere als Ältere und mehr Frauen als Män- meisten Zugewinne kämen von der SPD. fürchten. Je bedrohlicher die Lage der Ge-
ner, die ihr Kreuz bei den Grünen mach- »Wir profitieren von ihrer Schwäche«, nossen wird, desto misstrauischer schauen
ten. Auch in Bayern triumphierten sie vor schreibt Kellner über die demoskopische sie auf die erfolgreiche grüne Konkurrenz,
allem in den Großstädten, während sie in Entwicklung der vergangenen Monate. Er die sie mittlerweile als eine Art politischen
der Fläche schwächer abschnitten. Die plädiert dafür, den geschwächten Genos- Fressfeind wahrnehmen. Es gab eine Zeit,
Grünen sind derzeit eine Art Staubsauger- sen weitere Wähler abzujagen: »Wichtig 2013 war das, da trat Claudia Roth auf ei-
partei: Sie sammeln auf, was die anderen bleibt, dass wir die Betonung von Gerech- nem SPD-Parteitag auf, Sigmar Gabriel
in der Mitte liegen lassen. tigkeitsthemen, die wir seit Beginn des hatte sie eingeladen. Andrea Nahles würde

SPIEGEL-Umfrage
»Könnten Sie sich vorstellen, bei der nächsten »Könnten Sie sich vorstellen, dass ein »Welchem politischen Spektrum würden Sie
Bundestagswahl die Grünen zu wählen?« Grüner/eine Grüne Bundeskanzler/in wird?« die Grünen zuordnen?«
Ja, sicher/Ja, vielleicht Ja, sicher/Ja, vielleicht Links
36 %
47% 22%
Mitte
Sicher nicht/ wahrscheinlich nicht Sicher nicht/ wahrscheinlich nicht 55 %
Rechts
50% 75% 3%
Kantar Public vom 16. und 17. Oktober; 1040 Befragte; an 100 fehlende Prozent: »Weiß nicht«/ keine Angabe

31
Deutschland

wohl eher Barbara Schöneberger einladen gen die Hose, die ich gerade trage, produ- müht sich aber, eine andere Sprache zu
als Annalena Baerbock. ziert wurde oder mein Laptop, auf dem sprechen, als sie in der Politik üblich ist.
Und noch etwas tut den Spitzengenos- ich gerade schreibe.« Manchmal klingt sie sogar noch ein biss-
sen weh: Seit Willy Brandts Zeiten hat sich Habeck trinkt auch mal Dosenbier, und chen rotzig.
die SPD stets viel darauf eingebildet, er ist zwar Vegetarier, trägt das aber nicht Habeck, Doktor der Philosophie, sagt
Künstler und Intellektuelle auf ihrer Seite vor sich her. So einen kann man ohne häufig Sätze, die erst sehr nachdenklich
zu wissen, zusammen für Gerechtigkeit. Schmerzen wählen, weil er nicht viel ver- klingen, einen dann aber vor allem nach-
Damals war die SPD cool, schick, sexy. langt, eigentlich nur die Stimme bei der denklich zurücklassen, weil man über den
Heute sind es die Grünen. Wahl. Es ist wie bei einem katholischen Sinn nachgrübelt. Nicht immer findet man
Igor Levit, so etwas wie der Pianist der Priester, der mit einem Augenzwinkern zu einen. Gute Umfragewerte kommentiert
Stunde, soll bei ihrem nächsten Bundes- verstehen gibt, dass er das mit dem Zölibat er mit Worten wie »Hoffnungshorizont«.
parteitag im November auftreten. Bei den auch nicht immer so genau nimmt. Baerbock, Politologin mit Spezialisie-
Grünen fühle er sich »nicht nur als Künst- Mitte Mai, ein Termin in Baerbocks und rung auf Völkerrecht, verkündete gleich
ler, sondern eben auch als Staatsbürger« Habecks Büro. Ja, sie haben tatsächlich bei ihrer Bewerbung für den Vorsitz, sie
wahrgenommen, sagt Levit. Bei den ein gemeinsames Büro. werde keinesfalls »nur die Frau an Roberts
Grünen gebe es echte »Offenheit und In- »Annalena hat das große Los gezogen, Seite« sein. Baerbock ist Sachpolitikerin,
teresse«. Vor allem hätten sie eine klare das hier irgendwie hübsch zu machen«, das Schriftstellerische geht ihr eher ab.
Haltung zu »Migration und Integration«. sagt Habeck. Joschka Fischer und Jürgen Trittin, Re-
Die Grünen haben es geschafft: dass »Ohohohoho!«, ruft Baerbock. »Die nate Künast und Claudia Roth kamen aus
Union und SPD gleichermaßen Angst vor klassische Rollenverteilung!« einer Zeit, in der die Grünen noch Bewe-
ihnen haben. Doch das hat jetzt schon sei- Habeck: »Neeneeneeneenee, du hast gung waren und gegen den Mainstream
nen Preis. Eine Partei, die ein breites Spek- gesagt, du willst dich drum kümmern. Ich kämpften. Ihr Grundmodus war die Ge-
trum erreichen will, darf nicht mehr radi- hab gesagt, mir is’ egal.« fechtsbereitschaft. Sie waren hart, kantig,
kal sein. Jedenfalls nicht allzu sehr. Baerbock: »Ja, das stimmt, ich hab ge- und sie konnten ganz schön nerven.
Radikal waren die Grünen, als sie vor sagt, Robert hat keinen Geschmack, des- Baerbock und Habeck kommen aus ei-
20 Jahren fünf Mark für den Liter Benzin halb übernehm ich das.« Sie zeigt auf die ner Gesellschaft, die längst vergrünt ist,
forderten. Als sie aus der Atomkraft aus- Wand. »Und, na ja, der Kalender ist voll, sie reiten den Mainstream, sie wollen eher
steigen wollten, jetzt und sofort. Und sie da komm ich zu nix, deshalb hängt hier sammeln als kämpfen. Das grüne Genom,
waren noch halbwegs radikal, als sie 2013 jetzt dieses pottenhässliche Bild.« die moralische Hybris, blitzt bei ihnen
unter der Regie von Jürgen Trittin ihrer Habeck greift nach einer Zimmerpalme, höchstens als Betriebsunfall auf, so wie
eigenen Klientel eine ganze Liste an Steuer- die sich nach vorn klappen lässt, ohne zu kurz vor der Bayern-Wahl, als Habeck ver-
erhöhungen zumuten wollten. brechen. Palme nach vorn, Palme wieder kündete, von Sonntag an gebe es endlich
Doch dann kam der Veggie Day. Eigent- hoch. »Also, wenigstens haben wir geile »wieder Demokratie in Bayern«. Als Em-
lich war die Forderung, in öffentlichen Pflanzen«, sagt Habeck. pörung aufbrandete, entschuldigte er sich.
Kantinen einmal pro Woche auf Fleisch Es ist alles ein großer Spaß. Und vor Doch so knuffig sie öffentlich rüberkom-
zu verzichten, nicht einmal besonders ra- allem würde es auch auf YouTube funk- men mögen, so zielstrebig arbeiten sie in-
dikal. Doch sie brachte den Grünen den tionieren, Arbeitstitel: Politik macht sich tern am Projekt Diskurshoheit. Als Ha-
Stempel der Verbotspartei ein – und statt locker. beck kürzlich auf einem Podium nach der
dagegenzuhalten, knickten sie ein. So et- In einer Zeit des großen Überdrusses, »grünen Erzählung« gefragt wurde, ver-
was, schworen sie sich, solle ihnen nie wie- an den Parteien, ihren Vertretern, den poli- kündete er selbstbewusst: »Wir reden gar
der passieren. Nun erklären Habeck und tischen Mechanismen, haben die Grünen nicht mehr über eine grüne Erzählung. Wir
Baerbock ständig, sie wollten »radikal und zwei Vorsitzende gewählt, die kaum besser sind darüber hinausgewachsen.« Stattdes-
staatstragend« sein, also irgendwie dick in diese Zeit passen könnten. Das liegt vor sen müsse seine Partei sich jetzt Gedanken
und dünn zugleich. In Wahrheit tun die allem daran, dass es beiden gelingt, irgend- über die Frage machen: »Was ist die ge-
Grünen nicht mehr so richtig weh. Sie zwi- wie anders zu wirken und die Illusion zu sellschaftliche Erzählung?«
cken höchstens noch ein bisschen. erzeugen, sie seien neu, kämen von außen. Übersetzt aus dem Habeck-Deutschen
Statt Verzicht zu fordern, erklären sie Habeck, 49, ist zwar seit fast einem Jahr- hieß das: Wir wollen den Ton angeben,
jetzt, dass der Einzelne ja sowieso kaum zehnt Berufspolitiker und war sechs Jahre und zwar nicht nur bei den Ökothemen,
etwas tun könne. »Wir müssen den Men- lang Landesminister in Schleswig-Holstein, sondern überall. Der italienische Marxist
schen nicht vorschreiben, wann sie kein geht aber in der öffentlichen Wahrneh- Antonio Gramsci hat dafür den Begriff der
Fleisch essen sollen, nämlich donnerstags mung nach wie vor als eine Art politisie- »kulturellen Hegemonie« geprägt.
nachmittags, sondern wir müssen die render Schriftsteller durch. Zu diesem Zweck haben
Agrarpolitik strukturell ändern«, schreibt Baerbock, 37, wurde schon vor neun die Grünen gerade erst die
Habeck in einem seiner Bücher. Und: »Ich Jahren Grünen-Landeschefin in Branden- Parteizentrale umgekrem-
habe keine Ahnung, zu welchen Bedingun- burg und sitzt seit 2013 im Bundestag, be- pelt. Eine neu geschaffene
Grundsatzabteilung soll
Die Grünen
Januar 1980 März 1983 Dezember 1985 März 1990
In Karlsruhe findet der Den Grünen gelingt mit Joschka Fischer wird im In der DDR schließen sich
Gründungsparteitag der 5,6 Prozent der Ersteinzug in Wiesbadener Landtag verschiedene Bürgerrechts-
Bundespartei »Die Grünen« den Bundestag. Im Plenum als erster grüner Minister und Freiheitsbewegungen zu
statt. Die Unterstützer fallen die Abgeordneten der auf Landesebene vereidigt. oppositionellen Gruppen
H. W I ESE L ER / P I CT UR E - ALL I AN C E / DPA
P I CT UR E -A LL I AN C E / DPA

aus verschiedenen Partei durch unkonventionelles In weißen Turnschuhen zusammen. Zur ersten freien
sozialen Bewegungen und Auftreten und Aktionen wie übernimmt er das hessische Volkskammerwahl in der DDR
politischen Strömungen etwa das Mitbringen von Umweltministerium – eine treten sie als Bündnis 90 und
sehen die Partei als Blumen und eines abgestor- Provokation. als Grüne Partei an.
»Anti-Parteien-Partei«. benen Tannenbaums auf.

32
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Bayerische Spitzenkandidatin Schulze: Netteste Schwiegerkinder der Nation

Antworten auf die großen Fragen finden. papier. Immer wieder mussten die Grünen Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den
Im Frühjahr 2020 soll das neue Grundsatz- dort um den Einzug in die Landtage ban- Grünen erzählen«, empfiehlt ihr Bundes-
programm stehen, es soll nach Habecks gen, und schon jetzt schaut die Parteispitze geschäftsführer. Als ob das auf die Schnelle
und Baerbocks Plänen die »vierte Phase mit Sorge nach Sachsen, Thüringen und etwas ändern würde.
der Grünen« einläuten. Phase eins war die Brandenburg, wo im nächsten Jahr Wah- Im Bankert in Berlin-Friedrichshain
Protestphase gleich nach der Gründung, len anstehen. »In Sachsen und Thüringen kann man veganen Kuchen essen, den Kaf-
Phase zwei nennen sie die »Projektphase«, ist auch wenig von der SPD zu gewinnen, fee selbstverständlich auch mit Mandel-
nach der häufig zum Projekt verklärten da sie dort bereits verzwergt ist«, heißt es milch nehmen und Platten kaufen. An ei-
rot-grünen Bundesregierung. Die dritte in Kellners Papier. nem der Tische sitzt Agnieszka Brugger
Phase bezeichnen sie als »Spagatphase«, Zwar kommen diverse grüne Spitzen- und redet über das unwahrscheinlichste
gemeint ist die Zeit seit 2005: Seither sind politiker aus dem Osten, etwa Fraktions- Thema, über das man an diesem Ort reden
die Grünen im Bund Opposition, regieren chefin Katrin Göring-Eckardt, die Europa- kann: die Bundeswehr.
aber in etlichen Ländern mit, in allen mög- politikerin Ska Keller und auch Kellner Brugger, 33, ist seit 2009 im Bundestag
lichen Konstellationen. In der vierten Pha- selbst. Doch kulturell sind die Grünen dort und seither im Verteidigungsausschuss.
se sollen die Grünen nun zur »Plattform« nie wirklich angekommen, sie sind eine Ausgerechnet. Damals, als sie dazustieß,
werden, an der möglichst viele andocken zutiefst westdeutsche Partei, eine Grün- war es zwar schon ein Jahrzehnt her, dass
können. dung der Bundesrepublik, entstanden aus Rot-Grün deutsche Soldaten auf den Bal-
Aber das wird nicht überall funktionie- den Nachwehen von ’68, im Geist von Öko- kan geschickt hatte, aber Grüne und Mili-
ren. Die grüne Landkarte hat nach wie vor logie, Frauenbewegung und antiautoritä- tär, das war noch immer eine sehr distan-
blinde Flecken. Vor allem im Osten. Seit rem Denken. Damit konnten im Osten die zierte Beziehung. Und dann sah Brugger
je tun sich die Grünen dort schwer, daran wenigsten etwas anfangen, und die Grü- mit ihrer roten Mähne und den Piercings
ändert auch der aktuelle Höhenflug wenig. nen haben es in den vergangenen Jahr- auch noch aus, als würde sie eher bei der
»Der Zugewinn in Ostdeutschland ist un- zehnten nie geschafft, diese Fremdheit zu Friedensdemo mitlaufen, als über die Vor-
terdurchschnittlich«, schreibt Bundesge- überwinden. »Als Antwort sollten wir und Nachteile verschiedener Luftverteidi-
schäftsführer Kellner in seinem Analyse- stärker unsere gemeinsame Geschichte als gungssysteme zu fachsimpeln. »Aber das

Dezember 1990 Mai 1993 Oktober 1998 März 1999 Mai 2011 Oktober 2018
Bei den ersten gesamt- Die gesamtdeutschen Die Partei tritt als Junior- Der Kosovokrieg beginnt. Winfried Kretschmann wird Bei den Landtagswahlen
deutschen Bundestags- Grünen und das ostdeut- partner in eine rot-grüne Unter dem grünen Außen- in Baden-Württemberg schneiden die Grünen im
wahlen scheitern die sche Bündnis 90 fusionie- Koalition unter Bundes- minister Joschka Fischer zum ersten grünen traditionell konservativen
West-Grünen an der Fünf- ren auf dem Parteitag in kanzler Gerhard Schröder sind erstmals seit dem Ministerpräsidenten Bayern mit 17,5 Prozent so
prozenthürde. Der ost- Leipzig unter dem Namen ein. Bis 2005 wird die Zweiten Weltkrieg gewählt. stark ab wie nie zuvor in
deutschen Liste Bündnis Bündnis 90/Die Grünen Koalition ein neues Staats- deutsche Soldaten an diesem Bundesland. Die
90/Grüne gelingt der zur heutigen Partei. bürgerschaftsrecht sowie Kampfeinsätzen beteiligt. Partei zieht damit als
Einzug. das Erneuerbare-Energien- zweitstärkste Kraft in den
Gesetz beschließen. Landtag ein.

33
Deutschland

ist ja kein Entweder-oder«, sagt Brugger. Selbst Ministerpräsident Winfried Höhenflüge stand? Das wird von einer
»Grüne Sicherheitspolitik heißt natürlich Kretschmann, konservative Überfigur der politischen Schlüsselqualifikation abhän-
immer, sich für den Frieden und zivile Lö- Grünen, machte in seiner zweiten Amts- gen: ihrem Umgang mit Konflikten.
sungen einzusetzen. Es heißt aber auch, zeit vor allem durch Streitigkeiten mit dem Derzeit gibt es so gut wie keinen Streit
die Mittel zu kennen, die im äußersten Fall Koalitionspartner CDU von sich reden. Im bei den Grünen. Überall aus der Partei
militärisch eingesetzt werden können.« Bundesrat stimmte er in der Migrations- hört man Lob für das neue Spitzenduo, so-
Brugger, mittlerweile stellvertretende politik mehrfach gegen die Linie der eige- gar vom linken Flügel, obwohl doch beide
Fraktionsvorsitzende, hat sich einen Na- nen Partei. Den Unmut der Parteifreunde Chefs zum Realolager gehören. Trotzdem
men gemacht, viele Soldaten kennen sie, tat er als realitätsfernes Gejammer ab. ist abzusehen, dass es auch wieder Ärger
weil sie sich mit geradezu verbissenem Kann der Plan von Habeck und Baer- geben wird bei den Grünen. Vielleicht so-
Fleiß die Details ihres Fachgebiets ange- bock aufgehen? Die vierte Phase, die gar schon bald.
eignet hat, von Rechtsfragen bis zur Lade- Bündnispartei, die Bewegung? Können sie Sollte die Große Koalition platzen, wä-
kapazität verschiedener Transportflug- dieses Mal die harte Landung verhindern, ren die Grünen wie alle anderen Parteien
zeuge. »Ich habe viel zugehört«, sagt die bislang noch am Ende aller grünen gezwungen, sich zu positionieren – entwe-
Brugger. »Ich habe versucht, es anders zu
machen als manche Ausschusskollegen, ANZEIGE

bei denen ich erlebt habe, dass sie den


Soldaten im Auslandseinsatz erst mal Vor-
träge gehalten haben, wie es hier im Ein-
satz so ist.«
Die Grünen haben exzellente Fachpoli-
tiker auch in Themenfeldern, die man
nicht mit ihnen verbindet. So wie Brugger
in der Sicherheitspolitik hat sich die Bun-
destagsabgeordnete Irene Mihalic, eine
Polizistin aus Gelsenkirchen, in der Innen-
politik ihren Ruf erarbeitet. Aber die Grü-
nen haben noch nie in einem Bundesland
den Innenminister gestellt, geschweige
denn im Bund, wo sie seit 13 Jahren in der
Opposition sind. Es ist ihr wunder Punkt:
Vieles, was sie behaupten, mussten sie nie
dem Praxistest unterziehen. Auch in Bay-
ern werden sie ja trotz ihres Wahlsiegs
wohl in der Opposition bleiben.
Auch das erklärt ihren Höhenflug: Die
Grünen sind eine große Projektionsfläche.
Womöglich trägt auch das Scheitern von
Jamaika zu ihrem Erfolg bei. Sie mussten
nicht in die Pflicht, konnten niemanden
durch ihr Handeln in der Regierung ent-
täuschen. Zumindest im Bund nicht. In
den Ländern sieht es anders aus.
Derzeit regieren die Grünen in neun
Bundesländern mit: In Baden-Württem-
berg führen sie ein grün-schwarzes Bünd-
nis an, in Hessen sind sie Juniorpartner
der CDU, in Rheinland-Pfalz Teil einer
Ampel mit SPD und FDP. Es gibt Jamaika
in Schleswig-Holstein, Kenia in Sachsen-
Anhalt, Rot-Rot-Grün in Berlin und Thü-
ringen, Rot-Grün in Hamburg und Bre-
men. Einfach ist es kaum irgendwo.
In Nordrhein-Westfalen etwa, wo sie bis
zur Landtagswahl 2017 mit der SPD re-
gierten, brachte die grüne Schulministerin
Sylvia Löhrmann Lehrer und Eltern im
ganzen Land derartig gegen sich auf, dass
die Grünen am Ende sogar um den Einzug
in den Landtag zittern mussten.
In Berlin stellen die Grünen mit der par-
teilosen Regine Günther die Verkehrs-
senatorin, doch die viel beschworene
Verkehrswende kommt nicht voran. Für
Radfahrer sind die Straßen der Hauptstadt
weiterhin eine verkehrstechnische Wild-
westzone: Der Stärkere setzt sich durch.

34 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


der in neuen Jamaikaverhandlungen oder Während der Gespräche über ein Jamai- gen Transitzonen. Und sie akzeptierten, die
in ihrem Programm für Neuwahlen. Dann kabündnis gaben sich die Grünen-Chefson- Maghrebstaaten als sichere Herkunfts-
würde es nicht mehr reichen, Fragen zu dierer Göring-Eckardt und Cem Özdemir länder für Asylbewerber anzuerkennen.
stellen, es müssten Antworten her. Die Flü- so konziliant, dass sich ihre Gesprächspart- Zur Abstimmung auf dem Parteitag
gel würden sich wieder zu Wort melden, ner aus Union und FDP insgeheim fragten, kam es dann nie. Aber viele Mitglieder ha-
von denen Habeck und Baerbock derzeit wie sie dafür die Zustimmung ihres Partei- ben nicht vergessen, wie geschmeidig ihre
so gern behaupten, sie spielten keine große tags bekommen wollten. Die Forderung Spitzenleute agierten.
Rolle mehr. Realos hier, Linke dort, es gin- nach einem Aus für den Verbrennungs- Ein Septemberabend in Berlin-Kreuz-
ge wieder los. motor gaben sie ebenso auf wie das Jahr berg, Baerbock und Habeck haben 50 Bür-
Und es dürfte noch eine zweite Kon- 2030 als Enddatum für die Kohle. Und sie ger zum Gespräch eingeladen. Niemand
fliktlinie geben: zwischen einer halsstar- opferten zentrale Punkte ihrer Flüchtlings- von ihnen ist Grünenmitglied, sie wurden
rigen, idealistischen, diskutierfreudigen politik: Sie waren bereit, sich mit einer zufällig ausgewählt, jetzt wollen die bei-
Basis – und einer Führung, die unbedingt Härtefallregelung beim Familiennachzug den Vorsitzenden sich anhören, was den
regieren will. zu arrangieren. Sie hatten nichts mehr ge- Bürgern so auf der Seele liegt.
Es geht gemütlich los, ein Mann vom
»Gemeinschaftsgarten Himmelbeet« will
wissen, wie man »gesellschaftliche Teil-
habe« besser organisieren könne. Es geht
um die energetische Sanierung von Miet-
wohnungen, um die Rechtsdrift in der Ge-
sellschaft. Das Frage-Antwort-Spiel läuft
nicht viel anders ab, als es auch bei einer
Grünenversammlung gelaufen wäre. Doch
dann kippt die Stimmung.
»Ich bin tief enttäuscht von den Grü-
nen«, sagt eine Frau. Sie stellt sich als Psy-
chotherapeutin vor, die immer grün ge-
wählt habe, »aber beim letzten Mal nicht
mehr, weil ich diese intellektuelle Arro-
ganz nicht mehr ertrage«. Es geht ihr um
den Aufstieg der AfD.
Statt deren Wählern zuzuhören, ihre
Motive zu verstehen, komme »von euch
nichts als Dünkel«, sagt die Frau. Sie ar-
beite viel mit »Wendeverlierern« und de-
ren Kindern, da gehe es um Demütigun-
gen, um Brüche in der Biografie. »Aber
ich höre von euch praktisch keine adäqua-
te Antwort.« Die Frau redet sich in Rage.
»Gut, vielen Dank auch für die offenen
Worte und die volle Breitseite«, sagt Baer-
bock, sie lächelt ein bisschen gequält und
holt aus zu einer Antwort. Da meldet sich
der Mann neben der Psychotherapeutin
zu Wort: Warum die Grünen eigentlich
nicht jene Dinge benennen würden, die
doch offensichtlich seien: dass derzeit viele
»Männer mit patriarchalem Hintergrund«
nach Deutschland kämen?
Die Frau neben ihm ergänzt: »Viele mei-
ner Nachbarn haben tatsächlich Angst.«
So geht das weiter, statt um Gemein-
schaftsgärten dreht sich die Diskussion um
„WIR GESTALTEN SEIT ÜBER 200 JAHREN DEN WANDEL Integration, um Versäumnisse und grüne
IM RUHRGEBIET. DAS KÖNNEN WIR, WEIL DER WILLE ZUR Naivität. Es ist eigentlich genau das, was
VERÄNDERUNG IMMER SCHON ZUR UNTERNEHMENS- sich Baerbock und Habeck gewünscht hat-
KULTUR VON THYSSENKRUPP GEHÖRT HAT. DIESER ten, raus aus der Nische, rein ins echte Le-
ANSPRUCH TREIBT UNS AN – JEDEN TAG AUFS NEUE.“ ben, ran an die unbequemen Fragen.
GUIDO KERKHOFF, Doch sie wirken an diesem Abend nicht,
VORSTANDSVORSITZENDER DER THYSSENKRUPP AG als hätten sie schon Antworten darauf.
WIR SIND DIE #ZukunftsMetropoleRuhr
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Grüne Welle

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35
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL
Grünenchef Habeck: »Freundlichkeit, Argumente, Zuversicht«

»Der Traum, dass alle grün


denken, ist nicht mein Traum«
SPIEGEL-Gespräch Robert Habeck, 49, über den Erfolg seiner Partei
und politische Kommunikation zwischen Populismus und Political Correctness

SPIEGEL: Herr Habeck, müssen die Grü- hätten nur dann in eine Regierung gehen Eine Volkspartei sind die Grünen ja nicht
nen nicht froh sein, dass sie in Bayern zwar können, wenn die CSU sich bewegt hätte. gerade. Eher eine Elitenpartei.
sehr gut abgeschnitten haben, aber nicht Aber was insgesamt in Deutschland gerade Habeck: Das ist ein Etikett, das ich so nicht
ernsthaft mit Herrn Söder über eine Ko- passiert – nämlich dass die Volksparteien akzeptiere. Es ist ein Kampfbegriff und
alition verhandeln müssen? erodieren –, zeigt, dass etwas Neues ent- ein Vorurteil. Die meisten Besserverdie-
Habeck: Froh? Nein. Ich weiß nicht, ob es stehen muss, damit die Leidenschaft für nenden wählen Union oder FDP. Bei un-
gelungen wäre, mit der CSU etwas Ver- gestaltende Politik irgendwo einen Ort fin- seren Wählern ist die Höhe der Einkom-
nünftiges hinzubekommen. Letztlich kann det. Die Antwort der CSU aber ist nur: men sehr unterschiedlich. Unsere Beschlüs-
man daran begründete Zweifel haben. Wir Wir ändern nichts, wir machen weiter wie se sind sehr häufig gegen diese Idee von
haben eigentlich in allen politischen Posi- bisher. Das wird dem Wunsch nach Verän- Elite gerichtet: höhere Besteuerungen, Re-
tionen gegensätzliche Auffassungen und derung nicht gerecht. duktion des Flugverkehrs und so weiter.
SPIEGEL: In Süddeutschland haben die SPIEGEL: Es geht um ein bestimmtes, eher
Das Gespräch führten die Redakteure Sebastian Grünen die SPD schon abgelöst. Trauen elitäres Milieu. Inwiefern ist es den Grü-
Hammelehle und Stefan Kuzmany in Berlin. Sie sich das auch auf Bundesebene zu? nen denn überhaupt möglich, mit Bevöl-

36
Deutschland

kerungsschichten in Kontakt zu kommen, ren jetzt einen Wahlkampf für starke Grü- SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch beklagen
die weit weg sind von ihnen? ne. Und dann sehen wir, in welcher Koali- Sie die Sprachverrohung und Stigmatisie-
Habeck: Möglich? Das ist unser Alltag. tion am meisten möglich ist. rung in der politischen Auseinanderset-
Die Aufgaben, die ich in Schleswig-Hol- SPIEGEL: Sind die Grünen überhaupt zung*. Ist die denn wirklich neu? Da Sie
stein hatte, haben mich mit lauter Men- noch eine linke Partei oder schon eine bür- Beatrix von Storchs Wort von den »Klima-
schen zusammengebracht, deren Alltag gerliche? nazis« erwähnt haben: Die Nazivergleiche
nicht Politik ist: Landwirten, Fischern, Jä- Habeck: Spannend, dass Sie das fragen. hat die AfD nicht exklusiv, das linke Lager
gern und Bauern … Wir mussten erst mal In vielen Medien wurde nach der Bayern- zieht sie seit Jahren, und das ziemlich infla-
lernen, uns zu verstehen. Aber wir haben wahl von einem bürgerlichen Lager ge- tionär. Der damalige grüne Bundesumwelt-
uns schnell aufeinander zubewegt. Nicht sprochen – aus CSU, FDP, Freien Wählern minister Jürgen Trittin bescheinigte 2001
alle würden jetzt sagen, die Grünen sind und unter Einschluss der AfD. Also, was sogar dem CDU-Generalsekretär Laurenz
toll, aber sehr wohl, das war ein Streit auf heißt bürgerlich? Gerade wir haben auf Meyer die »Mentalität eines Skinheads«.
Augenhöhe und der ist respektvoll geführt Rechtsstaatlichkeit bestanden und die li- Habeck: Sie werden aus allen Parteien Ein-
worden. Viel mehr kann man vielleicht gar berale Demokratie verteidigt, auch gegen zelbeispiele finden, in denen scharf und
nicht verlangen. Der Traum, dass alle grün übergriffige Formulierungen und Taten zu scharf formuliert wurde. Und Naziver-
denken, ist nicht mein Traum. Wichtig ist, der CSU. Vor allem haben wir bürgerliche gleiche sind in aller Regel falsch. Aber wir
dass wir uns verständigen können. Tugenden an den Tag gelegt, die viele bei haben eine neue Dimension. Die Verro-
SPIEGEL: Es ist bislang tatsächlich eine der CSU vermisst haben. Freundlichkeit, hung der Sprache ist Programm einer gan-
Illusion, dass Ihre Partei die sogenannten Argumente, eine einladende Sprache, Zu- zen Partei, wird übernommen von ande-
kleinen Leute erreicht. Durch den Nieder- versicht. Insofern sehe ich zwischen links ren Parteien – »Asyltourismus« zum Bei-
gang der Sozialdemokratie können die und bürgerlich keinen Widerspruch. spiel –, und sie sickert in die Köpfe. Das
Rechten dieses Milieu mehr oder weniger SPIEGEL: Vielleicht ist der Rechtspopu- in einer Zeit, in der die Institutionen unse-
konkurrenzlos umwerben. lismus in Teilen auch eine Antwort auf rer Demokratie an Vertrauen verlieren.
Habeck: Da wir schon über Sprache reden: den Siegeszug Ihrer Partei? Bei einer gan- Die Situation heute ist doch, dass gesagt
»Die sogenannten kleinen Leute« ernied- zen Reihe von Themen ist das gesell- wird, »wir werden sie jagen«, und danach
rigt Menschen. Ich halte es für gefährlich, schaftlicher Konsens geworden, was die Menschen auf der Straße angegriffen wer-
so zu reden. Der Gedanke und das Spre- den, weil sie vielleicht anders aussehen.
chen von Unterschicht und Elite zemen- SPIEGEL: Das Zitat mit dem »jagen« geht
tiert die gesellschaftliche Spaltung schon auf einen Ihrer Vorgänger im Amt des Grü-
im Kopf. Das will ich nicht zulassen. Aber »Die Verrohung der Sprache nensprechers zurück. Ludger Vollmer sagte
wenn Sie schon ein solches Muster anle- ist Programm einer 1994: »Wir werden den Kanzler jagen.«
gen: Herr Höcke und Herr Gauland sind Habeck: Hat er das? Dann ist das eine so
ein Studienrat und ein Staatssekretär aus
ganzen Partei – und sie falsch wie das andere. Ich will ausdrücklich
Westdeutschland, die für ihre politische sickert in die Köpfe.« für mich zugeben, dass mir auch Fehler
Position die Unzufriedenheit, die Angst unterlaufen. Es geht mir in dem Buch nicht
vor Veränderung missbrauchen. darum, eine Sprachpolizei zu etablieren,
SPIEGEL: Mancher in der Unterschicht Grünen früher als Alleinstellungsmerk- sondern die Logik aufzudecken, mit der
sieht das womöglich anders, manche Ost- mal hatten. Ist es so verwunderlich, dass eine andere politische Wirklichkeit herge-
deutschen auch. sich dagegen eine rechte Opposition stellt werden soll, die am Ende eine andere
Habeck: Ich widerspreche erneut. Wenn bildet? Republik bedeuten würde. Wenn eine
man von Unterschicht redet, sagt man, Habeck: Das hieße übersetzt: Weil wir für Sprache permanent gewalttätige Meta-
dass das keine vollwertigen Bürger sind, gleiche Rechte etwa für Frauen und phern produziert, wenn der Faschismus
sondern irgendwie minderwertige. Ein Homosexuelle eingetreten sind, ist es eine als »Vogelschiss« der Geschichte bezeich-
Kernproblem ist ja genau das: dass sich zu politische Zwangsläufigkeit, dass jetzt net wird, wenn man von Umvolkung redet,
viele, gerade in Ostdeutschland, nicht ge- Rechtspopulisten Frauen und Homosexu- dann hat das System. Dann spricht da ein
sehen, nicht gehört fühlen. Ob wir es schaf- elle diffamieren? Das ist eine defätistische Weltbild und ein Denken, das offensicht-
fen, das aufzubrechen, weiß ich nicht. Weltsicht. Sie passt im Übrigen nicht dazu, lich grundlegende Kategorien der Zivilisa-
Aber wir haben fest vor, uns dieser Aufga- dass Rechtspopulisten auch da erstarken, tion, auf die wir unsere Demokratie gebaut
be zu stellen. Mein Heimatland Schleswig- wo die Grünen keine Rolle spielen. Wir haben, nicht mehr anerkennt.
Holstein ist ja ein sehr konservatives Land, sollten weiter daran arbeiten, dass es eine SPIEGEL: Auch die Grünen haben, bis sie
in ganzen Regionen galten die Grünen im- Geschichte des Fortschritts und der glei- 1998 erstmals im Bund an der Macht wa-
mer als die Spinner aus der anderen Welt. chen Rechte gibt. Das Leben im Jahr 2018 ren, 20 Jahre lang Angst geschürt. Es wa-
Nach zehn Jahren Arbeit hat sich das ge- ist ein besseres, freieres, emanzipatorische- ren eben andere Themen, nicht die Angst
dreht. Und jetzt Bayern. Wir können einen res Leben als 1980. vor den Fremden, sondern die Angst vor
Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft SPIEGEL: Auch ein Verdienst der Grünen. dem Waldsterben, die Angst vor Atomun-
nicht immer weiter auseinanderfällt. Es Habeck: Es ist eine gemeinsame Errungen- fällen, vor dem Wettrüsten, vor der Kli-
wird der Lackmustest, ob wir das auch in schaft dieser Gesellschaft. Und das Ge- makatastrophe. Die Grünen waren lange
Ostdeutschland einlösen können. Da muss meinsame müssen wir erhalten. Das be- Zeit eine apokalyptische Partei.
alle Konzentration draufgehen nach der deutet, dass wir über alles streiten sollten Habeck: Entschuldigung, wenn ich das
Wahl in Hessen. und können. Außer darüber, dass Men- mal scharf zurückformulieren darf …
SPIEGEL: Würden Sie in Hessen eigentlich schen niedergemacht werden in einer Spra- SPIEGEL: Bitte.
eine rot-rot-grüne Koalition mittragen, che der Ausgrenzung und des Hasses. Wer, Habeck: … das ist schon ein Unterschied.
falls die Mehrheit da wäre? wie die Rechtspopulisten, von »grünen Na- Richtig ist, dass Angst als politischer Aus-
Habeck: Ausschließeritis – dieses Wort zis« redet, von »Klimanazis« und so wei-
wurde ja in Hessen erfunden – lähmt das ter, will eben nicht die Auseinanderset- * Robert Habeck: »Wer wir sein könnten. Warum un-
politische System. Wir haben fünf Jahre zung, sondern die Abschaffung der Ausei- sere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache
gut mit Schwarz-Grün gearbeitet und füh- nandersetzung. braucht«. Kiepenheuer & Witsch; 128 Seiten; 14 Euro.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 37


Deutschland

CHRISTOPH SOEDER / DPA


Teilnehmer der Demonstration »Unteilbar« in Berlin: »Das Gemeinsame müssen wir erhalten«

löser einfach stark wirkt und dass alle Par- Logischerweise schließt das immer Men- lieu mit seiner Sprachpolitik eigentlich
teien, die sich als außerparlamentarische schen aus. einen Gefallen? Deren Kehrseite ist der
Bewegung verstehen oder gründen, ver- SPIEGEL: Schließt nicht auch eine politisch Vorwurf des »nanny state«, der politisch
führt sind, über diese Angstschiene zu korrekte Sprache Menschen aus – nur korrekten Sprachpolizei, die andere be-
agieren. Alle Menschen, mich wieder ein- auf anderer Ebene? Menschen etwa, die vormunden will.
geschlossen, reagieren auf solche Angst- nicht nachvollziehen können, warum Habeck: Eigentlich ist in meinen Augen
bilder emotional stärker, als wenn man man jetzt nicht mehr Mohrenapotheke sa- der Unterschied zwischen Flüchtlingen
sagt, lass uns doch mal einen gepflegten gen sollte? Oder was das Kürzel LGBTQ und Geflüchteten egal. Wichtig ist aber,
Diskurs führen. Aber ob man eine Angst bedeutet? dass niemand beleidigt und herabgesetzt
vor einem ökologischen Zustand versucht Habeck: Es ist eine Gefahr, dass die politi- wird. Sprachpolizei ist übrigens auch ein
in Worte zu fassen oder eine Sprache der sche Sprache zu technisch, zu unanschau- Kampfbegriff der Rechten.
Angst benutzt, die gegen Menschen hetzt, lich, zu konstruiert ist. Das stimmt. Und SPIEGEL: Vielleicht rührt der Erfolg der
die Menschen ausschließt – das ist eben wenn man deshalb nicht mit Menschen Populisten auch daher, dass sie einem Be-
nicht das Gleiche. Auf diesen Unterschied diskutiert, weil sie nicht alle Abkürzungen dürfnis nach Deutlichkeit nachkommen.
müssen wir bestehen. Hinzu kommt: Wir draufhaben oder Asylant statt Geflüchte- Auf der anderen Seite haben wir ja diese
haben als Partei reale Antworten auf die ter sagen, dann ist das auch falsch. völlig unscharfe, unklare Sprache.
Probleme gefunden. Nicht Angst ist unser SPIEGEL: Erklären Sie doch mal einer Habeck: Das Bedürfnis nach Deutlichkeit,
politisches Programm, sondern Lösungen SPIEGEL-Leserin oder einem SPIEGEL-Le- das habe ich auch. Mein Buch handelt im
sind unser Programm – auch das ein fun- ser, warum sie nicht mehr Flüchtlinge sa- Grunde von der Überlegung, wo die Gren-
damentaler Unterschied. gen sollten, sondern Geflüchtete. ze ist zwischen einem scharfen, pointierten
SPIEGEL: So lobenswert man Ihr politi- Habeck: Einige meinen, dass das Wort demokratischen Streit und dem Über-
sches Engagement finden mag, Sie müssen Flüchtling durch die Endung »ling« ver- schreiten dessen, dass eben kein Streit
zugeben, dass Ihre Partei auch heute ein niedlicht. stattfindet, nämlich dass Menschen aus-
Angstszenario entwirft: Das von der rech- SPIEGEL: Ja? Da hören sie etwas heraus, geschlossen werden, nicht mitstreiten dür-
ten Gefahr. was wir so nicht erkennen können. Es fen, keine Meinung haben sollen. Deswe-
Habeck: Noch mal: So was kann man nur gibt ja die These, man könne heute nicht gen würde ich sagen, dass der Übergang
gleichsetzen, wenn man auf die inhaltliche mehr alles sagen. Tut sich das grüne Mi- von einer streitbaren Politik zu einem
Unterscheidung verzichtet. So rechtfertigt Populismus genau da verläuft, wo nicht
man das autoritäre oder das völkische mehr alle mitreden sollen, sondern Men-
Sprechen. Wenn Volk nicht als Staatsvolk schen ausgeschlossen werden. Und das ist
im Sinne unsere Grundgesetzes verstan- »Der Übergang von dann auch die Grenze von demokratischer
den wird, sondern als »völkisch«, als scharfem Streit zu Popu- Sprache.
irgendeine angenommene biologistische SPIEGEL: Herr Habeck, wir danken Ihnen
Entität, dann heißt das, dass bestimmte
lismus ist da, wo nicht für dieses Gespräch.
Leute eben nicht dazugehören sollen. mehr alle mitreden sollen.«
38 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018
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Deutschland

Der Pakt am Rhein


Lindner hat schon mehrfach erklärt,
dass Jamaika ohne vorherige Neuwah-
len ausgeschlossen sei. Doch wie immer
in der Politik sind die Dinge im Fluss.
Lindner rechnet damit, dass die SPD
Regierung Der Fortbestand der Großen Koalition ist nach die Große Koalition spätestens zur Mit-
der bayerischen Landtagswahl offener denn je. Die alten Freunde te der Legislaturperiode verlässt. In der
Armin Laschet und Christian Lindner sehen darin eine Chance. Unionsspitze sehen viele das ähnlich.
Kann die FDP dann wirklich darauf be-
stehen, dass es Neuwahlen oder allenfalls

W elchem CDU-Politiker steht Chris-


tian Lindner am nächsten? Es
ist die Art Frage, auf die man als
Spitzenpolitiker besser eine ausweichende
lation bald wieder aktuell werden, die für
diese Legislaturperiode schon abgeschrie-
ben schien: eine Jamaikakoalition aus
Union, FDP und Grünen.
eine Minderheitsregierung mit Duldung
der Liberalen gibt?
Der FDP-Chef sitzt im Bordrestaurant
eines ICE in Richtung Berlin, vor ihm ein
Antwort gibt. Umso erstaunlicher, dass Wie stark das Thema vor allem CDU Glas Rioja und ein Teller Rostbratwürste.
sich Lindner darauf eingelassen hat. »Da und CSU umtreibt, war in den vergange- Eines möchte Lindner gleich zu Anfang
kann ich niemanden exklusiv nennen«, nen Tagen zu besichtigen. »Ich hätte Ja- klarstellen: Sein Verhältnis zu Spahn und
sagte der FDP-Chef kürzlich in einem »Fo- maika gerne gemacht. Es wäre auch eine Dobrindt werde von der Presse deutlich
cus«-Interview, um dann anzufügen: »Oft Chance gewesen, Gräben zuzuschütten«, überbewertet, sagt er. Dass er selbst dazu
wird etwa übersehen, dass ich mit Armin sagte der parlamentarische Geschäftsfüh- beigetragen hat, den Eindruck einer engen
Laschet 2017 in Nordrhein-Westfalen ei- rer der Unionsfraktion, Michael Grosse- Verbindung zu den Merkel-Kritikern zu
ne erfolgreich arbeitende Koalition gebil- Brömer. »Jamaika wäre eine gute Regie- erwecken, erwähnt er nicht. Dafür lobt er
det habe.« rung geworden, eine spannende Regie- den nordrhein-westfälischen Regierungs-
Es ist nicht das erste Mal, dass Lindner rung«, sagte CSU-Chef Horst Seehofer. chef umso ausführlicher. Politisch halte er
demonstrative Nähe zu Unionspolitikern Und CDU-Vize Thomas Strobl erklärte, er viel von dem Ministerpräsidenten: »Ich
zeigt. Im April 2017 ließ er sich beim halte ein Revival von Jamaika für denkbar, habe keinen Zweifel, dass Laschet das
Wein mit Jens Spahn und Alexander Do- sollte die Große Koalition scheitern. Zeug zum Kanzler hat.«
brindt ablichten, der eine heute Laschet ist da seiner Mei-
Gesundheitsminister, der an- nung. Und es spielt ihm in die
dere CSU-Landesgruppenchef. Hände, dass aufgrund der mie-
Spahn und Dobrindt gehören sen Umfragewerte niemand
zu den schärfsten Kritikern der Lust hat, sich dem Wähler zu
Flüchtlingspolitik Angela Mer- stellen. Zumindest in der CDU.
kels. Das Foto sollte Lindners Auch eine Minderheitsregie-
Distanz zur Bundeskanzlerin rung hat in der Unionsspitze
verdeutlichen. wenig Anhänger. Es wäre für
Lindners öffentliches Be- Lindner nicht einfach, wieder
kenntnis zu Laschet vermittelt den Koalitionsverweigerer zu
eine andere politische Bot- geben.
schaft: Es gibt Unionspolitiker, Zumal die Liberalen derzeit
mit denen er sich eine Zusam- nicht von der Schwäche der
menarbeit in der Regierung vor- Union profitieren. Bei der Land-
stellen kann. Zumindest bei ei- tagswahl in Bayern konnten
nem ist dieses Signal angekom- Grüne und AfD massiv Kapital
men. Laschet hat das Interview aus dem Niedergang der CSU
aufmerksam gelesen. Er sieht es schlagen. Die FDP verbesserte
wie Lindner. Die beiden politi- dagegen ihr Ergebnis um weni-
schen Freunde aus Nordrhein- ger als zwei Prozentpunkte und
Westfalen könnten schon bald schaffte nur knapp den Einzug
dafür sorgen, dass die Ära Mer- in den Landtag.
kel nach 13 Jahren endet. Die angeblichen inhaltlichen
Ihnen kommt zugute, dass Differenzen, mit denen Lind-
noch nie eine Regierungskoali- ner im November 2017 den Ab-
tion von drei Parteivorsitzen- bruch der Jamaikaverhandlun-
den geführt wurde, die um ihr gen begründete, wiegen nicht
Amt bangen müssen. Derzeit so schwer wie öffentlich immer
scheint alles möglich: In der behauptet. Sollte die CDU der
SPD drängen viele Funktionäre FDP-Forderung nach Abschaf-
Parteichefin Andrea Nahles zu fung des Solidaritätszuschlags
MICHAEL KAPPELER / DPA

einem Ausstieg aus dem unge- zustimmen, könnte Lindner sei-


liebten Bündnis. In der Union nen Leuten kaum erklären, wa-
stehen Horst Seehofer und An- rum die FDP nur nach Neuwah-
gela Merkel unter massivem len in eine Regierung eintreten
Druck. Es ist nicht ausgeschlos-
sen, dass beide zum Jahresende * Während der Verhandlungen über eine
nicht mehr im Amt sind. Dann Gesprächspartner Lindner, Laschet* Jamaikakoalition im vergangenen Jahr
könnte eine politische Konstel- »Kein Zweifel, dass er das Zeug zum Kanzler hat« in Berlin.

40
wolle. Zumal ein solches Bündnis sowohl
für Laschet als auch für Lindner den Aus-
weg aus einem Dilemma öffnen würde:
Der FDP-Chef wäre endlich den Vorwurf
los, er scheue politische Verantwortung.
Laschet hätte eine Antwort auf die Frage,
Jetzt im
warum die CDU ausgerechnet ihm den
Parteivorsitz anvertrauen sollte. Handel
Dass Laschet gern CDU-Chef und Kanz-
ler wäre, daran zweifelt niemand in der
Union. »Als Ministerpräsident von NRW
muss er den Anspruch haben, auch Kanz-
ler zu werden«, heißt die Formel, mit der
Laschets Vertraute versuchen, dessen Ehr-
geiz in den Mantel der staatspolitischen
Verantwortung zu kleiden.
Laschet gilt derzeit neben Generalse-
kretärin Annegret Kramp-Karrenbauer als
aussichtsreichster Anwärter auf die Nach-
folge Merkels. Gesundheitsminister Spahn,
der das Amt auch heiß begehrt, werden
nur Außenseiterchancen eingeräumt, was
Lindner nicht entgangen ist. Laschets Aus-
gangslage dagegen ist vielversprechend.
Er muss möglicherweise nicht einmal
warten, bis die SPD die Koalition verlässt.
Falls die Bürger bei der Landtagswahl
Ende Oktober in Hessen den CDU-Minis-
terpräsidenten Volker Bouffier abwählen,
wird in der Partei die unterschwellig längst
geführte Debatte um Angela Merkel in al-
ler Heftigkeit ausbrechen. Es wäre fraglich,
ob die Kanzlerin beim CDU-Parteitag im
Dezember noch einmal antreten könnte.
Da Merkel stets betont hat, Parteivor-
sitz und Kanzlerschaft gehörten für sie zu-
sammen, müsste sie auch ihr Amt als Re-
gierungschefin aufgeben. Das wäre wohl
das Ende der Großen Koalition, da die
SPD wenig Interesse daran hat, einen an-
deren CDU-Politiker für die kommende
Bundestagswahl mit dem Kanzlerbonus
auszustatten. www.spiegel-wissen.de
Dann könnte Laschet, der nicht gegen
Merkel kandidieren würde, seine Chance
ergreifen. Er ist davon überzeugt, dass die
Partei einen personellen Wechsel an der
Spitze, aber keinen grundlegenden Kurs-
wechsel will. Wer könnte überzeugender
für eine Jamaikakoalition werben als er?
Nicht nur zur FDP, auch zu den Grünen
pflegt Laschet gute Kontakte. Er gehörte
zur »Pizza-Connection«, in der vor mehr
als 20 Jahren junge Abgeordnete in Bonn
die schwarz-grüne Annäherung übten. Lesen Sie in diesem Heft:
Den früheren Grünenchef Cem Özdemir
nennt Laschet einen persönlichen Freund.
Zur Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-
Geschwister
Eckardt hat er ein herzliches Verhältnis,
mit ihrem Amtskollegen Anton Hofreiter
Gemeinsam sorgen – ohne Streit
ist er per Du.
Auch Kramp-Karrenbauer versteht sich
gut mit den Grünen. Ihr Verhältnis zur
Wut und Stress
FDP ist dagegen nicht spannungsfrei, wo-
rauf man in der nordrhein-westfälischen
Wenn die Helfer Hilfe brauchen
CDU-Spitze gern hinweist. Viele Liberale
haben nicht vergessen, dass die damalige Abschied
DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 41 Würde bis zum Ende
Deutschland

saarländische Ministerpräsidentin wegen für das Thema zuständig war. »Da sind tionsvertrag aus. »Das war das Modell für
der FDP Anfang 2012 die Jamaikakoali- wir uns fachlich und persönlich näher- ein faires Miteinander, in dem jeder seine
tion beendete – und das ausgerechnet am gekommen, was auch daran liegt, das Ar- Punkte machen kann«, erzählt Lindner.
Dreikönigstag, an dem sich die Liberalen min Laschet ein geselliger Typ ist«, sagt So könnte es bald wieder sein. »Wenn
traditionell in Stuttgart feiern. Lindner. es so weit kommt und Armin Laschet an-
Die enge Beziehung zwischen Laschet Die persönlichen Verflechtungen wur- rufen würde«, sagt Lindner, »wäre trotz
und Lindner ist dagegen nicht gespielt. den stärker. Laschets Büroleiterin war zwei mancher Reibung das nötige Vertrauen für
Die beiden lernten sich 2005 kennen, als Jahre lang Lindners Lebensgefährtin. Nach Gespräche da.«
Laschet Familienminister in Düsseldorf der Landtagswahl 2017 handelten die bei- Ralf Neukirch, Christoph Schult
wurde und Lindner in der FDP-Fraktion den Parteichefs den schwarz-gelben Koali-

Gleichstellung Immer mehr FDP-Männer können sich eine sagt die Abgeordnete Katharina Will-
komm. Und ihre Fraktionskollegin Britta
Frauenquote vorstellen. Ihr Problem: Die Frauen sind dagegen. Katharina Dassler findet: »Starke Frauen
setzen sich auch so durch; mit der Quote

Klub junger Herren wird die Leistung erfolgreicher Frauen


abgewertet.« Nicht einmal Ria Schröder,
die Vorsitzende der Jungen Liberalen,
kann der Quote etwas abgewinnen: »Ich
bin für Chancengerechtigkeit, eine Frauen-
quote lehne ich ab.«
Das letzte Mal, dass die FDP über die
Quote heftig diskutierte, war 2011 auf
dem Parteitag in Rostock. Damals brach-
ten die parteinahen Liberalen Frauen
einen entsprechenden Antrag ein. Doch
die Parteiführung und auch Christian
Lindner, damals Generalsekretär, stopp-
DET KEMPE FÜR GALA

ten das Vorhaben. Für die Liberalen Frau-


en war das ein Affront. Heute will nicht
einmal diese Gruppe von dem früheren
Vorschlag etwas wissen: »Es gibt dazu
FDP-Frauen Lencke Steiner, Beer, Suding: »Künftig mit einer Doppelspitze« keine Beschlusslage und somit auch keine
Forderung«, sagt die Vorsitzende Katja
Grosch.
 Das Allgäu ist nicht wirklich eine Hoch- die den Missstand beheben soll. Im nächs- An einem Sonntag hat eine lokale
burg der FDP, trotzdem feiern sie Chris- ten Jahr soll sie Ergebnisse liefern. Frauengruppe Katja Suding ins bayerische
tian Lindner hier wie einen Superstar. Der Dabei könnte auch ein Instrument ein- Weißenhorn eingeladen. Eine Kommunal-
Saal ist brechend voll, als der FDP-Chef gesetzt werden, das für viele Liberale politikerin hält eine Ansprache: »Ja, wir
neulich im schwäbischen Kempten auftritt. bislang tabu war: eine Frauenquote für Frauen müssen uns gegen Männer wehren,
Nach seiner Rede wird er am Bühnenrand Parteigremien und Listenplätze. Lindner die lang ausschweifende Reden halten«,
regelrecht überrannt von jungen Anhän- selbst hat gegenüber Parteifreunden Offen- sagt sie. Stille, wieder sind überwiegend
gern. Schritt für Schritt tritt Lindner heit für die Idee signalisiert. Es müssten Männer anwesend. Dann sagt Suding, was
zurück, jeder will ein Selfie mit dem Par- alle Optionen ergebnisoffen diskutiert wer- sie immer sagt, wenn von der Geschlech-
teichef. Irgendwann steht er mit dem den, sagt er. Der stellvertretende Fraktions- tervorgabe die Rede ist. Quote nein, und:
Rücken zur Wand, vor ihm seine Bewun- chef Michael Theurer hält sogar »eine Man müsse die Parteistrukturen »familien-
derer. Es sind fast alles Männer. Quotierung bei der Vorstandswahl« für freundlicher« gestalten, kürzere Sitzun-
Lindners größter Erfolg, die Rückkehr denkbar. »Ich kann mir auch vorstellen, gen, weniger Wochenenden. »Frauen muss
der FDP in den Bundestag, stellt den Par- dass die Freien Demokraten künftig mit man in der Tendenz eher ansprechen«,
teichef zugleich vor ein Problem: Mehr einer Doppelspitze bei Wahlen antreten«, sagt Suding, notfalls müsse man sie zur
denn je ist die FDP zu einem Herrenklub sagt er. »Wir sollten die Diskussion über Kampfkandidatur ermuntern.
geworden. Mit dem ganz auf seine Person die Quote ohne Vorbehalte führen«, sagt Immerhin scheint sich inzwischen das
zugeschnittenen Bundestagswahlkampf der Abgeordnete Konstantin Kuhle. Und Verhältnis zwischen Lindner und den
gewann er viele männliche Erstwähler hin- auch Fraktionsvize Stephan Thomae, Liberalen Frauen zu entspannen. Sein
zu, Firmengründer, Influencer, digitale der eine Quote bisher zwar abweist, will Amtsvorgänger Guido Westerwelle wahr-
Egozentriker, die sich mit der schwarz- sich der Diskussion nicht verschließen. te stets höfliche Distanz zu der Gruppe –
weißen Wahlkampffigur Lindner identifi- Doch ausgerechnet die Frauen in der Lindner twitterte neulich ein Foto: er in
zieren konnten. Der ohnehin niedrige Partei lehnen die Quote ab. In der Partei- der Bundestagskantine mit den Liberalen
Frauenanteil bei den Parteimitgliedern spitze will sie nur die stellvertretende Frauen. Ein Novum in der Partei. Er
sank dagegen im Zuge der Bundestags- Vorsitzende Marie-Agnes Strack-Zimmer- will sich nun regelmäßig mit der Gruppie-
wahl auf nur noch knapp 22 Prozent. mann nicht ausschließen, die Vorstands- rung treffen, um ein Signal an weibliche
Unter den Neuzugängen sind sogar nur mitglieder Nicola Beer und Katja Suding Wähler zu senden. Schließlich handle es
18,5 Prozent weiblich. Lindner hat des- sind dagegen. »Ich will nicht im Bundes- sich bei den Frauen um »ein nicht
halb bereits eine Kommission gegründet, tag sitzen, nur weil ich eine Frau bin«, gehobenes Potenzial«. Timo Lehmann

42 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Deutschland

»Regierung für vier Jahre«


SPIEGEL-Gespräch Wirtschaftsminister Peter Altmaier, 60, warnt vor einem Scheitern der
Großen Koalition und plädiert für eine neue staatliche Industriepolitik.

SPIEGEL: Herr Minister, bei der bayeri-


schen Landtagswahl hat die CSU das
schlechteste Ergebnis seit 1950 eingefah-
ren, und die Union ist in den Umfragen
bundesweit auf ein Rekordtief gestürzt.
Sind Sie sicher, dass Angela Merkel am
Jahresende noch Kanzlerin ist?
Altmaier: Die Koalition befindet sich in
einer schwierigen Situation, das ist jeder-
mann bewusst. Wenn die SPD in den Um-
fragen bundesweit bei 16 und die Union
bei 27 Prozent liegt, ist das für beide Par-
teien eine große Herausforderung. In der
CDU sind wir uns allerdings sehr einig,
dass wir den Problemen nicht mit Personal-
debatten, sondern mit einer Schärfung des
inhaltlichen Profils begegnen werden.
SPIEGEL: Bleibt es dabei auch, wenn die
Union bei den Landtagswahlen in Hessen
nächste Woche schlecht abschneiden
sollte?
Altmaier: Nachdem die FDP die Sondie-
rungen über ein Jamaikabündnis verlassen
hat, haben wir uns in der Union im ver-
gangenen Herbst entschieden, eine Regie-
rung mit der SPD für vier Jahre zu bilden,
mit Angela Merkel als Kanzlerin. Ich kann
weder in der Bevölkerung noch in der Par-
tei eine ernst zu nehmende Bewegung er-
kennen, die Führungsfrage oder die Koali-
tionsfrage neu zu diskutieren. Deshalb er-
warte ich, dass auch vom Bundesparteitag
im Dezember ein Signal der Geschlossen-
heit ausgehen wird.
SPIEGEL: Immerhin sympathisieren sicher
15 Prozent der Bevölkerung mit der AfD,
deren Schlachtruf lautet: »Merkel muss
weg«.
Altmaier: Es ist nicht zu übersehen, dass
der rechte Flügel der AfD seit Jahren eine
hasserfüllte Kampagne gegen die Kanzle-
rin führt. Gerade deshalb wird die Union
alles tun, damit diese Leute nicht am Ende
triumphierend erklären können, sie hätten
sich durchgesetzt.
SPIEGEL: Bundestagspräsident Wolfgang
Schäuble gehört nicht der AfD, sondern
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL

der CDU an. Aber selbst er sagt, die Kanz-


lerin habe an Beliebtheit eingebüßt.
Altmaier: Alle Politiker haben ihre Ämter
nur auf Zeit. Das heißt aber nicht, dass ihr
Karriereende mit dem Lineal vorausbe-
stimmt werden könnte. Wolfgang Schäuble
zum Beispiel ist seit 46 Jahren eine Be-
reicherung des politischen Lebens in der
Republik. Manche Jüngere haben sich da- CDU-Politiker Altmaier: »Die AfD führt seit Jahren eine hasserfüllte Kampagne gegen die Kanzlerin«

44
gegen schon nach drei Jahren verbraucht. Weltwirtschaftsforum hat Deutschland ge- Deutschland einige der besten Forscher
Die Kanzlerin hat selbst auf dem Höhe- rade wieder als eine der innovativsten der Welt, nur stehen sie oft längst bei den
punkt der Flüchtlingskrise außerordentlich Volkswirtschaften ausgezeichnet. großen amerikanischen Internetkonzer-
hohe Zustimmungswerte gehabt. Das hat SPIEGEL: Die Frage ist nur, wie lange das nen unter Vertrag. Häufig wissen unsere
sich bis heute nicht geändert. so bleibt. Viele Ökonomen sind skeptisch, Unternehmen zu wenig darüber, was Uni-
SPIEGEL: Unbestritten ist aber, dass die weil die USA und China die digitale Revo- versitäten oder Forschungseinrichtungen
schwarz-rote Regierung seit ihrem Amts- lution wesentlich beherzter vorantreiben gerade entwickeln. Hier müssen wir für ei-
antritt kontinuierlich an Zustimmung ver- als die Bundesrepublik. nen besseren Austausch sorgen.
loren hat. Ist dieses Bündnis überhaupt Altmaier: Deutschland hat in den vergan- SPIEGEL: Bislang galt es als Stärke der
noch zu retten? genen 15 Jahren gezeigt, wie eine reife deutschen Industrie, dass sich der Staat
Altmaier: Davon bin ich überzeugt. Das Volkswirtschaft erfolgreich mit den He- aus der Wirtschaft weitgehend heraushält.
Klima in der Koalition ist viel besser, als rausforderungen der Globalisierung fertig Wollen Sie das ändern?
die Streitereien es nach außen erkennen werden kann. Für die Zukunft müssen wir Altmaier: Nein, der Staat ist meist ein lau-
lassen. Union und SPD müssen den Mut das erst noch beweisen. Die digitale Revo- siger Unternehmer. Aber es gibt Ausnah-
haben, sich stärker zu ihren Gemeinsam- lution erfasst alle Bereiche unserer Wirt- men, wie das Beispiel Airbus zeigt. Auch
keiten zu bekennen und auch größere Pro- schaft, die Welt der Maschinen und das In- das galt anfangs als Verlustprojekt, und heu-
jekte anzupacken: von einer wirksamen ternet wachsen zusammen. Diesen Pro- te erzielt es die Hälfte der weltweiten Flug-
Steuerentlastung über eine verantwor- zess müssen wir aktiv gestalten, wenn wir zeugumsätze. Manchmal, wenn wichtige
tungsvolle Energie- und Klimapolitik bis die Arbeitsplätze der Zukunft in Deutsch- Industrien ins Ausland abzuwandern dro-
zum Zuwanderungsgesetz, auf das wir uns land schaffen wollen. hen, sollte der Staat eben bereit sein, un-
vor wenigen Tagen geeinigt haben. Das ist SPIEGEL: Was haben Sie vor? ternehmerische Entwicklungen anzustoßen.
ein echter Durchbruch, dessen segensrei- Altmaier: Ich werde in Kürze eine Indus- SPIEGEL: Woran denken Sie dabei?
che Wirkungen für Wachstum und Wohl- triestrategie vorlegen, die auf den beiden Altmaier: Das wichtigste Beispiel ist die
stand gar nicht hoch genug eingeschätzt Säulen »stärken« und »schützen« beruht. Produktion von Batteriezellen. Wir wer-
werden können. Die Regierung muss sich deshalb raushalten, den erleben, dass die Stromspeicher bald
SPIEGEL: Gleichwohl gibt es in der SPD wo es gut läuft, zum Beispiel in dem relativ überall eingesetzt werden, von Bohrma-
eine breite Stimmung, die Koalition lieber jungen Geschäftsfeld des 3-D-Drucks, wo schinen über elektrische Fahrräder und Au-
heute als morgen zu verlassen. In der tos bis hin zu Flugzeugen. Es geht um Zehn-
Union wird diskutiert, in diesem Fall ent- tausende Arbeitsplätze, um Wertschöp-
weder mit FDP und Grünen erneut über fungsketten im Land und um Know-how
eine Jamaikakoalition zu verhandeln oder »Der Staat ist ein lausiger für die Zukunft. Deshalb wird die Bundes-
eine Minderheitsregierung zu bilden. Was Unternehmer. Aber es regierung die Gründung eines entsprechen-
wäre Ihnen lieber? gibt Ausnahmen, wie das den Gemeinschaftsbetriebes fördern.
Altmaier: Erstens sehe ich nicht, dass diese SPIEGEL: Industriekonzerne wie Bosch ha-
Koalition zerbricht. Zweitens hat die FDP Beispiel Airbus zeigt.« ben ausgerechnet, dass sich der Aufbau
klipp und klar erklärt, dass sie in dieser einer solchen Produktion in Deutschland
Legislatur für ein Jamaikabündnis nicht nicht lohnt.
zur Verfügung steht. Und drittens darf sich wir Weltspitze sind. Aber dort, wo es die Altmaier: Das respektiere ich, aber andere
die Regierung des viertgrößten Industrie- Unternehmen aus eigener Kraft allein nicht Firmen sind gegenteiliger Auffassung, und
landes der Welt nicht ständig mit sich schaffen, wie bei Batteriezellproduktion das müssen wir nutzen. Es gibt eine Reihe
selbst beschäftigen. Das wäre aber der Fall, oder künstlicher Intelligenz, muss der Staat von Unternehmen, die bereit sind, bei der
wenn sich ein Minderheitskabinett für je- zeitlich begrenzt Hilfe leisten. Batteriezellproduktion einzusteigen und
des Vorhaben eine neue Mehrheit im Par- SPIEGEL: Google oder Facebook sind aber Konsortien zu bilden. Wir brauchen eine
lament suchen müsste. Solche Kompromis- in ihren Geschäftsfeldern unbestrittene Anschubfinanzierung durch den Staat und
se würden für die Bürger teuer werden. Markt- und Technologieführer. Glauben die EU, damit das Ganze in Bewegung
Deshalb muss diese Koalition im Interesse Sie im Ernst, Sie könnten diesen Giganten kommt. Dann aber müssen die Unterneh-
des Landes fortgesetzt werden. Darüber mit deutschen Neugründungen Konkur- men ohne Staatshilfe lebensfähig sein. Wir
hinaus habe ich den Eindruck, dass die gro- renz machen? wollen keine dauerhaften Subventionen.
ße Mehrheit der SPD-Fraktion sowie der Altmaier: Es gibt weltweit einen Wettlauf SPIEGEL: Werden die Wettbewerbshüter
sozialdemokratischen Ministerpräsidenten um die Frage, wer die zentralen Internet- der EU da mitspielen?
und Kabinettsmitglieder derselben Auffas- plattformen der nächsten Generation ent- Altmaier: Die Kommission genehmigt sol-
sung ist. wickelt – die für autonomes Fahren zum che Projekte, wenn sie im gemeinsamen
SPIEGEL: Viele Bürger haben aber das Ge- Beispiel, für die Elektromobilität oder die europäischen Interesse liegen und wenn
fühl, dass diese Regierung nicht Stabilität, Gesundheitsversorgung. Wenn die deut- verschiedene Mitgliedstaaten beteiligt sind.
sondern neue Unsicherheiten schaffe. Und sche Industrie hier mithalten will, muss sie Hierüber bin ich mit den Regierungen in
dies in einer Zeit, in der sich viele Bürger ihren Maschinen das Denken und die Frankreich, Österreich, den Niederlanden
angesichts der vielen Krisen auf der Welt Kunst der Selbstoptimierung beibringen. und Polen im Gespräch. Ich bin zuversicht-
Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft Das geht nur mithilfe der künstlichen In- lich, dass wir schon in den nächsten Wo-
machen. Zu Recht? telligenz, die wohl die wichtigste techni- chen ein gemeinsames Ergebnis erzielen.
Altmaier: Nein, der Aufschwung in sche Revolution der Gegenwart ist. Wahr- SPIEGEL: In Europa ist derzeit auch des-
Deutschland wird 2019 in sein zehntes scheinlich hat sie eine größere Tragweite halb so viel von Industriepolitik die Rede,
Jahr gehen. Unsere Fabriken sind ausge- als die Erfindung der Dampfmaschine weil Schwellenländer wie China angekün-
lastet, die Beschäftigten schieben Über- oder der Eisenbahn. digt haben, mit staatlicher Hilfe ganze
stunden, die Auftragsbücher sind voll. Das SPIEGEL: Aber auch hier zählt Deutsch- Märkte aufzurollen. Wie gefährlich ist das
ist angesichts schwieriger Rahmenbedin- land nicht zu den Innovationstreibern. für die deutsche Wirtschaft?
gungen und schwelender internationaler Altmaier: Das sehe ich anders. Im Bereich Altmaier: Da bin ich gelassen, wir begrü-
Handelskonflikte ein gutes Ergebnis. Das der künstlichen Intelligenz arbeiten in ßen Investitionen bei uns, auch chinesische

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 45


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SPIEGEL, solange Sie möchten!

WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL


Altmaier, SPIEGEL-Redakteure*
»Wir werden künftig genauer hinsehen«

Investitionen. Wenn ein Land wirtschaft-


lich erfolgreich ist, ergeben sich zugleich
neue Chancen für unsere Exportindustrie.
Aber: Wir werden künftig genauer hin-
sehen, wer was kauft, ein entsprechendes
Gesetz habe ich in der Bundesregierung
gerade auf den Weg gebracht.
SPIEGEL: Darin steht, dass die Regierung
Keine ausländische Beteiligungen nicht erst ab
einer Schwelle von 25 Prozent Kapital-
Mindest- anteil untersagen kann, sondern bereits ab
15 Prozent. Warum?
laufzeit Altmaier: Deutschland ist eines der offens-
ten Länder für ausländische Investitionen,
und dabei soll es bleiben. Trotzdem müs-
sen wir in drei Bereichen genauer hin-
schauen als bisher: wenn die nationale Si-
cherheit gefährdet wird, wenn es um kriti-
sche Infrastrukturen wie Energienetze
geht und wenn hoch innovative Unterneh-
men betroffen sind. Ich setze in Zukunft
verstärkt auch auf die Bereitschaft deut-
scher Unternehmen, mit eigenen Über-
nahmeangeboten wichtige Technologien
im Land zu halten.
SPIEGEL: Zur Not unter dem sanften
Druck des Wirtschaftsministers.
Altmaier: Sagen wir es so: Wenn irgendwo
Gefahr im Verzug ist, habe ich keine Scheu,
zum Telefon zu greifen, um mich mit den
Akteuren der Wirtschaft ins Benehmen zu
Der SPIEGEL jede Woche frei Haus: setzen. Es gibt in der deutschen Wirtschaft
viel Verständnis für meine Auffassung,
œıōğZĴťĴłœĿğĚğš
ğĴŭłŸōĚĒćš ŋĴŭĚğŋ>0eZekZ^V0(> dass wir einen Ausverkauf sicherheits-
ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴō
ğŅıćōĚğŅ žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ relevanter Technologien nicht zulassen
SPIEGEL-Veranstaltungen dürfen.
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
SPIEGEL: Kürzlich hat der chinesische Au-
ſſſťŝĴğĬğŅŅĴžğĚğ
tomobilunternehmer Li Shufu rund zehn
Prozent von Daimler gekauft, und mög-
licherweise kommen bald weitere Anteile
hinzu. Werden Sie dagegen vorgehen?

Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen!


Altmaier: Nein, es ist nicht das erste Mal,
dass sich ein ausländischer Unternehmer
an einem deutschen Autokonzern beteiligt.
Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf So etwas gibt es seit über 40 Jahren, und
bislang sind die Unternehmen damit nicht
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.
schlecht gefahren.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
Einfach jetzt anfordern:
* Gerald Traufetter und Michael Sauga im Wirtschafts-
abo.spiegel.de/flexibel ministerium in Berlin.

040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215) 46


Deutschland

Im Stile
Richtung. Wenn sie in der EU im Geschäft Lebensqualität, noch dazu mit im Ver-
bleiben wollen, müssen sie Standorte auf gleich zu London oder Paris niedrigen
den Kontinent verlegen. Seit Monaten lie- Preisen. Auch die mehr als 40 Schulen, in

Miamis
fern sich vor allem Paris und Frankfurt da- denen Englisch die Unterrichtssprache ist,
her ein Wettrennen darum, wer London lässt Scholz nicht unerwähnt.
in der Rolle des wichtigsten Finanzzen- Überhaupt biete Deutschlands Finanz-
trums der EU beerbt. Hinter den Kulissen sektor ein attraktives »Ökosystem«, in
Brexit Beim Wettlauf um die der Austrittsverhandlungen ist der Kampf dem sich für jeden brexitgeschädigten Fi-
Ansiedlung von Banken aus Lon- um die Brexit-Beute voll entbrannt. nanzdienstleister vielversprechende Part-
Während die Franzosen eine Charme- ner finden ließen: die Banken in Frankfurt,
don droht Frankfurt hinter Paris offensive nach der anderen starteten, muss- die Versicherungen in München und die
zurückzufallen. Nun geht die ten die Hessen lange ohne Schützenhilfe aufstrebende Fintech-Szene in Berlin.
Bundesregierung in die Offensive. aus Berlin auskommen. Frankreichs Prä- Scholz’ engagierter Vortrag zeigt: Die
sident Emmanuel Macron lud bereits An- Deutschen wollen sich nicht zufrieden-
fang des Jahres 140 Topleute aus Groß- geben mit 30 Geldhäusern aus London, die

S elbst Personen des öffentlichen Le-


bens müssen sich zuweilen auf ge-
heime Mission begeben, erst recht,
wenn sie das Finanzressort der Bundes-
banken ins Schloss Versailles ein, um in
bestem Englisch für Paris zu werben. Er-
folglos blieb er nicht. Viele Investmenthäu-
ser wollen Stellen nach Paris verlagern.
bislang eine Lizenz in Frankfurt beantragt
haben. Der Verband der Auslandsbanken
rechnet wegen des Brexits in den nächsten
zwei bis drei Jahren mit bis zu 3000 neuen
regierung leiten. Am 17. September, einem Jetzt reagiert Scholz, die Angelegenheit Stellen in Frankfurt, doch sicher ist das
spätsommerlich warmen Montag, machte zählt mittlerweile als Chefsache. Bei seinem nicht. »Die Frage, wo der künftige Ban-
sich Olaf Scholz auf den Weg nach London. Kurztrip im September knöpfte er sich in kenschwerpunkt in der EU entsteht, ist
noch nicht entschieden«, sagt Oliver Wag-
ner, Geschäftsführer des Verbandes der
Auslandsbanken. »Daher verteilen viele
Institute ihre Mitarbeiter an verschiedene
Standorte.«
Doch noch immer könnte sich rächen,
dass sich die Bundesregierung nicht resolut
genug für den Umzug der Europäischen
Bankenaufsicht EBA nach Frankfurt einge-
setzt hat. Die EBA mag mit knapp 200 Mit-
arbeitern nicht bedeutend erscheinen, aber
sie könnte als Magnet für Banken wirken,
so die Befürchtung in Frankfurt.
Aber das kümmerte Berlin wenig, als
in Brüssel die Entscheidung fiel. Die deut-
sche Bewerbung war lieblos und lücken-
haft. So vergaßen die Macher, darauf
hinzuweisen, dass es in Frankfurt englisch-
MARC-STEFFEN UNGER

sprachige Universitäten gibt. Auch der Be-


werbungsfilm, der Frankfurt streckenweise
im Stile Miamis als Surferparadies am
Main inszenierte, diente eher der Belus-
tigung des Brüsseler Publikums.
Finanzzentrum Frankfurt am Main bei Nacht: Stadt der kurzen Wege Während Macron beim EU-Sozialgipfel
in Göteborg im Herbst 2017 dem Verneh-
men nach nichts ausließ, um für Paris zu
Nur sein Staatssekretär Jörg Kukies beglei- der deutschen Botschaft die Europa-Chefs werben, reiste Merkel gar nicht an, weil
tete ihn. Die Reise tauchte weder in der amerikanischer und britischer Großbanken sie mit der Regierungsbildung beschäftigt
Terminvorschau des Bundespresseamts vor, darunter Vertreter namhafter Adressen war. Am Ende bekam Paris den Zuschlag.
noch in der des Finanzministeriums auf. wie Goldman Sachs, Citigroup oder Bank Neben den Banken haben die Hessen
In der britischen Hauptstadt sprach of America. Sie alle suchen neue Standorte nun ein neues Betätigungsfeld erspäht –
Scholz lange mit seinem Amtskollegen Phi- auf dem Kontinent. Ende vergangener internationale Anwaltskanzleien. »Im We-
lip Hammond über den Brexit, also darü- Woche bei der Jahrestagung von IWF und sentlichen ginge es darum, zu überdenken,
ber, ob die Briten die EU nun geordnet Weltbank waren die Chefs großer Institute ob der Gerichtsort London durch den Bre-
verlassen oder ohne Trennungsvertrag aus Japan und China an der Reihe. xit nicht ebenfalls betroffen ist«, trugen
hinausstolpern (siehe Seite 105). In Wirk- Scholz’ Botschaft ist stets gleich: In die Hessen bereits im vergangenen Herbst
lichkeit aber diente der Trip an die Them- höchsten Tönen preist er die Vorzüge in der Brexit-Bund-Länder-Arbeitsgruppe
se einem anderen Zweck: Scholz wollte Frankfurts. Die Stadt sei ein Standort der vor, wie aus internen Unterlagen hervor-
bei Bankern die Werbetrommel für den kurzen Wege. Die Manager könnten zu geht. Es geht um 12 000 Fälle im Jahr, de-
Finanzplatz Frankfurt rühren. Fuß ihre Kunden besuchen oder mit dem ren Streitwert über 300 000 Euro liegt.
Der Minister kommt mit seinem Engage- Fahrrad zur Arbeit fahren. In 20 Minuten Nun stellt sich die Frage, ob die Deut-
ment keine Minute zu früh. Ganz gleich, sei der Flughafen aus der Innenstadt zu er- schen bei diesem Stück der Brexit-Beute
ob es zu einem harten oder weichen Brexit reichen. Mit dem Blick aus London wirke von Anfang an die Nase vorn haben.
kommt, viele Banken aus London streben die Mainmetropole vielleicht ein bisschen Peter Müller, Christian Reiermann
notgedrungen in die entgegengesetzte provinziell, dafür biete sie aber höchste

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 47


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Deutschland

Eine CDU-Frau beklagte sich zuerst

»Hessen ist Hessen« über die grüne Umweltministerin in Hes-


sen: Ein »grünes Biest« sei das. Aber noch
schlimmer sei die Große Koalition in Berlin.
Ja genau, pflichtete ein Mann bei. Er sei
Landtagswahlen Sie wollen den Abwärtstrend in Umfragen stoppen, jetzt schon seit 50 Jahren in der CDU, aber
also ringen Volker Bouffier (CDU) und Thorsten Schäfer- dieses Gezänk zwischen Merkel und Horst
Gümbel (SPD) um Distanz zur Bundespolitik – mit mäßigem Erfolg. Seehofer, dieses endlose Gewürge um Die-
sel, Flüchtlinge und den bisherigen Verfas-
sungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maa-

A n einem sonnigen Vormittag im Ok-


tober steht Volker Bouffier vor dem
Amtsgericht Frankfurt am Main
und plaudert mit Journalisten. Hinter ihm
Kampagne demonstrativ ohne die Kanz-
lerin führen. Aber das tut er nicht.
Offener Streit unter Parteifreunden
wirke grundsätzlich abschreckend auf
ßen, das ertrage er nicht mehr. Er kenne
treue Unionswähler, die diesmal nicht zur
Wahl gehen wollten. Oder AfD wählen.
Bouffier war alarmiert: »Damit verän-
rauschen schon die Limousinen mit der Wähler, glaubt Bouffier. Das sehe man dert ihr in Berlin überhaupt nichts. Das
Kanzlerin und ihrer Entourage heran, aber auch an den Ergebnissen der Bayern-Wahl. schadet nur uns hier in Hessen«. Dabei
Bouffier will noch eine Anekdote aus dem »Hessen ist anders«, ruft er in seinen Wahl- kann er die Wut auf Seehofer und die CSU
Wahlkampf loswerden. »Herr Minister- kampfreden. Es gehe jetzt um die Arbeit gut verstehen. Bouffier hält die Bayern für
präsident«, ruft einer seiner Leute nervös, der Regierung in Wiesbaden, nicht um hauptschuldig an der Misere der Union. In-
»sie ist da!« München und schon gar nicht um Berlin. klusive Verkehrsminister Andreas Scheuer
Bouffier zuckt nicht einmal, sondern er- Doch das ist nur die halbe Wahrheit. In (CSU), der ihn jüngst im Stich ließ.
zählt seelenruhig weiter. Seine Geschichte den Bundesparteien halten viele nur noch Ein Gericht hatte im September Fahr-
handelt von CDU-Frauen, die ihn kürzlich mühsam bis zur Hessen-Wahl still: Kippt verbote für Frankfurt verhängt, die ab
auf den islamischen Religionsunterricht Bouffier, wird es für Merkel schwer. Stürzt Februar stufenweise in Kraft treten sollen.
angesprochen hätten. Sie fürchteten, der Schäfer-Gümbel ab, dürfte Andrea Nahles Daraufhin hatten Bouffier und seine Leute
türkische Staat hätte damit zu viel Einfluss wanken. Am Ende ginge es eben doch mehrfach bei der Kanzlerin insistiert, dass
auf den Unterricht. nicht nur um eine neue Regierung im diese Dieselgeschichte unbedingt noch vor
Er habe ihnen erklärt, dass die Islam- Land – sondern auch im Bund. der Hessen-Wahl vom Tisch sein müsse.
lehrer vom Land ausgebildet würden. Und Bouffier konnte im Wahlkampf sehen, Merkel habe Hilfe zugesagt. Aber als
dass man hessische Kinder nicht religiösen wie schlecht die Stimmung ist. Bei einem Scheuer dann eine Liste von Städten prä-
Scharfmachern überlassen dürfe. Die Frau- Auftritt in Herborn hatte er seinen Par- sentierte, in denen die Autoindustrie Die-
en seien schließlich zufrieden gewesen, teifreunden versichert, dass CDU und Grü- selbesitzern Umtausch- und Umrüstange-
sagt Bouffier. Schade nur, dass er mit sol- ne in Hessen ihre Konflikte hinter ver- bote machen soll, stand ausgerechnet
chen Landesthemen kaum noch die Öf- schlossenen Türen lösten, »ohne jeden Frankfurt nicht darauf.
fentlichkeit erreiche. Dann dreht er sich Krawall«. Dann stand er in kleiner Runde Dass Merkel sich bei Scheuer offenbar
um und schafft es mit schnellen Schritten an einem Stehtisch, wischte mit einem nicht durchsetzen konnte oder wollte, kam
noch zur Staatskarosse, aus der Angela Brötchen die rote Sauce aus einer Curry- nicht gut an in der Hessen-CDU. Einige
Merkel gerade aussteigt. wurstschale und hörte zu, wie der Sturm Bouffier-Anhänger zweifeln, ob es in die-
Es sind schwierige Tage für Wahl- losbrach. ser Lage gut ist, mit der Kanzlerin Wahl-
kämpfer in Hessen, jedenfalls für die-
jenigen, die mit der Großen Koalition in
Berlin in Verbindung gebracht werden.
CDU-Landeschef Bouffier, 66, und sein
SPD-Herausforderer Thorsten Schäfer-
Gümbel, 49, beide Präsidiumsmitglieder
ihrer Bundesparteien, sind tief in den Ab-
wärtsstrudel gerutscht, den Union und
SPD in der Hauptstadt seit Monaten in
Gang halten.
Demoskopen zufolge liegen CDU und
SPD in Hessen kurz vor der Wahl am
28. Oktober weit unter ihren Ergebnissen
der Landtagswahl von 2013. Bouffiers
schwarz-grüne Regierung hat laut Um-
fragen schon lange keine Mehrheit mehr.
Nach neuesten Zahlen könnte es sogar
nicht einmal mehr für eine Große Koali-
tion reichen. Schäfer-Gümbel hätte allen-
falls mit einer Ampel oder einem rot-grün-
roten Bündnis noch eine vage Chance,
Ministerpräsident zu werden.
FRANK RUMPENHORST

»Der Wahlkampf ist komplett über-


lagert von Berlin«, stöhnte Bouffier, nach-
dem seine Partei bei der Sonntagsfrage
deutlich unter 30 Prozent abgerutscht war.
Er könnte darauf mit größtmöglicher Dis-
tanz zur Berliner Politik reagieren, seine CDU-Wahlkämpfer mit Bouffier-T-Shirt: Wut auf Seehofer und die CSU

50 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


kampf zu machen. Aber Bouffier lässt in Sonntagsfrage Hessen vorgesehen – in einem Vorort von Gießen.
dieser Frage nicht mit sich reden. Er emp- »Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Für den beim Parteivolk beliebten GroKo-
fängt Merkel freundlich vor dem Frank- kommenden Sonntag Landtagswahl wäre?« Gegner und Juso-Chef Kevin Kühnert sind
furter Amtsgericht, wo sie sich eine dagegen 14 Termine eingeplant.
»Rechtsstaatsklasse« für Flüchtlinge an- 26% Selbst bei den großen Wahlkampf-Ab-
schaut. Kommende Woche soll Merkel schlussveranstaltungen am kommenden
noch bei vier Großveranstaltungen mit 21 20 Samstag taucht Nahles laut Terminliste
Bouffier auftreten. nicht auf. Schäfer-Gümbel will stattdessen
In den vergangenen Jahren hat Bouffier mit den SPD-Ministerpräsidenten Malu
die Hessen-CDU von einer konservativen 12 Dreyer und Stephan Weil punkten.
Kampftruppe in eine grün-kompatible, 9 8 Ob das reicht, um gegen den Bundes-
fast liberale Bürgerpartei transformiert. In trend anzukämpfen? »Bayern ist Bayern,
Berlin zählt er heute zu den loyalsten CDU SPD Grüne AfD FDP Linke und Hessen ist Hessen«, macht sich Schä-
Unterstützern der Kanzlerin. – 12,3 – 9,7 + 8,9 + 7,9 + 4,0 + 2,8 fer-Gümbel Mut. Aber: Die Münchner Ge-
Ein rasanter Wechsel auf einen Anti- Veränderung zur Landtagswahl 2013 in Prozentpunkten, nossen hatten ähnlich wie Schäfer-Güm-
Infratest dimap für die ARD vom 16. und 17. Oktober, 1002 Befragte
Merkel-Kurs würde da völlig unglaub- bel versucht, mit Themen wie Wohnungs-
würdig wirken, sagt ein enger Bouffier- not und Bildung zu punkten. Den Absturz
Vertrauter. Diese Erfahrung hatte schon konnten sie damit nicht verhindern.
Julia Klöckner im Nachbarland Rheinland- Problem total verschlafen. Die Mieter- Wie das Rennen in Hessen ausgeht, ist
Pfalz gemacht. Die CDU-Landeschefin vertreter nicken. schwer vorhersehbar. Vor einigen Wochen
hatte sich dort 2016 nach Monaten de- Eigentlich sollte auch Parteichefin hatten die SPD-Leute noch gehofft, die
monstrativer Einigkeit mit der Kanzlerin Nahles an diesem Vormittag in Hessen FDP auf ihre Seite ziehen zu können. De-
kurz vor der Landtagswahl unvermittelt sein, um Schäfer-Gümbel zu unterstützen. ren Fraktionschef René Rock hatte mehr-
von Merkels Flüchtlingspolitik abgesetzt – Doch der Besuch wurde abgesagt. Nahles fach über CDU-Mann Bouffier gelästert,
und daraufhin die Wahl verloren. sei im Moment das glatte Gegenteil von in dessen Büro man mit Zigarilloqualm
Bei Schäfer-Gümbel ist die Ausgangs- Unterstützung, sagt jemand aus dem SPD- eingenebelt und mit endlosen Monologen
lage ähnlich kompliziert. Der SPD-Lan- Team. Schäfer-Gümbel sei fassungslos ge- zugequatscht werde, aber keinen einzigen
deschef hatte sich große Hoffnungen ge- wesen, als Nahles die Maaßen-Affäre kom- Computer finde.
macht, in Hessen endlich Ministerpräsi- plett vergeigt habe. Tagelang sei nur noch Inzwischen sagt Rock, dass die FDP lie-
dent zu werden. Es ist sein dritter Anlauf. über das Unvermögen der SPD-Spitze ge- ber eine schwarz-grün-gelbe Jamaika-
An einem Montag im Oktober geht redet worden. Es sei unmöglich gewesen, koalition unterstützen würde als eine Am-
Schäfer-Gümbel mit Mietervertretern in Hessen noch mit Themen wie Mieten pel mit Schäfer-Gümbel. »Bei Volker Bouf-
durch das Hochhausviertel »Am Bügel« oder Lehrermangel durchzudringen. fier weiß man, was man hat«, so der FDP-
im Frankfurter Norden. Er hat jede Menge Im Unterschied zu Bouffier haben Schä- Fraktionschef. Bei Schäfer-Gümbel kaufe
Zahlen im Kopf: 60 000 Landeswohnun- fer-Gümbels Wahlkämpfer kein Problem man »ein bisschen die Katze im Sack«.
gen seien von der Regierung privatisiert damit, die Präsenz der Parteichefin auf ein So bleibt den SPD-Leuten nur die vage
worden, Sozialwohnungen würden kaum Minimum zu reduzieren. In der Termin- Hoffnung auf ein Bündnis mit Grünen und
noch gebaut, die Mieten explodierten. Die liste der Hessen-SPD ist in den beiden Wo- Linken. Die Grünen könnten sich wohl da-
schwarz-grüne Landesregierung habe das chen vor der Wahl nur ein Nahles-Auftritt für gewinnen lassen, wenn es mit Jamaika
nichts werde, glauben hessische Genossen:
»Die wollen ja weiterregieren.«
Tatsächlich geht bei Bouffiers Junior-
partnern die Angst um, ähnlich wie in Bay-
ern womöglich zwar mit einem grandiosen
Wahlergebnis abzuschließen, aber am
Ende ohne Regierungsbeteiligung dazuste-
hen. »Wir haben gute Chancen, das beste
Ergebnis zu kriegen, das wir je hatten«,
sagt Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-
Wazir. Aber Jamaika sei eine schwierige
Konstellation, zumal sich die hessische
FDP beispielsweise gegen den Ausbau der
Windkraftnutzung aufgestellt habe.
Sollte die SPD hinter der CDU landen,
wird Schäfer-Gümbel mit Bouffier auch
über eine Große Koalition verhandeln,
daran lassen die SPD-Leute keinen Zwei-
fel. Aber möglicherweise erledigt sich die
Angst der hessischen Grünen vor einer
Großen Koalition auf ganz andere Weise:
FRANK RUMPENHORST / DPA

In einer am Donnerstag veröffentlichten


Umfrage lagen sie, getragen vom Schwung
der bayerischen Landtagswahl, fast schon
gleichauf mit der SPD – und in einer an-
deren sogar leicht darüber.
Matthias Bartsch
SPD-Wahlkampfbus von Schäfer-Gümbel: Fassungslos über die Maaßen-Affäre

51
Deutschland

ler mit 40 Einwohnern nahe Rottenburg

Die Macht vom Land an der Laaber in Niederbayern. Er gibt


seit 2006 den Frontmann der Freien Wäh-
ler, inzwischen amtiert er gleichzeitig als
Bundesvorsitzender, Landesvorsitzender
Bayern I Die CSU wird wohl mit den Freien Wählern regieren. und Fraktionsvorsitzender.
Die waren vor allem abseits der Städte erfolgreich. Auf den Plakaten seiner Partei war er
so allgegenwärtig wie sonst nur Christian
Lindner für die FDP. Der Land-Lindner

D er Ministerpräsident und sein künf-


tiger Stellvertreter bauen sich ne-
beneinander vor den Kameras auf:
Markus Söder, groß und massig, trägt das
denen zumeist die Düngemittelverordnung
oder die Hofabgabeklausel näherstehen als
Gendersternchen oder fair genähte Ober-
bekleidung. In der bayerischen Politik wird
redet in einem derben niederbayerischen
Dialekt. Er hat Medientraining genom-
men, aber Unkundigen fällt es trotzdem
schwer, sein »Glosfoserkobel« als »Glas-
Hemd offen wie ein moderner Manager. es künftig ländlicher zugehen – und männ- faserkabel« zu erkennen.
Hubert Aiwanger, einen Kopf kleiner, hat licher. Unter den 27 Abgeordneten der Frei- Aiwanger verweist gern auf seine Le-
sich eine rot schillernde Krawatte umge- en Wähler finden sich nur 6 Frauen. bensgefährtin, wenn er nach den Karrie-
bunden, wie für ein Vorstellungsgespräch. Mit den Freien Wählern gelangt eine rechancen für Frauen in seiner Partei ge-
Söder redet zuerst. »Es gibt ein großes politische Bewegung in die Verantwor- fragt wird. Sie ist ebenfalls bei den Freien
Maß an Übereinstimmung.« Aiwanger er- tung, die sich einst als Gegenmodell zum Wählern und Landrätin im Landkreis Re-
gänzt: »Danke an die CSU für den respekt- zentralisierten Politikbetrieb gründete, als gensburg. Ansonsten gelte: »Das wird bei
vollen Umgang.« Nur einen kleinen Spott Zusammenschluss kommunaler und regio- uns nicht so erzwungen wie bei anderen
erlaubt sich der Bewerber: Für den Nach- naler Wählerverbünde. Erst seit 2008 ist Parteien, dass ein Mann dann das Feld räu-
mittag wünsche er Söder »viel Durchhal- sie im Landtag vertreten, bei den Bundes- men muss.« Er hätte gern mehr Mitstrei-
tevermögen mit den Kollegen aus Berlin«. tagswahlen 2017 holten die Freien Wähler terinnen. Jedoch: »Es geht nicht darum,
Gemeint sind die Bundespolitiker der nur ein Prozent der Stimmen. Doch die hier blind Quoten hinterherzurennen.«
Grünen, die am Mittwoch in München zu Partei stellt allein in Bayern zwölf Land- Zum Thema Migration wählt er zuwei-
ihren Parteifreunden hinzustießen, um räte und rund 600 Bürgermeister. len drastische Worte. Die Bundeskanzlerin
dort mit der CSU eine Koalition zu son- Das anstehende Experiment weist da- bezeichnete er schon als »Totengräberin
dieren. Doch die Christsozialen bevorzu- mit über den Freistaat hinaus: Wird es ge- der inneren Sicherheit Deutschlands«.
gen dafür nach dem Verlust der Alleinherr- lingen, das Befinden von Stadt und Land Merkels Kanzlerschaft schade der Demo-
schaft die Truppe, die sie zuvor im Land- in Einklang zu bringen? Und ist der urban kratie, so Aiwanger: »Merkel ist die Mut-
tag zum Gespräch empfangen haben: die geprägte Politikbetrieb überhaupt bereit, ter der AfD.« Nach den Landtagswahlen
Freien Wähler mit ihrem Chef Aiwanger. Beiträge von außerhalb anzunehmen? warnte Aiwanger vor einer »tickenden
Tags darauf vereinbarten die potenziel- Hubert Aiwanger, 47, ist Agraringe- Bombe«, die entschärft werden müsse.
len Partner schon offiziell Koalitionsver- nieur, Jäger, Ferkelzüchter. Er betreibt Der Unterschied zu Horst Seehofer: Die
handlungen. Geht nichts grundlegend einen Bauernhof in Rahstorf, einem Wei- Zuwanderung sieht Aiwanger nicht als
schief, wird die Palette der das beherrschende Thema, son-
Bündnisse in den Bundeslän- dern nur als eine von vielen
dern bald um eine Farbkombi- Gesamtstimmenanteil der Freien Wähler Herausforderungen, vor denen
nation reicher sein: schwarz- bei der bayerischen Landtagswahl 2018, der Staat stehe. Als die übrige
orange. In München ist die Stimmkreise Opposition in der letzten Sit-
Rede von »Papaya-Koalition« zung des Landtags vor der
oder »Spezi-Koalition«, nach Wahl Söders Gerede vom
dem im Süden beliebten Cola- »Asyltourismus« kritisierte, ließ
Mixgetränk. Die Beteiligten sich Aiwanger lieber über die
sprechen lieber von »Bayern- 20,4% Qualität der neuen bayeri-
Koalition« – um sich von der Forchheim schen Polizeiuniformen aus:
ungeliebten Bundeshauptstadt stärkstes Ergebnis: »Ein Polizist auf Streife, der sein
abzugrenzen. 24,6 % Kelheim Hemd zweimal gewaschen hat,
Die Grünen mögen die Par- 4,9% erhält einen Kragen, der sich
tei der Stunde sein, mit einem Würzburg-Stadt wölbt, als wenn er mit Pappe
für sie sensationellen Wahler- ausgestopft wäre«, so Aiwan-
gebnis, sechs Direktmandaten ger. »Dieser Polizist ist kein
schwächstes Ergebnis:
in den Großstädten München 3,9% Nürnberg-West Schlamper, aber er sieht schlam-
und Würzburg inklusive. An pig aus, weil Sie ihn schlampig
die Macht aber kommen aller einkleiden.«
Voraussicht die anderen Wahl- Aiwangers Uniform ist der
sieger: die Provinzversteher Trachtenjanker. In einem An-
von den Freien Wählern. Deren zug wäre er bei vielen Termi-
Hochburgen liegen abseits der nen, die er absolviere, viel zu
Siedlungsgebiete des hippen 4,0% förmlich angezogen, sagt er.
städtischen Bürgertums, in München-Mitte Zwei bis drei habe er pro Tag,
Stimmkreisen wie Kelheim, hat er ausgerechnet. Wenn Sö-
Schrobenhausen oder Forch- 21,3% der für sich beansprucht, die
heim (siehe Grafik). Als Abge- Neuburg-Schrobenhausen Fläche zu beackern, dann
ordnete entsenden sie Landräte 0 bis unter 5% 5 bis unter 10% 10 bis unter 15% 15 bis unter 20% über 20% pflügt Aiwanger sie geradezu
und andere Kommunalpolitiker, um. Aiwanger ist für eine Art

52
bar sei, oder auch als »Kommunal-
Populisten«. Das hinderte sie nicht
daran, Anliegen der Freien Wähler
zu übernehmen, auch um Volks-
begehren zu vermeiden. Das Gym-
nasium umfasst nun grundsätzlich
wieder neun Schuljahre, die allge-
meinen Studiengebühren wurden
abgeschafft, zuletzt auch die so-
genannten Straßenausbaugebühren
für Hausbesitzer.
Die Freien Wähler fordern jetzt,
dass bereits gezahlte Gebühren rück-
wirkend ab 2014 erstattet werden.
Kosten laut CSU: ein dreistelliger
Millionenbetrag.
Lässt sich so der ganze Freistaat
regieren, kann man so verschiedene
Milieus erreichen?
Michael Piazolo ist Generalsekre-
tär der Partei. Der Professor für eu-
ropäische Studien repräsentiert den
kleinen städtisch-liberalen Flügel
der Freien Wähler. Im Interview hat
es Piazolo schwer, neben dem raum-
greifenden Aiwanger das Wort zu
bekommen. »Der Kümmerer-An-
satz lässt sich auch auf die Groß-
städte übertragen«, sagt er. »Unsere
Marke ist immer noch eine, die stär-
ker mit dem ländlichen Raum ver-
bunden ist. Da müssen wir sehen,
wie wir das ausdehnen können,
ohne den Markenkern zu verlieren.«
Dann übernimmt Aiwanger. »Der
Faktor des Sich-Kümmerns hat uns
groß gemacht.« Es sei ihm und sei-
ner Partei zu verdanken, dass die
AfD in Bayern nicht erfolgreicher
gewesen sei. »Ich glaube schon, dass
konservative Leute, die mit Merkels
Flüchtlingspolitik nicht einverstan-
den waren, durchaus uns Freie Wäh-
ler wählen konnten.«
Ähnliches schwebte der CSU vor,
doch viele Stimmen enttäuschter
Konservativer landeten stattdessen
bei den Freien Wählern. So liegt für
die Christsozialen die Strategie auf
MARIA IRL

der Hand, den Partner durch Um-


armung wieder kleinzubekommen.
Politiker Aiwanger: »Herr Söder hat zu viele ›Bonanza‹-Filme gesehen« Söder rechnete schon einmal vor:
Das Ergebnis der Landtagswahl sei
besser als das der Bundestagswahl,
Super-Heimatministerium im Gespräch, froh, wenn wir ihm herunterhelfen vom denn zum bürgerlichen Lager müsse man
zusammengesetzt aus Bauen, Verkehr, Mond.« auch das zweistellige Ergebnis der Freien
digitaler Infrastruktur und Landschafts- Dabei liest sich die Agenda der Freien Wähler hinzuzählen. Seine Schlussfolge-
pflege. Wähler selbst wie ein Sammelsurium teu- rung: »Die Bandbreite über 40 Prozent ist
Ansonsten hat sich Aiwanger vorge- rer Versprechungen, nur eben nicht für drin für die CSU.«
nommen, den künftigen Koalitionspartner Forscher, sondern für Häuslebauer und Fa- Aiwanger hat die Regierungsbeteiligung
zu erden. Die Staffeln der berittenen milien: kleine Krankenhäuser erhalten, die schon fest verbucht, er sehe da keine grö-
Polizei, Söders »bayerische Kavallerie«, Grunderwerbsteuer weitgehend abschaf- ßeren Hindernisse. Ob er sich wünsche,
will er abschaffen. »Herr Söder hat in fen, die Kita für bis zu fünf Stunden pro dass Söder ihn bald auf seinem Bauernhof
der Vergangenheit zu viele ›Bonanza‹- Tag gratis anbieten. besuche? »Das wird irgendwann nicht
Filme gesehen«, sagt Aiwanger. Das Die CSU verspottete die Freien Wähler mehr zu vermeiden sein.«
Raumfahrtprogramm »Bavaria One« will deshalb schon als »Freibier-Partei«, die Jan Friedmann
er ebenfalls stoppen. »Vielleicht ist Söder sich nicht darum kümmere, was bezahl-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 53


Deutschland

»Funkstille«
Stamm: Als ich im Plenum dem Asyl-Mas-
terplan von Horst Seehofer zustimmen
musste, obwohl keiner in der Fraktion den
Inhalt des Dokuments kannte.
SPIEGEL: Haben Sie das Horst Seehofer ge-
Bayern II 42 Jahre lang saß die CSU-Politikerin Barbara Stamm sagt? Sie gelten als einer der wenigen Men-
im Landtag, jetzt fliegt sie raus. Die Schuld sucht schen in der CSU, auf dessen Wort er hört.
sie bei sich selbst – findet sie aber bei Horst Seehofer. Stamm: Wir hatten während des ganzen
Wahlkampfs leider wenig Kontakt. Mit das
letzte Mal haben wir miteinander gespro-
SPIEGEL: Frau Stamm, andere sind mit wisse Schuld am Wahlergebnis. Ich hätte chen, als Horst Seehofer sein Mandat als
73 Jahren längst in Rente – Sie haben in zum Beispiel viel früher und viel lauter Landtagsabgeordneter zurückgab. Ich bin
den vergangenen Monaten fast jeden Tag die Vernachlässigung der Mitte durch mei- als Landtagspräsidentin zu ihm nach In-
eine Wahlkampfveranstaltung besucht, ne Partei angehen müssen. Damit haben golstadt gereist, um diesen formalen Akt
sind quer durchs Land gereist und haben wir den Menschen im Land grundlos etwas persönlicher zu gestalten. Er hätte
in Sitzungswochen erst nach Mitternacht Angst gemacht. Die Erfahrung zeigt im- sonst in irgendeinem Notarbüro beglau-
das Landtagsgebäude verlassen. Wie hart mer wieder, dass beste Wirtschaftsdaten bigen lassen müssen, dass er sein Mandat
trifft es Sie, dass die CSU auf 37,2 Prozent nicht zwangsläufig zum Erfolg führen. niederlegt, das wollte ich aus persönlichen
abgestürzt ist? Deshalb kann ich auch Wahlanalysen Gründen nicht. Seitdem herrscht leider
Stamm: Natürlich hatte ich die vielleicht namhafter Parteimitglieder nicht nachvoll- fast Funkstille.
naive Hoffnung, dass am Ende alles gut ziehen. Wir konnten rechts nicht mehr SPIEGEL: Wenn nach der Beliebtheit von
geht. Aber ich war auch auf ein Scheitern das gutmachen, was wir in der Mitte ver- Politikern in Bayern gefragt wird, sind Sie
vorbereitet. Ich kenne als langjährige loren haben. seit Jahren regelmäßig auf Platz eins. Was
Abgeordnete unser kompliziertes Wahl- SPIEGEL: Was war für Sie der Tiefpunkt raten Sie Seehofer, dem derzeit wohl un-
system in Bayern und wusste, dass ich es im CSU-Wahlkampf? beliebtesten CSU-Politiker im Land?
als CSU-Listenkandidatin Stamm: Mehr Teamarbeit,
schwer haben würde. Zwar mehr Bürgernähe, mehr
hat die CSU dieses Mal Zeit für echten Dialog mit
gleich fünf Wahlkreise an der Parteibasis. Ob da ein
die Direktkandidaten der Twitteraccount hilft, wage
Grünen verloren und einer ich zu bezweifeln. Die Mit-
ging von der SPD an die glieder der Jungen Union
Grünen. Aber die übrigen zum Beispiel, die wollen
85 Direktmandate gingen doch nicht nur Haustür-
alle an unsere Partei. Da- wahlkampf machen und
mit waren alle Plätze, die Plakate aufhängen. Die
unserer Fraktion laut Zweit- wollen, dass man ihnen zu-
stimmenergebnis zustehen, hört. Und Vorstandssitzun-
besetzt. gen brauchen Zeit, Inhalte
SPIEGEL: Ist es weniger und rechtzeitige Befassung
schmerzhaft, nach 42 Jah- mit wichtigen Entscheidun-
ren im Landtag abgewählt gen, wie etwa bei der Die-
zu werden, wenn man se- selproblematik.
henden Auges in die Nie- SPIEGEL: Zuwanderung
derlage läuft? Der Absturz und innere Sicherheit, um
hatte sich in den Progno- die sich der Innenminister
sen ja angekündigt. kümmern muss, sind aber
Stamm: Es trifft mich ins schon Themen, die auch in
Mark, wenn ich höre, ich Bayern vielen Menschen
sei abgewählt worden. Ich wichtig sind.
habe fast 200 000 Zweit- Stamm: Mich stört, dass
stimmen erhalten. Mit ei- die CSU beim Thema Asyl
nem Riesenvertrauensbe- nur geklagt hat, was alles
weis der Wähler scheide noch nicht erreicht ist. Da-
ich aus dem Amt, nicht als bei haben wir doch viel
Abgewählte. geschafft. Viele ehrenamt-
SPIEGEL: Sie müssen Ih- liche Flüchtlingshelfer im
ren Posten räumen, Ihr Land leisten tolle Arbeit,
JENS SCHWARZ / DER SPIEGEL

Parteivorsitzender Horst die Zahlen der Asylsuchen-


Seehofer und Spitzen- den sind zurückgegangen.
kandidat Markus Söder, Zurückweisungen an der
die das Wahlergebnis zu Grenze brauchen Entschei-
verantworten haben, ma- dungen auf europäischer
chen erst mal weiter. Ist Ebene. Manfred Weber,
das fair? einer unser stellvertreten-
Stamm: Ich bin kein Opfer Scheidende Abgeordnete Stamm im Parlamentsgebäude den Parteivorsitzenden,
und trage selber eine ge- »Ich war die, die am längsten geblieben ist« hat nach dem EU-Gipfel,

54
IN DER SPIEGEL-APP

37,2 Wahlergebnis in Bayern Legislaturperioden lang für die Grünen im


Bayerischen Landtag, bevor sie letztes
Gesamtstimmenergebnis in Prozent,
Veränderung zur Landtagswahl 2013 Jahr die Fraktion verließ, um ihre eigene
in Prozentpunkten Partei »Mut« zu gründen.
SPIEGEL: Sie hat Ihnen zum Abschied aus
* Die AfD trat 2013 nicht zur Wahl in Bayern an.
** Die Linke ist nicht im Landtag vertreten. dem Landtag einen Liebesbrief geschrie-
ben, veröffentlicht in der »Welt«. Darin
17,5 heißt es: »Im politischen Kampf zu beste-
hen und dabei nicht sein Herz zu verlie-
11,6 10,2 ren – Du kannst das.«
9,7 Stamm: Ich muss gestehen, dass mich ihre
5,1 Worte sehr berührt haben. Zum ersten Mal
3,2 seit dem Wahlsonntag habe ich beim Le-
– 10,4 + 8,9 + 2,6 * – 10,9 + 1,8 + 1,1 sen ihres Briefes realisiert: Das war es jetzt.
CSU Grüne Freie AfD SPD FDP Linke ** (Stamm wischt sich Tränen aus den Augen-
Wähler winkeln.)
Quelle: vorläufiges amtliches Endergebnis
SPIEGEL: Sie haben bestimmt oft mit Ihrer
Tochter diskutiert. Was kann denn die
auf dem dank des Drucks der CSU viel in CSU von den Grünen lernen?
Bewegung gekommen ist, zu Recht gesagt: Stamm: Das positive Lebensgefühl, den
»Wir haben Europa gerockt.« Im Landes- Optimismus, die Begeisterung. Wir hätten
vorstand war davon aber nichts zu spüren. ja die Potenziale in der CSU. In der Frak-
Gott sei Dank ist das jetzt anders. Manfred tionssitzung gestern, in der ich mit Stan-
Weber gehört nun mal auch zur Zukunft ding Ovations verabschiedet wurde, habe
der CSU. Und ich bin nicht die Einzige, ich gesagt: Wir können uns als CSU nur
die das so sieht. dann wieder in die Herzen der Wähler ein-
SPIEGEL: Sehen Sie ihn als künftigen Par- graben, wenn die Menschen wissen, dass

FOTOS: LENA MUCHA


teivorsitzenden? wir sie lieben.
Stamm: Meine Zustimmung hätte er. Man SPIEGEL: Was sich alle Parteien in Bayern
kann doch nur dann Volkspartei sein, wenn von den Grünen abschauen könnten, wä-
man die ganze Bandbreite abdeckt. Die ren männlich-weibliche Doppelspitzen.
CSU hat sich in den letzten Monaten ver- Der neue Landtag besteht nur noch zu
engt, indem sie sich auf Asyl und Flücht- einem Viertel aus Frauen.
linge fokussiert hat. Mit Manfred Weber Stamm: Das besorgt mich wirklich. Die
an der Parteispitze und Markus Söder als AfD und die FDP kommen nur auf einen
Ministerpräsidenten würde in der CSU wie- Frauenanteil in der Fraktion von 9 Pro-
der mehr Bandbreite repräsentiert. zent. Bei uns sind es auch nur 21 Prozent.
SPIEGEL: Horst Seehofer sollte Ihrer Mei- SPIEGEL: Braucht es 100 Jahre nach Ein-

Kakao statt Kokain


nung nach also als Parteivorsitzender führung des Frauenwahlrechts eine Frau-
abtreten? enquote im Parlament?
Stamm: Ich bin die Falsche, um Rücktritts- Stamm: Ich stehe Quoten heute viel offe-
forderungen zu stellen. Jeder muss selber ner gegenüber als früher. Weil es mich so Seit Jahrzehnten tobt in Kolumbien ein
wissen, wann Schluss ist. Ich hätte ja auch frustriert, dass der Frauenanteil schon seit Drogenkrieg zwischen Kartellen, Rebellen-
nicht noch ein weiteres Mal für ein Mandat Jahren so niedrig ist. Aber bei uns in der gruppen und dem Militär. Die Bauern
im Landtag kandidieren müssen, wollte es CSU wählt die Mitgliederbasis ihren Di- auf ihren Kokaplantagen sind in dem Kon-
aber so und sollte jetzt keine Ratschläge rektkandidaten für jeden Stimmkreis. Da
flikt der Spielball: Sie wollen angstfrei
zur Kunst des Loslassens verteilen. kann man das Geschlecht der Kandidaten
SPIEGEL: Sie können also nachvollziehen, nicht von außen vorgeben. Ich ermuntere
leben, aber auch nicht verarmen. Mit dem
wie schwer der Abschied von der Politik Frauen immer: Werdet Mitglied in den Substitutionsprogramm »PNIS« wollte
fallen kann? Gremien, wo Personalentscheidungen ge- die Regierung der Gewalt endlich ein Ende
Stamm: Während wir hier sprechen, fin- troffen werden. Lasst euch aufstellen. setzen. Und den Farmern eine neue,
den ein paar Räume weiter die Sondie- Macht halt mit. Arbeitet intensivst in der legale Perspektive bieten. Mit Erfolg?
rungsgespräche zwischen CSU und den Vernetzung. Und geht nach Sitzungen
Freien Wählern statt. Ein paar Stunden nicht als Erste nach Hause. Es war immer Sehen Sie die Visual Story im digitalen
später dann die mit den Grünen. Hier mein Markenzeichen, dass ich die war, die SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
spürt man den Abschied, wenn man nicht am längsten geblieben ist.
dabei ist. Aber so ist Politik. SPIEGEL: Sie waren in Ihrer Karriere lange
SPIEGEL: Wenn Sie noch mitverhandeln Jahre Ministerin, außerdem stellvertreten-
dürften: Welche Koalition würden Sie an- de Ministerpräsidentin und zehn Jahre
streben? lang Landtagspräsidentin. Warum greifen
Stamm: Wer bei den Sondierungen nicht Sie nicht selbst nach dem CSU-Parteivor-
dabei ist, darf sich kein Urteil dazu erlau- sitz, da Sie nun wieder etwas mehr Zeit
ben. Das weiß auch der Ministerpräsident: haben?
Wenn man mit den Grünen spricht, muss Stamm: Wäre ich 20 Jahre jünger, würde
man ernsthaft sprechen. Es ist ja kein Ge- ich das machen. Sofort.
heimnis, dass ich familiär vorbelastet bin. Interview: Anna Clauß
Meine Tochter Claudia saß knapp zwei JETZT DIGITAL LESEN

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 55


56 Illustrationen: Benjamin Güdel für den SPIEGEL
Deutschland

Voll vernebelt
Rauschmittel Für viele Deutsche ist Cannabis gesundes grünes Kraut – und ein Joint
nur eine andere Art Bier. Politiker wollen die illegale Droge
freigeben. Sollte es so weit kommen, wären Kinder und Jugendliche die Verlierer.

A
ls der Joint zum ersten Mal kreiste, nicht unbedingt körperlich abhängig«, sagt Die Droge solle, staatlich überprüft und
ließ Patrick ihn noch vorüberzie- Schmidt. »Aber es kann psychisch sehr überwacht, in speziellen Läden an Erwach-
hen. Haschisch und Marihuana, problematisch werden und zu seelischer sene verkauft werden. Seit in den Sondie-
das hatte er gehört, könnten einem Abhängigkeit führen. Wenn ein Mensch rungsgesprächen nach der vorigen Bun-
furchtbar zusetzen. Und so neugierig der instabil ist, sich nicht wertgeschätzt fühlt destagswahl auch noch die Unterhändler
Teenager war: Das Risiko suchte er nicht. oder etwas Elementares vermisst, hat Can- der FDP die Cannabisfrage stellten, schien
Dann sah er die gelösten Gesichter der nabis das Potenzial, darüber hinwegzutrös- die Droge endgültig in der Mitte der Ge-
Freunde und griff am Ende doch zu. Es wur- ten. Und solche Gemengelagen kommen sellschaft angekommen zu sein.
de ein lustiger Moment nach Schulschluss in der Pubertät oder im jungen Erwachse- Schon 2013 hatte etwa die Hälfte aller
im Park – bis die Jungen wieder ihre Ta- nenalter gehäuft vor.« deutschen Strafrechtsprofessoren gefordert,
schen schulterten, weil zu Hause die ah- Cannabis, lateinisch für Hanf, ist in al- das Betäubungsmittelgesetz zu reformieren,
nungslosen Mütter mit dem Essen warteten. len Ländern der Europäischen Union die weil es Cannabis unverhältnismäßig krimi-
»Leider hatte mir niemand gesagt, dass meistgenutzte illegale Droge. Wer die breit- nalisiere. Die Regeln seien »weder intelli-
Cannabis einem das Leben ruinieren fächerige Pflanze in Deutschland anbaut, gent noch zielführend«, meint auch der Vor-
kann«, sagt Patrick Focken heute, acht Jah- besitzt, verkauft oder abgibt, verstößt gegen sitzende des Bundes Deutscher Kriminal-
re später, mit Mitte zwanzig. Der junge das Betäubungsmittelgesetz und riskiert beamter. Die meisten Rauschgiftdelikte in
Mann, der anonym bleiben möchte und der Kriminalstatistik betreffen Cannabis,
einen anderen Namen trägt, sitzt dem lei- doch die eingeleiteten Verfahren bleiben
tenden Arzt der Bonner Tagesklinik »Im Konsumenten 2015
häufig ergebnislos: Polizisten verfolgen oft
Wingert« gegenüber. Vier Monate lang Anteil der 18- bis 59-Jährigen,
7,0 mit großem Aufwand kleine Dealer, die sie
hat die Krankenkasse dem suchtkranken die im zurückliegenden Jahr schnell wieder entlassen müssen. Auch ein
Patienten zugestanden, um zwischen hel- mindestens einmal Cannabis Großteil der Konsumenten wird nicht be-
len Möbeln, Goldfischteich und einer sanft konsumiert haben, in Prozent langt, weil der Besitz von 6 Gramm Can-
hügeligen Wiese einen Alltag wiederzu- nabis in den meisten Bundesländern gedul-
finden, den er ohne Joints bewältigt. Quelle: Reitox-Bericht 2017 det wird, in Berlin sind es bis zu 15 Gramm.
Mit Liebeskummer fing es an, »da kiffte Hanf sei ein Genussmittel, argumentieren
ich plötzlich nicht mehr nur zum Spaß«, zahlreiche Befürworter – weniger schädlich
erinnert sich Focken. »Bald war Cannabis 2006 2009 2012 als Alkohol, der den Tod bringen könne und
ein Allheilmittel. Zum Schluss habe ich 5,1 5,2 5,1 dennoch legal sei. Erwachsenen Cannabis
mich kontinuierlich betäubt, um erst gar zu verweigern sei also unangemessen und
kein schlechtes Gefühl aufkommen zu verstoße zudem gegen Freiheitsrechte. Für
lassen. Dass es mir in Wahrheit immer ein Strafverfahren. Dennoch nahm die zahlreiche Patienten sei die Pflanze ohnehin
schlechter ging, weil ich immer mehr Pro- Zahl der Konsumenten in den vergangenen ein Segen. Seit dem 10. März vergangenen
bleme bekam, wollte ich nicht merken.« Jahren zu. Es sind Hausfrauen, Unterneh- Jahres gilt das »Cannabis als Medizin Ge-
Der Psychiater nickt, er kennt solche mer und Hartz-IV-Empfänger darunter, setz«; seither dürfen Ärzte bestimmten chro-
Verläufe. Etwa ein Drittel der Patienten Professorenkinder und Schüler wie Patrick nisch kranken Patienten, die sich vorher mit
von Axel Schmidt ist abhängig von Can- Focken. Hanf wächst in Dachkammern Fertigmedikamenten aus teils künstlich her-
nabis, viele ihrer Berichte ähneln sich: Da oder früheren Fabrikhallen; er lässt sich in gestellten Cannabinoiden begnügen muss-
ist die Pubertät, in der sich junge Men- Form von Haschisch und Marihuana rund ten, Blüten und Extrakte von Naturhanf ver-
schen so stark fühlen, dass sie alles aus- um jede weiterführende Großstadtschule schreiben. Einige experimentelle Therapien
probieren – und trotzdem verletzlich sind kaufen und gelangt unter anderem aus Al- legen außerdem nahe, dass Hanf bei begin-
wie in kaum einer anderen Lebensphase. banien tonnenweise ins Land. nender Demenz möglicherweise das Ge-
Und da ist Cannabis, erst Spaß, dann Trost Die Drogenpolitik sei gescheitert, be- dächtnis stabilisiert. Hersteller von Kosme-
und schließlich eine Katastrophe. mängeln daher Politiker der Opposition, tik erhoffen sich von den mehr als 400 In-
Innere Leere. Quälende Gedankenschlei- Grüne, Linke; aber auch Wissenschaftler, haltsstoffen der Pflanze erstaunliche Anti-
fen. Antriebslosigkeit. Patrick Focken schaffte Kriminalbeamte und Institutionen wie die Aging-Effekte. Modedesigner schätzen die
es noch durchs Abitur, aber nicht mehr durch Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Fasern als ökologischen Naturstoff.
das Studium. Er verbrachte die Tage in sei- Statt friedliche Kiffer wie Verbrecher zu Das pflegeleichte Gras, so bilanzieren
nem Zimmer, tauchte ab in eine Welt aus Bü- behandeln, solle man Cannabis endlich viele Befürworter, biete einen riesigen
chern und Computerspielen, kiffte. »Das war freigeben – so wie in Kanada, wo die Dro- Markt und ermögliche Millionen Euro zu-
wie ein Selbstmord auf Raten«, findet er nun. ge seit wenigen Tagen legal erhältlich ist. sätzlicher Steuereinnahmen.
Wieder nickt der Arzt. »Selbst bei re- Die Grünen legten bereits 2015 einen Ent- Sie werde nicht zulassen, dass sich die
gelmäßigem Gebrauch macht Cannabis wurf für ein Cannabiskontrollgesetz vor: Deutschen um ihre Gesundheit kiffen,

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 57


Deutschland

argumentiert hingegen die Drogenbeauf- hingegen, das sich eher schützend auf Ge- Vorweg die gute Nachricht: Tausende
tragte der Bundesregierung. Als Marlene hirnfunktionen auswirken kann, lässt sich probieren Cannabis, ohne dass es sie be-
Mortler in dieser Woche den aktuellen häufig nicht einmal mehr nachweisen. einträchtigt. Ihnen bietet die Droge, was
Drogen- und Suchtbericht vorstellte, be- Mehr als drei Millionen Erwachsene in alle erhoffen: Sie blendet für selige Mo-
zeichnete sie Kanadas Weg der Legalisie- Deutschland haben innerhalb von zwölf mente die elende Welt aus und verstärkt
rung als »Kapitulation«. Sie lehnt selbst Monaten mindestens einmal Cannabis pro- angenehme Sinneseindrücke. Die meisten
Modellprojekte ab, wie sie in Städten wie biert. In der Altersstufe von 18 bis 25 Jah- Konsumenten kiffen zudem höchstens
Berlin geplant waren und für die kürzlich ren ist es fast jeder Fünfte, bei den Jungen zehnmal im Jahr. Werden Studium, Beruf
die FDP im Bundestag warb: Bewohner und Mädchen unter 18 Jahren beinahe und Partner wichtiger, schränken sie oft
in Vierteln mit besonders umtriebigen jeder Vierzehnte. Weil die Zahlen im den Konsum noch weiter ein.
Dealern sollen legal Cannabis kaufen kön- Drogen- und Suchtbericht der Bundes- Statistisch betrachtet tragen Cannabis-
nen, Forscher die Erfahrungen auswerten. regierung auf Selbstauskünften beruhen, nutzer ein erhöhtes Risiko für Verkehrsun-
Auch der Vorsitzende im Gesundheitsaus- gehen Mediziner von höheren Werten aus. fälle, Hodenkrebs und Krankheiten der
schuss, ein Fraktionskollege Mortlers, zog Rund 34 000 Patienten lassen sich im Jahr Atemwege; Schwangere nehmen außerdem
unlängst einen Modellversuch in Betracht. wegen Cannabismissbrauch behandeln, in Kauf, dass ihre Kinder sich später mög-
Sie halte nichts von »Freilandexperimen- auch diese Zahlen sind gestiegen. Viele licherweise verlangsamt entwickeln. Insge-
ten mit der Gesundheit«, sagt dagegen die Zehntausende mehr, so schätzen Gesund- samt aber belasten die legalen Suchtmittel
Drogenbeauftragte. heitsforscher, müssten Hilfe suchen. Alkohol und Nikotin die Gesundheit weit-
Mortler ist seit fast 30 Jahren Mitglied Die Situation ist paradox: Während sich aus stärker. Und nach wie vor sind wesent-
der CSU, sie hat einen Abschluss als Meis- das umstrittene Gras zum Problemge- lich mehr Deutsche von Schnaps, Bier, Wein
terin für ländliche Hauswirtschaft, ihr Va- und Zigaretten abhängig als von Hanf.
ter verdiente sein Geld mit dem Anbau »Der vitale, erwachsene und gelegent-
von Hopfen in der fränkischen Provinz. liche Samstagabendkiffer bereitet uns
Eine Drogenbeauftrage mit einer derart Patienten auch kaum Kopfzerbrechen«, sagt Georg
konservativ-ländlichen Biografie sei vor- Hauptdiagnose Juckel, Ärztlicher Direktor der Bochumer
eingenommen und müsse Cannabis ja ver- bei erstbehandelten Universitätsklinik für Psychiatrie. »Wir
teufeln, argumentieren viele ihrer Gegner. Abhängigen in sorgen uns um die jungen und vorbelaste-
Doch der Politikerin steht eine breite ambulanter Behandlung ten Menschen.«
Koalition zur Seite, die ebenso bunt ist Juckel forscht seit Jahren zu den Folgen
wie die Fraktion der Befürworter. So un- von Cannabiskonsum und hat schon Ki-
terschiedlich ihr Weltbild ist, in diesem Cannabinoide Stimulanzien noprojekte organisiert, um Jugendliche
Urteil sind sich Kriminalbeamte wie Rita 54,6 % 17,5% aufzuklären. »Studien legen nahe, dass
Salgmann, Ärzte wie Rainer Thomasius, Quelle: Reitox-Bericht mindestens jeder elfte regelmäßige Kiffer
Patienten wie Patrick Focken und zahl- Opioide 2017
eine cannabisbezogene Störung entwi-
reiche Psychologen, Präventionswissen- 11,7% ckelt«, sagt er. »Dazu gehören krankhafte
schaftler und Pädagogen einig: Hanf, die- Ängste und Depressionen oder psychoti-
ses sanftgrüne Symbol alter Flower-Power- scher Wahn wie bei einer Schizophrenie.«
Zeiten, sei keinesfalls so harmlos wie oft Rund 800 000 Patienten in Deutsch-
behauptet. Und eine Freigabe, wie in eini- land leben mit dieser Krankheit, die das
gen Bundesstaaten der USA oder nun in wächs entwickelt, scheinen zunehmend Gehirn manchmal vergleichbar stark schä-
Kanada, berge unberechenbare Risiken. viele Menschen von dessen Harmlosigkeit digt wie Alzheimer. Wie viele scheinbar
Cannabis entwickele sich in allen überzeugt zu sein. Letzteres liegt auch an Gesunde genetisch vorbelastet sind, lässt
Schichten der Gesellschaft zu einem ge- Lobbyisten, die den Nutzen überhöhen sich nicht beziffern. Doch Schizophrenie
fährlich wachsenden Problem und habe und von Risiken ablenken, wie der Leiter beginnt typischerweise in der Pubertät
ein viel zu harmloses Image, sagt Rita der Bundesopiumstelle Peter Cremer- oder im jungen Erwachsenenalter – jener
Salgmann, die im niedersächsischen Lan- Schaeffer in einem Buch nahelegt*. »Die Lebensphase, in der zunehmend viele
deskriminalamt die Zentralstelle für Prä- Gesellschaft wird nicht zerbrechen, wenn Menschen Cannabis ausprobieren.
vention leitet. »Die Substanz freizugeben Cannabis zu Genusszwecken legalisiert Man verstehe heute viel besser als vor
wäre verantwortungslos«, meint auch Rai- würde«, resümiert der studierte Anästhe- zehn Jahren, wie sich die Inhaltsstoffe von
ner Thomasius, der an der Hamburger sist. Aber es werde in der Debatte zu vieles Hanf im Gehirn auswirkten, sagt Juckel.
Universitätsklinik dem Deutschen Zen- unzulässig vermischt: der Kampf gegen »Sie können körpereigene Botenstoffe
trum für Suchtfragen des Kindes- und Ju- Kriminalität, das vermeintliche Recht auf aktivieren, die auch beim Entstehen einer
gendalters vorsteht. Er warnt seit Jahren Rausch und die möglichen positiven wie Schizophrenie beteiligt sind.« Sei ein
vor einer Legalisierung. »Es würden noch negativen Folgen für die Gesundheit. Mensch anfällig für die Krankheit, könne
mehr Menschen an sozialen und psy- Am Ende ist es eine drängende Frage, regelmäßiger Cannabiskonsum das Boten-
chischen Problemen leiden.« auf die sich die hitzige, oft hoch ideolo- stoffsystem im Gehirn folgenschwer durch-
Zahlreiche Kiffer wüssten gar nicht, dass gisch geführte Debatte zuspitzt: Lassen einanderbringen. »Dann bricht möglicher-
sie sich gefährden, ergänzt der leitende sich Kinder und Jugendliche vor Sucht und weise ein Leiden aus, das ohne Joints nicht
Oberarzt an der Leipziger Universitäts- Nebenwirkungen besser schützen, wenn ausgelöst worden wäre.«
klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Cannabis als Genussmittel für Erwachsene
Mirko Döhnert. »Viele halten Cannabis legalisiert und der Verkauf staatlich kon- Im Fall von David Wilhelm spricht viel
für gesundes grünes Gras, eine Art Bio- trolliert und reguliert wird? Oder wirkt dafür, dass Cannabis den Ausbruch einer
droge ohne Zusatzstoffe.« Doch anders als das allgemeine Verbot trotz aller Missstän- psychotischen Störung mitverursacht hat.
in vergangenen Hippietagen steckt in den de noch immer am besten? Der 21-Jährige ist Patient einer psychiatri-
heutigen Sorten erheblich mehr THC, schen Klinik im Ruhrgebiet; wie etliche
jener Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol, * Peter Cremer-Schaeffer: »Cannabis«. S. Hirzel; 128 seines Alters wusste er nach dem Abitur
der den Rausch auslöst. Das Cannabidiol Seiten; 14,80 Euro. nicht, wie es weitergehen sollte. Abends

58
legte er als DJ in einem Nachtklub Musik teilt, weil er meinte, Kunst zu erschaffen. zu weisen. Überall sah er geheime Bot-
auf, tagsüber lebte er vor sich hin. Er habe Im Badezimmer hatte er Butter in die schaften, ohne dass es ihm gelungen wäre,
in dieser Phase der unklaren Perspektiven Ecke geschleudert und daneben teure sie zu entschlüsseln. Nachts lief er, in sein
immer mehr gekifft, sagt er. »Zwei- oder Turnschuhe platziert, »es war so ein Jo- Laken gehüllt, durch den abgeschlossenen
dreimal täglich, manchmal schon mittags.« seph-Beuys-Ding«, dann sortierte er die Garten, damit ihn jene, die ihn abholen
David Wilhelm wirkt jünger, als er ist, Gegenstände seines Zimmers nach Far- kämen, sofort bemerken würden. »Ich ha-
er spricht leise, als wolle er nicht auffallen. ben: pinkfarbenes Lametta neben pink- be verzweifelt versucht, alles richtig zu ma-
»Ich habe das Gefühl, die Menschen geben farben verpackte Kondome und ein pink- chen, um hier wegzukommen«, berichtet
mir mit allem, was sie tun, ein Zeichen. farbenes Feuerzeug. Zum Schluss kletterte er. Manchmal ahmte er die Schlafgeräusche
Und ich verstehe sie nicht und fühle mich er auf das Hausdach und warf Plakate in eines Patienten nach, weil er meinte, dies
von ihnen nicht verstanden. Am Anfang die Nachtluft. »In diesem Moment fand sei das in der Klinik erwünschte Verhalten.
war es noch viel schlimmer.« ich das alles folgerichtig«, sagt er. »Ich »Cannabis wurde erst mit dem Aus-
Ein Freund brachte ihn in die Klinik, dachte, dass endlich zum Vorschein kom- bruch der Psychose zu einem Problem für
nachdem David Wilhelm mitten in der me, was ich kann.« mich«, sagt der junge Mann. »Die Krank-
Nacht in seiner Wohngemeinschaft in drei Umso unpassender fühlte er sich in der heit hat kaputt gemacht, was ich mir er-
Maschinen gleichzeitig Kaffee gekocht Klinik. Lange begriff er nicht, dass er arbeitet hatte. Das wird mir jetzt erst be-
hatte, obwohl er seit Wochen unter Schlaf- krank war. Er vertraute keinem Arzt und wusst. Ich habe früher so viel konsumiert,
losigkeit litt. Anschließend hatte er den verfolgte Fliegen, weil er meinte, sein Va- dass ich gar nicht erst anfing nachzuden-
Kaffee nicht nur getrunken, sondern mit ter hätte die Insekten ferngesteuert, um ken. Nun nähere ich mich langsam dem
einem Dreckschieber in der Küche ver- dem Sohn den Weg aus dem Krankenhaus Gedanken, dass zum Leben Aufgaben ge-
hören, die man nicht wegdimmen kann.«
Der Psychiater Juckel kennt viele ver-
gleichbare Patienten. »Wäre die Droge
legal und damit noch leichter verfügbar,
könnte die Zahl der Kranken mit psycho-
tischen Störungen oder einer Schizophre-
nie steigen«, meint er. Ähnliches gelte für
Depressionen, die ebenfalls durch Canna-
bis verstärkt werden könnten. »Diese
Krankheiten beginnen mit Symptomen,
die einen jungen Menschen zum Kiffen
verleiten können: Man fühlt sich missver-
standen, man schläft schlecht, man erlebt
die Welt als einzige Schwierigkeit.«
Allerdings fallen auch gesunde Jungen
und Mädchen während der Pubertät in
derartige Gemütszustände. »Und das
führt zum zweiten großen Argument ge-
gen Cannabis«, sagt der Arzt. »Neurobio-
logisch betrachtet, ist das Gehirn eines
Menschen erst mit ungefähr 25 Jahren aus-
gereift. Cannabis kann diesen Prozess
nachhaltig stören.« Oft verstärkt es dann
die Probleme mit den ohnehin komplizier-
ten, anstehenden Entwicklungsaufgaben.
Je jünger ein Kind, desto gravierender
die Folgen.
Studien zeigen, dass Jungen und Mäd-
chen, die vor dem 15. Geburtstag regelmä-
ßig Cannabis zu sich nehmen, seltener die
Schule beenden als ihre Mitschüler. Wer
an zwei oder drei Tagen in der Woche kiffe,
könne Wörter signifikant schlechter be-
halten, sagen Wissenschaftler der Bostoner
Harvard Medical School. Bilder aus dem
Kernspintomografen zeigen in derartigen
Fällen veränderte Gehirnstrukturen. Auch
soziale Fähigkeiten entwickeln sich viel-
fach nicht altersgemäß. Juckel hat zahlrei-
che 17- und 18-Jährige erlebt, die auf dem
Stand eines durchschnittlichen 13-Jährigen
sind.
»Das ist auch deshalb so tragisch, weil
viele mit ihrem Drogenkonsum unbewusst
das entgegengesetzte Ziel verfolgten«, sagt
der Psychiater. »Anders als früher geht es
ja heute kaum mehr darum, mit Joints ge-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 59


gen eine spießige Gesellschaft zu protes-
tieren. Im Gegenteil: Ein großer Teil der
Patienten versucht, mithilfe von Cannabis
und anderen Drogen doch noch irgendwie
in dieser Gesellschaft zu bestehen.«

Valerie Besgens’ Geschichte handelt von


solch einem Versuch; die 26-Jährige ist
noch einmal zu einem Gespräch in die
Bonner Tagesklinik gekommen. Die De-
korateurin bemüht sich inzwischen, den
Alltag ohne das Team der Klinik und ohne
die Hilfe von Drogen zu meistern. Auch
sie will ihren wahren Namen nicht nennen,
die Rückkehr ins Leben fällt ihr schon
ohne Öffentlichkeit schwer genug.
Nahezu jede Substanz habe sie auspro-
biert, erzählt sie, und Cannabis fehle ihr
am meisten. »Zu kiffen hat sich angefühlt,
als streichelte einem einer über den Kopf
und sagte: Ist alles nicht so schlimm.«
Der erste Joint mit 13, damals gehörten
die Kifferrunden am Rhein noch zur
Freizeit wie ein Spieleabend. Doch einige
Freunde nahmen bereits stärkere Drogen;
und Valeries Eltern, die Mutter krank, der
Vater gewalttätig, boten wenig Halt. Als
Valerie 15 war, kam Alkohol zu den Joints
hinzu, dann nahm sie zusätzlich Am-
phetamine, dann Kokain. Sie hatte Alb-
träume, litt unter Panikattacken, verletzte
sich selbst, wollte sterben und wurde einer
psychiatrischen Klinik übergeben. Doch
sobald sie darüber nachdachte, ihren Kör-
per zu entgiften, störte sofort ein Gedanke:
Bloß nicht, es hilft ja – Amphetamine beim
Durchhalten, Cannabis beim Abschalten! können, interessiert das Gras auch Men- Ein gewöhnliches Medikament wäre bei
Äußerlich funktionieren, raus aus dem schen, denen es bislang gleichgültig war. einer solchen Datenlage kaum zugelassen
Elend der Eltern, für dieses Ziel kiffte, Viele hoffen auf ein Wundermittel für alle worden. Dass Ärzte den Hanf trotzdem
trank und kokste Valerie. Arten ungelöster medizinischer Probleme. verordnen dürfen, liegt daran, dass die
Sie bestand die Führerscheinprüfung Wissenschaftlich belegt ist der Nutzen neuen Verschreibungsregeln eher einer
und schloss die Lehre als Beste ab, sie ließ bislang nur für wenige Diagnosen. Die juristischen als einer medizinischen Logik
die Haare regelmäßig nachschneiden und Münchner Psychologieprofessorin Eva folgen: Mehrere Patienten hatten die Bun-
bewahrte sich das sympathische Lachen – Hoch hat im Auftrag der Bundesregierung desrepublik verklagt, weil das Bundes-
bis sie kurz nach ihrem 20. Geburtstag mehr als 2000 Studien ausgewertet. Das institut für Arzneimittel und Medizin-
meinte, ihr Kopf zerplatze. Erst nach ein Ergebnis: Inhaltsstoffe von Cannabis kön- produkte (BfArM) ihnen verweigert hatte,
paar Wochen in der Tagesklinik, nach Ent- nen gegen bestimmte chronische Schmer- Hanf zu kaufen oder anzubauen. Den An-
zug, Therapie und einem Rückfall, sah sie zen und gegen spastische Krämpfe wie bei fang machte 2005 ein 56-jähriger Rechts-
klarer. »Cannabis hatte in meinem Leben einer Multiplen Sklerose helfen. Manch- anwalt, der an Multipler Sklerose und den
eine Funktion«, urteilt sie nun. »Da war mal profitieren auch Patienten, die an Par- damit einhergehenden Muskelspasmen litt.
ein riesiges Bedürfnis nach Geborgenheit, kinson, dem Tourette-Syndrom, seltenen Nur wenn er Cannabis zu sich nehme, so
und das sollten die Joints ausfüllen.« Fällen von Epilepsie oder chronischen argumentierte er, entspanne sich die Mus-
Zahlen der Europäischen Beobachtungs- Darmentzündungen erkrankt sind. Oder kulatur in einer für ihn schmerzlindernden
stelle für Drogen und Drogensucht lassen solche, die bei einer HIV-Infektion an feh- Art. Der Effekt war bereits in der wissen-
sich so interpretieren, dass viele Jugend- lendem Appetit oder während einer Che- schaftlichen Literatur beschrieben worden.
liche, die erst nur kiffen, irgendwann zu motherapie an ständigem Brechreiz leiden. Das Grundgesetz garantiere das Recht
einem bedrohlichen Cocktail von Substan- Viele der ausgewerteten Daten beruhen auf körperliche Unversehrtheit, urteilten
zen greifen, weil sie eher in entsprechende nur auf wenigen Fällen. Insgesamt, so daraufhin die Richter beim Bundesverwal-
Cliquen geraten. Auch deswegen warnen schließt der Bericht, seien dringend mehr tungsgericht. Die Selbsttherapie müsse er-
Kritiker vor der Freigabe, selbst wenn Can- aussagekräftige Studien notwendig, um laubt sein, wenn ein möglicher Nutzen die
nabis keine klassische Einstiegsdroge ist. die Chancen, doch vor allem auch die Risiken überwiege. In der Folge stellten
»All die Gegenargumente wiegen umso Risiken von Cannabisarzneien besser ein- die Mitarbeiter des BfArM mehr als tau-
schwerer, weil die Akzeptanz für Hanf in schätzen zu können. Ein im Mai veröffent- send Ausnahmeerlaubnisse aus.
den letzten Jahren noch einmal richtig lichter Report kommt zu einem ähnlichen Mit dem neuen »Cannabis als Medizin
Fahrt aufgenommen hat«, meint der Leip- Ergebnis, Gesundheitswissenschaftler hat- Gesetz« liegt die Rezepthoheit nun bei
ziger Kinderpsychiater Döhnert. Seitdem ten dafür Patientendaten der Techniker den Ärzten, und wenn nachweislich kein
Ärzte die getrockneten Blüten verschreiben Krankenkasse analysiert. anderes Mittel hilft, müssen Krankenkas-

60 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Die Marihuana-Industrie sei auf dem ist: Man dürfe Hasch und Marihuana nur
Weg, so mächtig wie die Tabakfirmen zu in begrenzten Mengen und in Läden für Er-
werden, warnen Vertreter von Nichtregie- wachsene verkaufen. Die Mitarbeiter dieser
rungsorganisationen in den USA, wo die Geschäfte sollten ihre Kunden über Sucht-
Branche unter anderem mit THC-haltigen gefahren aufklären, die Inhaber müssten
Bonbons und Cannabiskapseln für die den Jugendschutz beachten. Dazu zähle
Kaffeemaschine zehn Milliarden Dollar ein Werbeverbot, ein Versandhandelsver-
jährlich umsetzt. In zehn Jahren soll es bot und ein Mindestabstand von Schulen
zehnmal so viel sein, und auch Deutsch- und Einrichtungen der Jugendhilfe. Wür-
land werde sich zu einem Multimillionen- den die Vorgaben eingehalten, werde sich
markt entwickeln, sagen Ökonomen vo- das Cannabisproblem bald verringern: Weil
raus. Mediziner Petzke rechnet mit einer in den Läden nur erstklassiger Stoff zu ha-
Vielzahl problematischer Produkte: »Ak- ben sei, werde der Schwarzmarkt mit seiner
tivierende Cannabismittel, sedierende Can- unreinen Ware ausgetrocknet. Und weil nur
nabismittel – und viele von ihnen werden Erwachsene einkaufen könnten, werde die
keine der üblichen randomisierten Doppel- Zahl jugendlicher Kiffer abnehmen – und
blindstudien durchlaufen, die den Nutzen damit die Menge psychischer Krankheiten
und Schaden eines Wirkstoffs ermitteln. im Jugendalter. Unterm Strich bleibe au-
Das kann ich mir nur als Katastrophe vor- ßerdem mehr Geld für Prävention.
stellen.« Dass sich die breite Öffentlichkeit Unverantwortlich!, schallt es aus dem
für die beschränkte Wirksamkeit und mög- Lager der Gegner. Im besten Fall: naiv! Es
liche Nebenwirkungen des Cannabis kaum falle Eltern jetzt schon schwer genug, ge-
interessiere, bereite ihm Sorge. gen jene Helden der Jugendkultur anzu-
erziehen, die Kiffen als lässige Attitüde
Legalisierungsbefürworter nutzen das verherrlichen.
positive Image. Mit Georg Wurth, einem Wie groß der Mindestabstand der künf-
ehemaligen grünen Lokalpolitiker, ver- tigen Läden zu einer Schule denn sein müs-
fügen sie über einen wortgewaltigen Lob- se, damit kein Teenager vorbeikäme? Und
byisten in Berlin. Jahrelang hat der 46-Jäh- wie man ausschließen wolle, dass die Äl-
rige legales Kiffen als Bürgerrecht ein- teren den Jüngeren die Joints einfach mit-
gefordert, nun argumentiert er oft auch brächten? Auf welche Altersgrenze man
mit den Heilkräften der Pflanze. Wurth sich überhaupt einigen wolle, wenn die
unterstützt die »Cannabis Social Clubs«, Hirnreifung erst mit 25 Jahren abgeschlos-
die als Anbaugemeinschaften für Selbst- sen sei? Und wie man den Jungen und
versorger zugelassen werden wollen, und Mädchen erklären wolle, dass Hanf zwar
er ist dabei, wenn bei Hanfdemos Gitar- cool für alle sei, aber nicht für sie? Legali-
sen die Extrakte und Blüten erstatten. Bis- renklänge zum Himmel aufsteigen. Vor al- siere man den Stoff, sende man doch eine
lang stammt der medizinische Hanf in lem aber tritt er als Geschäftsführer des Botschaft: Kiffen ist okay – und Cannabis
deutschen Apotheken aus Ländern, in de- Deutschen Hanfverbands auf – der anders, ein völlig legitimes Genussmittel.
nen der Anbau erlaubt ist. In zwei Jahren als es klingt, kein Zusammenschluss meh- Außerdem werde der Schwarzmarkt si-
soll Cannabis aus hiesigen Gewächshäu- rerer Interessensgruppen ist, sondern ein cherlich nicht austrocknen, er existiere für
sern erhältlich sein. Unternehmen mit dem Ziel, die Legalisie- legale Suchtmittel wie Zigaretten ja auch.
»Wir unternehmen gerade ein riesengro- rung von Cannabis durchzusetzen. Gerade junge Leute würden sich weiterhin
ßes Experiment mit vielen Schwachstel- Die Firma ist weitgehend spendenfinan- dort versorgen: Der Gesetzentwurf sieht
len«, sagt Frank Petzke, der in der Fach- ziert. Das Geld stammt von privaten eine Steuer von fünf Euro für ein Gramm
gesellschaft der Schmerzmediziner einer Förderern und von Betrieben der Hanf- Haschisch vor – da könnten Dealer güns-
Kommission mit dem Titel »Cannabis in branche, die Verdampfer, Anbauzubehör tigere Preise anbieten als Händler, deren
der Medizin« vorsitzt. »In zahlreiche Pra- oder medizinisches Cannabis anbieten. Ware nach Staatsvorgaben geprüft werden
xen drängen nun oft auch junge Leute, die Als Wurth vor vier Jahren in der Sendung müsse. Und auch ein Blick in die Nieder-
über unspezifische Schmerzzustände kla- »Millionärswahl« von Sat.1 und ProSieben lande mit ihren Coffeeshops zeige, dass
gen und letztlich ihren längst bestehenden eine Million Euro gewann, kündigte er an, ein illegaler Markt fortbestehe, wenn sich
Bedarf decken wollen.« Manche bringen dieses Geld auch für Werbung nutzen zu Kunden registrieren lassen müssen und
ihre Vaporisatoren mit ins Sprechzimmer – wollen: »Wir wollen die Debatte über eine nur eine begrenzte Menge kaufen können.
Geräte, mit denen sich Cannabis verdamp- Legalisierung von Cannabis in Kreise tra- Schaut in die USA!, entgegen Befürwor-
fen und anschließend inhalieren lässt. gen, die bisher nicht darüber diskutieren.« ter in solchen Diskussionen. In mittlerwei-
»Schmerzmedizin ist wesentlich kom- Mehrfach haben Politiker der Grünen le neun Bundesstaaten und Washington,
plexer«, urteilt Petzke. »Der Patient muss den Lobbyisten als Sachverständigen in D. C., ist Cannabis als Genussmittel für Er-
sich mit den Ursachen auseinandersetzen den Bundestag gebeten. Ein Video auf der wachsene erhältlich; der Stoff lockt Inves-
und oft auch mithilfe von Physiotherapeu- Internetseite des Hanfverbands zeigt ihn toren und Touristen, keine andere Branche
ten und Psychologen sein Verhalten än- im einvernehmlichen Gespräch mit der wächst so schnell. Weil sie reguliert und
dern.« Leider seien zu viele Kollegen an- drogenpolitischen Sprecherin Kirsten Kap- kontrolliert sei, ergäben sich lauter posi-
sprechbar für die Idee, Patienten solche pert-Gonther. Wurths gesponserter Ver- tive Effekte, meinen die Unterstützer. In
Mühen zu ersparen und das allgemeine band wirkt in solchen Momenten wie eine Colorado sei der Anteil der 12- bis 17-jäh-
Leiden am Leben mit Cannabis zu lindern. Arbeitsgruppe der Partei. rigen Konsumenten innerhalb eines Jahres
»Selbst wenn die Kollegen beste Absichten Viele Befürworter werben mit einem um zwölf Prozent gesunken.
verfolgen: Sie machen sich so auch zum Konzept, das im Entwurf des »Cannabis- Es ist eine beeindruckende Zahl. Doch
Handlanger zweifelhafter Interessen.« kontrollgesetzes« der Grünen nachzulesen sie erfasst nicht nur häufige Nutzer, son-

61
dern auch jene, die nur einmal in den zu-
rückliegenden zwölf Monaten Cannabis
probiert haben. Und: Die Zahl der 18- bis
25-jährigen Konsumenten ist gleichzeitig
gestiegen. Auch in den USA streiten Geg-
ner und Befürworter erbittert. Wissen-
schaftler, die den Gesundheitsschutz in
den Blick nehmen, ziehen eine eher nega-
tive Bilanz.
Verglichen mit dem amerikanischen
Durchschnitt nutzen nirgendwo so viele
Menschen Cannabis wie in Colorado. Ju-
gendliche sind, ebenfalls im Vergleich, zu-
nehmend jünger, wenn sie die Droge pro-
bieren. Die Zahl jener Jungen und Mädchen
steigt, die sich unter dem Einfluss von Hanf
auffällig verhalten und der Schule verwie-
sen werden. Zahlreiche Kleinkinder kom-
men als Notfälle in eine Klinik, weil sie he-
rumliegende Cannabisprodukte ihrer Eltern
geschluckt haben. Überhaupt, so bilanzie-
ren Forscher der University of Colorado,
hätten sich nach der Legalisierung mehr
Menschen wegen Cannabis in Notaufnah-
men behandeln lassen müssen als vorher.
Dass Heranwachsende leichter ge-
schützt werden könnten, wenn Cannabis
für Erwachsene legal sei, sei weder nach-
vollziehbar noch überprüfbar, schreibt der
Leiter der Bundesopiumstelle Cremer-
Schaeffer. Wissenschaftler der staatlichen
französischen Drogenbeobachtungsstelle
OFDT ziehen in einer Studie ebenfalls ein
kritisches Fazit: Die Finanzbehörden und
die Polizei profitierten von der Legalisie-
rung, die Konsumenten aber gingen sorg-
loser mit der Droge um. Zahlen aus Bre-
men weisen darauf hin, dass sich auch
deutsche Jugendliche dem Trend eher
nicht entziehen könnten. 22 Prozent geben
an, Cannabis im Fall einer Legalisierung
»eventuell mal auszuprobieren«. Und
15 Prozent der Jungen und Mädchen, die
bereits gekifft haben, können sich vorstel-
len, ihren Konsum dann zu steigern.
»Bereits die legalen Suchtmittel stellen wissenschaftlich erforschte Angebote.« len die Pädagogen außerdem Obst, Wasser
uns vor große Aufgaben«, sagt Marion Ammelung arbeitet seit mehr als 20 Jahren und Broschüren auf Open-Air-Konzerten,
Ammelung. »Alkohol, Nikotin, virtuelle im Beruf; sie hat erlebt, dass auch erfolg- Flohmärkten oder Festen rund um Bonn,
Welten. Mit jeder weiteren legalen Droge reiche Projekte auslaufen mussten, weil wo sie einen Sprinter-Bus als mobiles
würden diese Aufgaben anwachsen.« Die am Ende das Geld fehlte. Beratungszentrum parken. Rund 25 000
Sozialpädagogin leitet die Bonner »Fach- In Colorado werden Teile der eingenom- Menschen erreichen sie so jedes Jahr.
stelle für Suchtprävention« von Caritas menen Cannabissteuer für Prävention und Zu den Kursen und Sprechstunden im
und Diakonie. Das braune Klinkerhaus Therapie verwendet – ein ähnliches Mo- braunen Backsteinhaus aber kommen die
von »update« steht in einer steilen Gasse dell schwebt vielen Befürwortern in meisten Jungen und Mädchen nur, weil sie
im Ortsteil Lengsdorf, in den Büros liegen Deutschland vor. Das Problem erst zu ver- es müssen. »Wären sie nicht von ihren be-
helle Holzdielen, nichts erinnert an das schärfen, um es anschließend mit mehr sorgten Eltern oder der Polizei geschickt
schmuddelige Image vieler Drogen. Geld bekämpfen zu können, sei widersin- worden, kämen sie freiwillig nicht zu uns«,
»Wir brauchen schon jetzt viel mehr nig, argumentieren hingegen die Gegner. sagt Ammelung. »Es geht oft nicht ohne
Aufklärung in Deutschland«, sagt die So- Zwang.« Wäre Cannabis legal, würde auf
zialpädagogin. »Viele Jugendliche schät- Ammelungs Team bildet Lehrer fort, die öffentlichen Plätzen weniger kontrolliert,
zen ihren Konsum falsch ein. Sie halten Schüler über Drogen aufklären sollen. befürchtet sie. »Dann würden kiffende
sich für Ausprobierer, zeigen aber längst »Stark statt breit« steht auf den grünen Kof- Jungs und Mädchen seltener erfasst.« Ein
ein abhängiges Verhalten.« Auch Eltern fern, in denen Dosen mit nachgebildetem Rückschritt, meint die Sozialpädagogin.
seien oft nicht ausreichend informiert. Marihuana oder Karten für ein Quiz liegen, »Anders als viele jugendliche Komatrinker,
»Würden wir Cannabis freigeben und da- mit denen die Jungen und Mädchen sich die kaum in den Beratungsstellen ankom-
mit noch verfügbarer machen, bräuchten über mögliche Motive für Drogenkonsum men, lassen sich Jugendliche mit proble-
wir noch mehr Prävention, Beratung und bewusst werden sollen. Regelmäßig vertei- matischem Cannabiskonsum so immerhin

62 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


erreichen. Wichtig ist, dass sie lernen, ih- nachlässt, dass es zweifelhafte Freunde
ren Konsum zu reflektieren.« trifft. Nach so einem Termin können die SPIEGEL TV WISSEN
Dreimal drei Stunden lang setzen sie Therapeuten nur abwarten. MONTAG, 22. 10., 20.15 – 21.15 UHR | SKY UND
sich dann in Kleingruppen nach den Regeln Gerade Jugendliche mit Cannabispro- BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
von FreD, einem Programm zur »Früh- blemen lassen sich oft schwer erreichen. El-
intervention bei erstauffälligen Drogen- tern bleibe da nur eine Chance, rät Tho- Der Sexperte von Indien
konsumenten«, mit Cannabis, den Risiken masius. Sie müssten klare Grenzen setzen Er ist die indische Antwort auf
und ihrem Konsum auseinander. In ande- und gleichzeitig vermitteln, dass sie jeden »Bravos« Dr. Sommer. Der 93-jäh-
ren Fällen können Richter anordnen, dass Schritt in ein anderes Leben unterstützten. rige Dr. Watsa fordert einen unge-
ein Sozialpädagoge einen Jugendlichen Wenn sich in Hamburg die Mütter und Vä- zwungenen Blick auf das Thema
mehrere Monate lang im Alltag unterstützt. ter montags und mittwochs mit dem leiten- Sex und kämpft für mehr Frauen-
Daten der Europäischen Beobachtungsstel- den Psychologen treffen, berichten sie von rechte im prüden Indien.
le zeigen, dass die Mischung aus Verboten solchen Versuchen: Sie hätten das Kinder-
und Angeboten dauerhafter Abhängigkeit zimmer, diese Kifferhöhle, in ein Durch-
am ehesten vorbeugt. Nur so lasse sich gangszimmer verlagert. Seither müsse sich SPIEGEL TV
überhaupt glaubwürdig vor Konsum war- der Sohn zwangsläufig mehr am Familien- MONTAG, 22. 10., 23.25 – 0.00 UHR | RTL
nen, meint auch Gunner Duttge, Professor leben beteiligen. Sie hätten das Taschen-
für strafrechtliches Medizin- und Biorecht geld gestrichen, um das elende Zeug nicht Das Fleisch-Dilemma
an der Universität Göttingen. zu finanzieren. Aber in Wahrheit wüssten Fleisch ist günstig, nahrhaft und le-
Helfen Fachstellen wie update nicht wei- sie nicht weiter. cker. Und gleichzeitig eine Katastro-
ter, bleibt der Weg in eine psychiatrische Es sei für Väter und Mütter die vielleicht phe: für das Tierwohl, die Umwelt
Klinik oder Ambulanz. Das Deutsche Zen- schwierigste Aufgabe überhaupt, meint und das Klima. In der Produktion
trum für Suchtfragen des Kindes- und Ju- Thomasius. »Auszuhalten, dass ihr Kind geht es meist nicht um das Tier,
gendalters liegt auf dem Gelände der Ham- die Fürsorge ignoriert, weil es noch nicht sondern nur um ein vermarktbares
burger Universitätsklinik, hier sucht über so weit ist, sich von der Droge zu verab-
die Hälfte der Patienten Hilfe, weil Can- schieden.« Statistisch gesehen haben Jun-
nabis sie schädigt. Es sind mehr als 500 gen und Mädchen aus bürgerlichen, bil-
im Jahr, die jüngsten sind zwölf Jahre alt. dungsnahen Familien wie so oft am Ende
Der Aufwand ist hoch: Entzug, Ergo- die besseren Chancen. Ein Elternpaar aus
therapie, Gespräche, Sport, Klinikschule. Hamburg erzählt, sie beide seien verzwei-
Doch sobald sie, oft nach etlichen Mona- felt wie durch eine Hölle gegangen und
ten, entlassen sind, fallen manche Patien- schöpften nun wieder Hoffnung (siehe

SPIEGEL TV
ten zurück in den früheren Alltag. So Seite 64). Mehr als die Hälfte der canna-
unterschiedlich ihre Biografien sind, so bisabhängigen Jugendlichen aber steht
zuverlässig wiederholt sich ein Muster: von vornherein eher auf der Seite der Ver-
Ähnlich wie die Bonner Patientin Valerie lierer. Die jüngsten Konsumenten, die in Massentierhaltung
versuchen sie, Defizite ihres Lebens mit ihrer Gehirnentwicklung besonders gefähr-
Cannabis auszugleichen. Jungen, die unter det sind, leben oft in schwierigsten Ver- Produkt. Gibt es einen Weg aus
der Aufmerksamkeitsschwäche ADHS lei- hältnissen. diesem Dilemma?
den, sitzen nach einem Joint ruhig im Un- In Bonn beendet Axel Schmidt die Ge-
terricht und fühlen sich endlich von Leh- spräche mit seinen Patienten. Patrick Fo-
rern und Mitschülern akzeptiert. Mädchen, cken und Valerie Besgens treten auf die ARTE RE:
die den elterlichen Ansprüchen nicht ge- Terrasse der Klinik, der junge Mann weist DIENSTAG, 23. 10., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
nügen, ziehen sich in den dämmrigen auf seine rechte Hand. Ausgerechnet ein
Rausch wie unter eine schützende Glocke Knochenbruch habe ihn in die Suchtkli- Leben ohne Versicherung –
zurück. Viele waren schon als Kleinkinder nik gebracht, erzählt er. Eine Freundin kein Geld für die Krankenkasse
nicht eng an Mutter oder Vater gebunden, hatte ihm so hartnäckig vorgehalten, sein Hunderttausende Menschen in
einige erlebten ihre Eltern nie liebevoll Leben zu vergeuden, dass er schließlich Deutschland sind nicht kranken-
oder nüchtern oder gelassen. voller Wut mit der Faust gegen eine Wand versichert, immer häufiger trifft es
»Vor allem, wenn Kinder nicht wie ge- hämmerte. »Da merkte ich, dass ich Hilfe die Mitte der Gesellschaft. Wer küm-
wünscht funktionieren, vermitteln leis- brauche.« mert sich um diese Patientengruppe,
tungsbezogene Eltern unbewusst oft eine Bei ihr sei es ein Horrortrip auf Canna- die von der regulären medizini-
emotionale Kühle«, sagt Thomasius. »Da- bis gewesen, entgegnet Valerie. Lauter be- schen Versorgung abgeschnitten ist?
bei wollen auch diese Väter und Mütter kiffte Freunde auf dem Sofa, und alle hät-
nur das Beste für ihre Töchter und Söhne.« ten gedacht, sie schlafe. »Dabei lief in mir
Manche übersähen, dass es einen Hilferuf der schlimmste Film meines Lebens ab.« SPIEGEL GESCHICHTE
bedeuten könne, wenn ihr Kind kiffe. »Sie Hitze, Kälte, Panik, durchweg ausgeliefert DONNERSTAG, 25. 10., 22.45 – 0.10 UHR | SKY
meinen, Joints gehörten zur Pubertät. Und habe sie sich gefühlt, nicht einmal nach ei-
es geht in dieser Zeit natürlich darum, sich nem Glas Wasser habe sie fragen können. Eine intime Geschichte –
auszuprobieren. Aber die Grenze zu kriti- Vier Jahre lang rang sie mit sich. Dann Frankreich unterm Hakenkreuz
schem Konsum ist fließend, und das be- traute sie sich eine Therapie zu. Im Juni 1940 erobern deutsche
merken einige Eltern sehr spät.« »Wenn ich vorher verstanden hätte, wie Truppen halb Frankreich. Die mehr
Manchmal sitzt ein Kind beim ersten abhängig das ganze Zeug macht, hätte ich als vier Jahre andauernde Besat-
Gespräch in der Klinik schweigend neben es beim Ausprobieren belassen«, sagt sie. zungszeit hinterlässt ein zerrissenes
Vater und Mutter. Es hört zu, wie die El- »Oder auch nicht. Das ist das Doofe an Land. In dieser Zeit entstehen un-
tern erzählen, dass es nächtelang kiffend diesen Drogen.« Katja Thimm gewöhnliche zwischenmenschliche
am Computer spiele. Dass es in der Schule Beziehungen.

63
Deutschland

Das frühere Leben


Erziehung Ein Elternpaar berichtet von der Cannabissucht seiner 16-jährigen Tochter –
und wie weit sie der Familie entglitten ist.

Die Familie, die hier erzählt, lebt in einem bürgerlichen Ham- Sozialdienst abgeleistet hatte. Sie musste Wege in einem Park
burger Stadtteil: Er ist Arzt, sie arbeitet als Krankenschwester, säubern und hatte außerdem die Auflage, an einer Drogen-
drei Kinder, ein Hund – die mittlere Tochter ist cannabissüchtig. schulung teilzunehmen. Wir haben sie zu der Beratungsstelle
Um andere Eltern wachzurütteln, hat das Ehepaar entschieden, gebracht, und weil Melanie all diese Auflagen diszipliniert ab-
im SPIEGEL über die Sucht zu sprechen. Der Vorname der Toch- arbeitete, gingen wir davon aus, dass sie tatsächlich nur ein
ter ist zu ihrem Schutz geändert. paarmal gekifft hatte, wie sie uns gegenüber beteuerte. Auch
ihre beste Freundin rauchte Cannabis – und schaffte es offenbar,

U
ihren Konsum vernünftig einzuschränken. Aber ob ein Heran-
nsere Tochter hat immer so getan, als sei Cannabis wachsender stabil genug für einen bewussten Umgang mit
für sie kein Thema. Wir wollten es glauben, unserem einer Droge ist, weiß man leider immer erst hinterher. Melanie
Kind vertrauen. Nach und nach erst hat sich uns er- jedenfalls hat damals zwei Gramm Cannabis am Tag geraucht,
schlossen, wie es um Melanie steht. Vielleicht haben was durchschnittlich etwa sechs Joints entspricht. Das wissen
wir das Ausmaß bis heute nicht erfasst. wir jetzt.
Dass sie Cannabis konsumiert, wissen wir seit gut einem Ein paar Wochen lang konnte sie die Fassade aufrechterhalten,
Jahr, damals war sie knapp 15 Jahre alt und hatte einer Mit- dann merkten wir, dass sie uns beklaute, um Gras zu kaufen.
schülerin in einer WhatsApp-Nachricht Haschisch zum Kauf Sogar die Lieblingsspardose der kleinen Schwester hat Melanie
angeboten. Der Vater des Mädchens hat Melanie angezeigt – geknackt. Sie hat es abgestritten – genauso wie sie geleugnet
das war natürlich ein Schock. Andererseits haben wir so über- hat, Cannabis zu rauchen. Wollten wir mit ihr über die Proble-
haupt von dem Problem erfahren und uns manches besser er- me sprechen, schloss sie sich in ihr Zimmer ein oder schrie, es
klären können. Melanie konnte sich seit einiger Zeit in der sei ihr eigenes Leben, wir sollten sie in Ruhe lassen. Wir haben
Schule immer schlechter konzentrieren, sie litt unter extremen uns eine abschließbare Aktentasche angeschafft, um wenigstens
Stimmungsschwankungen, wir hatten mit ihr bereits eine Psy- das Portemonnaie sicher aufzubewahren – doch wie weit sie
chologin aufgesucht, bei der sie regelmäßig Termine hatte. Nur in Wahrheit längst gegangen war, um ihre Sucht zu finanzieren,
vom Cannabis hat sie der Therapeutin offenbar nichts erzählt. haben wir uns nicht vorstellen können.
Nach dem Vorfall beruhigte uns diese: Das Thema werde zu Mittlerweile haben wir erfahren, dass sie einem erwach-
hoch gehängt, Kiffen gehöre zum Erwachsenwerden. senen Mann zu Diensten gewesen ist, der sie im Gegenzug
Es gab dann ein Ermittlungsverfahren, das die Staatsanwalt- mit Cannabis versorgt hat. Sie hat in den sozialen Netzwerken
schaft einstellte, als Melanie die vorgeschriebenen Stunden ohnehin Menschen kennengelernt, wie sie uns nie begegnet

64 Illustration: Benjamin Güdel für den SPIEGEL


sind. Wir haben uns bemüht, die digitalen Wir machen uns zehnmal geweckt. Weil sie trotzdem liegen
Räume zu durchdringen, in denen unsere blieb, haben wir sie dann auf dem Weg zur
Tochter unterwegs war. Es ist uns nicht ge- natürlich Vorwürfe, Arbeit vom Handy aus angerufen, um sie daran
lungen, und Melanie hat alles getan, uns zu erinnern, in die Schule zu gehen. Ließ der
den Zugang zu erschweren. Ihre sozialen dass wir nicht Dienstplan es zu, haben wir sie morgens per-
Netzwerke waren ihr heilig, obwohl sie deren viel früher Hilfe sönlich hingefahren. Oft hat sie das Schulge-
zerstörerische Kraft selbst erlebt hatte: Eine bäude durch einen Hinterausgang wieder ver-
Zeit lang kursierte ein Bild von ihr, auf dem gesucht haben. lassen. Am schlimmsten waren die Wochen-
zu sehen war, wie sich ein junger Mann an enden, wenn sie loszog und wir nicht wussten,
ihr vergeht, während sie unter dem Einfluss wohin sie geht und wann sie wiederkommt.
von Cannabis steht. Auch davon haben wir eher zufällig er- Wir haben sie dann über ihr Smartphone geortet, obwohl
fahren. sie das gehasst hat. Sollten wir unser 15-jähriges Kind nachts
Wenn wir uns Fotos von früher anschauen, denken wir durch die Großstadt tigern lassen? Wir haben sie morgens um
manchmal, dass all das nicht wahr sein kann. Melanie war ein fünf auf unbelebten Seitenwegen im Stadtpark und in Shisha-
reizendes Kind, lebhaft und aufgeweckt, sie liebte es, Ballett bars geortet, wir haben sie angerufen und gebeten, nach Hause
zu tanzen. Wir haben unsere Kinder immer fördern und auch zu kommen. Doch sie hat oft nur eine Nachricht geschickt:
ein bisschen fordern wollen; wir wollten ihnen eine gesunde Wir sollten sie nicht nerven. Die Sorge, auch das ständige Ab-
Neugierde auf das Leben und gleichzeitig die dafür notwendi- wägen, haben die ganze Familie ihrer Kraft beraubt: Geben
gen Regeln vermitteln. Jahrelang lief alles in den üblichen Bah- wir Melanie Geld für den Bus, obwohl wir annehmen, dass sie
nen – und plötzlich findet man keinen Zugang mehr zu seinem es für Cannabis ausgibt? Oder geben wir ihr nichts? Aber dann
Kind. Melanie hatte es manchmal nicht leicht, es gab oft Kon- fährt sie auf jeden Fall schwarz oder trampt mit dubiosen Ty-
flikte mit der älteren Schwester, die sehr eifersüchtig auf Mela- pen. Nehmen wir ihr das Smartphone weg? Aber dann können
nie reagiert und sie oft gepiesackt hat. Mit dem Beginn der auch wir sie nicht mehr erreichen. Wir hatten entsetzliche
Pubertät hat sich die Frage nach dem eigenen Platz im Leben Angst, sie würde abhauen, wenn wir zu viel Druck ausüben.
für Melanie dann wohl immer weiter verschärft. Aber reicht Anfang des Jahres ist Melanie dann gar nicht mehr zur
das als Erklärung aus? Hätten wir Melanie stärker schützen Schule gegangen. Irgendwie haben wir in dieser Zeit zu einem
müssen? Unsere ältere Tochter ist längst ausgezogen und der Gespräch gefunden; auch ihr Leidensdruck war mittlerweile
Kontakt zwischen ihr und Melanie rar. so groß, dass sie bereit war, sich in der Suchtabteilung der
Wir machen uns natürlich Vorwürfe, dass wir nicht Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik vor-
viel früher Hilfe in einer spezialisierten Psychiatrie für zustellen. Als sie am Abend vor der Aufnahme wie
Kinder und Jugendliche gesucht haben. Die Psycholo- üblich ihr Cannabis rauchte, hätten wir am liebsten
gin, zu der Melanie ging, hat uns davon abgeraten – geheult.
und das Jugendamt, von dem wir uns Rat erhofften, Aber sie hat durchgehalten, bald sind die vorgesehe-
gab uns zu verstehen, dass in anderen Familien weitaus nen drei Monate vorüber. Wahrscheinlich wird sie an-
schwierigere Fälle warteten. Doch wir arbeiten beide Video- schließend ein Internat besuchen. Sie muss sich aus
in medizinischen Berufen, wir hätten uns nicht so ein- interview dem alten Umfeld lösen: Das frühere Leben, nur ohne
fach beschwichtigen lassen dürfen. Aber das sagt sich Wann ist die Droge, gibt es nicht zurück, sagen die Ärzte. Auch
im Rückblick leicht. man süchtig, wir Eltern müssen uns verändern. Wir können Melanie
Melanie hat uns so viele Lügen aufgetischt, dass wir Dr. Juckel? nun wieder in den Arm nehmen, was wir nicht mehr
ihr die Wahrheit nicht mehr zutrauten – obwohl wir ge- spiegel.de/ zu hoffen gewagt hatten. Aber sobald wir wissen, dass
sp432018cannabis
nau wussten, dass ein Kind, zumal ein Kind in einer Kri- oder in der App sie draußen unterwegs ist, wollen wir sie orten. Wir
se, Vertrauen braucht. Manchmal haben wir sie morgens DER SPIEGEL müssen erst wieder lernen, ihr zu vertrauen. I

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Ehemaliger Lotse Dahir im westfälischen Rheine: »Es muss das deutsche Flugzeug sein«

Vergessener Held
Terrorismus 19 Stunden im Oktober 1977 machten Ahmed Dahir aus Mogadischu
zu einem Teil der deutschen Geschichte. Er half, die Entführer der
»Landshut« hinzuhalten – es sind ihm die wichtigsten Stunden seines Lebens.

A
hmed Dahir trieb eine böse Vor- folgte er über Funk und Radio die Entfüh- Dieser und der folgende Tag, der 18. Ok-
ahnung, als er an diesem Tag rung der Lufthansa-Maschine »Landshut« tober 1977, sollten in die Geschichtsbücher
im Oktober 1977 früher als sonst durch ein palästinensisches Terrorkom- eingehen. Ein Tag, von dem Helden und
aufstand. Er zog ein gestreiftes mando. Rom, Larnaka auf Zypern, Bah- Legenden, Dramen und Mythen in Er-
Hemd an und machte sich auf den Weg rain, Dubai, Aden im Südjemen. Er ahnte: innerung blieben. Aber nicht ein Mann,
zur Arbeit. mit dieser Flugroute, angesichts einer pa- der 41 Jahre später in seinem Wohnzim-
Die Sonne hatte sich draußen über lästinenserfreundlichen Regierung in So- mer in Rheine, Nordrhein-Westfalen, sitzt.
dem Indischen Ozean gerade über den malia – gut möglich, dass die »Landshut« In den Regalen glitzert Bling-Bling aus
Horizont geschoben, als er am Flughafen auf dem Weg zu ihm war. Glassteinen. Den Fußboden ziert ein wei-
von Mogadischu ankam. Er ging hinauf Gegen halb sieben tauchte ein Flugzeug ßer Flokati, auf der Fensterbank liegt der
in den Kontrollturm und blickte auf auf. Es sendete kein Transpondersignal, Koran, daneben eine Broschüre: »Die Rol-
ein paar Baracken und die löchrige Roll- der Pilot meldete sich nicht per Funk, wie le der Frau im Islam«.
bahn. Es war kurz vor sechs, für die ein Geisterschiff erschien es aus dem Ahmed Dahir hat für das Gespräch
nächsten Stunden waren keine Landun- Nichts. Die Maschine flog eine Schleife einen grauen Anzug gewählt und eine Kra-
gen geplant. über der Stadt, dann landete sie. »Da erst watte umgebunden. Auf dem Glastisch vor
Dahir, damals 31 Jahre alt, war zustän- haben wir gesehen: Aha, es ist ein deut- sich hat er die Erinnerungsstücke aufge-
dig für die Flugsicherung am Flughafen sches Flugzeug«, sagt Dahir. »Es muss das reiht: die Ehrenmedaille des somalischen
der Hauptstadt Somalias. Seit Tagen ver- deutsche Flugzeug sein.« Präsidenten, die Dankschreiben der Luft-

66
Deutschland

hansa und des deutschen Botschafters in schallte es aus dem Lautsprecher im Meer schauen und nicht sehen, was hinter
Somalia, ein Schreiben des damaligen Tower, hier spricht Kapitän Märtyrer ihnen los ist.«
Staatsministers im Kanzleramt Hans-Jür- Mahmud. Dahir verstand »Walter Mah- Von diesem Zeitpunkt an vergingen
gen Wischnewski, einen Artikel über sich mud«, englisch ausgesprochen. Bis heute Stunden im Tower, von denen bis heute
aus der Mitarbeiterzeitschrift der Deut- nennt er den Chef des palästinensischen nicht ganz klar ist, was dort passierte. Ah-
schen Flugsicherung. Die Tonbandaufnah- Terrorkommandos so. »Dass das kein ech- med Dahir kann sie auch nicht mehr füllen.
men des Funkverkehrs, die er damals ge- ter Flugkapitän sein konnte, war mir so- Dass die letzten Stunden des Dramas bes-
macht hat, hat er sich inzwischen auf CDs fort klar.« ser zu rekonstruieren sind, liegt auch an
brennen lassen. Die Nachricht verbreitete sich um die ihm. Er legte ein Tonband ein, um den
Alles wirkt, als wartete Dahir täglich Welt: Die »Landshut« ist in Mogadischu Funkverkehr zwischen der »Landshut«
darauf, dass jemand kommt und ihn be- gelandet. Die Entführer wollten Mitglieder und dem Tower aufzuzeichnen.
lohnt. Protagonisten von damals sind bis der Roten Armee Fraktion freipressen, die
heute begehrte Gesprächspartner. Andere, in Deutschland inhaftiert waren. Sonst Es gibt von diesen Aufnahmen bislang
wie der damalige Bundeskanzler Helmut müssten die Geiseln sterben. Im Tower zwei bekannte Kopien. Eine lagerte jahre-
Schmidt oder der GSG-9-Gründer Ulrich brach Chaos aus. Die Armee, die Polizei, lang unentdeckt im Archiv des Westdeut-
Wegener, sind inzwischen tot. alle möglichen somalischen Akteure woll- schen Rundfunks. Die andere erhielt der
Ahmed Dahir lebt. Aber niemand fragt ten wissen, was passiert war. Der somali- SPIEGEL-Redakteur Erich Wiedemann
ihn. Er wohnt nahe einer Bahnlinie, in sche Diktator Siad Barre rief an. »Was ist 1977 in Mogadischu für »ein Bündel 100-
einem von der Zeit gezeichneten dreistö- da los?«, fragte der Präsident. »Ich weiß Dollar-Scheine« zugespielt, wie er erzähl-
ckigen Klinkerbau. Zwei Zimmer, Küche, es nicht«, antwortete Ahmed Dahir, »das te. Wer in Dahirs Wohnzimmer in Rheine
Bad. Er bezieht Rente, den Mindestsatz. deutsche Flugzeug ist da.« sitzt, erfährt dort: Auch er hat Bänder.
»Ich bin mittellos. Für Ruhm Man hört Piepstöne, es
könnte ich mir nichts kaufen.« rauscht viel. Im Hintergrund
Die Befreiung der »Landshut«, sprechen Menschen, manches
dieser eine Tag im Oktober ist unverständlich. In einem
1977, das ist sein Leben. Dahir der ersten Dialoge sagt Dahir:
spricht einen Mischmasch aus »Left side rear door«, linke
Deutsch und Englisch. Wenn Hecktür. Es geht offenbar um
er von jenem Tag erzählt, hebt die Leiche des erschossenen
sich seine Stimme, rudert er »Landshut«-Piloten Schumann.
mit den Armen, verzieht das Die Terroristen öffneten je-
Gesicht. doch die Tür rechts hinten, lie-
Er macht den Fernseher an, ßen die Notrutsche herab und

CHRIS RIEWERTS / DER SPIEGEL


einen somalischen Sender, er warfen die Leiche darauf. So-
schaltet weiter in ein äthiopi- malische Kräfte sammelten
sches Programm. Der nächste den Körper auf und brachten
Sender zeigt einen Geparden ihn weg.
bei der Jagd. »Normalerweise »Sie haben den Piloten
kommen um diese Zeit im Jahr einfach auf den Boden runter-
andauernd Dokumentationen gelassen«, sagt Dahir und
darüber«, sagt er, »dann kann Entführte »Landshut« in Mogadischu 1977: 86 Geiseln, 4 Terroristen schüttelt den Kopf, »einfach
ich mich manchmal im Fern- so.« Er sagt es noch einmal.
sehen sehen.« »Einfach so!«
Er zappt alle Kanäle durch. Es kommt Ahmed Dahir sitzt in seinem Wohnzim- Diese Stunden, in denen die Passagiere
nichts zur »Landshut«. Er zuckt mit den mer in Rheine und lacht. »Man muss sich und die Besatzung zwischen Panik und Re-
Schultern, macht den Fernseher aus. Wo das mal vorstellen«, sagt er, »ich sitze da signation schwankten, in denen in Bonn
war er jetzt gerade? Ach ja, die »Landshut« im Tower, und auf einmal ruft der an.« Da- der Krisenstab tagte, eine deutsche Dele-
war gelandet und in der Nähe des Termi- hir hebt die Schultern, faltet die Hände gation nach Mogadischu reiste und die Spe-
nals zum Stehen gekommen. Funkkontakt und steckt sie zwischen seine Knie. »Der zialeinheit GSG 9 aus Dschidda einflog –
gab es keinen. Dahir schickte einen Jungen Präsident von Somalia!«, sagt er. »Und ich im Funkverkehr spielen sie sich wie im
hinüber: »Frag sie, was sie wollen.« weiß nicht, was ich ihm sagen soll.« Zeitraffer ab. Zu hören sind der Anführer
Im Cockpit öffnete Co-Pilot Jürgen Vie- Es sind jene Stunden, in denen die Er- des Terrorkommandos Zohair Yousif Aka-
tor das Fenster. Er hatte die »Landshut« eignisse außerhalb des Flugzeugs in Mo- che alias Captain Mahmud, der Chef der
bei Nacht, mit abgeschaltetem Transpon- gadischu schlecht dokumentiert sind. Auch somalischen Polizei und der Vertreter des
der und ohne Funk, von Aden nach Mo- in Dahirs Erinnerungen verschwimmt vie- Auswärtigen Amts in Mogadischu, Micha-
gadischu geflogen – an Bord 86 Geiseln, les. Bruchstücke haben sich in sein Ge- el Libal. Zudem die Flugbegleiterin Gabi
4 Terroristen und die Leiche des in Aden dächtnis gebrannt, er bekommt sie nicht Dillmann, die in einem Hilferuf an die
erschossenen Kapitäns Jürgen Schumann. immer sortiert. Politiker in Deutschland appelliert, auf die
»Is there anything I can do for you?«, fragte Er rief seine Frau an, ziemlich früh, das Forderungen der Entführer einzugehen –
der Junge – »Kann ich Ihnen irgendwie weiß er noch. »Das wird lang heute. Warte und ihren Freund Rüdeger von Lutzau
helfen?« Vietor antwortete: »Die Funkfre- nicht auf mich.« Und er ließ die »Lands- grüßt: »Bitte sagen Sie meinem Freund,
quenz wäre gut.« hut« aus ihrer Parkposition schieben, dass ich ihn sehr liebe.«
»Die Funkfrequenz«, sagte der Junge weiter nach hinten, mit der Nase zum Dillmann wusste nicht, dass ihr Freund,
zu Dahir. Der schrieb sie auf ein Blatt Strand und dem Heck zum Rollfeld. »Ich ein Pilot, nur wenige Hundert Meter von
Papier. Der Junge ging zurück. Kurz da- dachte mir, dass sie so besser steht, wenn ihr entfernt im Cockpit einer zweiten Luft-
rauf meldete sich eine Stimme. »This man sie vielleicht stürmen will«, sagt Da- hansa-Maschine saß und den Funkverkehr
is Captain Martyr Mahmud speaking«, hir. »So konnten die aus dem Cockpit aufs protokollierte. Er war mit der Maschine

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 67


Deutschland
Die der deutschen Delegation dorthin geflo- Deutschland gestartet. Mahmud glaubte
spektakulärsten gen. Den Mann oben im Tower sah er
nicht, er hörte ihn nur. »Ich kann mich an
ihm. Libal setzte noch einen drauf: Man
könne dann jetzt über die Modalitäten des
seine Stimme noch genau erinnern«, sagt Gefangenenaustauschs reden.
Kriminalfälle Lutzau. »Er war sehr, sehr kontrolliert,
ohne Emotionen.«
Dahir legte nach: »If there is anything I
can do for you, Sir, just let me know« –

aus BERLINS Lutzau hörte zwei Menschen, die mehr


als 19 Stunden lang ausgesucht höflich mit-
einander umgingen. Dahir vergaß nie den
»Captain« und sprach den Terroristen mit
»Falls ich irgendetwas für Sie tun kann, Sir,
lassen Sie es mich bitte wissen«. Artig be-
dankte sich Mahmud. »Thank you, Moga-
dischu tower.«
wildesten Jahren »Sir« an. Mahmud schloss seine Inter-
ventionen mit »Thank you, Mogadischu
In Rheine klingelt es an der Haustür. Da-
hirs Enkel bringt einen Eintopf aus Kicher-
tower«, einmal nannte er Dahir respekt- erbsen und Getreide in einer Tupperdose –
voll »Mister Tower«. Der solle ihm sagen, mit Grüßen von der Mama. Der Eintopf
wer jetzt mit ihm rede, und den deutschen ist noch warm, Dahir isst ihn aus dem Plas-
Botschafter als »Vertreter des faschisti- tikbehältnis und bietet dem Gast davon
schen Regimes« in den Tower holen. an. »Nehmen Sie Zucker, dann schmeckt
Lutzau saß in dem Flugzeug, das auch er noch besser!«, er holt den Zucker.
den Staatsminister Wischnewski und den Zwischen zwei Bissen lacht der 72-Jähri-
Münchner Polizeipsychologen Wolfgang ge auf. »Natürlich haben die Deutschen ge-
Salewski nach Mogadischu gebracht hatte. logen und ich auch«, sagt er. »Wischnewski
Wischnewski kam mit der Mission, der so- sagte mir: Wenn die irgendetwas wollen,
malischen Regierung die Zustimmung für sagen Sie es zu.« Er hält inne. »Ich glaube,
die Stürmung der »Landshut« durch die Mahmud war dumm. Er hat mir vertraut.«
deutsche GSG 9 abzuringen. Salewskis Vielleicht weil Dahir ein unbeteiligter
Aufgabe bestand darin, gemeinsam mit Moderator war, Repräsentant einer paläs-
Libal Zeit zu gewinnen, bis der Einsatz tinenserfreundlichen Regierung.
beginnen konnte. »Ich war höflich zu ihm, natürlich. Aber
In der »Landshut« übergossen die Ent- meine Distanz wollte ich doch wahren: Ich
führer Passagiere mit Alkohol und droh- hätte ja auch Arabisch mit ihm reden kön-
ten, die Maschine zu sprengen. Bis 17 Uhr nen, wollte ich aber nicht«, sagt Dahir. Er
Ortszeit müssten die gefangenen RAF-Mit- glaubt, dass er dadurch Respekt und Glaub-
glieder freikommen. Im Funkverkehr ist würdigkeit gewonnen habe. Schließlich
zu hören, wie sich die Situation zuspitzt. habe der übermüdete Mahmud der Zer-
Mahmuds Stimme schwankt zwischen hys- mürbungstaktik nicht standgehalten. »Der
terischem Schreien und resigniertem Rö- wollte die Freilassung seiner Kameraden so
cheln, er atmet schwer. »Keine Verlänge- sehr, dass er am Ende reinfallen musste.«
rung der Deadline«, er sagt es mehrmals.
Noch 27 Minuten, noch 23 Minuten, »kei- Die GSG 9 stürmte die »Landshut« um
288 Seiten mit zahlreichen Abb. · Gebunden mit SU ne Verlängerung«. 2.05 Uhr Ortszeit. Auf Dahirs Funkmit-
C 20,00 (D) · Auch als E-Book erhältlich 20 Minuten. Ahmed Dahir fasste sich ein schnitten ist davon nichts mehr zu hören.
Herz. »Dann geben Sie uns wenigstens eine Kurz zuvor hatten somalische Sicherheits-
halbe Stunde, um den Bereich um das Flug- kräfte ein Feuer in einiger Entfernung ent-
zeug zu räumen«, rief er in sein Funkgerät. zündet, Mahmud sollte abgelenkt werden.
In Berlin tobt in den Jahren von Mahmud stimmte zu. »Für das somalische »Was ist das für ein Feuer?«, fragte Mah-
1918 bis 1933 nicht nur das Volk akzeptiere ich diese halbe Stunde, aber mud. »Oh, nur ein Feuer. Vielleicht ein
nicht für die Deutschen«, antwortete er. Fest«, antwortete Dahir.
verruchteste Nachtleben der Welt, Das war vielleicht der Durchbruch. Das Dann zündeten zwei britische Elite-
hier haben auch Mord, Raub und Ultimatum wurde einmal verlängert, dann soldaten Blendgranaten unmittelbar vor
immer wieder. In einem Lehrbeispiel an der »Landshut«. »Da habe ich auf einmal
Betrug Hochkonjunktur. Verhandlungskunst hielt Libal mit Sa- mehrere von den Entführern gehört«, sagt
Nathalie Boegel erzählt von lewskis Unterstützung die Entführer hin. Dahir. »Die waren offenbar nach vorn
gewissenlosen Mördern, cleveren Natürlich dauerte die Räumung um das gerannt und riefen wild durcheinander:
Flugzeug länger als geplant. Dann hieß es: Schau, schau, was, was?« Auch Mahmud
Betrügern und Kriminellen, die Man sei nun bereit, die Forderung zu er- hörte er noch schreien. Dann nicht mehr.
zu Lieblingen der Berliner werden. füllen, und werde die Gefangenen aus »Da wusste ich, was los war.«
Deutschland einfliegen. Nach sieben Minuten waren drei der
Und sie zeigt, wie ein
Als Mahmud herausfand, dass die Flug- vier Geiselnehmer tot und alle Geiseln frei.
kuchensüchtiger Kommissar zeit von Deutschland nach Mogadischu Irgendjemand umarmte und drückte Dahir
die Polizeiarbeit revolutioniert. kürzer war als von den Deutschen angege- und schenkte ihm ein Lufthansa-Abzei-
ben, wurde behauptet, dass die RAF-Leute chen. Er blieb noch ein bisschen, dann fuhr
ja erst einmal nach Frankfurt zum Flug- er nach Hause und legte sich ins Bett. Die
hafen gebracht werden müssten. Außer- deutschen Verhandler und Polizisten und
dem werde man in Kairo zwischenlanden die Geiseln flogen noch am selben Morgen
müssen. Schließlich sagte Libal, er habe zurück nach Frankfurt.
jetzt die Bestätigung: Das Flugzeug mit Ahmed Dahir und seine Familie blieben
den RAF-Gefangenen sei um 19.20 Uhr in in Mogadischu. Was hätten sie auch sonst

www.dva.de 68
Die Befreiung der »Landshut« in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 »Mein Sohn ist nicht religiös«, sagt sein
Vater. »Ich bin religiös. Religion kommt
Indischer Ozean von innen.« Diese ganze Geschichte über
Islamismus und die Schabab, das habe mit
AFRIKA
seinem Sohn nichts zu tun. »Die haben
SOMALIA ihn da gefoltert, und nur weil er in der Ge-
Mogadischu Ablenkungs-
Parkposition gend der Schabab war, denkt die Polizei,
feuer dass er zu denen gehört hat«, sagt Ahmed
der »Landshut«
mit Blickrichtung Blendgranaten Dahir. Er sei »ein exzellenter Junge«.
zum Meer Das Oberlandesgericht Frankfurt am
Main verurteilte den Sohn 2016 nach sei-
ner Rückkehr ebenso wie fünf Mitreisende
Annäherung der GSG-9- Tower
aus der Bonner Islamistenszene. Seine Mit-
N Einsatzkräfte an das streiter erhielten Strafen von dreieinhalb
Heck der entführten
und fünf Jahren. Dahir junior kam mit ei-
Maschine
ner Bewährungsstrafe davon, weil er, bevor
er sich der Schabab anschließen konnte,
n
Standort der gefangen genommen und gefoltert worden
b ah Wischnewski-Maschine sei. Für seinen Vater aber hatte auch das
de
an mit dem Piloten
n dL mit der »Landshut« zu tun. »Die Polizei
r t- u Rüdeger von Lutzau war da, und ich habe denen gesagt, wer
Standort der Sta
ich bin«, sagt Ahmed Dahir. »Ich habe das
GSG-9-Maschine MOGADISCHU auch dem Gericht gesagt – bestimmt ha-
ben sie das berücksichtigt.«
Er wartet bis heute auf den Moment, in
tun sollen? Dahir hatte Arbeit, war respek- der Lufthansa, von dem er einst einen dem sein Einsatz am 17. Oktober 1977
tiert, und der Familie ging es gut. Zehn Dankesbrief erhalten hatte. Der war zwar noch einmal alles zum Guten wendet. In
Kinder kamen zur Welt. schon in Pension, aber es klappte wieder. den Stunden der Verhandlungen, sagt
Doch 1991 brach der Bürgerkrieg aus, Dahir bekam einen Job bei der deutschen Dahir, sei auch Helmut Schmidt am Te-
wütete erbarmungslos. 1994 beendete die Flugsicherung in Frankfurt. lefon gewesen. »Er hat mir gesagt: Wir
US-Armee ihren Einsatz in Somalia. Als schätzen so sehr, was Sie tun. Wenn Sie
1995 die Uno-Mission ihr Ende fand, zog Er schwärmt davon. »Das war toll, ich nach Deutschland kommen, dann können
auch die Bundeswehr ab. Ahmed Dahir durfte in einem Gästehaus wohnen, wo Sie ein Haus und ein Auto haben.«
brachte seine Familie dorthin, wo er als man sogar Essen für mich machte«, erzählt Ist es denkbar, dass ein deutscher Kanz-
junger Fluglotse an der Flugschule der er, »ich hatte auch ein Auto, einen Merce- ler einem Fluglotsen in Mogadischu in
Lufthansa Kurse genommen hatte. Zu je- des.« Am Wochenende fuhr er von Frank- einer nationalen Krise ein Haus und ein
nen Menschen, an deren Seite er 1977 ge- furt zu seiner Familie. Doch die deutsche Auto verspricht? Schmidt war an diesem
standen hatte: nach Deutschland. Er selbst Realität holte Ahmed Dahir ein. Als die Tag umtriebig. Dem somalischen Botschaf-
ging nach Dubai, es gab dort gutes Geld Deutsche Flugsicherung Personal abbaute, ter in Deutschland gaukelte er vor, drei
zu verdienen als Fluglotse. nahm Dahir ein Abfindungsangebot an. der vier Entführer seien Deutsche – um
Doch glücklich wurde er nicht. 1997 reis- Danach fand er nie wieder Arbeit. die Somalier davon zu überzeugen, einen
te er in die Bundesrepublik ein. Wenige Hier könnte die Lebensgeschichte des deutschen Zugriff zu erlauben. Wieso soll-
Tage später wurde sein Asylantrag als »of- Ahmed Dahir einen ruhigen, unspektaku- te er nicht dem Mann im Tower sagen, ein
fensichtlich unbegründet« abgelehnt. Er lären Ausklang nehmen. Zu den Wendun- Haus und ein Auto erwarteten ihn?
verstand es nicht. Hatte er nicht den Deut- gen seiner Biografie aber zählt, dass zu je- Ahmed Dahir steht am Flughafen von
schen gegen die Terroristen beigestanden? ner Zeit sein jüngster Sohn in den Islamis- Rheine. Bis vor Kurzem wusste er gar
Dahir fand heraus, dass Wischnewski in- mus abglitt, unter dem Einfluss seiner nicht, dass dieser Flughafen existiert. Er
zwischen für eine Bank in Bonn arbeitete. Freundin, einer deutschen Konvertitin. geht nicht viel nach draußen in seiner
Er schrieb ihm: »Hello, it is me, Ahmed 2008 holte ihn die Polizei in Köln auf neuen Heimat. Es gibt ein arabisches
Dahir.« Und Wischnewski schrieb einen dem Rollfeld aus einem Flieger, er war auf Restaurant in der Stadt, aber er isst lieber
Brief an den Landrat des Kreises Emsland. dem Weg nach Afrika. Die Polizei vermu- bei seiner Tochter. Der Flughafen, findet
Herr Dahir habe sich »besondere Verdiens- tete, er wolle sich einer Terrormiliz an- er, »ist eher ein Fußballfeld als ein Flug-
te erworben«, ließ der Ex-Staatsminister schließen. Fünf Jahre später schaffte er es hafen«.
wissen. Dahir habe »eine sehr positive Rol- nach Somalia. Er reiste ins Gebiet der Eine Windböe kommt. Er wickelt sich in
le in unserem Interesse gespielt«. Es stehe Schabab. Doch anstatt ihn als Gotteskrie- seine Jacke ein. »Es ist zu kalt in Deutsch-
»der Bundesrepublik gut an, wenn wir Leu- ger willkommen zu heißen, verdächtigten land«, sagt er. Demnächst wird er wieder
te nicht vergessen, die uns in schwierigster die Milizionäre den aus Deutschland An- für ein paar Monate nach Afrika fliegen,
Stunde geholfen haben«. gereisten als Spion. Sie sperrten ihn ein er hat gespart. Er lacht. »Das Haus und
Es klappte. Zwar hatte der Kreis Emsland und folterten ihn – so erzählte er es ande- das Auto – das hätte ich wirklich nehmen
Dahir bereits wenige Tage vor Wischnews- ren Islamisten, die ihn in Somalia trafen. sollen.« Fidelius Schmid
kis Brief eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, Dahirs Sohn ist Mitte dreißig. Als er an
doch Dahir ist bis heute der Ansicht, alles einem Tag im Herbst 2017 im Wohnzimmer
Gute in seinem Leben habe mit jenen sitzt, trägt er eine Armeehose. Sein Kinn Video
Der Originalmitschnitt
19 Stunden in Mogadischu zu tun. ziert ein dünnes Bärtchen. Er hat einen wa- aus dem Tower
Man kann ihn verstehen. Nachdem er chen Blick, ist eloquent. Reden? Ja, viel- spiegel.de/sp432018landshut
einen Aufenthaltstitel erhalten hatte, such- leicht, aber mit dem SPIEGEL? Er will es sich oder in der App DER SPIEGEL
te er Arbeit. Also schrieb er dem Vorstand überlegen und wird sich nicht mehr melden.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 69


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AUFBRUCH ZUM MOND Die Preview-Aktion wird am


Montag, dem 29.10.2018,
Er gehört zu den größten Helden des stattfinden. Für zwei
20. Jahrhunderts: Neil Armstrong, der kostenlose Kinokarten können
erste Mann auf dem Mond. Sie sich ab sofort online
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AUFBRUCH ZUM MOND erzählt ein- filmpreview
dringlich aus Armstrongs Leben und von Ab Mittwoch, dem 24.10.2018,
den enormen Konflikten und Entbehrun- werden Sie per E-Mail
gen, mit denen der Pilot vor und während informiert, ob Sie bei der
Preview dabei sind.
seiner legendären Mission konfrontiert
war. Gleichzeitig schildert der Film auf Achtung: Die Tickets sind nicht
ergreifende Weise die hochdramatischen übertragbar. Missbrauch wird
zur Anzeige gebracht.
Ereignisse des amerikanischen Raum-
fahrtprogramms zwischen 1961 und 1969.
AUFBRUCH ZUM MOND führt erneut
ein gefeiertes Duo zusammen: Regisseur
und Oscar ®-Preisträger Damien Chazelle
(»La La Land«) und Hollywoodstar Ryan
Gosling (»Blade Runner 2049«, »Drive«,
QR-Code scannen und
ber
Preview am 29. Okto er
»Crazy, Stupid, Love«). An Goslings Seite online registrieren unter
ist Shootingstar Claire Foy, bekannt aus
vemb www.spiegel.de/filmpreview
Kinostart am 8. No der Erfolgsserie »The Crown«, als
Armstrongs Ehefrau zu sehen.
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Beginn: 20.00 Uhr
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Gesellschaft
Die raffinierteste aller Legenden, die er verbreitet hat, ist die Geschichte seiner jüdischen Herkunft. ‣ S. 74

Früher war alles schlechter


Nº 147: Strafe

Vom Verlies zum Farbfernseher. Verbesserungen im Gefängnis- diese allmähliche Erkenntnis wider. So wurde die Körperstrafe
wesen scheinen von der Öffentlichkeit schwer als Verbesserung nach und nach durch die Freiheitsstrafe ersetzt. Zu Beginn des
im Allgemeinen verstanden zu werden. Der Gefangene, ihm soll 17. Jahrhunderts entstanden in Deutschland die ersten Zucht-
es ja nicht gut gehen, soll wie in einer Art reinigendem Fegefeuer häuser. Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Folter abgeschafft.
leiden und über seine Vergehen nachdenken. Punitivität nennen 1912 wurde das erste Gefängnis für Jugendliche eröffnet. 1923
Kriminologen dieses Phänomen, oder auch Straflust. Populisten wurden Dunkelhaft und Schläge als Disziplinierungsmittel
wissen: Das Volk erwartet Härte. Wissenschaftlich ist allerdings abgeschafft, 1949 in der Bundesrepublik die Todesstrafe. Ab
belegt, dass harte Sanktionen keinen Einfluss auf die Entwick- 1953 gab es die Bewährungsstrafe. 1969 wurde die Zuchthaus-
lung der Kriminalität haben. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden strafe abgeschafft. Ab 1977 wurde das Konzept der Resozialisie-
in Europa Straftäter noch gehängt, geköpft, ertränkt, gerädert, rung maßgeblich. Ob es überhaupt Sinn macht, Kriminelle
gekreuzigt, gepfählt, verbrannt oder auch zu Tode geschleift. Die jahrelang hinter einer hohen Mauer zusammenzusperren?
Zahl der Tötungsdelikte war trotzdem deutlich höher als heute, Heute, so sehen es Experten für den Strafvollzug, sind wir wie-
etwa 20-mal so viele Menschen wurden umgebracht. Nicht die der in einer Phase des Übergangs. So könnten gemeinnützige
drohende Strafe, sondern die Lebensbedingungen haben einen Arbeit oder elektronisch überwachter Hausarrest die Freiheits-
merklichen Einfluss auf die Kriminalität. Das Strafrecht spiegelt strafe ersetzen. jonathan.stock@spiegel.de

Psychologie der Bahn sein, sondern die Stimme des eingespielten Störgeräuschen beurteilt hat.
Wie findet man die Bahnhofs. Viele glauben, weibliche Stimmen höre
SPIEGEL: Wie findet man eine diskrimi- man besser. Tatsächlich hat man männliche,
richtige Bahnhofsstimme, nierungsfreie, verständliche Stimme? tiefe Stimmen im Bahnhofslärm besser ver-
Labahn: Das war ein monatelanger Prozess. standen. Der sonore Bass trägt weiter.
Herr Labahn? Wir haben eine 20-köpfige Jury einberufen, SPIEGEL: Welche Stimme wird es?
Daniel Labahn, 38, Projektleiter bei darunter eine blinde Reisende, die in einem Labahn: Unser Favorit ist die klassische
DB Station & Service, über das Casting Akustiklabor verschiedene Stimmen mit männliche Stimme. Der »normale Mann«,
für die neue Stimme der Lautsprecher- der Ihnen im Bahnhof entgegenkommt.
durchsagen in Bahnhöfen Einer, mit dem man sich identifizieren
kann.
SPIEGEL: Herr Labahn, was suchen Sie? SPIEGEL: Zugverspätungen, Gleiswechsel,
Labahn: Wir suchen eine gut verständli-
FREDRICK VON ERICHSEN / DPA

veränderte Wagenreihung. Schafft es die


che, glaubwürdige und diskriminierungs- neue Stimme, den Ärger mancher Reisen-
freie Stimme. den zu lindern?
SPIEGEL: Diskriminierungsfrei? Labahn: Deshalb war uns eine glaubwürdi-
Labahn: In unseren Bahnhöfen fahren ge Stimme so wichtig. Die klassische Durch-
ja nicht nur Züge der Deutschen sage »Wir bitten das zu entschuldigen«, die
Bahn. Deshalb soll es keine Stimme muss man auch ernst nehmen. JST

72 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Freien, sie wollte noch etwas aus dem Wagen holen. Als sie
Eine Meldung und ihre Geschichte
dem Auto näher kam, sah sie, dass die Scheiben des Wagens
beschlagen waren, von innen, und auf dem Glas der Scheiben

Platzangst waren Abdrücke von Tatzen zu sehen. Große Abdrücke.


Der Wagen stand auch nicht einfach nur so da. Er wankte
hin und her, er hupte, und schließlich ging auch noch die
Alarmanlage los. Nicole Lissenden hatte einen Schwarzbären
Warum eine Amerikanerin einen Bären in ihrem Wagen gefangen, und der Bär war nicht glücklich.
in ihrem Auto einschloss Was kann man tun, wenn sich ein offenkundig klaustro-
phobischer Schwarzbär durch die Inneneinrichtung des Fa-
milienautos arbeitet? Lissenden tat das Nächstbeste, sie holte
Verstärkung, ihren Mann.

E s gibt viele Geschichten zu erzählen über die Schwarz-


bären von Asheville, einer Stadt, hineingebaut in die
tiefen Wälder der Blue Ridge Mountains in North Caro-
lina. Ein Weibchen war vor Kurzem mit ihrem Nachwuchs
Alex Lissenden arbeitet im Vertrieb, er hat keine Erfahrung
mit Bären, die in Autos einbrechen. Und so starrte er eine
Weile ungläubig auf den hupenden und blinkenden Wagen,
dann nahm er den Schlüsselbund in die Hand, an dem die
auf der Chatham Road unterwegs, zwischen den Häusern, Fernbedienung für die Türen des Vans hing. Alex Lissenden
nicht weit von Luella’s Bar-B-Que. Ein Hund griff an, und die wollte die Türen öffnen und hoffte, dass der Bär an die Luft
Bärin, gut 100 Kilogramm schwer, aufgerichtet so groß wie treten würde und sich dann verzöge.
Mensch, verteidigte ihre Jungen. Im Osten von Asheville gru- Er hob den Arm wie ein Zauberlehrling und drückte den
ben sich Bären nachts durch den Inhalt mehrerer Mülltonnen; Knopf. Nichts geschah. Er drückte ihn wieder. Nichts. Die Türen
in Lakeshore, im Norden der Stadt, blieben zu. Der Bär musste die Me-
brach ein Bär in ein Haus ein. Ein chanik beschädigt haben.
Video, gefilmt aus der Sicherheit Als der Bär für ein paar Sekun-
des Hochparterre, zeigt einen Bä- den Ruhe gab, lief Alex Lissenden
ren, der am helllichten Tag gemäch- von der Terrasse eilig zum Wagen
lich durch Ashevilles Gärten wan- und zog die Fahrertür vorsichtig
dert, vorbei an weiß gestrichenen auf. Er öffnete die Tür bis zum An-
Holzzäunen, die Nase im Wind, auf schlag, aber kaum hatte er sie los-
der Suche nach Fressbarem. gelassen, fiel sie unaufhaltsam wie-
Die Population der Bären wächst der ins Schloss. Die Einfahrt war
seit einiger Zeit, rund 150 Tiere sol- nicht eben, die Front des Wagens
len mittlerweile in und um Ashevil- stand höher als das Heck, die
le leben, angelockt von Essensres- Schwerkraft zog an der geöffneten
ten, vom Müll, den die Familien Tür. Alex Lissenden versuchte es
tagtäglich produzieren. Die Online- ein zweites Mal. Das Ergebnis war
foren der Stadt sind gefüllt mit Be- dasselbe. Die Tür fiel zu, der Bär
richten über Begegnungen zwi- blieb im Wagen.
schen Mensch und Raubtier, mit Lissenden versuchte es ein letz-
IMAGO STOCK

Diskussionen über den angemesse- tes Mal, dabei drückte der Bär im
nen Umgang mit Bären. Die An- Innenraum mehrmals auf die
schaffung bärensicherer Müllton- Hupe. Als wollte er den Menschen
nen wird erörtert, Tierfreunde und Schwarzbär warnen. Im nächsten Moment
verängstigte Eltern diskutieren hit- platzte die Seitenscheibe des Vans,
zig über den Einsatz von Pfeffer- und der Bär hielt seinen Kopf in
spray und Gummigeschossen. die frische Luft. Die Freiheit vor
Nicole Lissenden, von Beruf Gra- Augen, schob er sich gemächlich
fikdesignerin, verfolgte diese Ge- durch das Fenster und verschwand
schichten bislang als interessierte zwischen den Bäumen.
Zuhörerin. Nun hat auch sie eine Von der Website Eu.citizen-times.com Der Wagen hat Totalschaden,
Geschichte zu erzählen. der neue soll bald vor dem Haus
Sie beginnt an einem Sonntag im September, gegen halb stehen. Familie Lissenden fragt sich, was zu tun ist, damit
drei am Nachmittag, auf der Beaverdam Road, in einem Vier- sich so ein Vorfall nicht wiederholt.
tel, wo die Familien noch aufeinander achten. Nicole Lissen- Mike Carraway, Bärenexperte der North Carolina Wildlife
dens Eltern wohnen hier, eine Nachbarin kam herüber und Resources Commission, hat zwei Ratschläge zur Hand. Der
ließ Lissenden wissen, dass eine Tür ihres Vans offen stehe erste heißt: »Nichts Essbares im Auto lassen, auch keine Res-
und Müll vor dem Auto liege. te.« Das, sagt Nicole Lissenden, wird nicht leicht, sie hat zwei
»Oh, wie peinlich«, dachte Nicole Lissenden, bedankte kleine Kinder, zwei und sechs Jahre alt. Der zweite Rat: Die
sich und ging hinaus zum Auto, das sie in der Einfahrt geparkt Türen des Wagens nicht nur schließen, sondern verriegeln,
hatte. Eine Tür des Wagens stand tatsächlich offen, was Lis- immer. Bären seien intelligent, in Asheville hätten sie gelernt,
senden seltsam fand, denn sie war sich sicher, dass sie die Tü- Autotüren zu öffnen.
ren wie immer geschlossen hatte. Aber sie sah und hörte Und nicht nur die. Nachdem der Bär das Auto von Familie
nicht Verdächtiges, deshalb gab sie der Tür einfach einen Lissenden verlassen hatte, besuchte er das Haus der Nachba-
Schubs, die Tür schlug zu. rin, inspizierte die Küche und öffnete mehrere Schubladen.
Dann sammelte Lissenden den Müll auf und ging zurück Mit einer Backmischung für Muffins machte er sich endgültig
ins Haus. Etwa eine halbe Stunde später stand sie wieder im davon. Uwe Buse

73
Gesellschaft

Der gefühlte Jude


Karrieren Seit 15 Jahren steht ein vorbestrafter Betrüger und Hochstapler an der
Spitze einer jüdischen Gemeinde Schleswig-Holsteins – hofiert von
Pastoren, Journalisten und der linken Szene. Von Martin Doerry und Moritz Gerlach

D
er Auftritt in der Hamburger Je- in Pinneberg vor Neonazis zu schützen – besorgt ist, würde wohl kaum etwas stren-
rusalem-Kirche ist für Wolfgang auch das beschert ihm öffentliche Auf- ger ahnden als den Rufmord an einem un-
Seibert ein Heimspiel. Selbst- merksamkeit. schuldigen jüdischen Mitbürger.
sicher betritt der Vorsitzende der In seiner Pinneberger Gemeinde ist Sei- Ein erster Besuch bei Seibert in Pinne-
jüdischen Gemeinde Pinneberg das gut be- bert der ungekrönte König. 2002 gehörte berg. Der Gast wird freundlich und kolle-
suchte Gotteshaus, um einen Vortrag über er zu ihren Gründern, seit 2003 ist er ihr gial empfangen. Er habe ja selbst lange
»200 Jahre Reformjudentum« zu halten. Vorsitzender. Mit etwa 250 Mitgliedern Jahre journalistisch gearbeitet, sagt er. Sei-
Die Hamburger feiern an diesem Septem- zählt sie zu den beiden größten der sechs bert, ein mittelgroßer, untersetzter Herr
berabend die »Nacht der Kirchen«, mit Reformgemeinden in Schleswig-Holstein. mit vollem grauem Haar, bittet den Gast
der unter glaubensfernen Zeitgenossen für Seibert ist zudem Mitglied im Vorstand in die Bibliothek, wo sich gerade niemand
das Christentum geworben werden soll. des Landesverbands der Reformgemein- aufhält. Das Gemeindezentrum befindet
Weltoffenheit und Toleranz gegenüber den und vertrat den Verband auch bis sich in einem modernen Bungalow am
anderen Religionen machen sich da gut. vor Kurzem im Zentralrat der Juden in Rande der Stadt.
Auf allen Kanälen, im Internet und im Pro- Deutschland. Seibert sagt, die Gemeinde sei »hoff-
grammheft für die »Nacht der Kirchen«, Wolfgang Seibert hat sich im Lauf der nungslos überaltert«, junge Leute sehe
wird der Vortrag von »Dr. Wolfgang Sei- Jahre Respekt erworben – bei den Mitglie- man hier selten. Etwa 70 Prozent der Mit-
bert« angekündigt. dern der jüdischen Gemeinde, in der evan- glieder seien russischer Herkunft und
»Dr. Seibert«, wie ihn der Hausherr, Pas- gelischen Kirche, in den Medien und im wüssten nur wenig über jüdische Traditio-
tor Hans-Christoph Goßmann, tituliert, linken Milieu. Doch wer einmal seinen nen und Rituale. Trotzdem müsse natür-
hält an diesem Abend einen Vortrag, den Spuren folgt und in seine Biografie ein- lich jedes Gemeindemitglied, »wenn es
er so oder so ähnlich schon oft gehalten taucht, muss feststellen: Wolfgang Seibert möglich ist, die jüdische Geburtsurkunde
hat. Seiberts Reformjudentum trägt pro- ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Wolf- seiner Mutter vorlegen«.
testantische Züge, sehr nüchtern, sehr kri- Seibert zündet sich eine Zigarette an,
tisch gegen die jüdische Orthodoxie. inhaliert tief und kommt dann gleich, von
Seibert genießt im protestantischen Mi- Wer sich in eine jüdische sich aus, zur Sache: Auch seine Mutter sei
lieu großes Ansehen. Zu seinem 70. Ge- Identität flüchten kann, einst aus der Ukraine nach Deutschland
burtstag im vergangenen Jahr veröffent- gebracht worden. Er habe zehn Jahre ge-
lichten Pastoren und Weggefährten aus darf damit rechnen, braucht, bis er in den Besitz einer jüdi-
dem Umkreis der Jerusalem-Kirche eine unangreifbar zu sein. schen Geburtsurkunde gelangt sei. Nur
»Festschrift für Wolfgang Seibert«. Eben- dank seiner Beziehungen zu einem ehe-
falls 2017 wurde ihm der Menschenrechts- maligen sowjetischen Diplomaten in Bonn
preis von Pro Asyl verliehen. Seibert hatte gang Seibert ist ein mehrfach vorbestrafter habe er dieses Dokument erhalten. Die
Flüchtlingen »Synagogenasyl« gewährt Betrüger und Hochstapler. Urkunde sei natürlich überprüft worden:
und war damit bundesweit in die Schlag- Seit Jahrzehnten schon streut er Legen- »Nicht dass dann irgendwann mal raus-
zeilen gekommen. den über seine Herkunft, seinen Bildungs- kommt, dass das eine Fälschung ist. Nee,
Für die Medien ist er ein begehrter An- weg und seine Qualifikationen. Er hat die ist echt. Ihr Name war Polina Sznajder,
sprechpartner. Seiberts Foto schmückte im enge Freunde betrogen, bestohlen und also die jüdische Form von Schneider.«
Februar die Titelseite eines Dossiers der sein Umfeld systematisch belogen. Die raf- Die Frage, ob man einen Blick auf das
»Zeit« über den Umgang mit »einem neuen finierteste aller Legenden jedoch, die er Dokument werfen dürfe, beantwortet er
Antisemitismus«. Die Berliner »taz« und verbreitet hat, ist die Geschichte seiner ein wenig barsch. »Nein, das geht nicht,
das »Pinneberger Tageblatt«, das »Ham- jüdischen Herkunft – diese Lügengeschich- das habe ich nicht hier.« Stattdessen wen-
burger Abendblatt« und der NDR inter- te hat auch am längsten Bestand gehabt. det er sich nun dem väterlichen Teil seiner
viewen und zitieren den umtriebigen 15 Jahre schon amtiert Seibert als Chef der Familie zu. Sein Vater sei gerade noch
Gemeindevorsitzenden immer wieder zu jüdischen Gemeinde in Pinneberg. 15 Jah- rechtzeitig vor Kriegsbeginn mit einem
Fragen des Judentums, zu rechtsextremen re lang hat niemand öffentlich hinterfragt, Kindertransport nach England geschickt
Anschlägen und Fremdenfeindlichkeit. wer Seibert eigentlich ist. worden, seine jüdischen Großeltern hätten
Seibert marschiert an der Spitze von Die Begründung ist einfach: Wer sich Auschwitz überlebt und ihn später mit
Anti-AfD-Demos durch Pinneberg, er einmal hinter den Schutzschild einer – ver- ihren linken Überzeugungen geprägt. Der
spricht bei Podiumsdiskussionen über lin- meintlich – jüdischen Identität flüchten Großvater habe sogar im Spanischen Bür-
ken Judenhass, und manchmal heuert er kann, darf damit rechnen, unangreifbar gerkrieg für die Anarchisten gekämpft.
sogar seine Freunde vom schwarzen zu sein. Eine Gesellschaft, die zu Recht Seibert erzählt die Geschichte seiner
Block aus Hamburg an, um die Synagoge wegen des grassierenden Antisemitismus Großeltern, bei denen er nach der frühen

74 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

Gemeindevorsitzender Seibert: In seiner Legende wird er zum Nachfahren von Holocaust-Überlebenden

75
Scheidung seiner Eltern aufwuchs, gern
und immer wieder. Erst im vergangenen
Jahr erschien ein Interviewbuch des Jour-
nalisten Johannes Spohr über den »Anti-
semitismus der Linken« (Neofelis Verlag),
in dem Seibert auf vielen Seiten seine an-
geblich jüdische Familiengeschichte aus-
breiten durfte. Ein paar Auszüge aus Sei-
berts Erzählungen:
Auschwitz war in der Familie absolut
kein Thema. Ich wusste nur, dass irgend-
etwas passiert war, dass meine Großeltern
weggesperrt waren. Bis zu meinem 16. Ge-
burtstag, da ist meiner Oma der Ärmel ih-
res Kleides hochgerutscht und ich hab’ die
Nummer gesehen und ich hab’ sie gefragt,
»Warst du in Auschwitz?« Und die einzige
Antwort, die ich bekommen hab’, war »Ja«
… Als mein Großvater starb, war ich fünf
oder sechs Jahre alt und ich hab’ dann bei
meiner Großmutter im Ehebett geschlafen
und meine Großmutter hat jede Nacht ge-
schrien und ich traute mich nicht zu fragen.
Und es kamen halbe Sätze, wie »Nicht
schlagen, nicht schlagen, ich hab’ doch
nichts gemacht.« … 1984, eine Woche vor
ihrem Tod, musste ich zu meiner Großmut-
ter fahren, und dann hat sie zum ersten
Mal gesprochen: Ich war das einzige
Familienmitglied, dem sie Dinge über
Auschwitz erzählte … Sie hat mir Dinge
erzählt, die bis heute weder meine Frau
noch meine Kinder wissen. Es reicht, dass
ich das mit mir rumtragen muss.
Das Gespräch endet mit einem Besuch
im Synagogenraum, der mit einem gold-
bestickten, weinroten Vorhang geschmückt
ist. Seibert bleibt am Eingang stehen; nein,
mit seiner brennenden Zigarette dürfe er
den Raum nicht betreten. Wer denn hier
die Gottesdienste abhalte? Derzeit habe
man keinen Rabbiner. Vorerst, bis der neue
Rabbiner im kommenden Jahr seinen
Dienst antrete, mache er das selbst.
Der letzte Rabbiner, der regelmäßig in
Pinneberg Gottesdienste abhielt, war Wal-
ter Rothschild. Von 2003 bis 2015 amtierte
er als Landesrabbiner der jüdischen Re-
formgemeinden in Schleswig-Holstein.
Rothschild betreute die Gemeinden von
Berlin aus, wo er noch heute wohnt.
Rothschild empfängt in seiner Altbau-
wohnung und erzählt, dass er sich damals
MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

schnell mit Wolfgang Seibert angefreundet


habe. Sein Job, so sagt er, sei auch die Be-
gleitung der zahlreichen Konversionen ge-
wesen. Wer keine jüdische Mutter vorwei-
sen könne, müsse Hebräisch lernen sowie
die jüdischen Gebräuche und Traditionen
studieren, um Jude zu werden. Männer
müssten sich beschneiden lassen.
Rothschild erinnert sich mit gemischten
Gefühlen an die vielen Konversionen der
ersten Jahre. Manchmal sei es schon wie Rabbiner Rothschild: Manchmal ging es zu wie im Wilden Westen
im Wilden Westen zugegangen, nicht im-
mer habe man so gründlich prüfen können
wie vorgeschrieben.

76
Gesellschaft

Auch Wolfgang Seibert besuchte im Deutschen nicht zu interessieren, ob je- Frankfurt räumt jedoch jeden Zweifel aus:
Jahr 2002 zunächst diesen Unterricht, mand nach den Regeln der Orthodoxie Großvater Friedrich wurde am 28. April
weil ihm der Nachweis einer jüdischen Jude ist oder nach den Regeln der Libera- 1943 zum Wehrdienst eingezogen, Vater
Herkunft fehlte. Am 25. Januar 2003 er- len: Wenn er sich als solcher empfindet, Franz Richard am 11. April 1944. Laut Aus-
hielt Rothschild jedoch einen Brief Sei- so liegt die Entscheidung allein bei den kunft der Deutschen Dienststelle in Berlin
berts mit der Kopie eines Dokuments, aus Vertretern des Judentums. brachte es der Großvater zum Unteroffi-
dem hervorging, dass Seibert von 1972 bis Eine Ausnahme allerdings muss gelten: zier in einer Flakabteilung, Vater Richard
1982, mit einer kurzen Unterbrechung, Wenn nämlich ein nicht jüdischer Deut- war zunächst Flakhelfer und dann Grena-
Mitglied der jüdischen Gemeinde in scher sich eine jüdische Identität erschwin- dier im Grenadierregiment 251. Hätte man
Frankfurt am Main gewesen war und dass delt und damit die in Deutschland leben- Friedrich und Franz Richard als Juden be-
der Nachname der Mutter »Cohn« gelau- den Juden (und alle anderen Menschen trachtet, wären sie nicht zur Wehrmacht
tet habe. Im Anschreiben an Rothschild ebenso) täuscht. Und wenn er sich dabei eingezogen worden.
erklärte Seibert damals, dass somit erwie- dann auch noch einer Legende bedient, Über das Schicksal seiner Mutter hat
sen sei, dass seine Mutter »Jüdin war, die ihn zum Nachfahren von Holocaust- Seibert zuletzt unterschiedliche Lesarten
sonst hätte ich ja in Frankfurt kein Mit- Überlebenden macht. verbreitet: Mal wurde sie zur Zwangs-
glied sein können«. Wolfgang Seibert war geschickt darin, arbeit nach Deutschland verschleppt, mal
Fortan, sagt Rothschild, sei Seiberts jene Spuren, die in seine Vergangenheit rettete sie ein guter SS-Mann aus einem
Konversionseifer erlahmt. Zu einer ab- führen, zu verwischen. Auch die Recher- ukrainischen Lager und brachte sie am
schließenden Prüfung der jüdischen Iden- chen der Autoren dieser Geschichte wären Ende des Krieges mit in seine Heimat.
tität Seiberts durch ein sogenanntes Beit beinahe an jener Desinformation geschei- Immerhin beim Vornamen der Mutter
Din, ein aus Rabbinern bestehendes Ge- tert, die Seibert seit Jahren betreibt. Dem- kommt Seibert der Wahrheit nahe. Er
richt, ist es tatsächlich nie gekommen. nach wurde er am 16. August 1947 in ei- nennt sie Polina, tatsächlich hieß sie
Verantwortlich dafür war Rothschild nem sogenannten DP-Camp in Frankfurt Pauline Luise, wie schon das Kirchenbuch
selbst. Er hatte die Erklärungen seines Pin- am Main geboren, also in einem Lager für der St.-Thomas-Gemeinde belegt. Ihre
neberger Freundes offiziell bestätigt und Displaced Persons, zumeist jüdische Eltern Karl Schmidt und Anna Katharina
erinnerte sich erst dann wieder an den Fall, Flüchtlinge. Diese Lager hatten keine ei- Schmidt, geborene Marx, waren laut
als es zum Bruch kam: Rothschild wurde genen Standesämter, die Geburten wurden Hausstandsbuch der Stadt Frankfurt bei-
2015 als Landesrabbiner gefeuert, angeb- andernorts gemeldet. de evangelisch. Der Name Marx kommt
lich, weil er seinen Pflichten nicht nachge- Nach Anfragen und Besuchen in mehr mitunter in jüdischen Familien vor, aber
kommen war. als 20 Archiven, darunter das Institut für laut Auskunft des Zentralarchivs der Evan-
Dass auch Seibert damals mit ihm brach, Stadtgeschichte Frankfurt, das Archiv der gelischen Kirche Hessen-Nassau war be-
ließ Rothschild keine Ruhe. Er fragte bei reits Anna Katharinas Großvater evan-
der jüdischen Gemeinde in Frankfurt nach, gelisch.
welche Unterlagen dort über das frühere Seine Mutter kam nicht Zusammengefasst: Seiberts Großeltern
Gemeindemitglied Seibert vorlägen. Die aus der Ukraine, waren nicht in Auschwitz, sein Großvater
Antwort: Es gebe nur eine »Zuzugsmel- kämpfte nicht im Spanischen Bürgerkrieg,
dung des Einwohnermeldeamtes«, aus der sondern aus Frankfurt- sein Vater war nicht nach England geflo-
hervorgehe, »dass Herr Wolfgang Seibert Heddernheim. hen, und seine Mutter kam auch nicht aus
jüdisch ist«. »Weitere klärende Unterlagen, der Ukraine, sondern aus Frankfurt-Hed-
die die Zugehörigkeit zum Judentum do- dernheim.
kumentieren, liegen uns nicht vor.« Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Dass seine Großeltern mit ihm bald
Nun wandte sich Rothschild an das Beit und der International Tracing Service in nach seiner Geburt für kurze Zeit nach
Din und schilderte seine Zweifel an Seibert. Bad Arolsen, nach Gesprächen mit Weg- Israel emigrierten – auch diese Geschichte
Auch Rothschilds Freunde in den Reform- gefährten und ehemaligen Mitgliedern der erzählt er gern –, ist äußerst unwahrschein-
gemeinden berichteten dem Rabbinats- Pinneberger Gemeinde ergibt sich ein Bild, lich. Seibert ist ein echter Frankfurter
gericht von den schon seit Jahren in Pin- das in vielen Punkten von den Angaben Junge, der irgendwann seine Großeltern
neberg kursierenden Gerüchten, dass der Wolfgang Seiberts abweicht. verließ und nach Bonn zu seinem Vater
Vorsitzende gar kein Jude sei. Zunächst die Kirchenbücher der Evan- zog.
Doch die Entscheidung der Rabbiner gelischen St.-Thomas-Gemeinde im Frank- Über die ersten Nachkriegsjahrzehnte
fiel eindeutig gegen Rothschild aus: »Die furter Stadtteil Heddernheim: Dort wird finden sich nur jene Angaben, die Seibert
Chazaka (Bescheinigung –Red.) der Jü- am 19. August 1947 die Taufe von Lothar selbst in biografischen Interviews gemacht
dischkeit von Herrn Seibert«, so heißt es Wolfgang Seibert, geboren am 16. August hat. Über seinen Bildungsweg zum Bei-
in einer Mail an Rothschild vom 27. April 1947, vermerkt. Seine Eltern waren Franz spiel verbreitet er ganz unterschiedliche
2015, »ist unserer Einschätzung nach Richard Seibert und Pauline Luise, gebo- Versionen. In den Klappentexten seiner
immer noch gültig. Es scheint sich wieder rene Schmidt, beide evangelisch. Vater Bücher aus den Achtzigerjahren heißt es
mal zu bestätigen, dass bei rechtlichen Franz Richard wurde am 26. März 1942 noch, dass er gelernter Maurer sei. 1991
Streitigkeiten das Anzweifeln der Jüdisch- konfirmiert, Mutter Pauline Luise am sel- gab er vor Gericht zu Protokoll, dass er
keit des Prozessgegners als ein probates ben Ort am 21. März 1943. Verzeichnet ist nur die Hauptschule besucht habe.
Mittel gesehen wird. Wir lehnen dies prin- auch die Trauung der Großeltern väter- Zwanzig Jahre später behauptete er je-
zipiell ab.« licherseits, von Friedrich Seibert und Elise doch in einer Hamburger Kirchenzeitung:
Unter normalen Umständen wäre die Häger, am ersten Weihnachtsfeiertag des »Ich habe mein Abitur auf einem katholi-
Geschichte an dieser Stelle zu Ende, weil Jahres 1923, und beide sind, natürlich, schen Gymnasium gemacht.« Inzwischen
sich für nicht jüdische Menschen jede wei- evangelisch. erklärt Seibert sogar, dass er in den Sech-
tere Nachfrage verbietet. Spätestens seit Theoretisch wäre es möglich, dass sämt- zigern Soziologie und Politologie studiert
den Nürnberger Gesetzen, mit denen die liche Seiberts vor 1923 vom Judentum zum habe, bei Adorno und Horkheimer in
Nazis Menschen jüdischer Herkunft stig- evangelischen Glauben konvertiert waren. Frankfurt – »was man damals so studiert
matisierten, hat es die nicht jüdischen Ein Blick in das Hausstandsbuch der Stadt hat«, wie er sagt. In den Studentenver-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 77


zeichnissen der Frankfurter Uni taucht
sein Name nicht auf.
1968 will er »Mitaufrufer« bei der Grün-
dung der DKP gewesen sein. Im Grün-
dungsprotokoll vom September ’68 stehen
31 Namen, aber nicht der von Seibert. In
einem biografischen Interview aus dem
Jahr 2017 spricht er sogar davon, die »Par-
teischule in Niederschönhausen« in Ost-
Berlin besucht zu haben. Es gab dort keine
Parteischule.
Bestätigen lassen sich dagegen seine
journalistischen Ambitionen. Norbert Lep-
pert war in den Siebzigerjahren Gerichts-
reporter bei der »Frankfurter Rundschau«

MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL


und erinnert sich noch gut an Seibert. Der
junge Mann habe versucht, einen Job bei
der »FR« zu bekommen. Seibert habe ihn
bei einigen Prozessen begleitet, sich dann
aber Geld von ihm geliehen und nicht zu-
rückgezahlt. »Er verschwand von einem
auf den anderen Tag.«
Nicht nur der »FR«-Mann Leppert
musste erleben, dass Seibert mit geliehe-
nem Geld sehr großzügig umging. Dem Gast Seibert, Gastgeber Goßmann bei der »Nacht der Kirchen«: Weltoffen und tolerant
SPIEGEL liegen Aussagen weiterer Ex-
Freunde aus vier Jahrzehnten vor, die klei-
nere Unterschlagungen Seiberts bezeugen.
Erstmals öffentlich wurden seine Straf-
taten 1978 in einer Notiz im »Börsenblatt
für den Deutschen Buchhandel«. Dort
heißt es, dass sich ein Mann »namens Wolf-
gang Seibert unter dem falschen Namen
David Spielmann im Laden der Büchergil-
de Gutenberg im BfG-Hochhaus in Frank-
furt Bücher und Schallplatten im Wert von
1568 Mark erschwindelt« habe. Die Bü-
chergilde warne »alle Buchhändler vor
dem Betrüger«.
Kurz darauf kam Seibert ins Gefängnis.
Später verbreitete er die Legende, er sei
inhaftiert worden, weil er RAF-Terroristen
versteckt habe. Im linken Milieu klang das
besser als die Wahrheit: Seibert wurde we-
gen Betrugs und Unterschlagung verurteilt
und musste seine Strafe von 1980 bis 1982
in Dieburg absitzen.
Im Knast kam es zu einer merkwürdi-
gen Verwandlung: 1972 hatte sich Seibert
bei der Anmeldung in Frankfurt noch als INSTITUT FÜR STADTGESCHICHTE IN FRANKFURT AM MAIN

Jude ausgegeben. Auch sein Tarnname


»David Spielmann«, unter dem er die Bü-
chergilde Gutenberg betrogen hatte, sollte
wohl jüdisch klingen.
Hier in Dieburg stellte er sich – so die
Erinnerung eines Sozialarbeiters – plötz-
lich als »Zigeuner« vor.
In den Achtzigern galt die Kultur der
Roma und Sinti in der alternativen Szene
als Ideal einer unangepassten, kreativen
Lebensform. Der verwegene Habitus, die
wilde Musik – das alles schien besonders
attraktiv. Und Seibert wollte von diesem
Image offensichtlich profitieren. Einträge zu Seiberts Vater und Großvater im Hausstandsbuch: Abmeldung zur Front
Er schloss sich der »Literatur im Knast«-
Gruppe an und gewann bei der Weih-
nachtsfeier 1980 mit einem Gedicht einen

78
Gesellschaft

vom Anstaltspfarrer ausgelobten Preis. Ei- finanziert wird. Der wiederum erhält ei- Pinneberger Gemeindehaus, den Seibert
nige lyrische Versuche Seiberts finden sich nen großen Teil seiner Mittel vom Kieler der Polizei als Nazi-Aktion schilderte.
in einer Dokumentation der Dieburger Bildungsministerium. Derzeit kassiert der 2013 ging wieder eine Scheibe im Gemein-
Knast-Literaten. In einem Gedicht schreibt Landesverband einen öffentlichen Zu- dezentrum zu Bruch. Diesmal bescherte
er: »Mein Volk zieht auf der Landstraße / schuss von etwa 200 000 Euro pro Jahr, der Anschlag Seibert sogar einen Besuch
mein Volk verachtet Euch / Ihr Richter«, 2019 sollen es etwa 320 000 sein, die da- des Kieler Innenministers.
auch das eine Anspielung auf seine neue nach »dynamisiert aufwachsen«. Bislang konnte Seibert meist darauf ver-
Identität. Was mit dem Zuschuss geschieht, ent- trauen, dass ihm seine Umwelt aus Gut-
1984 erschienen gleich zwei Bücher mit scheiden die Gemeinden. Eine externe gläubigkeit oder Angst vor Scherereien
Seibert-Texten, das eine (»Nach Auschwitz Überprüfung, so das Ministerium, finde alle Lügen durchgehen lassen würde.
wird alles besser. Die Roma und Sinti in nicht statt. Nur der Landesrechnungshof Selbst der Doktortitel, mit dem er sich seit
Deutschland«) unter seinem Namen. In darf in die Bücher schauen. Seibert ver- einigen Jahren bei öffentlichen Auftritten
den biografischen Angaben heißt es: »Vater fügt also über viel Geld. Dabei heißt es in vorstellen lässt, störte bisher niemanden.
Jude, Mutter Zigeunerin« oder »Roma«. seinem Strafurteil von 1991: »Die Prog- Nur Rabbi Rothschild hat einmal den Je-
Nach seiner Haftentlassung zog er zu- nose lautet günstig, nachdem er sich ent- rusalem-Pastor Goßmann per Mail gefragt,
nächst nach Singen und dann in eine WG schlossen hat, von der Besorgung von worüber Seibert eigentlich promoviert
nach Hamburg. Dort setzte er am 3. März Geldgeschäften für andere Abstand zu habe. Der Pastor antwortete, dass Seibert
1983 eine Kontaktanzeige in die »Hambur- nehmen.« ihm das mal »vor langer Zeit gesagt« habe,
ger Rundschau«: »M, 35, etw. Bauch und Seibert, so sagt er selbst, bekomme nur er, Goßmann, sich aber »nicht mehr genau
ein bisschen Knast i. Rücken, Zigeuner- »ab und zu ’ne Ladung Benzin« für sein daran erinnern« könne.
herkunft, linker Literat, frisch in HH.« Auto bezahlt. Von Vorteil könnte sein Job Eine Ex-Freundin, die ihm kürzlich vor-
Seibert veranstaltete Konzerte für die aber für seine aktuelle Partnerin sein, die hielt, er sei doch gar nicht promoviert, be-
Roma und Cinti Union, engagierte sich Chefin des Pflegedienstes »Top Vital« in kam zu hören, das sei nicht seine Schuld –
auch in der Nicaragua-Initiative in Elms- Pinneberg. Der Pflegedienst betreut viele »ich kann nichts dafür, dass andere Men-
horn. 1986 zog er für die Grünen in den ältere Mitglieder der Gemeinde und arran- schen mich Doktor nennen«.
Pinneberger Kreistag ein, 1988 kandidier- giert regelmäßig Kaffeekränzchen in den Ein zweiter Besuch bei Wolfgang Sei-
te er bei der Landtagswahl. Räumen des Gemeindehauses. bert im jüdischen Gemeindezentrum in
Doch schon ein Jahr später war seine »So ganz koscher ist diese Verbindung Pinneberg, am Montag dieser Woche. Erst-
politische Karriere beendet. Zuerst stellte nicht«, meint ein Ex-Mitglied der Pinne- mals wird er mit dem Vorhalt konfrontiert,
der Kreisjugendring fest, dass Seibert in berger Gemeinde. Andererseits sei Seibert er habe seine Familiengeschichte erfunden.
seiner Funktion als Kassenwart mindes- für viele unentbehrlich: Der Umzug in das Anfangs widerspricht er entschieden. Auf
tens 10 000 Mark entwendet hatte. Dann die Frage nach Belegen antwortet er aus-
bemerkten die Christlichen Pfadfinder, weichend: »Ich kann nur das sagen, was
dass Seibert etwa 7500 Mark aus ihrer G-20-Proteste, Kurden- mir erzählt worden ist, zum Teil von mei-
Kasse auf sein Privatkonto transferiert demonstrationen – er ner Oma, zum Teil von Verwandten.«
hatte. Und schließlich mussten die Grünen Daraufhin werden ihm die Dokumente
einräumen, dass sie von Seibert sogar um mischt immer mit, wenn vorgelegt, die Auszüge aus den Kirchen-
mindestens 43 000 Mark geprellt worden es irgendwo Krach gibt. büchern, die Hausstandsbücher der Stadt
waren. Wieder folgte ein Urteil wegen Frankfurt. Seibert reagiert zunächst vor-
Untreue. Diesmal erhielt er 15 Monate auf sichtig: »Wenn ich das jetzt so sehe, dann
Bewährung. neue Gemeindehaus im Jahr 2010, die so- fange ich an zu zweifeln, ob ich jüdisch ge-
Mehr als zehn Jahre lang war von Sei- zialen Angebote, die politische Vertretung boren worden bin. Aber ich finde das nicht
bert nichts zu hören. Erst 2002, bei der nach außen – ohne Seibert könne man das so wesentlich.«
Gründung der Jüdischen Gemeinde Pin- alles vergessen. Die Pinneberger Gemein- Aber ist die Wahrheit nicht »wesent-
neberg, trat er erneut an die Öffentlichkeit, de sei eine »One-Man-Show«. lich«, Herr Seibert?
eine für frühere Weggefährten erstaunliche Tatsächlich bietet ihm das Amt des Vor- Für ihn, so erklärt Seibert daraufhin, sei
Wiederauferstehung. sitzenden eine Bühne für sein Bedürfnis immer entscheidend gewesen, dass er sich
In der Pinneberger Lokalprominenz er- nach Anerkennung. Und das Stück, das er als Jude »gefühlt« habe, und zwar schon
innerte man sich natürlich an den Mann dort spielt, ist stets dasselbe: sein helden- sehr früh. Er habe sich im Judentum so
mit der dunklen Vergangenheit. Doch nie- hafter Kampf gegen Faschismus und Anti- gut ausgekannt, dass sogar eine jüdische
mand wies darauf hin, dass sich hier wohl semitismus. Freundin ihm eines Tages bescheinigt
der Falsche an die Spitze der jüdischen Ge- Der Gemeindevorsteher mischt immer habe, er müsse ein Jude sein.
meinde manövrierte. Zu groß sei »die mit, wenn es irgendwo Krach gibt, sei es Seibert hält für einen Moment inne. Of-
Angst gewesen, mit kritischen Bemerkun- bei den G-20-Protesten, sei es bei Kurden- fensichtlich registriert er in diesem Moment,
gen gleich als Antisemit zu gelten«, wie demonstrationen, wo er zuletzt im März – dass es keinen Sinn mehr hat, seine Fassade
ein Weggefährte berichtet. explizit als Vorsitzender der jüdischen aufrechtzuerhalten. Er werde, so sagt er
So wie Seibert in den Achtzigerjahren Gemeinde – seine Solidarität mit der Terror- nun, sein Amt als Vorsitzender der Jüdi-
den Schutz der Opferidentität eines »Zi- organisation PKK bekundete. schen Gemeinde Pinneberg niederlegen.
geuners« gesucht hatte, so wechselte er Er ist gern gesehener Gast in den auto- Eine letzte Frage: Warum die Fantasie-
nun in eine aus seiner Sicht viel effektivere, nomen Zentren der Republik, in der Roten geschichten? Die Legenden von den Groß-
geradezu unangreifbare Identität: in die Flora in Hamburg oder im Leipziger Con- eltern in Auschwitz und von der Mutter
Zugehörigkeit zum Judentum. ne Island. »Ich bin immer noch militant«, aus der Ukraine?
Für den Job eines Gemeindevorsitzen- verriet er 2013 der »taz« im Interview. Für »Ich denke«, so antwortet er nach län-
den, den er 2003 übernahm, bekommt er seine politischen Aktionen habe er die gerem Schweigen, »ich wollte zu meiner
zwar kein Gehalt. Er hat aber Zugriff auf »Rückendeckung der Gemeinde«. gefühlten jüdischen Identität eine jüdische
den Gemeinde-Etat, der vor allem vom Bereits 2008 kam es zu einem ersten, Geschichte haben.«
Landesverband der Reformgemeinden bis heute ungeklärten Steinwurf auf das

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 79


Gesellschaft

Pick, pick, pick


nicht essen. Ich habe gelesen, dass Eichelhäher Eicheln ver-
graben, damit sie im Winter einen Vorrat haben. Meisen ver-
stecken Samen und Kerne unter Rindenspalten, für schlechte
Zeiten. Stadttauben ernähren sich immer von dem, was sie
so finden. Sie haben nie einen Krümel über.
Homestory Was passiert eigentlich, wenn Ich sollte etwas tun, dachte ich, ich müsste schleunigst in
30-Jährige Post von der Rentenkasse kriegen? Kryptowährungen machen oder Investmentbanker werden.
Oder mir Geld leihen und davon Land kaufen. Ich erinnere
mich, wie meine Verwandten vor vielen Jahren im Wohn-

N eulich saß ich auf dem Sofa und öffnete einen Brief von
der Deutschen Rentenversicherung. »Renteninforma-
tion 2018« stand auf dem Anschreiben. Ach, dachte ich,
ich bekomme Rentenbescheide? Ich bin 30, unverheiratet und
zimmer bei einem Himbeergeist den Geburtstag meiner Oma
feierten, ich war noch ganz klein. Sie lachten über den CDU-
Politiker Norbert Blüm und seinen Spruch, dass die Rente si-
cher sei. »Rente vergeht, Hektar besteht«, sagte mein Vater.
kinderlos. Ich beschäftige mich eigentlich nicht damit. Ich Alle lachten. Ich lachte nicht. Ich kannte Norbert Blüm nicht
überflog die Formulare. Graues Recyclingpapier, lange Sätze, und fand das Wort Rente langweilig. Ich finde es eigentlich
schwarze Balken. Sie wirkten auf mich wie Zeugnisse einer immer noch langweilig.
vergangenen Republik. Eines Landes, in dem die Deutschen in Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Sozialminister
Fahrstühlen rauchten und bedenkenlos Koteletts grillten, die Hubertus Heil die Renten um drei Prozent erhöht hat.
Schulterpolster ihrer Sakkos waren steif und der Diesel rein Und dass der Finanzminister Olaf Scholz den Deutschen bis
und billig. Ich verstand nicht, was die Deutsche Rentenver- zum Jahr 2040 eine Rentengarantie geben möchte. In dem
sicherung von mir wollte. Wahrscheinlich sollte ich gezwungen Artikel stand, dass diese Garantie Fehlbeträge von mindestens
werden, über meine Zukunft nachzudenken. 80 Milliarden Euro erzeugt. Um die Fehlbeträge auszu-
Ein Papier war darunter, auf dem stand, dass ich bis zum gleichen, könnte die Bundesregierung den Versicherungs-
Jahr 2054 arbeiten muss. Und dass meine Rente dann 1299,13 beitrag erhöhen. Oder die Mehrwertsteuer. Oder das Renten-
Euro betragen soll. Donnerwetter, dachte ich. Viel Geld. Oder? eintrittsalter. Sie könnte auch alles zusammen machen. Ich
Ich legte den Brief zu den müsste dann viel länger ar-
Broschüren der Pizzaliefer- beiten und hätte jeden Mo-
dienste. Ich sah aus dem Fens- nat weniger Geld.
ter. Dort balancierte eine Tau- Ich dachte an meinen
be über die Dachziegel. Freund Stephan, der sich
Ich fragte mich, was dann bald keine Aktien
1299,13 Euro kostet. Eine mehr leisten könnte. Oder
Monatsmiete für eine Woh- an Fabian, der sich das mit
nung in der Hamburger In- dem Kredit lieber zweimal
nenstadt. Ein schöner Ur- überlegt hätte. Vielleicht ha-
laub. Das neue iPhone. Ich ben sie sich ihre schöne Zu-
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
dachte mir, das klingt ganz kunft ohne den Generatio-
gut. Dann fragte ich mich, ob nenvertrag ausgemalt, dach-
ich davon leben könnte, te ich. Vielleicht finden die
wenn ich einmal Kinder Meisen bald keine Krümel
habe. Oder ein Auto, viel- mehr. Vielleicht gibt es bald
leicht auch ein Haus, das ich nur noch Tauben. Pick, pick,
abbezahlen müsste. Es wür- pick. Von einem Krümel
de dann knapp, dachte ich, zum nächsten. Ich sah noch
es wäre dann zu wenig. Ich einmal auf den Zettel.
wählte die Telefonnummer, die auf dem Briefkopf stand. Ich 1299,13 Euro. Verträge kann man brechen, dachte ich. Ich
fragte, ob ich mich auf den Betrag verlassen könnte. »Nee«, erhob mich vom Sofa. Es müsste, dachte ich, endlich mal
antwortete eine junge Frau. »Wenn Sie sagen, Eins-drei oder einer was dagegen unternehmen.
Schlag-mich-tot reicht mir, schön«, sagte sie. »Aber kann ja Die Aktivisten im Hambacher Forst verschanzen sich in
keiner wissen, was das später wert ist. Sie sollten auf jeden Baumhäusern und verteidigen erbittert jedes Ästchen gegen
Fall privat vorsorgen.« Plötzlich erschien mir das Jahr 2054 die Staatsmacht. Ja, dachte ich, Bäume sind nützlich und
ganz nah, fast wie nächste Woche. schön, aber wie kommen die da hoch, wenn sie 67 sind? Ge-
Mein Schulfreund Stephan hat mir erzählt, dass er jeden gen rechts tanzen 65 000 junge Menschen in Chemnitz, und
Monat ein bisschen Geld spart und sich davon Aktien kauft, 20 000 ziehen gegen steigende Mieten durch Berlin. Aber
»für später«, sagt er. Mein Studienfreund Fabian hat gerade was machen sie gegen sinkende Renten?
einen Kredit aufgenommen und davon ein Reihenhaus in Wenn es doch nur ein Fünkchen gäbe, dass uns entflammen
einem heruntergekommenen Stadtviertel gekauft. »Da ist es würde für die Rente, der Generationenvertrag ist ja nicht
jetzt noch ein bisschen vermüllt, aber die Ecke kommt«, hat gottgegeben, dachte ich. 50 000 Hipster würden auf dem
er mir erzählt. »In 30 Jahren ist das Haus das Doppelte wert.« Alexanderplatz für ein Altern in Würde demonstrieren. Ben-
Neulich habe ich gelesen, dass junge Menschen seit der Wirt- galos und brennende Barrikaden gegen die Versorgungslücke,
schaftskrise 2008 wieder mehr heiraten. Manche Soziologen Sitzblockaden vor der Deutschen Rentenversicherung in Ber-
erklären das damit, dass meine Generation verunsichert sei lin. Her mit der schönen Rente. Ça ira, Generationenvertrag,
und sich damit wirtschaftlich absichern wolle. Ich dachte an an die Laterne mit dir. Da klingelte mein Telefon.
mein Motorrad, eine 750er-Honda. Für die bekomme ich »Max, wie geht’s dir?«, fragte meine Mutter gut gelaunt.
vielleicht noch 3000 Euro. Das war’s. Sie ist 56, tanzt Tango und fährt mit meinem Vater gern auf
Die Taube vor meinem Fenster pickte auf einem bemoos- dem E-Bike durchs Bergische Land. Ich setzte mich zurück
ten Ziegel herum. Dumme Taube, dachte ich. Das kannst du aufs Sofa. Vor dem Fenster flog die Taube davon. Max Polonyi

80 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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»Zum Neujahrsfest tanzten 540 ›Alpha‹-Männchen im chinesischen Fernsehen, Weltrekord.« ‣ S. 88

ANDREAS ARNOLD / DPA


Dieselaffäre

Behörde prüft auch neue Opel-Modelle


Bundesverkehrsministerium ordnet Untersuchung von Autos mit der modernsten Abgasnorm an.
 Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) geht dem Verdacht nach, Frühjahr. Weil Opel diese Abgastricks nicht schnell genug per
dass auch die Abgassysteme der derzeit im Verkauf befind- Softwareupdate behoben hat, plant das Verkehrsministerium
lichen Dieselautos von Opel manipuliert sind. Im Auftrag in den nächsten Tagen einen amtlichen Rückruf für fast
des Bundesverkehrsministeriums sollen die Kontrolleure in 100 000 Opel-Diesel aus den Baujahren 2012 bis 2017. Die
Flensburg etwa die Software des Opel Insignia mit der mo- neuerlichen Kontrollen sind für die Debatte um Dieselfahr-
dernsten Abgasnorm Euro 6d-temp untersuchen. Die Diesel- verbote von großer Bedeutung. So wollen die Konzerne mit
modelle von Opel stehen im Visier der Behörden, seit im einem groß angelegten Prämienprogramm ältere Diesel-
Mai 2016 bei Untersuchungen des SPIEGEL, des ARD- modelle durch neue ersetzen. Sollten auch bei diesen noch
Magazins »Monitor« und der Deutschen Umwelthilfe drei Abgastricksereien gefunden werden, dürften sich immer
Abschalteinrichtungen in der Software eines Opel Zafira auf- weniger Kunden für einen neuen Diesel entscheiden. Opel
gefallen waren. Daraufhin untersuchte das KBA die Autos erklärte auf Anfrage, man verwahre sich gegen den Vorwurf,
und fand weitere Manipulationen, die letzte davon in diesem unzulässige Abschalteinrichtungen zu verwenden. GT, SH

Streamingdienste Ende dieses Jahres würden die Digital- Radio-Werbemarkt bis 2022 nur noch ein
Spotify und Co. erlösen bald dienste hierzulande mit 656 Millionen leichtes Wachstum voraus. Viel rasanter
Euro etwa 80 Prozent der Nettowerbe- würden im selben Zeitraum aber die Abo-
mehr als Radiosender erlöse aller Radiosender erreichen. Umsätze der Streamer steigen, zu denen
Spätestens Anfang 2020 zögen sie dann auch Google Play und Apple Music zäh-
 Audiostreaming-Anbieter wie Spotify, an ihnen vorbei. Die Werbeeinnahmen len – auf dann 1,33 Milliarden Euro. Es
Amazon Music oder Deezer werden in der Streaminganbieter seien dabei noch sind vor allem jüngere Kunden, die bei den
gut einem Jahr allein mit ihren Abo- nicht einmal berücksichtigt, sagt der Chef Audio-Diensten kostenpflichtige Abos
Umsätzen mehr Geld einnehmen als alle des Unternehmens, Klaus Goldhammer. abschließen. Laut einer aktuellen Studie
deutschen Radiosender durch Werbung. Das zeige die Dimension der »Zeitenwen- von ARD und ZDF nutzen 69 Prozent der
Das prognostiziert eine aktuelle Analyse de im Audiomarkt«. Der Trend werde 14- bis 29-Jährigen mindestens einmal pro
der Medienberatung Goldmedia. Bereits zudem anhalten: Die Analyse sagt für den Woche Musikstreaming-Dienste. ROM

82 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Handel der Vergangenheit sind mir bekannt. Wir an Discounter wie Lidl verkauft, die da-
»Wir haben denen lange haben Lidl aber als Unternehmen erlebt, mit ihre billigen Bio-Eigenmarken be-
das sich glaubhaft wandeln möchte. stückt haben – obwohl Bioland drin war.
nicht geglaubt« SPIEGEL: Anderthalb Jahre Plagge: Das ist ja erst mal Sa-
haben Sie sich über die Koope- che des Händlers. Aber klar,
Jan Plagge, 47, Präsident des Ökoanbau- ration unterhalten. Warum dieses Downgrading hat uns
verbands Bioland, über die Kooperation dauerte das so lange? nicht gefallen.
mit dem Discounter Lidl, der sein Öko- Plagge: Weil wir denen lange SPIEGEL: Wenn Aldi mit dem

ROLAND POPP / DPA


sortiment auf Bioland-Qualität umstellt nicht geglaubt haben. Ich war Biopreis runtergeht, wird der
der Meinung, die können nicht Druck auf Lidl und Bioland
SPIEGEL: Herr Plagge, sind Sie zum Feind nach unseren Prinzipien ein- steigen.
übergelaufen? kaufen, weil sie immer nur Plagge: Eben nicht. Bioland-Pro-
Plagge: Nein, überhaupt nicht! nach der billigsten Ware grei- Plagge dukte werden über Qualität und
SPIEGEL: Überzeugte Biobauern machten fen und die Lieferanten ge- nicht über den Preis vermarktet,
bisher einen großen Bogen um Discounter. geneinander ausspielen. Wir haben deren das ist ein Paradigmenwechsel. Der bisheri-
Plagge: Die Zeiten ändern sich. Aber mir ist Wunsch nach Zusammenarbeit deshalb gen ruinösen Logik wird nicht mehr gefolgt.
klar, dass manche ein Problem damit haben. für eine Art Greenwashing-Kampagne ge- SPIEGEL: Was ist, wenn Lidl rückfällig
SPIEGEL: Sind Ihnen die miserablen Ar- halten. Tatsächlich hat sich deren Ein- wird und doch an der Preisschraube dreht?
beitsbedingungen der Discounter egal, so- kaufsverhalten aber geändert, Lidl setzt Plagge: Wir haben vertraglich Fairplay-
lange Sie mehr Bioware verkaufen? auf langfristige Lieferbeziehungen, das Regeln und eine Ombudsstelle vereinbart.
Plagge: Nein, ich sehe durchaus, dass das haben wir geprüft. Die kann von Lieferanten angerufen wer-
Discountersystem Schwachstellen hat. SPIEGEL: Schon bisher haben Sie über- den, die sich unter Druck gesetzt fühlen,
Die sozialen und ethischen Probleme aus schüssige Milch aus Bioland-Molkereien billiger zu liefern. NKL

Wirtschaftsprüfer Bank. Die versichert, dass sich Winkel- Kohleausstieg


PwC ist Favorit für johann nicht am Auswahlverfahren betei- Schneller Mobilfunk und
lige: Dem Prüfungsausschuss, der dem
Deutsche-Bank-Mandat Aufsichtsrat eine Empfehlung ausspricht, Bahnverkehr statt Kohle
gehört er nicht an; an der Abstimmung
 Der Aufsichtsrat der Deutschen Bank im Rat über die Empfehlung nehme er  Die Pläne für den Strukturwandel
entscheidet kommende Woche, wer ab nicht teil. Gleichwohl könnte er informell in den vom Kohleausstieg betroffenen
2020 neuer Wirtschaftsprüfer des Kon- Einfluss nehmen. Das letzte Wort hat die Regionen nehmen konkrete Formen an.
zerns wird. Insider gehen davon aus, dass Hauptversammlung 2019. Wegen der Die Kommission »Wachstum, Struktur-
sich PricewaterhouseCoopers (PwC) Rotationspflicht der Europäischen Union wandel und Beschäftigung«, die im
gegen den Rivalen EY durchsetzt – was müssen die bisherigen Wirtschaftsprüfer Auftrag der Bundesregierung das Ende
heikel wäre: Seit August sitzt Norbert von KPMG ihr Mandat abgeben, für das der Kohleverstromung vorbereiten soll,
Winkeljohann, 2010 bis Mitte 2018 PwC- sie zuletzt 73 Millionen Euro berechnet will sowohl im Rheinischen Revier als
Deutschlandchef, im Aufsichtsrat der hatten. BAZ auch in der ostdeutschen Lausitz eine
Testregion für den zukünftigen Mobil-
funkstandard 5 G etablieren. Einigkeit
besteht auch darin, gleich eine ganze
Greser & Lenz Reihe von Schienenbauprojekten in
einem Strukturwandelgesetz festzu-
schreiben. Kernstück ist dabei eine ICE-
Trasse zwischen Berlin und Görlitz, die
durchgängig zweigleisig für mindestens
200 Stundenkilometer schnelle Züge
ausgelegt werden soll. Zusätzlich soll
auch die Strecke von Görlitz bis Polen
elektrifiziert und ausgebaut werden.
Auf Nebenstrecken wie jenen zwischen
Leipzig und Döbeln oder Leipzig und
Zeitz sollen modernste Wasserstoff-
züge verkehren. Die Vorhaben sollen
im Bundesverkehrswegeplan als »vor-
dringliche« Projekte geführt werden,
wofür es auch bei der Deutschen Bahn
Unterstützung gibt. Sachsens Minister-
präsident Michael Kretschmer (CDU)
hatte dem Gremium eine Art Wunsch-
liste vorgelegt. Zusätzlich zu Bahn-
strecken und Mobilfunk fordert er
ein 100 Millionen Euro schweres For-
schungsförderungsprogramm für be-
stehende Firmen in der Lausitz. GT, STW

83
Wirtschaft

Unterm Rad
Konzerne Volkswagen und die Zuliefergruppe Prevent bekämpfen sich erbittert.
Dabei sind Autohersteller und ihre Lieferanten mehr denn je aufeinander
angewiesen. Ein Lehrstück über das System VW in Zeiten von Globalisierung und Dieselkrise.

D
ie Firma Neue Halberg-Guss
(NHG) ist eigentlich ein kleines
Rädchen in der Maschinerie
der globalen Fahrzeugindustrie:
2200 Mitarbeiter fertigen in Saarbrücken
und Leipzig Kurbelwellen, Motorblöcke
und andere Gussteile für die Pkw- und
Nutzfahrzeugbranche.
Doch als bei der NHG im Sommer sechs
Wochen lang gestreikt wurde, sorgte das
kleine Rädchen dafür, dass eine ganze
Branche ins Stocken kam: Der Autoher-
steller Opel zog Werksferien vor, dem Mo-
torenbauer Deutz drohten Produktions-
ausfälle, die wohl dazu geführt hätten, dass
Kunden wie Agco, Kion oder Putzmeister
die Motoren für ihre Mähdrescher, Gabel-
stapler und Baumaschinen ausgehen.
Es wurde klar, dass der Ausfall eines
kleinen Rädchens das hochkomplexe Netz
der Auto- und Zulieferindustrie innerhalb
kürzester Zeit blockieren und damit zu
Lieferausfällen und enormen Umsatzein-
bußen führen kann.
Eine Gefahr, die immer noch akut ist:
Seit einigen Tagen steht die Produktion
bei der NHG erneut still. Einige Lieferan-
ten wollen lediglich gegen Vorkasse liefern.
NHG kann Kunden nur mit dem versor-
gen, was schon produziert ist. Gleichzeitig
wird fieberhaft mit potenziellen Käufern
für die schlingernde Firma verhandelt,
auch eine Abwicklung ist möglich.
Der Fall zeigt, wie sehr Unternehmen
und ihre Zulieferer voneinander abhängen
und wie fragil ihre Beziehung ist.
Auslöser des Konflikts ist in diesem Fall
eine Firmenfehde, wie sie die Autobranche
selten erlebt hat: mit Preiserhöhungen und
Lieferstopps, rund einem Dutzend Ge-
richtsverfahren und einer Spitzelaffäre.
Auf der einen Seite steht Volkswagen,
einer der größten Autohersteller der Welt
und bis vor Kurzem Hauptkunde der
NHG; auf der anderen Seite die bosnische
Unternehmerfamilie Hastor, Eigentümerin
der Autozuliefergruppe Prevent, zu der
PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

auch NHG gehört.


VW und die Hastors bekämpfen sich
schon lange, der Fall erzählt einiges da-
rüber, wie der Weltmarktführer VW mit
Geschäftspartnern umgeht. Interne Doku-
mente zeigen, dass der Konzernvorstand
bereits vor Jahren entschieden hat, Pre-
vent-Firmen von VW-Geschäften auszu- VW-Produktion in Dresden: Schäden in dreistelliger Millionenhöhe

84
schließen, wodurch die Gruppe in Exis-
tenznot gestürzt würde.
VW erklärt, Prevent habe sich seit 2015
wiederholt als unzuverlässig erwiesen und
mehrfach eigene Tochterunternehmen in-
strumentalisiert, um VW durch Liefer- Beteiligungsgesellschaften
Nijaz und Mirsada Hastor
stopps in eine Zwangslage zu versetzen Bosnien Eastern u. a. Cascade, Halog,
und unplausible Forderungen durchzuset- Horizon Castanea Rubra Assets,
Söhne Amsterdam Bloukrans Ohlanga,
zen. Dadurch seien dem Konzern allein Tahoe Investors,
2015 und 2016 Schäden in dreistelliger Mil- Parramatta Capital
lionenhöhe entstanden. Tatsächlich nutz- Kenan Damir
ten Prevent-Firmen die Abhängigkeit VWs Hastor Hastor aktuelle oder
von bestimmten Teilen immer wieder zu zwischenzeitliche
drastischen Forderungen. Prevent macht Beteiligungen:
geltend, in wirtschaftlicher Notwehr gegen u. a. Prevent TWB,
Prevent Car Trim, Grammer,
unfaire Praktiken von VW zu handeln. DEV ES Automobilguss,
Firmen wie NHG werden zwischen den Wolfsburg Neue Halberg-Guss,
Fronten zerrieben.
ASA Keiper, Mardel, Tower, Alno,
Einfach war das Verhältnis zwischen Group Machalke, Wössner
Herstellern und ihren Zulieferern nie. VW, Sarajevo
Daimler oder BMW sind um ein Vielfa-
ches größer als die meisten ihrer Lieferan-
ten, nimmt man Systemanbieter wie Bosch GESCHÄFTSFELDER
und Continental einmal aus. Andererseits Mobility Fashion Neofacture Sonstige
setzen Autobauer selbst für Schlüsselteile Sitzbezüge, Textilproduktion, Möbel, u. a. Banken, Versicherungen, Dienstleistungen,
oft auf einen einzigen Lieferanten – das Interieur, Bekleidung Heimtextilien Jachtbau, Schutzbekleidung, Bremsen,
ist effizient, macht die Konzerne jedoch Sitzstrukturen Pkw-Vertrieb, Autovermietung, Spedition
erpressbar. VW habe besonders stark auf
dieses »Single Sourcing« gesetzt, um die kaufsvorstands Francisco Javier García Berliner Sicherheitsfirma, Zielpersonen
Einkaufskosten zu drücken, berichten Sanz 2009 übernommen. Dann aber habe bei Prevent und im Umfeld der Gruppe
Brancheninsider. Der Fall Prevent zeigt, VW Absprachen gebrochen und drei Jahre hinterherzuschnüffeln. Laut VW wurde im
dass dieser Weg an Grenzen stößt. lang zulasten von Prevent seine Kosten ge- Rahmen eines »Business Partner Check«
Die Hastors sind mit ihrem Groll auf senkt. Volkswagen weist den Vorwurf zu- nur eine einstellige Zahl von Personen
VW nicht allein. So ist es zum Beispiel üb- rück. Man habe sogar zusätzliche Aufträge überprüft, »stets im Rahmen der rechtli-
lich, dass Autokonzerne während laufen- erteilt, um Rioglass zu stützen. chen Vorschriften«.
der Lieferverträge weitere Preissenkungen Klar ist zumindest: Nach dem Ärger um Mehr als 200 Millionen Euro wollte VW
von ihren Partnern verlangen. VW aber Rioglass schaukelte sich der Konflikt zwi- es sich kosten lassen, Prevent als Zulieferer
gilt als besonders aggressiv, nach dem Auf- schen den Hastors und den VW-Einkäu- zu ersetzen. Außerdem rechnete man mit
fliegen des Dieselskandals soll der Kon- fern um Sanz hoch. Er eskalierte 2016 im zusätzlichen Schadensersatzforderungen,
zern Zulieferer sogar aufgefordert haben, Fall des Sitzbezugherstellers Car Trim und wenn der Konzern Prevent-Firmen Auf-
durch Preissenkungen einen Teil der Straf- der Gießerei ES Automobilguss: Die Pre- träge entzöge. Die Kosten sollten auf ver-
zahlungen zu tragen. VW bestreitet das. vent-Firmen verlangten von VW 58 Mil- schiedene Fachbereiche verteilt werden,
Wer als Geschäftspartner nicht mitspielt, lionen Euro, der Fall ging vor Gericht, ehe womöglich, um keine kritischen Fragen
muss befürchten, beim nächsten Auftrag man sich noch einmal auf einen neuen Lie- misstrauischer Aktionäre hervorzurufen.
außen vor zu sein. Das kann sich kaum fervertrag einigte. Allerdings hatte VW VW räumt ein, dass man Schritte einge-
ein Zulieferer erlauben, die meisten erzie- wohl nie vor, den neuen Vertrag einzuhal- leitet habe, um im Falle neuer Lieferstopps
len 20 Prozent und mehr ihrer Umsätze ten. Einkaufschef Sanz hatte offenbar ge- durch die Prevent-Gruppe die Produktion
mit VW. Deshalb verfolgt die Branche ge- nug von den Hastors. Er ist in Amt und aufrechterhalten zu können, zu den Kos-
bannt, wie sich die Hastor-Familie gegen Geiste Nachfolger des berüchtigten Ein- ten äußert sich der Konzern nicht. Eine
die mächtigen Autokonzerne auflehnt. käufers José Ignacio López, der in den Entscheidung über die Beendigung der Ge-
Dabei hat VW selbst die Hastors erst Neunzigerjahren von General Motors kam schäftsbeziehung zu Prevent sei mit dem
groß gemacht. Firmengründer Nijaz Has- und als »Würger von Wolfsburg« die Zu- Plan jedoch nicht verbunden gewesen.
tor ließ in den Achtzigerjahren in Sarajevo lieferer in Angst und Schrecken versetzte. Welche Energie das VW-Management
VW-Modelle zusammenschrauben und er- Unmittelbar bevor VW im August 2016 tatsächlich darauf verwandte, den unlieb-
arbeitete sich so das Vertrauen der VW- offiziell einen Waffenstillstand mit Prevent samen Geschäftspartner loszuwerden,
Führung. Unter dem Namen Prevent bau- schloss, stieß Sanz das »Projekt I« an: ei- zeigte bald darauf der Fall Grammer. Ende
te er ein Netz von Zulieferfirmen auf und nen Masterplan, um Prevent loszuwerden. 2016 baute Prevent einen Anteil von gut
ließ viel in Osteuropa produzieren. In Bos- Das geht aus Tischvorlagen für Vorstands- 20 Prozent an dem börsennotierten Her-
nien galt er als Wohltäter, in Wolfsburg als sitzungen des VW-Konzerns hervor. Er- steller von Kopfstützen und anderem In-
Lieferant von Qualität zu guten Preisen. satzlieferanten sollten aufgebaut, die Ei- terieur auf, einer Firma mit 13 000 Mitar-
In der Branche heißt es, als Hastors Söh- gentümerstruktur bei kritischen Zuliefe- beitern und 1,8 Milliarden Euro Umsatz.
ne Damir und Kenan die Geschäfte über- rern überprüft werden, bis Februar 2018 Doch bevor sich Prevent überhaupt ins
nahmen, habe sich der Stil geändert. Bei könne man alle Geschäftsbeziehungen zu operative Geschäft einmischen konnte,
Prevent erzählt man hingegen, ein Streit Prevent-Firmen kappen. schmiedete VW einen detaillierten Ab-
um den Autoglas-Spezialisten Rioglass Vor fragwürdigen Methoden schreckte wehrplan. Wohlgemerkt: nicht das Gram-
habe zum Bruch geführt. Den habe Pre- VW nicht zurück. Über eine externe Kanz- mer-Management, sondern der Großkunde
vent auf Drängen des damaligen VW-Ein- lei beauftragte die Rechtsabteilung eine aus Wolfsburg. In einem vertraulichen

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 85


Deutz deutlich höhere Preise verlangt,
richtet sich deren Ärger vor allem gegen
Prevent. »Die Erpressbarkeit von Kunden
ist endlich«, sagt etwa Deutz-Chef Frank
Hiller. Im Juli hatte er per Zeitungsanzeige
mit anderen betroffenen Unternehmen an
die Streitparteien appelliert, »dem Wahn-
sinn ein Ende« zu setzen.
Eigentlich wäre es für die Auto- und Zu-
lieferindustrie sinnvoll, angesichts von Glo-
balisierung und Digitalisierung noch näher
OLIVER BUNIC / BLOOMBERG VIA GETTY IMAGES

aneinanderzurücken, sagt der Autoexper-


te einer Unternehmensberatung. Das setze
jedoch großes gegenseitiges Vertrauen vo-
raus. Das aber gibt es zwischen VW und
Prevent nicht mehr. Prevent will weiter
Zulieferer kaufen, VW will maximale Kon-
trolle über das Lieferantennetz.
Zwar hat der Hastor-Gegner Nummer
eins, García Sanz, VW verlassen. Doch
sein Nachfolger als Einkaufschef könnte
Fertigung von Sitzbezügen bei Prevent: »Gegen unliebsame Eigentümer zur Wehr setzen« den Lieferanten noch gefährlicher werden:
Stefan Sommer war vor seinem Wechsel
nach Wolfsburg Chef des weltweit viert-
VW-Papier vom 13. Dezember 2016 heißt man sich nicht an die bisherigen Verträge größten Autozulieferers ZF. Er kennt die
es unter anderem, man müsse einen freund- mit NHG gebunden fühle, und beendete Probleme und Abhängigkeiten der Bran-
lichen Aktionär an Bord holen und über außerdem den Vertrag mit ES Automobil- che also besser als viele andere. Und er
eine Kapitalerhöhung den Einfluss von guss und Car Trim. Dieser sei erzwungen hat mehr Macht als sein Vorgänger.
Prevent eindämmen. Selbst ein Einstieg gewesen und daher anfechtbar, sagt VW. Zum 1. Januar nämlich führt der VW-
von VW bei Grammer wurde erwogen. Das habe man Prevent von Anfang an sig- Konzern seine eigenen Komponentenwer-
Die meisten VW-Ideen setzte das Gram- nalisiert. Ein Gericht hat in erster Instanz ke zu einer schlagkräftigen Einheit mit
mer-Management haarklein um. Unter- bestätigt, dass VW die Vereinbarung an- 56 Fabriken und 80 000 Mitarbeitern zu-
stützt von der IG Metall, die die Gram- fechten durfte. Prevent reagierte und er- sammen. In der »Komponente« werden
mer-Belegschaft zu Protesten aufrief, so- höhte sofort die Preise bei NHG. Laut VW Motoren, Gussteile, Getriebe, Fahrwerke,
wie von Ex-Wirtschaftsstaatssekretär hat dies dem Konzern einen höheren zwei- Sitze und E-Antriebe selbst gebaut – VW
Matthias Machnig (SPD), der sich mit der stelligen Millionenbetrag an Mehrkosten tritt also verstärkt in Konkurrenz zu seinen
Geschäftsführung solidarisierte. beschert. Mittlerweile bezieht der Kon- Zulieferern. Und Sommer ist sowohl Ein-
Der Bund mit Politik und IG Metall hat zern keine Teile mehr bei NHG. kaufschef, verhandelt also mit externen
bei VW System. Schützenhilfe kam ein weiteres Mal von Zulieferern, als auch für den internen Kom-
Als freundlich gesinnter Aktionär wur- der IG Metall. Als NHG ankündigte, des- ponentenbau zuständig.
de schließlich das chinesische Unterneh- halb das Werk in Leipzig schließen zu müs- Mancher Volkswagen-Partner sieht da-
men Ningbo Jifeng gefeiert – obwohl die sen, mobilisierte die mächtige Gewerk- rin einen klaren Interessenkonflikt: Die
Bundesregierung chinesischen Investoren schaft die Mitarbeiter zum Dauerstreik. VW-Komponente könnte sich einen unfai-
in anderen Fällen zuletzt extrem misstrau- Offizielles Ziel: ein Sozialtarifvertrag, der ren Wettbewerbsvorteil verschaffen. Der
isch begegnet war und der Grammer-Kauf die Firma 600 bis 700 Millionen Euro ge- Konzern sagt dazu, man könne den Vor-
von staatlichen chinesischen Geldgebern kostet hätte. Für NHG hätte das den Ruin wurf »in keiner Weise nachvollziehen«,
mitfinanziert wurde. bedeutet, wie Kunden vorrechnen. die Komponente plane kein »kartellrecht-
Zudem ist Ningbo Jifeng offenbar wirt- Tatsächlich ging es den Streikenden lich relevantes Drittmarktgeschäft«.
schaftlich von VW abhängig. Seit acht Jah- wohl um mehr als ein Auffangnetz für den Schon heute verlangt VW von seinen
ren gehört der Konzern zu den drei größ- drohenden Stellenabbau. »Der Streik war Lieferanten allerdings hochsensible In-
ten Kunden von Ningbo Jifeng. Zeitweise eine Notwehrmaßnahme gegenüber dem formationen, von Produktionsmethoden
erzielte die Firma ein Drittel ihres Umsat- Verhalten des Arbeitgebers«, sagt Jörg über Arbeitskosten bis hin zu den Inhalts-
zes mit dem deutsch-chinesischen Joint- Köhlinger von der IG Metall Bezirk Mitte. stoffen der eingesetzten Materialien.
Venture FAW-Volkswagen Automotive Co. Der Streik habe zumindest einen Effekt Einige Zulieferer fürchten, VW könnte
Ltd. VW bestätigt die Geschäftsbeziehung erzielt, nämlich das Geschäftsmodell von solche Geschäftsgeheimnisse nutzen, um
zu Ningbo Jifeng, behauptet jedoch, sich Prevent öffentlich infrage gestellt. »Jede die Teile selbst kostengünstiger herzustel-
in keiner Weise aktiv in die Geschehnisse Firma sieht jetzt, dass man sich im Bund len – für den Eigenbedarf, aber auch für
bei Grammer eingemischt zu haben. mit der IG Metall gegen unliebsame Eigen- den Verkauf an Dritte. Ein großer Auto-
Bei Prevent heißt es dagegen, VW wolle tümer und fragwürdiges Geschäftsgebaren zulieferer erwägt deshalb sogar, rechtlich
seinen Zulieferern heutzutage nicht mehr zur Wehr setzen kann.« Prevent wirft der gegen VW vorzugehen. Er will den Fall an
nur die Konditionen diktieren, sondern IG Metall vor, sie wolle den Investor um das Bundeskartellamt melden.
auch bestimmen, wer die Eigentümer der jeden Preis loswerden, genau wie VW. Für VW ist also neuer Ärger mit den
wichtigsten Lieferanten sind. Andere Kunden der NHG verfolgen Geschäftspartnern programmiert. Auch
Und nun also Neue Halberg-Guss. Als den Machtkampf mit einer Mischung aus ohne Prevent.
Prevent die Firma zu Jahresbeginn über- Staunen und Entsetzen. Weil die von Pre- Simon Hage, Martin Hesse
nahm, setzte García Sanz die nächste Stufe vent installierte NHG-Geschäftsführung Mail: martin.hesse@spiegel.de
seines Plans um. VW machte deutlich, dass aber auch von Geschäftspartnern wie

86 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Wirtschaft

Gollnick
verwendet. Kann ein deutscher Unterneh- eine Kanzlei damit beauftragt, seine Wort-
mer das Billionenunternehmen Apple in marke e*Message zu schützen. Meldet
die Knie zwingen? eine andere Firma ähnliche Titel an, be-

gegen Apple
Streitigkeiten um Patente und Namen kommt er das auf den Tisch. »Das passiert
sind gerade in der Techbranche Alltag. ein paarmal im Jahr, ist für uns aber meis-
Manchmal werden ganze Firmen gekauft, tens völlig irrelevant«, sagt Gollnick.
um Rechtsfehden aus dem Weg zu gehen. Mit der Markenanmeldung 010264026
Prozesse Ein Berliner Unterneh- Oder es werden millionenschwere Verglei- für »iMessage« vom 14. September 2011
mer klagt gegen den billionen- che geschlossen. Doch Gollnick geht es vor durch Apple war das anders. Das Problem:
allem darum, keinen Ärger mehr zu haben. iMessage wird wie e*Message für das Ver-
schweren iPhone-Hersteller, weil Seine Firma bietet sogenannte Pager- senden von Nachrichten benutzt. Beide
der seinen Dienst iMessage dienste an. Pager sind Meldeempfänger, richten sich an das breite Publikum. Frei-
nennt. Die Chancen stehen gut. die etwa Rettungsdienste, Krankenhäuser, willige Feuerwehrleute etwa gingen ver-
aber auch Energieversorger nutzen, um in schiedensten Berufen nach und könnten
Notlagen Personal zu alarmieren. Baden- die Produkte verwechseln. Ausgerechnet

V or ein paar Tagen ist Apples Kurz-


nachrichtendienst iMessage sieben
Jahre alt geworden. Unnützes Wis-
sen für einen Großteil der Menschheit,
Württembergs Schulen nutzen Gollnicks
Dienste für die Benachrichtigung
von Lehrern bei Amokläufen,
Hunderte Feuerwehren von Ros-
bei Feuerwehren aber sind Alarme über
Smartphones nicht besonders be-
liebt, sie haben den Ruf, unzu-
verlässig zu sein. Ein Funkmel-
aber der Unternehmer Dietmar Gollnick tock bis zur Werksfeuerwehr von deempfänger am Gürtel gilt als
ist da eine Ausnahme. Er ist sauer auf Porsche dirigieren ihre Einsatz- Statussymbol. »Da entgeht uns
Apple und sagt: »Wir sind zwar ein Mit- kräfte per e*Message. Dafür hat mancher Auftrag«, sagt Gollnick.
telständler, aber wir sind nicht blöd.« die Firma ein eigenes Funknetz Und die unterschiedlichen
Apple hätte vermutlich niemals etwas aufgebaut. Mit 800 Sendestatio- Buchstaben »e« und »i« vor dem
von der Existenz Dietmar Gollnicks erfah- nen ist es nach den Netzen von Telekom, Wort Message? »Viele Deutsche verstehen
ren, wenn dessen Firma nicht e*Message Vodafone und O2 das vierte große Netz Englisch nicht so gut, dass sie die Ausspra-
hieße – weshalb der Berliner eine Ver- im deutschen Markt. che unterscheiden können«, sagt Gollnick.
wechslungsgefahr mit dem Nachrichten- Dass sich die Wege von Gollnick und Dass die Sache mit der Verwechslung
dienst iMessage von Apple sieht. Gollnick, Apple überhaupt kreuzten, liegt an einer nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein
Herr über 20 Millionen Euro Umsatz, stört Nachricht seines Anwalts. Gollnick hat scheint, kann man im zweiten Stock der
sich so sehr an der Namensähn- e*Message-Zentrale in Berlin
lichkeit, dass er Klage einge- beobachten. Im Kundenzen-
reicht hat: Der 64-Jährige will trum landen immer wieder An-
erreichen, dass Apples Dienst rufer, die sich darüber beschwe-
nicht mehr mit seiner Firma ver- ren, dass ihr Gerät nicht funk-
wechselt wird. tioniere. »Wenn Kunden die
Der Gegner ist nicht klein, Hotline anrufen und gefragt
Apple ist der wertvollste Kon- werden, ob sie ein e*Message-
zern der Börsengeschichte. Doch Gerät haben, sind nicht wenige
Gollnick ist entschlossen, den irritiert und antworten, dass es
Kampf auszufechten. Die Chan- doch gar nicht um ihr Smart-
cen, das Verfahren zu gewin- phone gehe – sie denken dabei
nen, stehen überraschenderwei- an iMessage. Die Verwechslun-
se nicht schlecht: Das Landge- gen machen unsere Kunden ver-
richt Braunschweig deutete an, rückt«, sagt Gollnick.
dass es den Argumenten gegen Ein Urteil im Streit wird für
Apple folgen könnte. November erwartet. Apple sagt,
Der Kurznachrichtendienst man kommentiere »prinzipiell
iMessage gehört zu den am keine offenen Verfahren«. Soll-
weitesten verbreiteten Services te das Gericht dem Konzern
von Apple, jede Sekunde wer- verbieten, das Wort iMessage
den darüber weltweit schät- wie bisher zu verwenden, dürf-
zungsweise 200 000 Nachrich- te der Gigant vor den Bundes-
ten verschickt. Er funktioniert gerichtshof ziehen. Aber auch
ähnlich wie eine SMS, die Gollnick ist entschlossen, die Sa-
Nachricht wird aber über das che durchzufechten.
Internet übertragen. Gollnick Er hat übrigens nichts grund-
nutzt seine Marke schon seit sätzlich gegen Apple. Auf sei-
dem Jahr 2000, Apple brachte nem iPhone benutzt Gollnick
das Produkt iMessage erst 2011 trotzdem meistens den Kurz-
auf den Markt. Funknetzbetrei- nachrichtendienst WhatsApp.
ber e*Message hat also die äl- »Da funktionieren die Familien-
DAVID OLIVEIRA

teren Rechte – was beim Mar- verteiler einfach besser.«


kenschutz eine Rolle spielt. Martin U. Müller
Gollnick will erreichen, dass Mail: martin.mueller@spiegel.de
Apple den Namen nicht für Twitter: @MartinUMueller
professionelle Anwendungen Unternehmer Gollnick: »Wir sind nicht blöd«

87
Wirtschaft

Stadt der Träumer


China Der Hunger des Westens nach Elektronik hat Shenzhen reich gemacht. Jetzt wollen die
Bewohner der Metropole beweisen, dass sie nicht nur Kopierer, sondern auch Erfinder sind.

A
ls Shannon Hoover zum ersten jemanden finden, der ihn produziert, des- Hoover nimmt die Rolltreppe in den ers-
Mal in seinem Leben den Boden halb ist er nach Shenzhen zurückgekehrt. ten Stock. Er will in einem Geschäft 50
von Shenzhen betrat, erwartete Hoover tritt auf die Straße vor dem USB-Kabel besorgen. »Good quality«, ruft
er eine graue Stadt. Hoover war Gründerzentrum und winkt ein Taxi he- Hoover dem Verkäufer zu, als handle es
in Hongkong gelandet, der glitzernden, ran. Er will zum Elektronikmarkt am an- sich um ein Stück Fleisch beim Metzger.
westlichen Finanzmetropole. Jetzt lief er deren Ende der Stadt. Das Taxi kämpft Der junge Mann nickt.
durch das verschlungene Grenzgebäude hi- sich durch den Mittagsverkehr, draußen Einmal, erzählt Hoover, habe er für sei-
nüber nach Shenzhen. Die Beamten an der ziehen halb fertige Bürotürme vorbei, die nen Baukasten ein Spezialteil gebraucht,
Passkontrolle kamen ihm vor wie Soldaten. aussehen wie offene Wunden. das es so nicht zu kaufen gab. Er wandte
Hoover, ein bärenhafter Kanadier, dachte: Als der Reformer Deng Xiaoping vor sich an einen Händler auf dem Markt.
So sieht also der Kommunismus aus. 40 Jahren beschloss, den Kapitalismus »Nach einer halben Stunde war das Teil
Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, was nach China zu lassen, fiel seine Wahl un- fertig«, sagt Hoover.
ihn auf der anderen Seite erwartete: eine ter anderem auf Shenzhen, das damals Der Markt ist eine Trendbörse für neue
Stadt, die von oben aussieht wie Manhat- 30 000 Einwohner hatte und inmitten ei- Elektronikprodukte. Manche Dinge, die
tan. Eine Stadt voller Parks. Eine Stadt, nes Sumpfgebiets lag. Deng glaubte, dass es hier zu kaufen gibt, sind wilde Eigen-
durch die Busse mit Elektroantrieb fahren. in China einige »zuerst reich werden müs- kreationen. Andere sind offensichtliche
Ein chinesisches Wunder. sen«, um das Land aus seiner Rückstän- Fälschungen.
Shannon Hoover, 44, sitzt in einem der digkeit zu holen, und erklärte Shenzhen Während es im Silicon Valley als Tod-
Gründerzentren, in denen sie in Shenzhen zur Sonderwirtschaftszone. sünde gilt, fremde Ideen zu kopieren, ist
die Zukunft erfinden. Auf dem Gang ste- Es dauerte nicht lange, bis die ausländi- dies in China nicht unbedingt verpönt.
hen geschwungene Holzskulpturen, es sche Elektronikindustrie die Region ent- Schon die alten chinesischen Philosophen
riecht nach frischem Beton. Hoover ist deckte. Shenzhen und die benachbarten glaubten, dass der Weg zur Perfektion nur
zum 16. Mal in der Stadt. Gemeinden wurden zur Fabrik der Welt, über Nachahmung führt. Für das Kopieren
Jeder, der irgendwo auf der Welt Elek- sie fertigten das, was der Weltmarkt ver- von Elektronikartikeln gibt es auf Manda-
tronik verkaufen wolle, komme früher langte: erst Radios und Fernseher, dann rin ein eigenes Wort: »Shanzhai«. Nach-
oder später nach Shenzhen, sagt David Li, DVD-Player und Smartphones. Mehrmals dem die Fabriken um Shenzhen jahrelang
einer der größten Kenner der dortigen musste die Lokalregierung das Stadtgebiet wie Söldner für ausländische Firmen gear-
Technologieszene. Im Norden schließen erweitern, so schnell fraßen sich neue beitet hatten, entdeckten sie irgendwann
sich Hunderte Fabriken wie ein Ring um Wohnsiedlungen und Fabriken ins Um- ein noch lukrativeres Modell: das Shan-
die Stadt. Der taiwanische Konzern Fox- land vor. zhai-Geschäft.
conn schraubt in Shenzhen iPhones für Heute ist Shenzhen eine Metropole der Der Begriff Shanzhai steht neben dem
Apple zusammen. Superlative: Heimat für bis zu 20 Millio- Plagiieren auch für die Kunst, aus den Mög-
Der Hunger der Welt nach billiger Elek- nen Menschen, Sitz von mehr als hundert lichkeiten das Beste zu machen, für die Mi-
tronik hat aus dem einstigen Provinznest börsennotierten Firmen. schung aus Chuzpe und Geschäftssinn.
eine wohlhabende Metropole gemacht; ei- Shannon Hoover hat den Elektronik- Der Mann, den sie den »König der Ko-
nen Magneten für Glücksritter und Ge- markt erreicht. Er läuft an einer Filiale von pierer« nennen, residiert hoch über der
schäftemacher aus aller Welt. Eine Stadt Kentucky Fried Chicken vorbei, hinein in Stadt. Im 22. Stock eines gläsernen Wol-
der Träumer. ein mehrstöckiges Gebäude, von denen es kenkratzers hat sich Robin Wu, 34, sein
Shannon Hoover, ein studierter Infor- in der Gegend gut ein Dutzend gibt. Händ- Reich erschaffen. In der Ecke steht ein zu
matiker, arbeitete daheim im kanadischen ler dösen hinter Glastheken, von der De- einem Beamer umfunktionierter Reisekof-
Calgary lange in der IT-Abteilung einer cke fällt Neonlicht. In schuhkartongroßen fer. Die Wände sind verkleidet mit riesigen
Fluggesellschaft. Dann eröffnete er mit sei- Verkaufsabteilen stapeln sich Handyhüllen Bildschirmen. Wu sitzt davor wie Captain
ner Frau Maria Elena eine Kunstgalerie und zu dicken Bündeln zusammenge- Kirk auf der Brücke der »Enterprise«, die
und begann sich für die Verschmelzung schnürte Kabel. Füße in Badeschlappen aus Gummi.
von Mode und Technologie zu interessie- Wu war der Erste, dem es gelang, das
ren. Vor einem Jahr entwickelte Hoover iPad von Apple zu kopieren. Sagt er. Wu
einen Baukasten, mit dem jeder futuristi- nahm das Tablet auseinander wie einen
sche Kleider erschaffen kann: Röcke mit toten Fisch und baute es nach. Seine Ei-
blinkenden LED-Leuchten am Saum, genkonstruktion bot er für ein Drittel des
Rucksäcke, die ihre Farbe ändern, sobald Originalpreises auf dem Elektronikmarkt
ihnen jemand zu nahe kommt. »Wearable Peking von Shenzhen an. 10 000 Stück habe er
technology« nennt Hoover das, tragbare verkauft und damit eine halbe Million Dol-
Technologie. CHINA lar verdient, sagt Wu. Sogar CNN habe
Im Netz stieß seine Idee auf Begeiste- über ihn berichtet.
rung. Per Crowdfunding sammelte Hoover Shenzhen Inzwischen will Wu mit dem Fälscher-
rund 20 000 Euro ein. 200 Menschen wol- gewerbe nichts mehr zu tun haben. Mit
len seinen Baukasten haben. Nun muss er Plagiaten könne man zwar schnell reich

88 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Elektronikmarkt, Erfinder Saoirse, Wu: Der Pioniergeist wird vom Geld verdrängt

FOTOS: Theodore Kaye / DER SPIEGEL 89


sehen wie in Brooklyn oder Berlin. Selbst
der einst so chaotische Elektronikmarkt
hat sich herausgeputzt. In der neu gepflas-
terten, mit Blumen bepflanzten Fußgän-
gerzone patrouillieren jetzt Verkehrspoli-
zisten. In Deutschland würde man das,
was gerade in Shenzhen passiert, Gentri-
fizierung nennen. Der Pioniergeist wird
vom großen Geld verdrängt.
An einem wolkenverhangenen Tag sitzt
eine junge Frau in Flipflops und Shorts in
einem Hotelzimmer, weit weg vom schil-
lernden Zentrum Shenzhens. Unter dem
Schreibtisch rumpelt ein 3-D-Drucker. Im
Raum liegt Werkzeug herum.
Die junge Frau soll an dieser Stelle
Saoirse heißen. Um sie zu schützen. Weil
sie nicht nur nette Dinge über China zu
Roboter in Shenzhen: Aufräumen, kochen, den Kindern beim Lernen helfen sagen hat. Den Namen hat sie sich selbst
ausgesucht. Saoirse ist irisch und bedeutet
Freiheit.
werde, sagt er, aber eines verschafften sie chen Kerlchen die Hand: dem Spielzeug- Seit ein paar Monaten wohnt Saoirse in
einem nicht: Respekt. Wu öffnet eine Fo- roboter »Alpha«. dem Hotelzimmer. Sie zog mit 23 Jahren
tostrecke auf seinem Computer, die ihn in Zhou Jian, 42, der Schöpfer von »Al- von zu Hause aus, was ungewöhnlich ist
Äthiopien und Ruanda zeigt. Sein Geld pha«, interessierte sich schon als Sieben- für China, wo junge Menschen oft bis zur
verdiene er heute in Afrika, erzählt er. Die jähriger für Roboter. Als Erwachsener zog eigenen Hochzeit bei ihren Eltern wohnen.
Produktionskosten seien dort noch billiger er von Shanghai nach Shenzhen und bas- Die Schule hat sie abgebrochen, weil sie
als in Asien. Er wirkt wie ein hochzufrie- telte jahrelang an einer Robotersteuerung. mit dem autoritären System nicht zurecht-
dener Mann. 2016 verschaffte ein Auftritt auf CCTV sei- kam. Die Lehrer hätten den Schülern
Chinesen waren einst große Erfinder. ner Firma Ubtech den Durchbruch: Bei ei- Nummern gegeben, erzählt sie. Irgend-
Sie entdeckten das Papier und bauten den ner Gala zum Neujahrsfest tanzten 540 wann hielt sie es nicht mehr aus.
Kompass. Doch im 19. Jahrhundert häng- »Alpha«-Männchen im chinesischen Fern- Damals begann sie, mit Elektronik zu
ten Europa und Amerika China ab. Man- sehen, Weltrekord. experimentieren. Sie lieh sich von einem
che sagen, das strenge chinesische Schul- Heute verkauft Zhou seine Roboter in Freund einen 3-D-Drucker und ging eine
system sei dafür verantwortlich. Andere 40 Ländern. Er ist Milliardär und Chef Zeit lang fast jeden Tag in eines der
geben Konfuzius die Schuld, der lehrte, von 1000 Mitarbeitern. Nächstes Jahr will cleanen Shenzhener Gründerzentren. Die
dass man Autoritäten nicht hinterfragen er Ubtech an die Börse bringen. Zhou Miete dort könne sie sich heute nicht mehr
soll. Während die Industrialisierung den glaubt, dass Maschinen den Menschen leisten, sagt sie.
Westen nach vorn katapultierte, blieb Chi- schon bald alle lästigen Aufgaben abneh- Nun bastelt sie in ihrem Hotelzimmer
na nur die Rolle der Copycat, die es mit men werden: aufräumen, kochen, den an ihren Sachen. Ihre neueste Erfindung
fremdem geistigen Eigentum nicht so ge- Kindern beim Lernen helfen. Er habe eine besteht aus einem u-förmigen Plastikrohr
nau nahm. Vision, sagt Zhou: »In Zukunft soll in je- aus dem Baumarkt. Die Enden sind mit
Nun soll in China ein neues Erfinder- dem Haushalt ein Roboter von Ubtech einem Ledergürtel verbunden wie bei ei-
zeitalter anbrechen. »Made in China 2025« stehen.« ner Handtasche. In dem Rohr stecken Sen-
heißt der Plan, der das Land in zehn Gründer wie Zhou Jian verschmelzen soren, die Temperatur, Feuchtigkeit und
Schlüsselbranchen in Führung bringen soll. die alte Elektronikindustrie und die neue den Staub in der Luft erfassen. Noch ist
Amerika fühlt sich von diesen Ambitionen Welt des Internets, Hardware und Soft- das Gerät ein Provisorium, aber es funk-
bedroht. Der Handelskrieg, den Donald ware. So sind in Shenzhen in den ver- tioniert: Die Sensoren messen die Luft-
Trump angezettelt hat, soll Chinas Auf- gangenen Jahren Unternehmen entstan- qualität – dort, wo der Träger sich gerade
stieg vom Schwellenland zur Technologie- den, die in ihrer Branche zur Weltspitze befindet.
nation verhindern. gehören. Sie hoffe, mit ihrer Messstation mehr
Doch Shenzhen hat sich längst auf den Der Autobauer BYD (kurz für »Build Bewusstsein für die Luftverschmutzung
Weg dahin gemacht. Jeder in der Stadt will Your Dreams«) hat geschafft, woran seine in China zu schaffen, erzählt Saoirse. Viel-
jetzt mit Ideen Geld verdienen. Ein ehe- deutschen Konkurrenten bislang scheitern: leicht erwächst daraus irgendwann ein
maliger Foxconn-Ingenieur baut nun elek- serienreife Elektrobusse auf den Markt zu Unternehmen, vielleicht auch nicht. »In
tronische Fußfesseln. Ein junger Mann in bringen. Als London seine Doppeldecker- Shenzhen geht es nur ums Geschäft«, sagt
der U-Bahn trägt ein T-Shirt mit dem Auf- flotte erneuern wollte, bestellte die Stadt sie. Das stößt sie ab. Sie will, dass ihre
druck »Don’t copy trends, create them«. bei BYD. Ideen etwas verändern, der Gesellschaft
Der Manager einer Firma für Industrie- Der Drohnenhersteller DJI, noch so nützen.
design zeigt stolz seine preisgekrönten eine Shenzhener Erfolgsgeschichte, mach- Sie denkt darüber nach, Shenzhen zu
Kreationen. Früher habe das Unternehmen te aus einem Fluggerät, mit dem nur Nerds verlassen. China sei nur auf den ersten
eine eigene Shanzhai-Abteilung unterhal- etwas anfangen konnten, ein Produkt für Blick ein Land der unbegrenzten Möglich-
ten, sagt er. Aber die habe man längst ge- die Massen. keiten, sagt sie. »Du bist so lange frei, wie
schlossen. Der Boom hat Shenzhen verändert. du dich an die Spielregeln hältst.«
Als Angela Merkel im Mai Shenzhen Schäbige Wohntürme weichen Shopping- Sie will nach Amerika. Oder nach
besuchte, schüttelte sie bei der Eröffnung malls. Überall wachsen Hightechparks und Deutschland. Ann-Kathrin Nezik
eines Innovationszentrums einem niedli- Coworking Spaces empor, die genauso aus-

90 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Wirtschaft

Geschickt vertuscht
Beide Banken hatten ein anderes Problem:
Sie hatten sich im großen Stil mit so-
genannten ungedeckten Bankschuldver-
schreibungen (UBSV) Geld beschafft.
Diese Schuldscheine sind nur durch das
Finanzkrise Die Bundesbank hat bei der Rettung der Krisenbank HRE Versprechen einer Bank gedeckt, den per
im Herbst 2008 offenbar keine gute Rolle gespielt. Sie drängte wohl UBSV geliehenen Betrag bei Fälligkeit zu-
auf eine Staatsgarantie, um eigene Risiken und Fehler zu kaschieren. rückzuzahlen. Anders als bei klassischen
Krediten können Gläubiger bei einer Plei-
te des Schuldners nicht auf eine Immobilie

D as Treffen war ein Krisengipfel.


Knapp zwei Wochen nach dem
Crash der amerikanischen Invest-
mentbank Lehman Brothers am letzten
Entscheidung der Krisenmanager weit we-
niger glorreich erscheinen lässt. Denn nach
Recherchen des SPIEGEL diente die Ret-
tung der Hypothekenbank auch dazu, ein
oder andere Sicherheiten zurückgreifen,
die sich zu Geld machen ließen. Sie sind,
um es klar zu sagen, extrem risikoreich.
UBSV werden deshalb von den großen
Septemberwochenende 2008 versammel- massives Versagen der deutschen Banken- Notenbanken meist nicht als Pfand akzep-
ten sich in den Frankfurter Geschäftsräu- aufsicht zu vertuschen und davon abzu- tiert, wenn sich Kreditinstitute Geld bei
men der deutschen Finanzaufsicht BaFin lenken, dass die Bundesbank selbst ihnen leihen. So handhaben es die Bank
die damals wichtigsten Männer der deut- schlecht gesicherte Papiere und damit Ri- of England, die amerikanische Federal Re-
schen Finanzszene und eine Finanzaufse- siken in Höhe von Hunderten Milliarden serve, die Bank of Japan oder die Schwei-
herin. Unter anderem waren Bundesbank- Euro in ihren Büchern stehen hatte. Bun- zerische Nationalbank.
präsident Axel Weber, BaFin-Chef Jochen desbankchef Weber und Chefaufseher Sa- Anders die Europäische Zentralbank
Sanio und Deutsche-Bank-Chef Josef nio rangen der Bundesregierung eine Ent- (EZB). Bei ihrer Gründung gerieten die
Ackermann anwesend, auch dessen Kolle- scheidung ab, mit der diese Risiken am zweifelhaften UBSV irgendwie auf die Lis-
ge Martin Blessing von der Commerzbank. Ende in den Griff zu bekommen waren – te der akzeptierten Sicherheiten, gegen die
Dazu eine wichtige Frau: Sabine Lauten- die genauen Zusammenhänge waren der Banken sich Geld beschaffen konnten. Was
schläger, damals Abteilungsleiterin bei der Politik aber offenbar nicht klar. bedeutet, dass die EZB diese unsicheren
Finanzaufsicht BaFin. Zwar wurden Bundeskanzlerin Angela Papiere genauso behandelte und akzeptier-
Sie diskutierten die Frage, wie man den Merkel (CDU) und Finanzminister Peer te wie weitaus sicherere Wertpapiere.
Zusammenbruch der schwer angeschlage- Steinbrück (SPD) gegen Ende telefonisch Im Lauf der Jahre sammelten sich des-
nen Hypothekenbank Hypo Real Estate zugeschaltet. Ihre Berater, Jens Weidmann halb immer mehr der riskanten UBSV bei
(HRE) verhindern könne. Man einigte sich für die Kanzlerin und Finanzstaatssekretär den Notenbanken des Eurosystems an –
auf eine Garantie der Bundesregierung, Jörg Asmussen, saßen aber nicht mit am während private Banken für das Verleihen
das Problem HRE wurde damit vor allem Verhandlungstisch, verstanden laut Insidern untereinander lieber auf sichere Pfandbrie-
auf Kosten der Steuerzahler gelöst. Die allerdings auch zu wenig von der Sache. fe setzten. Anders gesagt: Die unsicheren
Beteiligten verklärten ihre Rettungsaktion Erst gegen Ende des Treffens stieß Asmus- Papiere wurden zu den Notenbanken ge-
später zu einer Art Heldentat, die den sen zu der Runde in Frankfurt. schoben, die sicheren behielten die Privat-
Zusammenbruch des deutschen Finanz- Das Hauptproblem der HRE und ihrer banken.
systems verhindert habe. irischen Tochter Depfa war – anders als Zu Beginn des Jahrtausends lagen bei
Dabei hatte die Rettung der HRE noch bei anderen Banken – weniger die ameri- der Bundesbank noch notenbankfähige
einen ganz anderen Hintergrund – der die kanische Immobilienkrise und ihre Folgen. Sicherheiten in Höhe von 405 Milliarden

MARIO VEDDER / DDP IMAGES

Bundesbankpräsident Weber vor der Frankfurter Zentrale 2011: »Zu sehr auf einzelwirtschaftliche Gesichtspunkte gestützt«

91
Wirtschaft

mung der anderen Notenbanken gebraucht.


Wie 2008 die Staatsgarantie für die angeschlagene Hypo Real Estate (HRE) zustande kam Die hätte er natürlich bekommen.« Ein
Experte aus dem Umfeld der EZB bestätigt
Die HRE und ihre irische Tochterbank Die Bundesbank selbst Um die HRE zu stützen,
Depfa handeln in großem Stil mit hat beim Geldverleih in großem wird (statt einer Liquiditäts-
diese Darstellung.
ungedeckten Bankschuld- Umfang UBSV als Sicherheit hilfe der Bundesbank) eine Doch Weber und die übrigen Anwesen-
verschreibungen (UBSV). akzeptiert und sitzt auf hoch- Staatsgarantie durchgesetzt. den setzten die Staatsgarantie am Ende
Nach Ausbruch der Banken- riskanten Papieren. Das Konkursrisiko landet durch, bis heute mussten die Steuerzahler
krise verlieren diese dramatisch so vor allem beim mit rund 21 Milliarden Euro für die Ret-
an Wert. Steuerzahler. tung der HRE einstehen, hat der Grünen-
Abgeordnete Gerhard Schick errechnet.
Von der Möglichkeit, stattdessen einen
Notkredit der Bundesbank aufzulegen,
München
von Banken hinter-
legte Sicherheiten
802 Mrd. € hat der damalige Finanzminister Peer
Steinbrück nach eigenen Angaben nie er-
405 Mrd. € fahren. »Wenn auch nur einer der Fach-
leute aus den genannten Bereichen mir
44 % das Instrument einer ELA als grundlegen-
Dublin de Therapie vorgeschlagen hätte, wäre
15% davon UBSV
dies mit Sicherheit geprüft worden. Das
2000 2008 erfolgte aber nicht«, erklärt er heute.
Warum Weber, Sanio und Lautenschlä-
ger diesen Weg nicht vorschlugen, bleibt
Euro, der Anteil der heiklen UBSV darin für die am Ende die deutsche Mutter- ihr Geheimnis. Keiner der damals Betei-
betrug nur 61 Milliarden Euro, rund 15 Pro- gesellschaft HRE haften würde? ligten will sich zu den Vorgängen vom letz-
zent. Im Jahr 2008, dem Jahr der Krise, So schwappte die Krise nach Deutsch- ten Septemberwochenende 2008 äußern.
waren die Sicherheiten deutscher Ge- land: Plötzlich benötigte die Muttergesell- Die Staatsgarantie kaschierte ihre eigenen
schäftsbanken für Geldgeschäfte mit der schaft HRE schnell viel Geld, um die Dep- Fehler – und half gleichzeitig der Deut-
Bundesbank auf 802 Milliarden Euro an- fa zu finanzieren – und sich selbst über schen Bank und anderen deutschen Kre-
geschwollen, und sie bestanden nun zu Wasser zu halten. Weil es aber auch HRE- ditinstituten. Denn die Kurse ungedeckter
44 Prozent aus ungedeckten Bankschuld- Chef Georg Funke nicht gelang, die Mil- Bankschuldverschreibungen erholten sich
verschreibungen, mit einem Gesamtwert liarden von anderen Banken zu leihen, unmittelbar nach der HRE-Garantie.
von sagenhaften 353 Milliarden Euro. kam es zu dem legendären Frankfurter Bleibt am Ende die Frage, warum die
Das waren 80 Prozent aller vom Euro- Rettungswochenende. BaFin und die Bundesbank das System der
system angenommenen UBSV in Gesamt- Zumindest der damalige Bundesbank- ungesicherten Wertpapiere überhaupt so
höhe von 442 Milliarden Euro. Mit ande- chef Axel Weber dürfte dabei gewusst ha- lange toleriert haben. Die ständig wachsen-
ren Worten: Die Bundesbank hatte ein ben, dass es nicht nur um die Zukunft der de Zahl von UBSV hätte gerade Sabine
enormes Klumpenrisiko in ihren Büchern. HRE ging, sondern auch um die Bundes- Lautenschläger auffallen müssen, die da-
Und dieses Risiko wurde zum Problem, bank und sein Ansehen. Denn ein Zusam- mals Leiterin der Abteilung BA1 und damit
als am 15. September 2008 Lehman menbruch der HRE hätte womöglich zu für die »Aufsicht über Großbanken und
Brothers zusammenbrach. einem weiteren Werteverfall der UBSV ge- ausgewählte Kreditbanken« zuständig war.
Durch den Zusammenbruch verloren führt. Und weil die Bundesbank viele der Ihr tatenloses Zuschauen begründet die
die UBSV drastisch an Wert, die Banken Papiere in ihren Büchern hatte, drohte die BaFin heute damit, dass zu der Zeit ein
trauten einander nicht mehr. Das bekam Gefahr, dass diese ein Milliardenloch in anderer Aufsichtsansatz verfolgt wurde.
auch die Depfa zu spüren, die kurz zuvor die Bilanz reißen. Man habe sich »zu sehr auf einzelwirt-
von der HRE übernommen worden war, Der Bundesbankchef brauchte also ein schaftliche Gesichtspunkte gestützt« und
ihren Sitz in Dublin hatte und sich im gro- Mittel, um den Wertverfall der UBSV zu »gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge
ßen Stil über die Ausgabe von UBSV mit stoppen. So verlangte Weber während der vernachlässigt«. Dies sei jedoch ein welt-
kurzen Laufzeiten finanziert hatte. Krisensitzung immer wieder eine Garantie weites Phänomen gewesen.
Bereits am Tag nach der Lehman-Pleite der Bundesregierung und der Banken für Auch die Bundesbanker unternahmen
wollte niemand mehr der Depfa ihre die Papiere der HRE. Ohne die könne das nichts, obwohl das Regelwerk der Euro-
Papiere abkaufen. In ihrer Not wandte Eurosystem, also die EZB, keinen Notkre- zone das durchaus erlaubt hätte. »Die Auf-
sich die Depfa an die für sie zuständige dit gewähren, eine sogenannte Emergency sicht hat offensichtlich vor der Krise ver-
irische Notenbank, die Central Bank of Liquidity Assistance (ELA). sagt, denn sie hat die systemischen Risiken
Ireland (CBI), um dort an frisches Geld zu Damit verwirrte Weber die Runde dop- wohl nicht erkannt. Das betrifft die BaFin,
kommen. pelt: Zum einen darf die EZB solche Not- aber auch die Bundesbank, insoweit sie
Doch die eingereichten Sicherheiten kredite gar nicht gewähren, eine ELA liegt daran mitzuwirken hatte«, sagt Finanz-
verloren drastisch an Wert, und je tiefer ausschließlich im Ermessen der zuständi- experte Volker Wieland, einer der fünf
der Marktwert der Papiere sank, desto we- gen Zentralbank, in diesem Fall also der Wirtschaftsweisen.
niger Geld rückte die CBI dafür heraus. Bundesbank. Außerdem verfügte die HRE Die EZB zumindest hat ihre Lehren aus
Am Ende fehlten der Depfa 17 Milliarden offenbar über genügend Sicherheiten, um dem Vabanquespiel mit den UBSV gezo-
Euro, die von der irischen Notenbank als ihr eine solche Kreditlinie zu gewähren – gen. Heute spielen die gefährlichen Pa-
Abschlag erhoben wurden. auch ohne Staatsgarantie. piere bei Geldgeschäften mit Notenbanken
Die irische Zentralbank hätte der Depfa »Weber hätte während dieses Wochen- des Eurosystems fast keine Rolle mehr,
in diesem Moment mit einem Notkredit endes oder sogar davor eine Emergency ihr Einsatz wurde durch zahlreiche EZB-
helfen können, ließ sie jedoch hängen. Wa- Liquidity Assistance für die HRE auflegen Regeln drastisch eingeschränkt.
rum auch sollte die kleine irische Noten- können«, sagt ein gut informierter Insider. Matthias Brendel
bank einer Bank aus der Patsche helfen, »Er hätte dafür nur die telefonische Zustim-

92 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Maine – für 750 000 Dollar und mit der
Zustimmung des ehemaligen Technikchefs
Lufthansa Firmenchef Spohr legt sich mit Luftfahrtfans an. Er will die August Wilhelm Henningsen sowie von
Rekonstruktion eines Flugzeug-Oldies stoppen – weil die Ex-Konzernchef Jürgen Weber. Ziel war,
Kosten aus dem Ruder laufen und er den Zorn der Aktionäre fürchtet. aus den schrottreifen Stahlröhren und Ein-
zelteilen wieder eine einzige flugtüchtige
Maschine zu bauen.

A n die Hauptversammlung Anfang


Mai in der Frankfurter Jahrhundert-
halle denkt Lufthansa-Chef Carsten
Spohr, 51, gern zurück. Sichtlich geschmei-
des Abenteuer beenden, in dessen Mittel-
punkt ein Flugzeug steht, das wie kaum
ein anderes als Symbol für herausragende
Ingenieurskunst und den Wiederaufstieg
»Dieses Projekt ist einmalig in der Welt«,
schwärmte Connie-Schutzbeauftragter We-
ber. Dass es auch einmalig teuer werden
würde, ahnte er damals noch nicht. Sein
chelt nahm Spohr die Huldigungen seiner der Lufthansa nach dem Krieg gilt: die Nachfolger als Vorstandschef, Wolfgang
Anhänger entgegen, die den Rekordge- legendäre Super Constellation aus der Mayrhuber, war ähnlich begeistert: »Jeder,
winn lobten. Baureihe des US-Herstellers Lockheed. der ein Herz für Technik hat, engagiert sich
Kurz vor Schluss wurde es allerdings Das Modell geht auf eine Idee des so für die Super Connie«, jubelte er.
spannend. Ob es denn stimme, dass die genialen wie exzentrischen Multimillio- Die Einzelteile sollten in einem eigens
Lufthansa mit der Restaurierung eines närs Howard Hughes zurück und gilt mit errichteten Hangar im US-Staat Maine in
Flugzeug-Oldies vom Typ Lockheed Su- seinem hochbeinigen Fahrwerk und dem Auburn Hills zusammengeschraubt wer-
per Star bis zu 200 Millionen Euro ver- filigranen Dreifach-Seitenleitwerk bei sei- den, die Kosten bei maximal 20 Millionen
senkt habe und das Projekt deshalb einstel- nen Fans als das schönste je gebaute Flug- Euro liegen. Bereits ab 2010 sollte der Old-
le, wollte ein Aktionärsschützer wissen. zeug der Welt. Die Lufthansa flog nach ih- timer der Lüfte wieder einsatzfähig sein
Spohr war vorbereitet, er moderierte rer Neugründung ab 1955 mit der von vier und Luftfahrt-Connaisseure in geringer
das Thema elegant ab: Man habe allenfalls Propellermotoren betriebenen Super Con- Flughöhe extrem luxuriös und zu üppigen
rund 150 Millionen Euro verbraten, ver- nie erstmals wieder Langstrecken in die Preisen von Hamburg über den großen
sicherte er, ein Drittel davon hätten Spon- USA, zum Beispiel von Hamburg über Teich befördern.
soren beigesteuert. In den nächsten Wo- Düsseldorf nach New York. Bis zu 80 Techniker und Monteure wa-
chen oder Monaten, teilte er beiläufig mit, Die mondänen Flieger kamen zwar we- ren in Auburn zu Spitzenzeiten beschäf-
werde das halb fertige Flugzeug ohnehin nige Jahre später mit der Erfindung des tigt. Sie leisteten in ihrer Begeisterung mas-
aus den USA nach Deutschland überführt. Düsentriebwerks wieder aus der Mode und senhaft unbezahlte Überstunden. Trotz-
Dann sehe man weiter. wurden peu à peu aus dem Verkehr gezo- dem kam das Projekt nicht so recht voran.
Dass die Maschine, anders als geplant, gen. Luftfahrtfreaks und Retro-Anhänger Um neuzeitlichen Flugvorschriften zu
nie wieder fliegen würde, sparte Spohr be- in aller Welt aber stört das wenig: Sie ver- entsprechen, mussten manche Teile und
wusst aus – aus gutem Grund. Denn was ehren die Super Connie und ihre letzte Systeme wie die Avionik komplett neu
der Lufthansa-Chef da verkündete, war Variante Super Star, von der nur 44 Exem- konstruiert und gebaut werden, in Hand-
ein Sakrileg. Bloß merkte das in dem Mo- plare gebaut wurden, bis heute. arbeit. Das dauerte – und die Kosten liefen
ment kaum jemand. Einen besonders großen Fanklub gab aus dem Ruder.
Ausgerechnet Spohr, der gelernte Pilot, und gibt es offenbar bei der Lufthansa. Lieferanten wie Airbus, Boeing, GE
will ein seit mehr als zehn Jahren andauern- Das Unternehmen kaufte Ende 2007 drei oder Pratt & Whitney wurden gedrängt,

PORSCHE AG

Ankunft von Super-Connie-Passagieren 1960 in Stuttgart zum Porsche-Probefahren: Onlinepetition von 8500 Retro-Anhängern

94 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


sich als Sponsoren an dem Vorhaben zu
beteiligen, was sie auch taten. Je nach
Geldsumme bekamen sie einen Status als
»Silber«-, »Gold«- oder sogar »Diamond«-
Partner. Das Interesse war allerdings be-
grenzt, weil die Unternehmen sich sonst
dem Verdacht der unzulässigen Beeinflus-
sung eines Kunden ausgesetzt hätten. Der-
weil rückte der geplante Termin für den
Jungfernflug immer weiter in die Ferne.
Zuletzt war von 2019 die Rede.
Im vergangenen Jahr spitzte sich die Si-
tuation zu: Ein Fehler im Sprinklersystem
sorgte dafür, dass in der Konstruktions-
halle in Auburn Alarm ausgelöst wurde
und der Hangar bis zu sieben Meter hoch
mit Feuerlöschschaum volllief. Später
musste sich die Lufthansa auf gerichtli-
chen Druck hin mit einer Gruppe von
Monteuren in Auburn auf einen Vergleich
einigen und ihnen einen Millionenbetrag
an entgangenen Überstundenzuschlägen
nachzahlen.
Fortan war klar, dass der Arbeitseinsatz

Das Nachrichten-Magazin
der Flugzeugbauer künftig ähnlich vergü-
tet werden musste wie ein ganz normaler
Industriearbeitsplatz in den USA, also mit
einem stattlichen Aufgeld ab der 40. Stun-
de. In der Vergangenheit hatten die Con-
nie-Restauratoren teilweise mehr als 60
Stunden pro Woche geschraubt und ge-
schweißt. Das Werkeln an der Maschine
für Kinder.
wäre künftig also noch einmal deutlich teu-
rer geworden.
Auch deshalb zog der Lufthansa-Chef
Konsequenzen: Carsten Spohr stoppte das
Projekt. Jetzt
testen:
Dabei hatten mehr als 8500 Connie-
Fans in einer Onlinepetition von ihm ver-
langt, die Arbeiten fortzuführen. Aber
Spohr will sich offenbar von Aktionärsver- www.deinspiegel.de
tretern nicht vorhalten lassen, er habe aus
übertriebener Luftfahrtnostalgie mutwillig
Unternehmensvermögen verschleudert.
Ein Großteil der verbliebenen Ange-
stellten in Auburn hat bereits die Kündi-
gung erhalten. Auch die Flügel wurden
schon abgeschraubt. Im Anschluss soll die
halb fertige Maschine in Einzelteile zer-
legt und nach Deutschland gebracht wer-
den. Dort wird sie erst einmal eingelagert,
bis eine dreiköpfige Lufthansa-Sonder-
kommission entschieden hat, was mit ihr
passieren soll.
Vielleicht wird das Modell ja am Frank-
furter Flughafen ausgestellt. Ein Vorbild
dafür gibt es bereits am Münchner Airport.
Dort steht seit 2001 eine Super Connie in
Lufthansa-Originalbemalung im Besucher-
park. Der Flugzeug-Oldie ist schon aus der
Ferne an seinem walfischförmigen Rumpf
und dem kessen Heckspoiler zu erkennen.
Zieht der Frankfurter Flughafen nach,
gäbe es für die Connie-Fans in Deutsch-
land bald eine weitere Pilgerstätte.
Immerhin. Dinah Deckstein

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Ausland
»Stephen Bannon wird in Osteuropa empfangen wie der Stellverteter Gottes.« ‣ S. 100

ESTEBAN BIBA / SHUTTERSTOCK


Sicherheitskräfte in Guatemala halten eine Karawane von Männern, Frauen und Kindern auf, die sich aus
Honduras auf den Weg nach Norden gemacht hatte, um in den USA Asyl zu beantragen. Wie schon
im April fliehen die Ärmsten vor Gewalt und Verfolgung durch kriminelle Banden. Präsident Donald Trump
drohte damit, zentralamerikanischen Ländern Hilfszahlungen zu streichen, sollten sie die Migranten nicht
stoppen, und die Grenze zu Mexiko militärisch abzuriegeln.

Analyse

Zoff der Patriarchen


Warum der orthodoxen Kirche die Spaltung droht

Eines der Schlagworte, mit denen der Kreml 2014 die Annexion es ihnen gelungen, den ranghöchsten Führer der orthodoxen
der Krim rechtfertigte, war das von der »Russischen Welt«, Christenheit, den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, zu
dem »Russki Mir«. Gemeint ist eine eigene russische Zivilisation, bewegen, der Loslösung zuzustimmen. Der hat seinen Sitz in
die sich fundamental vom Westen unterscheidet und weit über Istanbul, dem ehemaligen Konstantinopel. Moskau sieht darin
Russlands Staatsgrenzen hinausreicht. eine unrechtmäßige Annexion kirchlichen Territoriums. Der
Als Kampfbegriff taugte »Russki Mir« gut, weil er sakral aufge- Vorwurf wäre überzeugender, hätte Kirill sich 2014 anders verhal-
laden ist. Der Moskauer Patriarch Kirill benutzt ihn, um die ten. Statt Moskaus zynische Intervention im Nachbarland zu
Nähe Kiews und Moskaus im gemeinsamen orthodoxen Glauben kritisieren, ließ er sich für sie einspannen. Kein Wunder, dass sein
und in einer gemeinsamen Kirche zu betonen. Über Kiew war Ansehen in Kiew gering ist. Nun droht ein Schisma der ortho-
das Christentum nach Moskau gekommen, kirchenpolitisch gehört doxen Welt, weil Kirills Kirche die Konkurrenz aus Konstantino-
Kiew zum Moskauer Patriarchat. pel mit Sanktionen belegt hat. In der Ukraine aber wird es span-
Was man vom »Russki Mir« auch halten mag, in diesen Tagen nend. Denn ob Bischöfe, Priester und Gläubige dem Moskauer
ist er zerbrochen. Die jahrhundertealte kirchliche Einheit ist aufge- Patriarchat die Treue halten oder zu einer neuen Nationalkirche
löst. Kiewer Politiker hatten sich seit Langem bemüht, eine unab- wechseln, bestimmen weder Kirill noch Bartholomäus, weder
hängige ukrainisch-orthodoxe Nationalkirche zu schaffen. Nun ist der Kreml noch Kiew, sondern die Menschen selbst. Christian Esch

98 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


USA
»Höchst volatil«
Philip Murphy wurde von Präsident
Barack Obama 2009 als US-Botschafter
nach Berlin entsandt. Er blieb dort
bis 2013. Seit knapp einem Jahr ist der
Demokrat Gouverneur im US-Bundes-

ELVIS BARUKCIC / AFP


staat New Jersey.

SPIEGEL: Herr Murphy, nur noch gut


zwei Wochen bis zu den Midterm-
Wahlen, sind Sie nervös?
HDZ-Plakat im bosnischen Livno Murphy: Nein, aber von diesen Wahlen
hängt mehr denn je ab, ob wir
Kroatien Bosnische HDZ-Politiker hatten Donald Trump im Repräsentantenhaus
Gefahr für den Balkan im jüngsten Wahlkampf die ethnischen und Senat einhegen können oder nicht.
Spannungen massiv angeheizt. Vieler- Selten waren Zwischenwahlen so
 Die Europäische Volkspartei, jene bür- orts hissten sie die Flagge von Herceg- bedeutend wie diesmal. Wir müssen
gerlich-konservative Fraktion im EU- Bosna, eindeutig eine Provokation. die Fehlentscheidungen dieses Präsi-
Parlament, der auch CDU und CSU an- Denn so hieß ein Gebiet, das kroatische denten reduzieren, und das können wir
gehören, hat in ihren Reihen eine Grup- Kämpfer im Bosnienkrieg Anfang der nur, wenn wir in
pierung, die derzeit den Frieden auf dem Neunzigerjahre besetzt hatten und beiden Kammern die
Balkan gefährdet. Die Kroatische Demo- in dem es zu Vertreibungen und Massa- Möglichkeit dazu
kratische Union (HDZ), die in Zagreb kern an Serben gekommen war. Als bekommen.
SPIEGEL: Sind Sie da

SETH WENIG / AP
die Regierung stellt, mischt sich in das dann bei der Wahl zum dreiköpfigen
politische Geschehen im ethnisch zerris- Staatspräsidium Anfang Oktober nicht optimistisch, was
senen Bosnien-Herzegowina ein. Um der Kandidat der HDZ, sondern ein Ihren Bundesstaat
die bosnischen Kroaten zu unterstützen, Vertreter der liberalen Demokratischen betrifft?
sponsert die HDZ eine gleichnamige Front siegte, der auf Verständigung Murphy Murphy: Das Rennen
Schwesterpartei im Nachbarstaat. Diese und Ausgleich setzt, begann Zagreb um den Senatssitz
möchte einen eigenen Landesteil, eine den Mann politisch zu demontieren. wird sehr eng werden, aber ich glaube,
sogenannte Entität, für die bosnischen Diese Wahl sei nicht gut für die bosni- wir haben gute Chancen, zu unseren
Kroaten reservieren. Ein Plan, der ein- schen Kroaten, behauptete Premier derzeit sieben Sitzen im Repräsentanten-
deutig gegen das Friedensabkommen von Andrej Plenković. Er will weiter die haus drei oder sogar vier weitere dazu-
Dayton aus dem Jahr 1995 verstößt, über radikalen Nationalisten in ihrem Kurs zubekommen. Ich kann nur hoffen, dass
dessen Einhaltung die EU wachen soll. unterstützen. JPU möglichst viele Demokraten zur Wahl
gehen, bei Zwischenwahlen schwächeln
wir manchmal, das ist die Gefahr.
SPIEGEL: Sind nicht gerade Frauen seit
Chappatte der Affäre um den Supreme-Court-
Richter Brett Kavanaugh hoch moti-
viert, zur Wahl zu gehen?
Murphy: Das stimmt, viele Frauen sind
entsetzt, wie Trump mit diesem Fall
umgegangen ist. Manche Männer wie-
derum fanden das gerade ganz gut. Der
Kavanaugh-Effekt ist schwer einzu-
schätzen. Aber noch haben wir 17 Tage,
und in einer Trump-Präsidentschaft
kann da viel passieren, wie wir wissen.
Wer ahnt schon, wie sich jetzt die
ganze Saudi-Arabien-Geschichte aus-
wirken wird. Ich war früher Banker,
und da nannten wir Situationen wie
diese höchst volatil. Noch ist das Ren-
nen offen.
SPIEGEL: Und was ist, wenn doch die
»blaue Welle« ausbleibt und die Demo-
kraten verlieren?
Murphy: Dann wird mein Bundesstaat
genau wie Kalifornien, New York und
Connecticut weiter dagegenhalten
und bei der Umwelt-, Einwanderungs-
und Gesundheitspolitik, aber auch
bei den Steuern so weit wie möglich
einen eigenen Kurs fahren. BSA

99
Ausland

Der Krieger
USA Stephen Bannon, einst Chefstratege von Donald Trump,
galt als Vordenker der Rechten. Jetzt versucht er
sein Glück in Europa. Unterwegs mit einem, der besessen ist.
Von Christoph Scheuermann

F
rüh am Morgen, ehe er seine drei mals als eine Mischung aus Mephisto,
Mobiltelefone zur Hand nimmt, Brandstifter und Intrigant, der sich mit
setzt sich Stephen Bannon in sei- Trumps Lieblingstochter Ivanka und deren
nem Schlafzimmer auf einen Ses- Mann Jared Kushner hässliche Gefechte
sel aus braunem Leder, um zu meditieren. lieferte. Im August vorigen Jahres verließ
20 Minuten Stille, dann eine Betrachtung Bannon die Regierung, nachdem Stabs-
des bevorstehenden Tages, gefolgt von Er- chef John Kelly die Zündeleien satthatte.
bauungslektüre. Im Moment studiert er Es hätte ein Neuanfang werden können,
die Geschichte der katholischen Kirche. Er aber Bannon wollte sich mit dem Verlust
sagt, die Übung helfe ihm dabei, nicht der Macht nicht abfinden. Er kehrte als
komplett durchzudrehen. »Ohne Medita- Herausgeber zur Nachrichten-Website
tion wäre ich noch irrer als jetzt.« Breitbart News zurück, die er »meine Tö-
Er sinkt in den Ledersessel neben dem tungsmaschine« nannte, aber das reichte
Bett wie ein müder Gorilla. Graue Bart- nicht. Er wollte mitmischen. Anfang des
stoppeln, strähnige Haare, rote Nase, weite Jahres zitierte der Autor Michael Wolff in
Poren. Man könnte denken, er habe abends seinem Buch »Feuer und Zorn« Bannon
zu viel Rioja getrunken, aber es waren nur mit den Worten, Ivanka sei »dumm wie
ein paar Leute aus dem Weißen Haus zu ein Ziegelstein« und Donald Jr. ein Vater-
Gast bei ihm, bis in die Nacht. Zwei, drei landsverräter.
Stunden hat er geschlafen, dann riss ihn Seine konservativen Geldgeber zogen
eine Idee, eine Nachricht, ein Gedanke aus sich daraufhin zurück, der Computer-
dem Bett, wie so oft. Bannon trinkt keinen und Hedgefonds-Milliardär Robert Mercer
Alkohol, nur Wasser, Kaffee und Red Bull. und dessen Tochter Rebekah. Am Ende
Sein Zimmer sagt: Hier lebt jemand, der verlor Bannon auch Breitbart. Plötzlich
sich im Glanz der Geschichte spiegelt, der stand er allein da, ohne Geld, ohne Freun-
besessen ist von Schlachten und Kämpfen, de, ohne Macht, ohne seine Tötungsma-
der sich mit Gewalt umgibt, Tod, Adrena- schine. Trump nannte ihn »Sloppy Steve«.
lin, Bedeutung. Auf dem Nachttisch liegen Schlampiger Steve. Alle lachten.
Bücher über Adolf Hitler und den Zweiten Er stemmt sich aus dem Ledersessel. In
Weltkrieg, daneben der ausgeblichene Kie- fünf Stunden geht seine Maschine nach
BÉATRICE DE GÉA / DER SPIEGEL

ferknochen eines Alligators, den ihm ein London, wo er bei einer Veranstaltung des
Bekannter aus Florida geschenkt hat. Der Medienkonzerns Bloomberg auftritt. Da-
Raum ist dem Schlafzimmer Abraham Lin- nach wird er sich in Paris mit Marine Le
colns im Weißen Haus nachempfunden. Pen treffen, der Chefin des rechten Ras-
»Nur viel heller und doppelt so groß«, sagt semblement National. Er redet über den
Bannon. Im Regal neben dem Bett steht Ausstieg Großbritanniens aus der EU, rus-
eine halbe Wand voll Kriegsliteratur. sische Leibeigene des 19. Jahrhunderts und
Er sagt: »Ich bin fasziniert von histori- den Rechtsruck in Europa.
schen Figuren wie Dschingis Khan, Napo- Sein neues Projekt sind die Europawah-
leon oder Admiral Nelson. Ich glaube fest len im Mai 2019. Ende Juli stellte er eine
daran, dass Individuen einen großen Ein- Stiftung mit dem Titel »The Movement« im Parterre geführt. Niedrige Decke, sti-
fluss auf den Gang der Geschichte nehmen vor, die für rechte Parteien auf dem Kon- ckige Luft, Fox News im Fernsehen. Hier
können. An Hitler fasziniert mich, wie ein tinent logistische Hilfe leisten soll: Umfra- sitzt Bannons Truppe. Der Filmemacher
Gammler aus Wien es bis an die Spitze ei- gen, Daten, Analysen, Wahlkampftraining. Daniel Fleuette, genannt Dan, packt gera-
nes Landes schaffen konnte.« Bannon sagt, er wolle seine Erfahrung aus de seinen Koffer für die nächste Reise; Ban-
Dschingis Khan, Napoleon, Hitler. Das der Trump-Zeit nutzen, aber es geht um nons Neffe Sean, der den Besucherstrom
Leben der drei ist sein Resonanzraum. Ei- mehr als Europa. Die Geschichte ist viel organisiert, schwirrt herum; ein Mann
gentlich könnte man im Schlafzimmer blei- größer. Es geht um Stephen Bannon. Es hackt auf seinen Laptop ein; eine Frau na-
ben, um diesen Mann zu erklären. geht darum, ob der Krieger noch mal eine mens Elaine sagt, sie helfe nur aus. Hin
Bannon hat zwei turbulente Jahre hin- Schlacht gewinnen kann. und wieder schaut Raheem Kassam in der
ter sich. Im August 2016 machte ihn Es ist Mitte August, als er in sein Haus Botschaft vorbei, ein Brite, der den Brexit-
Trump zu seinem Wahlkampfmanager, in Washingtons Stadtteil Capitol Hill ein- Kämpfer Nigel Farage beriet.
später wurde er »Chefstratege« im Weißen lädt, das er die »Botschaft« nennt. Besu- Die Arbeit unter Bannon ist hart. Es
Haus. Die Zeitungen zeichneten ihn da- cher werden zunächst in eine Wohnung kommt vor, dass der Chef spontan be-

100
Rechtspopulist Bannon: »Die ultimative Zerstörung der menschlichen Rasse«

schließt, nach Texas zu reisen, und einen ausgelöst. Er erkundigt sich, wie lang der immer noch über diese Garstigkeit, auch
Reisebefehl erteilt. Fleuette, der Filmema- Artikel im SPIEGEL über ihn wird. »Kom- weil sie belegt, dass er im Zentrum der
cher, saugt an einer Elektrozigarette und me ich auf die Titelseite?« Macht nicht ganz vergessen ist.
hüllt sich in Dampf. »Abgesehen von den Washington redet gerade über das Buch Zwischen ihm und Trump herrsche
20 Minuten auf dem Fahrrad morgens und von Omarosa Manigault Newman, der frü- Funkstille, sagt Bannon, sie kommunizier-
abends habe ich keine Zeit für Sport.« Auf heren Trump-Mitarbeiterin, die dem Prä- ten seit Monaten nur über ihre Anwälte.
einem Stehtisch liegen Notizzettel aus den sidenten Rassismus vorwirft. Am Tag zu- Sonderermittler Robert Mueller unter-
Hotels, in denen Bannon absteigt, mit wir- vor erhielt Bannon, so erzählte er Freun- sucht immer noch, ob Trumps Wahlkampf-
ren Notizen. Im Keller klappern Tastatu- den, einen Anruf aus dem Weißen Haus: team 2016 mit den Russen kooperierte.
ren, vibrieren Mobiltelefone. Würde er in eine der Sonntags-Talkshows Bannon musste als Zeuge erscheinen, er
Oben ist mehr Luft. Bannon tritt aus gehen, um Trump zu verteidigen? Gern, sagt, er müsse vorsichtig sein.
der Küche ins Wohnzimmer, er hat gute antwortete Bannon, aber nur, wenn Ivan- Er bittet an den Esstisch und nimmt ein
Laune. Seine Europapläne haben auf dem ka vor ihm auftrete. Trumps Lieblingstoch- Buch in die Hand, eine Biografie des Phi-
Kontinent erfreulich viel Panik und Angst ter ist Bannons Intimfeindin. Er freut sich losophen Martin Heidegger. »Das ist mein

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 101


Ausland

Mann.« Heidegger habe schlaue Ideen volution gewesen, sagte Bannon einmal. gesägt wurde. Er sieht das als Bestätigung
zum Begriff Sein, der ihn fasziniere. So Menschlich fehlerhaft, ideologisch bieg- dafür, dass Berlin am Ende sei. Die Apo-
laufen die Gespräche mit ihm. Er springt sam, aber genial im Fernsehen. Bannon kalypse nahe. »Wir stehen auf der richti-
von den Tiefen der Politik in die Höhen braucht Gefäße, Brandherde. Erst wenn gen Seite der Geschichte.«
der Philosophie. Vom Sumpf zu Heidegger um ihn Flammen lodern, wird er ruhig. Bannon hat sich mit Europa in zwei sehr
in fünf Sekunden. Was unterscheidet uns Es ist ein Samstag Ende September, als speziellen Phasen beschäftigt. Einmal in
von Tieren oder Steinen?, fragt Bannon. er auf eine Bühne in Rom tritt. Die rechte den Achtzigerjahren, als er in Paris und
Was heißt es, Mensch zu sein? Wie weit Splitterpartei Brüder Italiens hat ihn zum London Geschäfte für Goldman Sachs ab-
darf Fortschritt gehen? Parteitag eingeladen, und Bannon hatte schloss; ein zweites Mal in den Zehnerjah-
Apropos Deutschland: Er bewundere zufällig Zeit. Hinter ihm verschränkt Dar- ren des 21. Jahrhunderts, in der Krise.
Leni Riefenstahl. Als Mensch sei Riefen- ren die Arme vor der Brust, ein Ex-Infan- Vor den Europawahlen 2014 zog er
stahl zwar fehlerhaft gewesen, die Nazi- terist der britischen Armee, der für Ban- durch die englische Provinz mit Nigel Fa-
geschichte und so weiter. »Aber als Filme- nons Sicherheit verantwortlich ist. Bannon rage, dem Chef der Unabhängigkeitspartei
macherin ist sie unerreicht.« spricht ohne Manuskript. Seine Rede be- Ukip. Bannon wusste damals nicht, dass
Sein Neffe Sean kündigt den nächsten ginnt mit der niedrigen Geburtenrate in es Europawahlen überhaupt gibt. Was ihn
Besuch an. »Hol mal Wasser«, sagt Italien, schlägt einen Bogen über Mikro- noch mehr erstaunte: dass es einem weit-
Bannon. Beim Hinausgehen deutet er auf chips und Gendesign, und endet mit der gehend unbekannten Kerl wie Farage ge-
ein Foto auf dem Kaminsims. Es zeigt Auslöschung der Menschheit. lang, 24 Mandate für das Europaparla-
seine älteste Tochter Maureen vor sieben Wenn wir, sagt Bannon, den Eliten in ment zu holen. »Plötzlich hatte er Macht.«
Jahren im Irak. Maureen war Soldatin der London, Paris, New York und im Silicon Der Engländer zeigte Bannon, was Eu-
101. Luftlandedivision der US-Armee. In Valley die Macht überlassen, werden sie ropa seiner Meinung nach wirklich ist: ein
ihrem Schoß liegt ein Sturmgewehr. »Sie in 25 Jahren den Homo sapiens völlig neu Haufen Bürokraten, die England kaputt ma-
sitzt da auf dem Thron von Saddam Hus- definieren. »Die ultimative Zerstörung der chen. Am Telefon erzählt Farage, es habe
sein«, sagt Bannon lächelnd. menschlichen Rasse!«, ruft er. Dann steigt Spaß gemacht, mit Bannon durch die Pubs
Er mag die Aura des Sprengmeisters, er in seine Limousine und fährt zurück ins zu ziehen. »Wir haben etwas getan, was die
des zornigen, dreckigen Guerilleros, der Fünfsternehotel am Platz des Volkes. meisten Politiker nicht mehr tun: Wir sind
das Establishment aufmischt. Er sagt, er Eigentlich wollte er von Rom aus durch zu den einfachen Leuten gegangen.«
plane eine Pressekonferenz in Brüssel, da- Europa ziehen, eine Tour durch ein halbes Stimmt es, dass Bannon ihn als bezahl-
nach die Premiere eines rechten Propagan- Dutzend Länder hatte er gegenüber der ten Berater anstellen wird? »Da ist noch
dafilms in New York und einen Wahl- nichts unterschrieben«, sagt Farage.
kampfauftritt für die AfD in Bayern. Er Mittags tritt Raheem Kassam in den In-
sei beeindruckt von den Politikern der Bannons Lieblingszitat: nenhof und inhaliert den Rauch einer Ame-
AfD, sagt er, vor allem von diesen beiden »Besser, man regiert rican Spirit. Er wirkt erschöpft. Er ist erst
Frauen, Alice Weidel und Beatrix von 32, Europa ist seine dritte Schlacht, nach
Storch. Er kneift die Augen zusammen. in der Hölle, als Brexit und Breitbart, er hat das Londoner
»Alischweidl? Bietrischstorsch?«, fragt er. im Himmel zu dienen.« Büro der Website geleitet. Er wohnt in Wa-
Die Sache ist: Wenig von dem, was er shington, aber tatsächlich lebt er im Flug-
ankündigt, wird er umsetzen. Weder die zeug. Bannon möchte, dass Kassam bei
Pressekonferenz in Brüssel noch die Pre- Nachrichtenagentur Bloomberg angekün- den meisten Gesprächen anwesend ist,
miere in New York, noch den Wahlkampf digt. Auch das wird abgesagt. aber vorhin entschuldigte sich Kassam und
in Bayern. Bannon ist geschickt darin, Stattdessen chartert er einen Privatjet fiel halb tot auf sein Hotelbett. Sein Kopf
Journalisten mit Bröckchen zu füttern, die und fliegt von Rom für einen halben Tag schwirrte. Er lag eine Viertelstunde da, bis
»New York Times« und andere. Am Ende nach Prag zum tschechischen Präsidenten ihn eine SMS vom Boss hochschrecken ließ.
passiert aber ganz oft: gar nichts. Miloš Zeman. Der AfD-Abgeordnete Petr Bannon sagt: »Der Unterschied zwi-
Bannons Blick auf die Bundesrepublik Bystron, der aus Tschechien stammt, ist schen den Rechten in den USA und
ist, wie seine ganze Weltsicht, von einer dabei. Bystron meldet sich per Skype aus Europa ist ihre Sicht auf den Staat. Im Ge-
unmittelbar drohenden Apokalypse ge- Berlin und erzählt, die Atmosphäre in Prag gensatz zu uns wollen unsere Freunde in
prägt. Die Entscheidung von Bundeskanz- sei locker gewesen. »Zemans Pressespre- Europa die Kontrolle über den Apparat
lerin Angela Merkel, Kriegsflüchtlinge aus cher kam in Turnschuhen.« Es gab Kaffee erlangen. Salvini und seine Leute streben
Syrien aufzunehmen, werde die Gesell- und Kuchen, man lästerte über die Euro- an die Macht, um den Staat nach ihrem
schaft zerreißen, sagt er. Die Regierung päische Union, und der Präsident hörte Willen zu formen.« Das gelte auch für die
treibe den Bankrott wissentlich voran. zu, wie Bannon von seinem Projekt be- AfD und für das Rassemblement National.
»Merkel und ihre Truppe wollen Deutsch- richtete. Anschließend ging es nach Buda- Auf den Einfall, den Staat in die Luft zu
land zerstören.« Die Kanzlerin sei gefähr- pest, zu den Leuten von Viktor Orbán. jagen, komme leider niemand.
lich, sagt Bannon. »Diese Schlampe.« Bystron sagt: »Bannon wird in Osteu- Er sucht weiter nach Gefäßen, doch es
Wie Trump denkt er, dass die Vereinig- ropa empfangen wie der Stellvertreter Got- ist nicht einfach. Er will Krieg, und keiner
ten Staaten jahrzehntelang von Europa tes auf Erden.« geht hin. In einem Interview sagte der
ausgenutzt worden seien. Deutschlands Drei Tage nach seiner Osteuropareise AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen im Juli, sei-
Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg sei sitzt der Stellvertreter in seiner Suite in ne Partei brauche kein »Coaching von au-
nur möglich gewesen, weil amerikanische Rom. Auf dem Tisch stehen Croissants und ßerhalb der EU«. Anfang Oktober sah sich
Soldaten unter Einsatz ihres Lebens die Kaffee, Bannon trägt einen Kapuzenpulli Marine Le Pen dazu veranlasst, zusammen
Sicherheit gewährleistet hätten, unter- mit der Aufschrift »US Army«. Raheem mit dem italienischen Rechtspopulisten
stützt vom amerikanischen Steuerzahler. Kassam, der Brite, tippt E-Mails auf sei- Matteo Salvini auf Distanz zu Bannon zu
Am besten versteht man Bannon, wenn nem Laptop. Bannon sagt, er habe mit gehen. Nur Europäer, sagte sie, sollten
man ihn als Handlungsreisenden für Ideen Freude die Niederlage von Angela Merkel Europa retten.
sieht, die einen Nährboden suchen. Trump am Abend zuvor zur Kenntnis genommen, Nicht alle Rechtspopulisten schätzen es,
sei ein »unperfektes Gefäß« für seine Re- als ihr Vorsitzender der Unionsfraktion ab- wenn ein Amerikaner ihnen erklärt, was

102 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


sie tun sollen. Sie arbeiten gerade daran,
die rechten Parteien im Europaparlament
in einer Fraktion zu vereinen. Das Letzte,
was sie brauchen, ist ein Zündler aus Wa-
shington, der ihnen den schönen Plan aus
der Hand nimmt. Bannon sagt: Ich muss
mal mit Meuthen Kaffee trinken.
Sven von Storch dagegen, der Ehemann
der Bundestagsabgeordneten Beatrix von
Storch, reiste im September zu Bannon
nach Rom und wurde im Hotel vorstellig.
Mit der AfD-Politikerin Weidel unterhält
sich Bannon ebenfalls regelmäßig. Vorige
Woche flog er wieder nach Paris, um Le Pen

MANDEL NGAN / AFP


zu treffen. Sie einigten sich auf einen Kom-
promiss: Bannon beteuerte, sich inhaltlich
aus dem Europawahlkampf herauszuhalten.
Dafür werde er den Populisten »technische
US-Präsident Trump, Berater Bannon 2017: »Sloppy Steve« Hilfe« anbieten, die man, so ein Führungs-
mitglied des Rassemblement National,
selbstverständlich nicht ablehnen werde.
Im Moment sieht es aus, als würde Ban-
non mehr einreißen als aufbauen.
Es gibt aber auch Leute, die ihn ver-
ehren, sie sitzen nicht weit entfernt vom
Zentrum Europas. Das Haus von Mischaël
Modrikamen steht auf einem Hügel außer-
halb Brüssels, umgeben von Kastanien
und Buchen. Ein eisernes Tor öffnet sich,
oben in der Einfahrt steht Rudi, der Chauf-
feur, mit einem Staubsauger und reinigt
den Mercedes. Wenig später baut sich der
Hausherr in der Tür auf, Jackett, Krawatte,
blaues Einstecktuch.
»Frühstück?«, fragt Modrikamen.
Es ist ein angenehmer Ort, um über die
NINA BERMAN / NOOR / LAIF

rechte Revolution zu sprechen. Draußen glit-


zern Sonnenstrahlen auf dem Pool, drinnen
stellt das Dienstmädchen Schüsseln mit
akkurat geschnittenen Apfel- und Bananen-
scheiben auf den Tisch. Modrikamens Wer-
degang war so: Sohn eines jüdischen Mecha-
Anti-Bannon-Demonstranten in New York 2016: Er mag die Aura des Sprengmeisters nikers aus Polen, studiert Jura, erstreitet
hohe Entschädigungen für Kleinsparer, wird
reich, steigt in die Elite seines Landes auf,
versucht sich in der Politik, wird vom Estab-
lishment dafür erst ausgelacht, dann igno-
riert und sieht plötzlich, wie in den USA ein
ganz ähnlicher Kerl ins Weiße Haus einzieht.
Im Januar 2017, wenige Tage vor der
Amtseinführung des amerikanischen Prä-
sidenten, gründet Modrikamen in Brüssel
eine Stiftung mit dem Titel »The Move-
ment«. Das Ziel ist, die europäischen Rech-
ten zu vereinen. »Es soll ein Klub sein,
nichts weiter«, sagt Modrikamen mit fran-
zösischem Akzent. Ein Klöb.
Modrikamen hat lange an Bannon he-
rumgebaggert, Nigel Farage verhalf ihm
OLIVIER CORSAN / MAXPPP / DPA

schließlich zu einem Treffen im Juli. Ban-


non sagte: Er mache mit, wenn er der
Chef sein dürfe. Modrikamen konnte sein
Glück nicht fassen. »Steve und ich verste-
hen uns blind. Ich muss gar nicht zu Ende
sprechen, er kann meine Sätze für mich

Stratege Bannon, Nationalistin Le Pen*: Das nächste Ziel ist der Vatikan * Im März auf dem Parteitag des Front National in Lille.

103
Ausland

vollenden.« Inzwischen beantwortet Mo- Wenn man Bannon danach fragt, sagt den sein Neffe organisiert hat. »Kommen
drikamen täglich Fragen von ausländischen er: »Geld ist kein Problem.« Es gebe in wir auf die Titelseite?«, fragt Sean.
Medien. Gestern wartete ein Filmteam von Europa einige Milliardäre, die ihn gern un- Bannon klettert durch die offene Hinter-
Vice am Flughafen. Den meisten Journa- terstützten. Namen nennt er nicht. tür. Während der Fahrer sich durch den
listen erzählt der Belgier dieselbe Geschich- Es ist Ende September. Bannon sitzt in New Yorker Nachmittagsverkehr schlängelt,
te: Da er ein Teil des Establishments sei, der Businessclass von British Airways. denkt Bannon über die Zukunft der katho-
wisse er, wie korrupt es dort zugehe. Des- Er hat zugesagt, für einen etwa zehn- lischen Kirche nach. Wie viele Institutionen,
halb setze er sich für den kleinen Mann minütigen Auftritt in einer Show von sagt er, sei auch der Vatikan in den vergan-
ein. Aber im Grunde kämpfen Bannon und Rom nach Los Angeles zu fliegen. Ban- genen Jahrzehnten von links unterwandert
er für dieselbe Sache. Für sich selbst. non sagt: »Ich bekomme dort vermutlich worden. Bannon will die Kirche zu den An-
Modrikamen sagt, sein Klub wolle die Fresse poliert, aber was soll’s. Schärft fängen zurückführen, am besten zurück ins
den Mitgliedern vor den Europawahlen die Klinge.« Mittelalter. Am liebsten würde er den Vati-
Dienstleistungen anbieten: ein Forum Von L. A. fliegt er zurück nach Washing- kan genauso in die Luft sprengen wie den
zum Austausch, Umfragen, Experten so- ton, wo er ein Abendessen für konserva- modernen Verwaltungsstaat.
wie ein Lagezentrum, das auf Ereignisse tive Katholiken organisiert. Mitarbeiter Wenn man ihn fragt, wie sich sein ka-
reagiert, Stellungnahmen verschickt und von Thinktanks kommen in die Botschaft, tholischer Glaube mit seinen drei geschie-
rechte Köpfe in Talkshows setzt. »Wir frühere Trump-Berater, die Moderatorin denen Ehen verträgt, sagt er: »Nach kirch-
müssen Salvini oder Orbán nicht bei- Laura Ingraham, Banker, die Deutsche lichem Recht bin ich nicht geschieden. Mei-
bringen, wie sie Wahlen gewinnen«, sagt Gloria Fürstin von Thurn und Taxis sowie ne erste Ehe wurde annulliert. Die beiden
er. »Aber kleine Parteien sind darüber Kardinal Gerhard Ludwig Müller, ehemals anderen Trauungen waren weltlich.«
sicher glücklich.« Bischof von Regensburg. Müller war fünf Vielleicht muss man gar nicht viel mehr
sagen. Bannon steht am Rand des Gesche-
hens, er weiß das selbst, wie ein Regisseur,
der seinem größten Hit nachtrauert. Ihm
ist egal, ob er in Europa Verwirrung stiftet,
ob er untergeht. Wichtig sei die »Kame-
raderie« unter Gleichgesinnten, sagt er.
Sein Lieblingszitat stammt aus dem Ge-
dicht »Paradise Lost« von John Milton aus
dem 17. Jahrhundert: »Besser, man regiert
in der Hölle, als im Himmel zu dienen.«
Sein Plan, Europa nach rechts zu drü-
cken, bleibt vage. Er erzählt viel und tut
SCHWARWEL / DIEKLEINERT.DE / PICTURE ALLIANCE

wenig. Die Bewegung besteht derzeit aus


Bannons erschöpften Leuten und Modri-
kamens Billardzimmer. Seine Revolution
hat er vor allem mit Eigenkapital finan-
ziert, die Flüge, Hotels, Helfer und Darren,
den Infanteristen aus England. »Andert-
halb Millionen Dollar, vielleicht zwei« hat
das gekostet. Mit dem Geld kaufte er sich
ein wichtiges Gut: Aufmerksamkeit.
Thurn und Taxis hält Bannons Idee für
»mutig«, schreibt sie per E-Mail. »Ich be-
grüße alles, was Wahlkämpfe, insbeson-
Er steigt eine Treppe hoch und nimmt Jahre lang Präfekt der Glaubenskongrega- dere den EU-Wahlkampf, farbiger und
die Stiegen ins Dachgeschoss. Seine rechts- tion, bis Papst Franziskus seinen Job nicht spannender macht.« Bannons Denkfabrik
nationale Partei Parti populair hat ihr verlängerte. Wieder so ein Mann, der aus- werde trotzdem nicht in ihrem Schloss
Hauptquartier direkt über seinem Schlaf- gespuckt wurde, wie Bannon, Farage, Mo- unterkommen. »St. Emmeram steht dafür
zimmer. Auf 200 Quadratmetern sitzen drikamen und all die anderen. sicherlich nicht zur Verfügung.«
eine Sekretärin, ein Finanzexperte, drei Bannon sagt, er wolle einen rechtspopu- Wie es aussieht, hat Bannon längst das
Politstrategen sowie zwei Männer mit Bäu- listischen Thinktank südlich von Rom auf- nächste Ziel vor Augen. Den Vatikan. Er
chen vor Computern, das ist die IT-Abtei- bauen, in einem alten Kloster. Da das Klos- sei beeindruckt von Kardinal Müller, sagt
lung. Es gibt sogar ein Billardzimmer. Zwei ter renovierungsbedürftig sei, sei er auf er. Wuchtiger Kerl, mindestens 1,80 Meter
bis drei Büros werde er für »The Move- der Suche nach einer vorübergehenden groß, gute Ausstrahlung, starke Präsenz.
ment« umbauen, sagt Modrikamen. Er Heimat auf Schloss St. Emmeram in Re- »Wäre ein hervorragender Papst.« Bannon
streicht mit den Fingern über den Billard- gensburg gestoßen, das der Familie Thurn schaut aus dem Autofenster. Draußen
tisch. Möglich, dass der Tisch bald weg- und Taxis gehört. »Wir könnten im nächs- rauscht der Central Park vorbei. Ja, Müller
muss. Für Bannon. ten Frühjahr Seminare abhalten. Ich werde sei telegen. Fast wie Trump.
Es ist nicht klar, woher das Geld für den über Medien sprechen.« Twitter: @chrischeuermann
Klub kommt. Modrikamen sagt, die Per- Anfang Oktober tritt er aus einem Fern-
sonalkosten würden sich im Rahmen hal- sehstudio in New York, wo er an einer
ten, zehn bis zwölf Angestellte, mehr nicht. Filmreihe über die Folgen der Digitalisie- Video
Steve Bannons Karriere
Teuer würden die Umfragen und Analys- rung mitwirkte. Es ging um den Untergang im Zeitraffer
ten, die die Daten interpretieren. Er selbst der Menschheit. Kleiner geht es für ihn spiegel.de/sp432018bannon
werde keinen Cent investieren, er habe nicht. Vor der Tür wartet ein Geländewa- oder in der App DER SPIEGEL
schon genug Zeit in das Projekt gesteckt. gen von der Größe eines Schützenpanzers,

104 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Kommentar

Rosinen nicht im Angebot


Die Briten haben bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU in fast
allen Punkten nachgeben müssen. Es ist an der Zeit, ihnen entgegenzukommen.

und nach fast alles akzeptieren müssen, was Brüssel


fordert. Auch Mays Idee, die Briten könnten mit ei-
nem Fuß im EU-Binnenmarkt für Güter bleiben, bei
den (Finanz)dienstleistungen aber eine schneidige
Konkurrenz vor den Toren der EU aufbauen – der
»Chequers«-Vorschlag –, wird so nicht kommen.
Stattdessen erwartet die Briten wohl ein aufgepepp-
tes Freihandelsabkommen, das übrigens auch im In-
teresse der EU ist. Die Warnung, die Briten dürften
sich nicht die Rosinen aus der EU-Mitgliedschaft he-
rauspicken, wirkt zunehmend absurd. Rosinen sind
längst nicht mehr im Angebot.

SEAN GALLUP / GETTY IMAGES


Umso wichtiger wäre es nun, ein Signal des Frie-
dens zu senden. Das Vereinigte Königreich mag
die EU verlassen, doch es gehört weiter zu Europa.
Was die Sicherheit vor Terroristen angeht, aber
auch die gemeinsame Verteidigung in der Nato, hat
die EU ein Interesse an einem starken Großbritan-
Premierministerin May beim EU-Gipfel in Brüssel nien. Das gilt ebenso für die Bürger. Auch nach
dem Brexit wird Großbritannien vielen Deutschen

D
weiterhin näherstehen als EU-Länder wie Rumä-
as Papier, in das die EU-Botschafter unlängst hinein- nien oder Bulgarien. In Großbritannien wiederum haben im-
schnuppern durften, zeichnete ein fast apokalyp- merhin 48 Prozent der Bürger gegen den Brexit gestimmt,
tisches Szenario ab dem 29. März 2019, also jenem würde man das Referendum heute wiederholen, hätten die
Tag, an dem die Briten die EU verlassen werden. Brexiteers wohl keine Chance.
Flüge aus London würden gecancelt, britische Bürger müssten Das heißt nicht, dass die EU nun auf jede irrsinnige Forde-
ein Visum beantragen, und vor den großen Häfen würden rung aus Mays Tory-Partei eingehen sollte. Es bedeutet aber,
sich die Lastwagen viele Kilometer weit stauen. Das wären dass beide Seiten endlich darauf verzichten sollten, zusätzli-
nur einige der Folgen, die eintreten könnten, wenn die Briten che Hindernisse aufzubauen, wo Lösungen greifbar sind.
sich ohne Abkommen aus der EU verabschiedeten, mahnt Das gilt vor allem für die knifflige Irlandfrage, das letzte
die EU-Kommission. große Problem des Austrittsvertrags. Um den zaghaften Frie-
Noch ist es nicht so weit. Sicher, die Brexit-Gespräche sind densprozess nicht zu gefährden, wollen die EU und Großbri-
beim EU-Gipfel am Mittwochabend erst einmal nicht voran- tannien verhindern, dass zwischen Irland und Nordirland
gekommen, zudem ist zu erwarten, dass sie in den kommen- eine harte Grenze entsteht. Deswegen soll Nordirland notfalls
den Wochen noch mehrfach vor dem Scheitern stehen wer- in der Zollunion und im Binnenmarkt der EU bleiben. Da
den. Doch das gehört zum Drama aller großen Verhand- dies aber bedeuten würde, dass die EU-Außengrenze durch
lungen. In Wahrheit sind die Unterhändler der Briten und das Vereinigte Königreich verliefe, muss nun eine Lösung
der EU in Brüssel auf der Zielgeraden. Das Austrittsabkom- für die Briten gefunden werden. Sie könnte darin bestehen,
men ist zu 90 Prozent verhandelt, sagt EU-Chefunterhändler dass Großbritannien ebenfalls eine Zeit lang in einer Zoll-
Michel Barnier. Wir sind uns einig, bis auf zwei Punkte, sagt union mit der EU bleibt oder dass die Übergangsphase, in
Theresa May, die britische Premierministerin. der nach dem Brexit die Regeln der EU in Großbritannien
Das heißt nicht, dass ein Erfolg sicher ist, natürlich nicht. weiter gelten, verlängert wird. Soll die EU ausgerechnet in
Die Gefahr ist groß, dass jeder in Brüssel ausgehandelte Deal dieser Frage nun Härte demonstrieren?
am Ende in London durchfällt, weil May im Parlament keine Die Furcht, dass der Brexit Nachahmer finden könnte und
Mehrheit dafür bekommt. Die Brexit-Gespräche sind an ei- die EU daher besonders unnachgiebig auftreten müsse, mag
nem entscheidenden Punkt angelangt. Spätestens im Dezem- unmittelbar nach dem Referendum berechtigt gewesen sein.
ber muss der Austrittsvertrag stehen, damit den Parlamenten Heute jedoch denken Parteien mit dem Feindbild Brüssel gar
in Brüssel und London genug Zeit bleibt, den Text zu prüfen. nicht daran, die EU zu verlassen. Im Gegenteil: Ungarns
Wenn die EU einen harten Brexit verhindern will, ist jetzt Regierungschef Viktor Orbán bastelt vor den Augen Brüssels
die Zeit gekommen, auf die Briten zuzugehen, damit May an seiner illiberalen Demokratie, während Polen allen Mah-
überhaupt eine Chance auf Erfolg hat. nungen der EU zum Trotz seinen Rechtsstaat abbaut. Die neue
Die EU hat dabei wenig zu verlieren. Die durch zahlreiche italienische Regierung wiederum entwirft einen Haushalt, der
Beitrittsverhandlungen gestählte Brüsseler Verhandlungs- einer Kampfansage an die Schuldenregeln der EU gleichkommt.
maschine hat auch im umgekehrten Fall perfekt funktioniert. Die wahre Gefahr für die EU kommt heute von innen,
Austrittsrechnung, Rechte der EU-Bürger, Aufsicht durch den auch deshalb sollten bei den Brexit-Gesprächen endlich Maß
Europäischen Gerichtshof – im Kern haben die Briten nach und Mitte einkehren. Peter Müller

105
Ausland

LUDOVIC MARIN / DPA


Präsident Macron: Kalkulierte Demut

Keine Revolution
einer Umfrage des Instituts Ifop waren im
September nicht einmal mehr ein Drittel
der Befragten zufrieden mit ihrem Präsi-
denten, bei Amtsantritt waren es mehr als
Frankreich Nach kaum anderthalb Jahren im Amt hat Emmanuel doppelt so viele. Ob allerdings neue Köpfe
Macron bereits einen erheblichen Teil seines Kabinetts erneuert. ausreichen werden für den viel beschwo-
renen Neuanfang, ob Macron damit den
Ob nun der ersehnte Neuanfang folgt, muss sich erst noch zeigen. Trend umzukehren vermag, ist fraglich.
Denn die Neubesetzungen zeigen bis-

D
her vor allem eines: Wie dünn die Per-
ie Frau, nennen wir sie Suzanne, Warum? Die Antwort ist in der Tat ba- sonaldecke bei den Macronisten mittler-
sitzt in einem Café im Pariser nal: Nach den Schlappen der vergangenen weile ist. So folgt eine Rochade auf die
Stadtviertel Marais und kann Monate soll ein Neuanfang inszeniert wer- andere. Das war so im Umweltministe-
noch nicht so recht glauben, was den, so wollen es Macron und die Seinen. rium, als der scheidende Ex-Fernsehstar
ihr widerfährt: »Es war brutal, es gab kei- Und was sich im Kleinen, fast Verbor- Nicolas Hulot durch den Präsidenten
nen Grund. Jedenfalls haben sie keinen genen im Élysée vollzieht, das wird auch der Nationalversammlung ersetzt wurde.
angeführt.« Suzanne hat gerade ihren Job auf der großen Bühne der Republik mög- Mindestens zwei andere Kandidaten hat-
verloren. Vermutlich, weil mal wieder ein lichst wirkmächtig aufgeführt. Lange war ten zuvor abgelehnt. Daraufhin musste
neues Gesicht hermusste. Ihre Nachfolge- sie angekündigt, nun ist sie endlich voll- wiederum der Posten des Parlamentsprä-
rin jedenfalls soll nun für »frischen Wind« bracht: die Regierungsumbildung. Am sidenten neu besetzt werden, und zwar
sorgen, so formulierte es Suzannes ehema- Dienstag ließ Emmanuel Macron sein durch den Fraktionsvorsitzenden der Re-
lige Chefin bei deren Vorstellung. neues Kabinett vorstellen. Unabdingbar gierungspartei La République en marche
Nun arbeitete Suzanne nicht irgendwo, für den Neuanfang, wie man im Élysée (LREM). Woraufhin dort wieder eine
sondern als Beraterin im Élysée, für Em- glaubt. Lücke entstand – das Ganze wirkte zuletzt
manuel Macron. Sie arbeitete für ihn seit Ein wenig Aufwind könnte nicht scha- wie eine Variante des Kinderspiels Reise
mehreren Jahren, von morgens früh bis den, das ist unbestritten. Denn 17 Monate nach Jerusalem.
spät abends. Schon im Wahlkampf hatte nach seinem Amtsantritt befinden sich Zum neuen Innenminister ernannte Ma-
sie ausgeholfen, ehrenamtlich. Sie gehörte Emmanuel Macron und seine Zustim- cron nun seinen Vertrauten der ersten
nicht zum innersten Zirkel seiner Vertrau- mungswerte auf anhaltender Talfahrt. Zäh Stunde, den früheren Sozialisten Chris-
ten, war aber doch immer dabei. Damit haftet das Pech am einstigen Glückskind tophe Castaner. Das wurde notwendig,
ist jetzt Schluss. Macron – und das schon seit Wochen. Laut weil ein anderer Vertrauter der ersten

106 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Stunde, Gérard Collomb, den Posten auf- Affäre, das Ungemach um einen prügeln- ner Wahl, die Franzosen mit sich selbst aus-
gab, um wieder Bürgermeister von Lyon den Sicherheitsmann, folgten die Rücktrit- zusöhnen, bisher nicht eingelöst hat.
zu sein. Seinen Rücktrittswunsch reichte te wichtiger Minister, die jene zuerst ent- Es gibt einige Theorien darüber, warum
Collomb nicht zuerst beim Präsidenten weder im Radio verkündeten oder in der das so ist. Die stichhaltigste liefert Luc Rou-
ein, sondern bei der Tageszeitung »Le Fi- Zeitung. Es waren Abgänge, bei denen der ban in seiner Analyse »Le paradoxe du
garo«. Die Trennung, so viel lässt sich sa- machtbewusste Macron keine sonderlich macronisme«. Darin erklärt der am renom-
gen, verlief nicht einvernehmlich. Und sie gute Figur machte. mierten Institut Cevipof forschende Politik-
verstärkte den Eindruck, dass der Master- Neben dem Glück scheint ihm auch sein wissenschaftler, inwieweit die Wahl Ma-
plan, den Macron für seine Amtszeit hatte, einst so sicherer Instinkt abhandengekom- crons und ihre Prämissen mit der jetzigen
ihm mehr und mehr zu entgleiten droht. men zu sein. Macron tritt, für ihn unge- Situation zusammenhängen.
Castaner ist keine Wahl, die verblüfft – wohnt, in ein Fettnäpfchen nach dem an- Dieser Präsident, auch weil er so jung
aber wieder eine, die eine Leerstelle hin- deren. So zum Beispiel bei einer Reise auf sei, so Rouban, sei den Franzosen noch
terlässt. Denn »Casta« hatte auf Geheiß die französischen Antillen, wo er Volks- immer weitgehend unbekannt, genau wie
des Präsidenten erst im November den nähe demonstrieren wollte und nahezu diejenigen, die für ihn arbeiten, ob als Be-
Posten des Vorsitzenden von LREM über- zwanghaft jeden, der ihm begegnete, rater oder als Minister. Entsprechend groß
nommen. Eigentlich war er damit betraut, umarmte, küsste, anfasste. sei das Misstrauen ihnen gegenüber. Alles
für die Partei, und damit für Macron, die Auf diese Weise entstand ein merkwür- neu erschaffen zu wollen, alles anders zu
Europawahlen vorzubereiten. Keine völlig diges Bild, das prompt als Meme im Inter- machen als die Vorgänger ist eben nicht
unbedeutende Aufgabe. net um die Welt ging: Auf dem Foto legt nur von Vorteil bei den Wählern.
Christophe Castaner, 52, ist so etwas wie Macron den Arm um den nackten Ober- Zu Recht weist Rouban darauf hin, dass
die Allzweckwaffe Emmanuel Macrons. körper eines muskulösen Mannes. Nur be- das alte Lagerdenken, die Einteilung in
Was ihm bei seiner Aufgabe als »oberster merkte weder er noch jemand aus seiner rechts und links, die Frankreich jahrzehnte-
Polizist« des Landes helfen dürfte, ist seine
große Nähe zum Präsidenten, den er duzen
darf. Seine Beziehung zu Macron erreiche
durchaus eine »Dimension der Verliebt-
heit« erklärte er einmal. Ein Satz, den Cas-
taner auch wiederholt, wenn es sein muss.
Die großartige Verlegerin Françoise
Nyssen hingegen verließ das Kulturminis-
terium mit bitteren Worten. Sie sei auf die-
se Rolle nicht vorbereitet gewesen: »Die
Gewalt und Brutalität des Politbetriebs
sind schwer zu ertragen.«
Zwei Wochen hatte es gedauert von der
Ankündigung der Regierungsumbildung
bis zu ihrer Umsetzung, so lange wie noch
nie. Und wer auf spektakuläre Neubeset-
zungen gewartet hatte, wurde enttäuscht.
Was folgte, war allenfalls eine pragmati-

THIBAULT CAMUS / AP
sche Neuaufstellung, der Emmanuel Ma-
cron am Dienstagabend zur Hauptnach-
richtenzeit eine betont nüchterne Erklä-
rung folgen ließ. Da saß er in seinem Büro
im Élysée, eher schlecht ausgeleuchtet hin-
ter einem Marmortisch, vor ihm seine Vertrauter Castaner (M.): Allzweckwaffe des Staatschefs
handschriftlich korrigierte Erklärung, von
der er, sonst Meister der Inszenierung,
nachrichtensprecherhaft ablas. In Berlin Entourage, dass dieser Mann dabei seinen lang prägte, nicht plötzlich, von einem Tag
würde man sagen: Macron will zurück zu Mittelfinger in die Kamera hielt. auf den anderen, verschwunden sei. Er
den Sachthemen. Prompt prasselte jede Menge Häme auf glaubt, den Franzosen liege der manager-
Seine Ansprache eröffnete der Präsident Macron nieder, sodass er vor Vertrauten hafte Stil Macrons nicht, auch deshalb, weil
mit den Worten: Er wolle den »direkten die Fassung verloren und gesagt haben soll: der so verwirrend autoritär daherkomme.
Kontakt« zu den Franzosen. Macron hat »Manchmal hab ich es so satt, nichts funk- Sein größter Fehler allerdings beruht für
verstanden, dass er zuletzt vor allem als tioniert mehr.« Rouban auf einer falschen Grundannahme:
abgehoben und arrogant wahrgenommen Derjenige, über den der Schriftsteller Em- Anders als Macron glaube, gehe es einem
wurde. »In den vergangenen Monaten war manuel Carrère einmal schrieb, er vermöge Großteil seiner Wähler nicht um mehr
der Sinn meines Handelns vielleicht nicht sogar »einen Stuhl zu verführen«, scheint Eigenverantwortung. Die Franzosen woll-
immer klar erkennbar«, fuhr er fort. Man- zunehmend irritiert von dem Tief, in dem ten vor Armut und vor Gefahren wie dem
che Menschen habe er wohl durch seine er seit Wochen steckt. Spricht man mit Terrorismus, aber auch vor dem Verlust
»Direktheit« und seine »Entschlossenheit« jenen, die ihn umgeben, erzählen sie, dass des eigenen Lebensstandards geschützt
verstört. In diesen Worten liegt eine feine er jetzt manchmal müde wirke oder unauf- werden.
Note »mea culpa«, kalkulierte Demut, eine merksam sei. Die Schuld für seine derzeitige Der sogenannte Macronismus, folgert
Neuerung der vergangenen Wochen. Situation sieht er mal bei den anderen, mal Rouban daraus recht grausam, sei deshalb
Geholfen hat es bisher wenig. bei sich selbst: »Sie gönnen uns keinen Er- nichts anderes als eine »politische Schi-
Es war kein guter Sommer für Emma- folg!«, heißt es dann. Aber natürlich merkt märe«. Julia Amalia Heyer
nuel Macron. Auf die sogenannte Benalla- Macron, dass er das große Versprechen sei-

107
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Sport
Das Gesäß der Opfer mit Drahtbürsten malträtiert und anschließend mit Schuhcreme eingerieben. ‣ S. 110

Manipulations- und Wettskandale 2018 im Profifußball

9. Januar, Malta 14. Februar, Spanien 19. Februar, Brasilien 1. März, Griechenland
Die Uefa sperrt zwei Die Staatsanwaltschaft fordert Haftstrafen Der ehemalige Bayern-Profi Douglas 58 Fußballfunktionäre, Schiedsrichter
U-21-Spieler wegen für 36 aktive und ehemalige Spieler der Costa gesteht, mit seinem Klub Grêmio und ehemalige Spieler werden zu mehr-
erwiesener Spielmani- ersten und zweiten Liga wegen einer mut- Porto Alegre 2009 ein Spiel im Meister- jährigen Haftstrafen wegen Spiel- und
pulation lebenslang. maßlichen Manipulationsaffäre. schaftsfinale manipuliert zu haben. Wettmanipulation verurteilt.

23. Juli, Italien 22. Mai, Ukraine 17. Mai, Serbien 29. März, Albanien
Parma Calcio darf trotz Landesweite Razzia Ein Schiedsrichter der ersten Die Uefa schließt den Serienmeister
des Vorwurfs der Spiel- wegen mutmaßlicher Liga wird wegen des Verdachts Skënderbeu Korça wegen Wettmani-
manipulation in die Spielmanipulation in der Spielmanipulation in Unter- pulation für zehn Jahre von allen
Serie A zurückkehren. den vier obersten Ligen. suchungshaft genommen. europäischen Wettbewerben aus.

10. Oktober, Belgien 12. Oktober, Griechenland 12. Oktober, Frankreich/Serbien


Hausdurchsuchungen bei zehn belgischen Anklage gegen griechische Ermittlungen wegen Wettmanipulation nach
Erstligisten wegen des Verdachts auf Betrug Fußballfunktionäre wegen des dem 6:1 von Paris Saint-Germain gegen Roter
bei Spielertransfers und Spielmanipulationen. Verdachts der Spielmanipulation. Stern Belgrad in der Champions League.

Korruptionsexperten und Ermittler warnen seit Jahren vor Spitzenfußball. Es gibt Verdachtsfälle in den obersten Ligen
der Unterwanderung des Fußballs durch die Wettmafia, die mit in Spanien, Italien und Griechenland. Erst kürzlich kam es
manipulierten Spielen Millionensummen kassiert. Galten lange in Belgien zu Verhaftungen und Hausdurchsuchungen bei
Zeit vor allem unterklassige Ligen als besonders anfällig für Vertretern etlicher Profiklubs, die sich an Spielmanipulationen
Betrügereien, operieren die Kriminellen zunehmend auch im beteiligt haben sollen.

Magische Momente SPIEGEL: Können die sich so einfach

»Gespenstisch!«
freinehmen für die Auswärtsfahrten nach
Athen und Mailand?
Toppmöller: Ja, die schwänzen jetzt drei
Trainer Dino Toppmöller, 37, über das Erfolgsrezept des F91 Düdelingen Monate. Ich will, dass sie sich ganz auf Fuß-
ball konzentrieren. Der Verein und unser
SPIEGEL: Sie spielen bei mir eine richtige Wut entstanden. Mäzen haben sich mit den Firmenchefs
mit Ihrem kleinen Verein Ganz im Stillen dachte ich immer: Nächs- getroffen. Der Klub kommt für alle Kosten
in der Europa League tes Jahr klappt es. auf, die bei den Arbeitgebern anfallen.
gegen AC Mailand, SPIEGEL: Ganz schön mutig für einen Ver- SPIEGEL: Luxemburg ist ein internationa-
Betis Sevilla und Olym- ein, der zur Hälfte aus Amateuren besteht. ler Finanzplatz, es gibt viel Geld und
piakos Piräus. Ein Aben- Toppmöller: Das stimmt. Wir haben zwar internationales Publikum. Wie ticken Ihre
teuer? mit Marc-André Kruska einen ehemaligen Fans im Jos-Nosbaum-Stadion?
Toppmöller: Ja! Vor unserem Heimspiel Bundesligaspieler von Borussia Dort- Toppmöller: Bei uns ist Fußball eher eine
PETER FRANZ / EIBNER / IMAGO

gegen Milan wussten wir: Wenn wir mund, der jetzt am Ende seiner Karriere gemütliche Veranstaltung. Sehr distinguiert.
nicht voll da sind, dann gehen wir zwei- für uns noch einmal international spielt, Nur wenige Vereine haben eine echte Fan-
stellig unter. Im Mannschaftsbus auf der aber auch sieben Jungs, die nicht vom szene. Schmähgesänge und Choreografien
Fahrt ins Stadion hat keiner ein Wort Kicken leben, sondern in der Woche ganz wie in Deutschland sind sehr selten.
gesagt. Man konnte die Anspannung grei- normal arbeiten gehen müssen. SPIEGEL: Holen Sie sich eigentlich Tipps
fen. Gespenstisch! von Ihrem Vater Klaus für die nächsten
SPIEGEL: Ihr Team verlor knapp 0:1. internationalen Spiele? Er stand als
Toppmöller: Wahnsinn, oder? Ich war Trainer 2002 mit Bayer Leverkusen sensa-
so stolz. tionell im Champions-League-Finale.
SPIEGEL: Sind Sie der größte Außenseiter Toppmöller: Er will mich zwar beraten.
GERRY SCHMIT / IMAGO SPORT

aller Zeiten? Das ist sicher auch gut gemeint. Aber ich
Toppmöller: So ganz überraschend sage ihm immer wieder: Ich treffe meine
kommt unsere Europapokalteilnahme ja Entscheidungen selbst. Ich kann aus dem
auch wieder nicht. Wir sind der FC Bay- Training heraus viel besser einschätzen,
ern Luxemburgs und spielen jedes Jahr was der richtige Weg für die Mannschaft
in den Play-offs zur Champions League. ist. Wir sind auch grundverschiedene
In den vergangenen Jahren sind wir jedes Typen. In seine Fußstapfen trete ich also
Mal unglücklich gescheitert. Daraus ist Europa-League-Spiel Düdelingen–Mailand nicht. JDO

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 109


Sport

»Dann kam Karl«


Sexueller Missbrauch Österreichs Skiverband kommt nicht zur Ruhe, neue Anschuldigungen
tauchen auf – gegen Nationalhelden von einst, aber auch gegen aktive Trainer.

D
ie Frau ist zierlich und trägt ihr essen gegangen, habe sie so lange im Hotel- bronze im Abfahrtslauf um 21 Hundertstel.
lockiges Haar lang. Im Wiener zimmer eingesperrt und nach seiner Rück- Als Tochter des Verbandstrainers Ernst
Bezirk Brigittenau, unweit der kehr vergewaltigt: »Dann kam Karl Kahr Spieß und der Olympiamedaillengewinne-
Donau, sitzt sie an einem Holz- dazu, befahl mir, mich anzuziehen, und rin Erika Mahringer wuchs sie mit dem
tisch beim Kaffee und erzählt von dem notierte sich meinen Namen samt Adresse; Hochleistungssport auf zwei Brettern auf.
Mann, der ihre Jugend zerstört habe. anschließend ließ er mich heimfahren.« Sie selbst sagt es so: »Ich bin quasi schon
»Toni Sailer«, sagt sie, »war ein National- So will sich Fuchs erinnern. Kahr be- als Ungeborene Ski gefahren.«
held, für meine Eltern und für mich – über streitet, dass es diesen Vorfall je gab. Er Als Werdenigg im November 2017 im
ihn wurde zu Hause nur in den höchsten könne ihn deshalb nicht kommentieren, Zuge der #MeToo-Kampagne öffentlich
Tönen gesprochen; ich war 14, schüchtern so schreibt sein Anwalt dem SPIEGEL. macht, sie sei in den Siebzigern von einem
und naiv, als er mich im Hotel Bon Alpina Kahr, mittlerweile 86, ist eine Trainer- Teamkollegen vergewaltigt worden, bricht
in Innsbruck-Igls vergewaltigt hat.« legende im Land. Moser-Pröll, die als 15- in Österreich Unerwartetes los: eine öf-
Sailer, genannt »der Blitz von Kitz«: Jährige nach Aussage ihrer damaligen Zim- fentliche Diskussion über den Leistungs-
drei Goldmedaillen bei Olympia in Cortina mergenossin angeblich berichtet haben druck im Nationalsport Ski alpin, über All-
d’Ampezzo 1956, sieben Weltmeistertitel, soll, von Kahr vergewaltigt worden zu sein, machtsgefühle bei Trainern und Betreuern
Österreichs »Sportler des Jahrhunderts«. gilt als beste Skiläuferin des 20. Jahrhun- sowie über das Martyrium Minderjähriger.
Ihm gelang, was auch den Fußball-»Hel- derts überhaupt. Und Sailer, verstorben Binnen weniger Monate melden sich bei
den von Bern« im Namen von Nachkriegs- 2009, war das Idol einer ganzen Nation. Werdenigg Dutzende Betroffene.
deutschland glückte: einem in Trümmern Wer ermessen will, welchen Schock die Unter dem Schlagwort WeTogether
liegenden Land wieder Grund zum Stolz aktuelle Affäre samt ihrer haarsträuben- gründet die Tirolerin eine Anlaufstelle für
zu geben. Sailer holte Olympiagold, drei den Einzelheiten für die skisportverrück- Missbrauchsopfer. »Für viele bin ich mitt-
Monate nachdem der letzte Besatzungs- ten Österreicher bedeutet, stelle sich vor, lerweile so etwas wie eine große Schwester,
soldat Österreich verlassen hatte. in Deutschland sähen sich Franz Becken- manche rufen mich jede Woche an, darun-
Die Frau, die hier Franziska Fuchs hei- bauer, Michael Schumacher und Steffi ter sind immer wieder auch Männer – die
ßen soll, spricht zum ersten Mal öffentlich Graf gleichzeitig dem Vorwurf ausgesetzt, tragen meist viel schwerer als die Frauen
über das, was nach ihrer Erinnerung am schwerwiegende Sexualdelikte entweder an dem, was sie erlebt haben.« Missbrauch
26. Januar 1975 in Innsbruck passiert sei. verübt oder verschwiegen zu haben. im Sport sei »kein rein österreichisches
Sie sagt, sie sei bereit, ihre Aussage bei der Lügt Moser-Pröll, wenn sie sagt, Kahr Phänomen«, sagt Werdenigg, »aber nur
Staatsanwaltschaft zu hinterlegen und als sei nicht ihr »Entjungferer« gewesen und bei uns ist es so, dass der Skisport das na-
Beweismittel in einem Verfahren, das zwei sie habe dergleichen auch nie gebeichtet? tionale Bewusstsein bestimmt – entspre-
andere österreichische Sportlegenden be- Lügt Kahr, wenn er sagt, er sei sein ganzes chend intensiv ist die Verflechtung von
trifft: den ehemaligen Erfolgstrainer Karl Trainerleben lang keiner Athletin zu nahe Sport, Politik, Medien und Wirtschaft.«
Kahr, Spitzname »Downhill-Charly«, als getreten – obwohl zwei eidesstattliche Er- Angeführt wird der Österreichische Ski-
Kläger; und die Weltklasseläuferin Anne- klärungen von Rennläuferinnen vorliegen, verband (ÖSV) seit 28 Jahren vom Tau-
marie Moser-Pröll als Zeugin. in denen von Vergewaltigung die Rede ist? sendsassa Peter »Schröcksi« Schröcks-
Kahr verklagt derzeit vor dem Bezirks- Und was ist mit Toni Sailer, der sich nicht nadel, einem Unternehmer, der sich selbst
gericht in Bludenz eine frühere Rennläu- mehr selbst rechtfertigen kann – mit ihm, als »patentierten Schwarzen« bezeichnet,
ferin wegen Verleumdung – sie hatte ihn dem der Rivale Jean-Claude Killy noch als Parteigänger der konservativen ÖVP.
massiver sexueller Übergriffe bezichtigt, am Sarg nachrief, er sei »auch menschlich Und die Kommission zur Untersuchung
auch unter Berufung auf angebliche frühe- ein ganz Großer, ja der Größte« gewesen? der Missbrauchsvorwürfe leitete die ehe-
re Aussagen der damals noch minderjäh- Franziska Fuchs sagt, nach ihrer Verge- malige steirische Regierungschefin Wal-
rigen, unverheirateten Annemarie Pröll. waltigung durch Sailer habe sie ihr Inners- traud Klasnic, ÖVP.
Kahr, unterstützt von Moser-Pröll, bestrei- tes gepanzert und sich von der Restwelt Die Nähe der Politik zum Skisport hat
tet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die abgewandt. Mit 17 wurde ihr aufgrund kie- Tradition. Als Toni Sailer, wie vom »Stern«
zusätzliche Aussage von Franziska Fuchs selgroßer Steine die Gallenblase entfernt, aufgedeckt, 1974 im polnischen Zakopane
könnte bei der Beweisaufnahme ins Ge- es folgte jahrelange Magersucht. Erst seit- wegen »Notzucht« mit einer Prostituierten
wicht fallen: Sie sagt dem SPIEGEL, Kahr dem sie über das, was damals geschehen verhaftet wurde, ließ Österreichs Regie-
sei am Tag ihrer Vergewaltigung in Inns- sei, sprechen könne, seitdem sie das Ge- rung nichts unversucht, den Nationalhel-
bruck dabei gewesen. fühl habe, mit ihrer Demütigung »nicht den herauszuboxen. Neu aufgetauchte Do-
»Unter dem Vorwand, mir als Fan eine mehr allein« zu sein, sagt Fuchs, gehe es kumente zeigen, dass damals auf Weisung
Autogrammkarte schenken zu wollen, hat ihr besser. Sie verdanke das alles Nicola des späteren Bundespräsidenten Rudolf
mich Toni Sailer in sein Zimmer gelockt«, Werdenigg. Kirchschläger »mit großem Nachdruck« in
erinnert sich Fuchs: »Dort schubste er Die Frau, die das Erdbeben in der öster- Polen interveniert wurde, um die Causa
mich aufs Bett und versuchte, in mich ein- reichischen Wintersportlandschaft ausge- spurlos zu bereinigen. Ein abschreckendes
zudringen« – anfangs ohne Erfolg. Sailer löst hat, war selbst Rennläuferin: Werde- Lehrstück? Keineswegs, urteilt Österreichs
sei dann erst einmal in aller Seelenruhe nigg verpasste 1976 in Innsbruck Olympia- aktueller Vizekanzler Heinz-Christian

110 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


VOTAVA / IMAGNO
Jahrhundertsportlerin Moser-Pröll 1978: »Und am nächsten Tag hat s’ uns paniert«
AKG-IMAGES / VOTAVA / IMAGNO

Jungstar Pröll 1971


WEREK / ULLSTEIN BILD

»Die Welt steht nimmer lang«

Skilegenden Werner Grissmann, Kahr, Sailer, Klammer 1975: Ungebrochenes Charisma

111
Sport

die weiter in Schladming lebt, sagt über


den hochrangigen ÖSV-Trainer: »Wenn ich
dem auf der Straße begegne, dann schau
ich weg.«
Wahr ist schließlich, dass eine der Da-
men, die ihren ehemaligen Trainer Kahr
vor der Staatsanwaltschaft der Vergewal-
tigung bezichtigt haben, jedes öffentliche
Aufsehen vermeiden will. »Ich will ja gar
nicht, dass dieses alte Manderl noch ins
Gefängnis kommt, mir geht’s nur um die
Gerechtigkeit und darum, dass er seinen
Ruf verliert«, sagt sie, die ihren Namen ge-

SPORT MOMENTS / DDP IMAGES


heim hält, und schaut dabei wild entschlos-
sen: »Sonst bauen sie ihm in Schladming
am Ende noch ein Denkmal.«
Gibt es ein strukturelles Problem im
österreichischen Spitzensport? Nein, heißt
es im Bericht der Untersuchungskommis-
sion, von systemimmanentem Verhalten
Paradestrecke Streif in Kitzbühel: »Die Ski laufen, und die Trainer saufen« könne keine Rede sein. Aber im Spitzen-
sport, sagt die ehemalige Rennläuferin
Werdenigg, sei Missbrauch so gängig wie
Strache: »Mit dieser letztklassigen Kam- Im größten Skileistungszentrum des Lan- in »anderen abgeschirmten Institutionen«
pagne schädigt man nicht nur das Anden- des leitet Veith das Jugendsporthaus – das – in Klöstern, Knästen, Kinderheimen.
ken Toni Sailers, sondern auch den für Internat, in dem die künftigen Medaillen- Von einer spezifisch »österreichischen
Österreich so wichtigen Wintersport und hoffnungen mit tatkräftiger finanzieller Kultur, einer Unkultur«, die viel mit Al-
den Wintertourismus.« Unterstützung durch das Land Steiermark kohol und der Suche nach weiblichem
Flankenschutz in allen Krisensituatio- untergebracht sind. Veith, der hier seit »Frischfleisch« zu tun habe, spricht die ehe-
nen garantiert bis heute das Boulevard- 36 Jahren im Einsatz ist, bestreitet nicht, malige britische Skirennläuferin Helen
blatt »Kronen Zeitung«, Co-Sponsor des dass es Missbrauch gab in der Vergangen- Scott-Smith. In ihrer aktiven Zeit sei sie
Skiverbands. »Krone«-Redakteure be- heit. Zeugen berichten von Ritualen wie heil davongekommen, später dann – in-
zweifeln die Redlichkeit von Nicola Wer- dem »Pastern« von Neuankömmlingen, zwischen Journalistin – vom Servicemann
denigg und beklagen die »Schlamm- wobei das Gesäß der Opfer mit Drahtbürs- eines österreichischen Weltcupfahrers ver-
schlacht« zulasten der nationalen Alpin- ten malträtiert und anschließend mit Zahn- gewaltigt worden. Auch Scott-Smith hat
legenden. Sie befragen den alten Kahr, pasta oder Schuhcreme eingerieben wird. sich erst nach Nicola Werdeniggs Outing
berichten anschließend begeistert vom Diese Zeiten aber seien auch in der Ka- an die Öffentlichkeit gewagt.
»Erlebnis«, ihn treffen zu dürfen, und vom derschmiede Schladming mittlerweile vor- Mittlerweile scheinen die ganz wilden
ungebrochenen Charisma des Downhill- bei, sagt Veith, die Schüler hätten heute Jahre vorbei zu sein. Jene Zeiten, da der
Charly. kleinere und besser gesicherte Zimmer: Vater des fünffachen Weltcupsiegers Marc
Letzteres ist schwer zu überprüfen, »Außerdem leben wir in einer viel trans- Girardelli noch launig anmerkte: »Haupt-
denn der vanillegelbe Bau im Ortskern parenter gewordenen Welt, jeder Übergriff sache, die Ski laufen, und die Trainer sau-
von Schladming, auf dem der Schriftzug würde doch sofort gefilmt und wenig spä- fen«, und die lebenslustige Annemarie Mo-
»Charly Kahr and Family« prangt, wirkt ter auf Facebook gestellt.« Über die in ser-Pröll auch abseits der Piste Gas gab,
dieser Tage wie verlassen. Kahr sei für den Schladming beschäftigten 35 Trainer sei was in der Erinnerung von Nicola Werde-
SPIEGEL nicht zu sprechen, sagt sein An- ihm nichts Negatives bekannt. nigg bisweilen so ablief: »Die hamma
walt Manfred Ainedter. Dabei ging es dem Wahr ist: Ein Schladminger Übungs- abends ins Zimmer tragen müssen, und
Medaillenschmied bis vor Kurzem noch leiter wurde vorigen Mittwoch zu einer am nächsten Tag hat s’ uns trotzdem pa-
blendend: Zu seinem 85. Geburtstag wur- Bewährungs- und Geldstrafe verurteilt. niert« – in Grund und Boden gefahren.
de ihm im Golf & Country Club Dachstein Der Mann soll einen 15-jährigen Schüler Und die juristische Aufarbeitung jener
Tauern, wo außer Kahr noch Arnold handgreiflich belästigt und einem anderen Jahre? Am 9. November wird in Bludenz
Schwarzenegger und Bernhard Langer Zögling per Smartphone das Bild eines auf Wunsch von Kahr weiterverhandelt.
Ehrenmitglied sind, ein rauschender Emp- männlichen Geschlechtsorgans zugeschickt Und gegen ihn selbst ermittelt die Ober-
fang bereitet. Auch Annemarie Moser- haben. Der Beschuldigte war in der Ver- staatsanwaltschaft Graz, auch das Justiz-
Pröll und Franz Klammer waren da. gangenheit als Trainer des Damen-Europa- ministerium in Wien hat sich eingeschaltet.
Der Schladminger Golfclub, auf 750 Me- cup-Teams tätig; der geschädigte Junge, Es geht um nicht weniger als den Ruf drei-
ter Seehöhe am Fuß des Dachstein-Mas- nach seinem Gang zur Polizei von Kame- er österreichischer Nationalhelden.
sivs gelegen, ist so etwas wie die größte raden gemobbt, hat mittlerweile einen Für Annemarie Moser-Pröll, als Sport-
gemeinsame Schnittfläche von Opfern, Selbstmordversuch hinter sich und ist in lerin des Jahrhunderts auf Augenhöhe mit
Tätern und Mitwissern. Hier treffen sich psychiatrischer Behandlung. Muhammad Ali, Carl Lewis und Pelé,
ehemalige Trainer und ihre Läuferinnen Wahr ist auch: Jener Spartentrainer des steht schon jetzt fest, dass nach dieser
an der Driving Range, hier kreuzen sich ÖSV, der als junger Mann vor Jahrzehnten Schlammschlacht für sie nichts mehr so
die Wege der Helden von einst und jetzt. bei der Massenvergewaltigung eines Mäd- sein wird, wie es mal war. »Die Welt«, rief
Nicht nur Charly Kahr golft hier, auch die chens in Schladming dabei war, hat sich sie zornig aus im Gerichtssaal zu Bludenz,
Olympiasiegerin Anna Veith, ehemals Fen- seither nichts mehr zuschulden kommen »steht nimmer lang.« Walter Mayr
ninger, ist Mitglied im Klub – genauso wie lassen. Er geht bis heute seiner Arbeit im Mail: walter.mayr@spiegel.de
ihr Schwiegervater Wolfgang Veith. Verband nach. Die Schwester des Opfers,

112
Dies aber, so die Staatsanwälte in ihrer Die Spur des Geldes beginnt Ende
Absurde im Mai vorgelegten Anklageschrift, sei
keine Betriebsausgabe. Der wahre Zweck
Mai 2002 in Österreich, bei der Raiff-
eisenbank in Kitzbühel. Beckenbauer
der Überweisung sei vielmehr eine Ent- überweist knapp 2 Millionen Franken, die
These lohnung Beckenbauers für seine formal
ehrenamtliche Arbeit als Chef des WM-
er sich bei der Raiffeisenbank geliehen
hat, auf das Konto eines Schweizer Rechts-
OK gewesen. anwalts. Von dort fließt das Geld nach
Justiz Das Landgericht Frankfurt Für die Richter des Frankfurter Landge- Katar, zum damaligen Fifa-Funktionär
hat die Anklage gegen Ex-DFB- richts war dies eine Steilvorlage, um die Mohamed Bin Hammam, seit 2011 wegen
Funktionäre in der Sommer- Anklage abzulehnen. Sie watschten die Korruption lebenslang für alle Fifa-Ämter
Staatsanwaltschaft mit einer Lektion in gesperrt.
märchen-Affäre abgelehnt. Eine Sachen Steuerrecht ab: Auch eine Ent- Nur 13 Tage später wandern weitere
Blamage für die Ermittler. lohnung Beckenbauers sei als Betriebsaus- 1,5 Millionen Franken auf dem gleichen
gabe anzusehen. Für die steuerliche Ab- Weg in den Orient. Geliehen, wie die
setzbarkeit einer Zahlung sei allein ent- 1,55 Millionen, die zwölf Tage später nach

D as Arbeitsprinzip des Sportjourna-


listen Alfred Draxler ist das eines
Unterziehleibchens: Keiner klebt so
eng am Deutschen Fußball-Bund wie der
scheidend, ob die Zahlung objektiv mit
dem Geschäftsbetrieb des WM-OK zusam-
menhänge. Im Klartext: Ob dabei getrickst
und gelogen wurde, ist juristisch egal.
Katar fließen. Eine weitere Million geht
am 2. Juli 2002 auf die Reise – macht ins-
gesamt 6 Millionen Franken von 10 Mil-
lionen, die der Katarer fordert. Becken-
Chefkolumnist der »Bild«, keiner umgarnt Ein Eigentor, zum Haareraufen dane- bauer verkauft Ende Juli sogar Aktien, um
die großen Namen so hautfreundlich wie ben. Denn wie die Staatsanwälte ange- weiterhin flüssig zu bleiben. Erst am
Draxler. sichts der Aktenlage darauf kamen, die 20. August kommt Kreditgeber Louis-
Das war schon so, als er 2015 den Ver- 6,7 Millionen Euro seien eine Entlohnung Dreyfus ins Spiel und überweist 10 Millio-
band nach einer angeblichen »Intensiv-
Recherche« in Schutz nahm. Nein, das
Sommermärchen, die deutsche WM 2006,
sei nicht gekauft gewesen, schrieb er in
einer Kolumne. Was der Leser damals
nicht erfuhr: dass Draxler seinen Artikel
zuvor noch dem amtierenden DFB-Präsi-
denten Wolfgang Niersbach zum Gegen-
lesen geschickt hatte, mit der devoten Be-
treffzeile »Ich kann noch alles ändern.«
Genauso ging das Stück vorab auch an
Elvira Netzer, Ehefrau von Altstar Günter
Netzer, der ebenfalls in jenen dubiosen

MATTHIAS HANGST / BONGARTS / GETTY IMAGES


Deal um 6,7 Millionen Euro aus der deut-
schen WM-Kasse verwickelt war: »Ich
kann noch alles ändern.«
So gesehen war es keine Überraschung,
dass Draxler in dieser Woche wieder für den
DFB jubelte. Hintergrund: Das Landgericht
Frankfurt hatte die Sommermärchen-Ankla-
ge gegen drei Ex-Funktionäre des DFB ver-
worfen, darunter Niersbach. Den Beschluss
legte Draxler gewohnt verbandsnah aus:
»Der schwere Vorwurf des Stimmenkaufs Beschuldigter Beckenbauer: Ein Eigentor, zum Haareraufen
wurde entscheidend entkräftet.« Eine Lesart,
die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat.
Die Frage, ob das Sommermärchen ge- des deutschen Fußballkaisers gewesen, ist nen Franken an Beckenbauers Anwalt in
kauft war oder nicht, war nämlich zu keinem nicht nachvollziehbar. der Schweiz. Der schickt davon 4 Millio-
Zeitpunkt Gegenstand der zweieinhalb Jahre Schließlich hatten sie Zugriff auf die Ak- nen an Bin Hammam, die restlichen 6 Mil-
währenden Ermittlungen. Die Aufmerksam- ten der Bundesanwaltschaft in Bern, die lionen fließen zurück zu Beckenbauer.
keit der Fahnder galt allein dem Verdacht ebenfalls in Sachen Sommermärchen er- Wie sich die Fahnder angesichts der
der schweren Steuerhinterziehung. Denn die mittelt: gegen Niersbach, Zwanziger und Hektik der Überweisungen, der Aktien-
Beschuldigten Theo Zwanziger und Horst R. Schmidt und gegen Beckenbauer, der, an- verkäufe und im Wissen um den notorisch
Schmidt hatten die 6,7-Millionen-Euro-Über- ders als im Frankfurter Verfahren, in der korrupten Empfänger in Katar zu der An-
weisung an die Fifa im Jahr 2005 als DFB- Schweiz ebenfalls zu den Beschuldigten sicht versteigen konnten, der DFB habe
Beitrag zu einer geplanten WM-Gala dekla- zählt. Geldwäsche, Untreue, Betrug und den Louis-Dreyfus-Kredit abgelöst, um Be-
riert und später von der Steuer abgesetzt. ungetreue Geschäftsbesorgung lauten die ckenbauer für seine OK-Tätigkeit zu ent-
Tatsächlich aber hatte die Fifa das Geld von dem DFB-Kleeblatt bestrittenen Vor- lohnen, bleibt rätselhaft. Immerhin, Alfred
direkt auf ein Konto des ehemaligen Adidas- würfe, weswegen auch die Finanzen und Draxler ist auf ihrer Seite. Und wenn er
Chefs Robert Louis-Dreyfus weitergeleitet. Konten Beckenbauers akribisch durch- mal wieder nicht recht hat – kein Problem:
Sie löste damit einen Privatkredit ab, den leuchtet wurden. Und die lassen die These »Ich kann noch alles ändern.«
der französische Milliardär dem deutschen der Frankfurter Staatsanwälte zum wah- Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
WM-Organisationskomitee-Chef Franz ren Verwendungszweck der 6,7-Millionen- Gunther Latsch, Jörg Schmitt
Beckenbauer im Jahr 2002 gewährt hatte. Zahlung absurd und lausig erscheinen.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 113


Wissenschaft+Technik
»Die Gallier hatten die abgeschlagenen Köpfe diverser Feinde recht hübsch in Szene gesetzt.« ‣ S. 126

Fußnote

3 Millionen
Jahre würde die Natur wohl mindes-
tens benötigen, um einigermaßen zu
reparieren, was in erster Linie der
Mensch kaputt macht: Konkret geht es
um den Verlust biologischer Diversität
bei Säugetieren. Wie Forscher aus
Dänemark und Schweden berechneten,
brauchte es einen so langen Evolutions-
zeitraum, um die Folgen des Massen-
aussterbens zu kompensieren und
eine vergleichbare Vielfalt an Abstam-
mungslinien wiederherzustellen.

Verhaltensforschung
Mehr Sex für Softies
 Gorillamännchen, die beim Kinder-
hüten helfen, haben bessere Chancen
auf Sex und Fortpflanzung. Das fanden
Forscher der Northwestern University
in Illinois bei der Beobachtung von drei
Berggorillagruppen in Ruanda heraus.
Anders als angenommen ließen sich die
Weibchen weniger von Muskeln und
martialischem Auftreten begeistern als
vom Anblick eines kinderlieben Männ-
chens, das sich regelmäßig um den
eigenen oder fremden Nachwuchs küm-
mert. Tatsächlich hätten diejenigen
Gorillas, die eine intensive Bindung
zum Gruppennachwuchs aufbauen
konnten, mehr Reproduktionschancen
als ihre Konkurrenten – und zwar
unabhängig vom Gruppenrang. Warum
das so ist, lasse sich bisher nicht beant-
worten, teilen die Biologen mit. Sie
SIMON TOWNSLEY

wollen nun herausfinden, ob es einen


Zusammenhang mit dem Testosteron-
spiegel gibt. GUI

Das Monster lauert irgendwo da draußen, und die Wissenschaftler in den


weißen Schutzanzügen wollen es finden. Es tötete in den vergangenen
Jahrzehnten bereits Tausende Menschen, streift durch Afrika südlich der
Sahara und heißt Ebola. Das Team, das hier an einem Hügel in Sierra
DANITA DELMONT / INTERFOTO

Leone posiert, vermutet eine neue Variante des Virus in Fledermäusen;


es sammelt daher Proben der Flugsäuger ein. Es ist ein wichtiger Kampf,
den die Forscher führen: Der Gegner kann jederzeit auftauchen. Zurzeit
wütet er in der Demokratischen Republik Kongo, wo seit Mai mehr als Gorillas
hundert Menschen an Ebola gestorben sind. Die WHO ist »tief besorgt«.

114
Gesundheit Hellbrück: Eindeutig von nächtlichem
Lärm, zum Beispiel durch Straßengeräu-
»Ein Geräuschteppich liegt auf dem Land« sche, unter denen die meisten Menschen
leiden. Schlafmangel wirkt sich negativ auf
Jürgen Hellbrück, 68, emeritierter Umweltpsychologie-Professor an der Herz, Immunsystem und psychische
Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, über die Gefahren durch Lärm, Gesundheit aus.
dem kaum jemand noch entkommen kann SPIEGEL: Mit dem Trend zu Elektroautos
besteht Hoffnung, dass es zumindest auf
SPIEGEL: Die Weltgesundheitsorgani- brauchten zum Beispiel viel mehr groß- den Straßen leiser wird.
sation WHO hat vergangene Woche eine flächige Tempo-30-Zonen. Hellbrück: Nur im unteren Geschwindig-
neue Empfehlung zur maximalen Lärm- SPIEGEL: Kann sich der moderne Mensch keitsbereich sowie beim Anfahren vor
belastung präsentiert, die Deutschland an die Dauerbeschallung gewöhnen? Ampeln und Kreuzungen. Beim fließenden
schlecht dastehen lässt. Wird hierzulande Hellbrück: Definitiv nicht. Untersuchun- Verkehr dominiert das Rollgeräusch. Aber
zu wenig getan, um Menschen vor allzu gen zeigen, dass die Bevölkerung beim Fahrzeuge, die kaum zu hören sind, sind
lauten Geräuschen zu schützen? Thema Lärm sensibler geworden ist. Das gefährlich. Deswegen verlangt eine EU-
Hellbrück: Ja. Handlungsbedarf gibt es liegt wohl auch daran, dass die Menschen Verordnung, dass die Hersteller von Elektro-
unter anderem dort, wo man es nicht auf insgesamt gestresster sind und der Dauer- autos bis Mitte 2019 das fehlende Motoren-
Anhieb vermutet: bei Windkraftanlagen. beschallung kaum noch entkommen kön- geräusch durch ein künstliches, gut hörbares
Nach der neuen WHO-Empfehlung soll- nen. Selbst beim Waldspaziergang sind ja Signal kompensieren, um andere Verkehrs-
ten sie 45 Dezibel nicht überschreiten; oft noch Autobahnen, Flugzeuge und teilnehmer zu warnen. Das ist einerseits
doch bei uns werden Anlagen bewilligt, Motorsägen zu hören. sinnvoll, birgt aber auch eine Gefahr.
die deutlich mehr Lärm verursachen. Das SPIEGEL: Von welchem Lärm geht das SPIEGEL: Welche?
rhythmische Rauschen, das von ihnen größte Gesundheitsrisiko aus? Hellbrück: Würden die Fahrzeughersteller
ausgeht, ist lästig und passt zur generellen der Versuchung erliegen, als Außengeräu-
Lärmentwicklung. sche sozusagen »Corporate Identity
SPIEGEL: Wie meinen Sie das? Sounds« zu kreieren, die unverwechselbar
Hellbrück: Es liegt heute ein durchgehen- für ihre Marke sind, könnte dies in einer
der Geräuschteppich auf dem Land, der Kakofonie enden. Dann hätten wir den
nicht nur dadurch verursacht wird, dass Lärm wieder, den wir eigentlich bekämpfen

PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT


der Verkehr stark zugenommen hat, son- wollten, und manch einer würde sich wo-
dern eben auch an Windkraftanlagen liegt. möglich in die Zeit der Benziner zurückseh-
Leider ist wenig politischer Wille erkenn- nen, zumindest akustisch betrachtet. GUI
bar, die dadurch verursachte Belastung zu
bekämpfen. Bei nahezu allen Lärmquel- Jürgen Hellbrück/Rainer Guski: »Lauter Schall:
len besteht noch großes Potenzial für eine Wie Lärm in unser Leben eingreift«. wbg Academic;
Minderung der Schallbelastung. Wir 264 Seiten; 49,95 Euro.

Kommentar

Anspruchslos?
Hobbyarchäologen, die wertvolle Entdeckungen machen, sollten einen angemessenen Finderlohn erhalten.

Bei Grabungsarbeiten im eigenen Garten stößt man eher auf dem Landwirt 48 000 Euro; nun kämpft er auf Grundlage eines
widerspenstiges Wurzelwerk als auf archäologische Kostbarkei- Gutachtens für eine siebzehnfach so hohe Zahlung. Verliert
ten. Ganz ausgeschlossen sind Schatzfunde aber nicht. Heraus- er, könnte er sich damit trösten, dass er heute wohl noch viel
ragend ist der Fall jenes vergoldeten Pferdekopfes, der ab weniger bekäme als 48 000 Euro.
Anfang November auf der spektakulären Archäologieschau Wie in allen anderen Bundesländern (außer in Bayern) wurde
»Bewegte Zeiten« in Berlin präsentiert wird. in Hessen mittlerweile das »Schatzregal« eingeführt, nach dem
Der Landwirt, auf dessen Grundstück im hessischen Waldgir- alles, was im Boden steckt und von wissenschaftlichem Wert ist,
mes das Objekt entdeckt wurde, kämpft seit Jahren für eine ange- komplett dem Bundesland gehört. Hobbyschatzsucher, die ohne
messene Belohnung; doch das Land will diese nicht zahlen. Nun Erlaubnis suchen und Funde nicht melden, machen sich daher
wird der Fall vorm Oberlandesgericht Frankfurt am Main verhan- strafbar. Das ist richtig und wichtig so; denn es dient dem Zweck,
delt und wirft ein Schlaglicht auf eine Frage, über die seit Langem der Raubgräberplage Einhalt zu gebieten und illegalen Handel
erbittert gestritten wird: Sollten Privatpersonen, die auf wissen- möglichst zu unterbinden.
schaftlich wertvolle Fundstücke stoßen, angemessen profitieren? Allerdings führt das Schatzregal dazu, dass die Behörden bei
Der Bauer kann froh sein, dass der Pferdekopf, der wohl zu Finderlöhnen meist äußerst zurückhaltend sind und Entdecker
einem 2000 Jahre alten Reiterstandbild von Kaiser Augustus mancherorts Anspruch auf rein gar nichts haben. Dabei wären
gehörte, bereits 2009 ans Tageslicht kam. Damals galt im Land angemessene Zahlungen eine zusätzliche Motivation für Sonden-
noch das Prinzip der »Hadrianischen Teilung«, nach der Ent- gänger und Hobbyarchäologen, fleißig und sorgfältig weiterzu-
decker oder Grundstückseigner Anspruch auf die Hälfte des suchen – und ihre Entdeckungen auch zu melden. Fest steht, dass
Artefaktwerts haben. So wird nicht darüber gestritten, ob ge- noch viele Spitzenartefakte im Boden stecken. Berufsarchäo-
zahlt wird, sondern nur, in welcher Höhe. Das Land überwies logen werden sie allein nicht finden können. Guido Kleinhubbert

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 115


Wissenschaft

Das Gen-Orakel
Medizin Jahrelang suchten Forscher im Erbgut vergebens nach den Ursachen der großen
Volkskrankheiten. Nun endlich melden sie Erfolge: Dank Auswertung Hunderttausender
DNA-Tests gelingt es immer besser, das gesundheitliche Schicksal von Menschen vorherzusagen.

D
ieser Mann war anders als andere puterhilfe, statistische Wahrscheinlichkeits- und seine Kollegen. Sie stellten dabei fest:
Männer. Nie zuvor hatte John aussagen zu treffen, wie groß, wie klug Bei denjenigen Patienten, die einen Herz-
Kauwe einen Menschen gesehen, oder wie gesund der Träger eines bestimm- infarkt erlitten hatten, war der polygene
der selbst in den großzügig be- ten Genoms vermutlich sein mag. Risikowert im Vergleich zu anderen Pa-
messenen Sitzen der First Class seine Bei- Sekar Kathiresan hat die Kunst der ge- tienten im Schnitt tatsächlich auf das Vier-
ne so jämmerlich zusammenfalten musste. netischen Kaffeesatzleserei weit vorange- fache erhöht.
Kauwe kam mit dem Riesen neben ihm trieben. Der Kardiologe vom Massachu- Es setzt sich damit jetzt eine Form der
ins Gespräch. Er hatte Shawn Bradley vor setts General Hospital hat in »Nature Ge- Genetik durch, die sich maßgeblich unter-
sich, der vor rund 20 Jahren als einer netics« sogenannte polygene Risikowerte scheidet von dem, was in den Schulen ge-
der größten Spieler der Basketballliga für fünf häufige Krankheiten vorgestellt. lehrt wird. Seit vielen Jahrzehnten lernen
NBA für Furore gesorgt hatte. Bradley wie- Schon im Kindesalter kann er demnach die Schüler dort, mit dominanten und re-
derum war erfreut, als sich sein Sitznach- am Erbgut ablesen, wie wahrscheinlich es zessiven Merkmalen zu hantieren und mit
bar als Genetiker vorstellte. Ob Kauwe ist, dass ein Mensch dereinst einmal an Stammbäumen, die aus Quadraten und
denn das Geheimnis seines Riesenwuchses Diabetes Typ 2, an Arteriosklerose der Kreisen bestehen.
(2,29 Meter) lüften könne, fragte er. Herzkranzgefäße, an Brustkrebs, chro- Als im Jahr 2000 die Entzifferung des
Aus der Flugzeugbekanntschaft wurde nisch entzündlicher Darmerkrankung oder menschlichen Genoms verkündet wurde,
ein Forschungsprojekt. Inzwischen hat an Vorhofflimmern leiden wird. da schien es, als erlebten diese mendel-
Kauwe veröffentlicht, was dabei heraus- »Bald wird der Begriff ›polygenes Risi- schen Vererbungsregeln ihren ultimati-
gekommen ist: Das vermeintliche Geheim- ko‹ so geläufig sein wie heute der Begriff ven Triumph. Die Grundlage für ein ge-
nis gibt es gar nicht. In Bradleys Erbgut ›Cholesterin‹«, prophezeit Kathiresan. In netisches Verständnis des Menschen sei
findet sich keine Spur eines Goliathgens. der Medizin der Zukunft werde die Prä- gelegt; nun werde es nur noch 10, höchs-
Seine Erbanlagen sind normal, außerge- tens 15 Jahre dauern, bis der Schlüssel
wöhnlich ist nur deren Mischung. Kauwe zur Behandlung großer Volksleiden wie
und seine Kollegen wiesen viele Hundert Die genetische Alzheimer und Diabetes gefunden sei, ver-
genetische Varianten nach, von denen jede Wirklichkeit hat mit sprach Francis Collins, seinerzeit Leiter
Bradley ein klein wenig weiter aufschießen des »Human Genome Project«. Bei Dia-
ließ. Zusammengenommen machten sie den mendelschen betes Typ 2 zum Beispiel vermutete er,
ihn übergroß. Regeln wenig zu tun. dass nur rund ein Dutzend Gene am Werk
Botschaften wie jene, die der Genfor- seien, die man nun im Handumdrehen
scher Kauwe im Erbgut des Basketballers dingfest machen werde.
fand, begegnen seinen Kollegen derzeit vention im Mittelpunkt stehen, das Errech- Zehn Jahre später war Ernüchterung
allerorten: Sie stellen fest, dass es nicht nen von Krankheitsrisiken bekomme da eingekehrt. Der medizinische Nutzen des
einzelne Genvarianten gibt, die uns ag- zentrale Bedeutung. Genomprojekts sei »fast gleich null«, sagte
gressiv oder trübsinnig machen. Die viel In einer Klinik für präventive Herz- im SPIEGEL-Gespräch (26/2010) der nie
beschworenen Intelligenz- oder Schwu- medizin behandelt Kathiresan Menschen, um drastische Formulierungen verlegene
lengene: nichts als Phantome. Und auch die, oft geschockt vom unvermittelten Genforscher Craig Venter, der selbst eine
für Herzinfarkt, Demenz oder Schizo- Herztod naher Verwandter, nach Erklä- der Schlüsselfiguren der Genomentziffe-
phrenie sind nicht bestimmte Erbanlagen rungen suchen für den Schicksalsschlag. rung gewesen war. »Jedermann hat erwar-
verantwortlich. »Bisher beruht unsere Anamnese auf drei tet, im Erbgut wundersame Ja-Nein-Ant-
Die Erklärung: Gene wirken nicht ein- Säulen«, sagt Kathiresan. »Erstens: Wir worten zu finden: ›Ja, Sie werden Krebs
zeln, sie stehen in komplexem Wechsel- befragen die Leute nach ihren Gewohn- kriegen‹ oder ›Nein, Sie werden keinen
spiel miteinander. Jedes unserer Merkmale heiten – also ob sie rauchen, was sie essen Krebs kriegen‹. Aber so einfach ist es eben
wird von Hunderten oder gar Tausenden oder wie viel sie sich bewegen. Zweitens: nicht«, sagte er.
Varianten im Erbgut bestimmt, und umge- Wir bestimmen ihre Blutfettwerte. Und Denn die genetische Wirklichkeit hat
kehrt hat jedes Gen seinen Anteil an Hun- drittens: Wir machen klinische Unter- mit den mendelschen Regeln wenig zu
derten unserer Eigenschaften. suchungen, mit EKG zum Beispiel, mit tun. »Die sind in den meisten Fällen bloße
Doch so verworren dieses Dickicht auch Angiografie oder mit Ultraschall.« Nun Labor-Artefakte«, konstatiert der Gen-
scheinen mag: Inzwischen beginnen For- aber sei die Zeit reif, eine vierte Säule ins forscher Steven McCarroll von der Har-
scher vorzudringen ins genetische Wir- Gebäude der Medizin einzuziehen: die vard-Universität. »Aber Mendel steckt
kungsgeflecht. Zwar verstehen sie die Rol- polygenen Risikowerte. eben tief in den Köpfen.«
le all der zahllosen Gene und ihrer Vari- Ein Abgleich mit Patientendaten in Sehr viele Erkenntnisse seines Fachs
anten nicht, dazu sind deren Regelkreise zwei Bostoner Krankenhäusern gibt ein beruhten auf Experimenten mit Labor-
viel zu verwirrend. Doch auch ohne ein Gefühl für den Vorhersagewert: 20 000 mäusen, erklärt McCarroll. Die aber seien
wirkliches Verständnis gelingt es mit Com- Krankenakten durchforsteten Kathiresan durch langjährige Inzucht genetisch bei-

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WELLCOME IMAGES

Lagerroboter mit DNA-Proben in der »UK Biobank«: Woran liegt es, dass wir uns grundlos elend fühlen?

117
Wissenschaft

Genomweite Assoziationsstudien Bei polygenen Krankheiten ist der Einfluss einzelner Gene meist sehr
gering. Unterschiede zwischen Krankheits- und Kontrollgruppe werden
deshalb erst sichtbar, wenn in den GWAS die Daten besonders vieler
Probanden (typischerweise Hunderttausende) miteinander verglichen
werden.
Monogene Erbkrankheiten werden durch den Defekt ein-
zelner Gene verursacht. Tausende solcher Leiden sind be-
kannt, die meisten treten eher selten auf. Die Vererbung folgt
den mendelschen Regeln.

Polygene Leiden entstehen Für jede Krankheit wird ein sogenanntes Manhattan-Diagramm
im Wechselspiel vieler Gene mit erstellt. Bestimmte Orte im Erbgut stechen darin hervor. Mutationen
Umwelteinflüssen. Sie sind weit- an diesen Stellen sind unter Erkrankten häufiger als in der Kontroll-
verbreitet, wie etwa Diabetes, gruppe.
Arteriosklerose oder Alzheimer.
Da die mendelschen Regeln bei
ihnen nicht anwendbar sind,
wird der Einfluss dieser Gene in
»genomweiten Assoziationsstu-
dien« (GWAS) untersucht.
Dazu prüft man bei Millionen
Genvarianten, wie häufig sie in
einer Gruppe von Patienten
sowie in einer Kontrollgruppe
von Gesunden auftreten.
Anschließend werden die er-
mittelten Werte verglichen. Chromosom 1 2 3 … … Chromosom 22
Abbildung aller Orte des Genoms

nahe identisch. Deshalb ließen sich bei lysen und Befragungen von 1 310 010 Pro- gradig erblich. Aber auch die Haarfarbe,
ihnen Abweichungen von der Norm oft banden sind eingeflossen, 956 Genen wur- die Kraft des Händedrucks und die Vor-
auf die Wirkung einzelner Genmutatio- de ein – wenngleich jeweils sehr geringer – liebe für Weißwein haben Forscher auf
nen zurückführen. In der Natur sei das schädlicher Einfluss auf den Schlaf be- ihre genetischen Anteile hin studiert; und
anders: Eine Mutation finde sich in je- scheinigt. sie haben Manhattan-Diagramme und Ri-
dem Individuum in anderer Umgebung Ärzte und Forscher stehen einer verwir- sikofaktoren von Glatzenbildung, Verein-
wieder. Die Wirkung sei deshalb oft kaum rend komplexen genetischen Landschaft samung und der Wahrscheinlichkeit, sich
vorhersehbar. gegenüber. Ihre Erkenntnisse stellen sie in scheiden zu lassen, ermittelt.
Die Schwierigkeit bestand also nicht Form von »Manhattan-Diagrammen« dar, »Mir gefällt ganz besonders die Studie
darin, das Dutzend der Diabetesgene zu die so heißen, weil diese Schaubilder einer über die Neigung, sich grundlos elend
finden. Das Problem war, dass es diese Skyline ähneln, in der Hunderte Stellen zu fühlen«, meint Benjamin Neale. »Sehr
Gene nicht gab. Anfangs untersuchten im Erbgut wie Wolkenkratzer im Häuser- britisch.«
die Forscher das Erbgut einiger Hundert meer aus dem Rauschen ihrer genetischen Neale hat am Broad-Institut in Cam-
Patienten, fest überzeugt, dass sich darin Nachbarschaft herausragen. bridge bei Boston die Genetik psychiatri-
Auffälligkeiten zeigen müssten, die die Die Genetik ist damit zum Terrain scher Leiden analysiert. Sein Fazit: »Die
Erkrankung erklären könnten. Sie fan- der Big-Data-Wissenschaft geworden. Gene, die dabei eine Rolle spielen, über-
den – nichts. Führend sind die Briten. Sie haben in ih- schneiden sich.« So finden sich typische
Erst als sie die Zahl der Studienteil- rer »UK Biobank« die Krankenakten von Genvarianten Schizophrener oft auch im
nehmer drastisch erhöhten – zunächst auf 500 000 Personen gehortet und mit den Erbgut von Patienten mit Depression oder
Tausende, dann gar auf Zehntausende Daten des Erbguts verkoppelt. Die Ame- bipolarer Störung. »Der Verdacht, dass
Probanden –, wurden Zusammenhänge, rikaner kämpfen zwar noch mit organisa- diese Diagnosen nicht so scharf sind, wie
komplexe Muster, zwischen Mutationen torischen Problemen. Doch wenn diese die Psychiater glauben machen wollen, be-
und Krankheiten sichtbar. Doch die Kor- überwunden sind, dann wollen sie die Bri- stätigt sich«, meint Neale.
relationen in den sogenannten genomwei- ten mit einer Millionen-Probanden-Datei Auch bei anderen Leiden, sagt er, hätten
ten Assoziationsstudien (GWAS) waren namens »All of Us« übertrumpfen. GWAS faszinierende medizinische Einsich-
viel zu schwach, als dass sie als eindeutige So entsteht ein unermesslicher geneti- ten möglich gemacht. Bei Alzheimer zum
Ursache für einzelne Krankheiten hätten scher Datenschatz, in dem Forscher nach Beispiel lenkten sie die Aufmerksamkeit
herhalten können. Zusammenhängen schürfen dürfen. Beson- der Forscher auf bestimmte Immunzellen
Es mehrten sich bereits die Stimmen ders beliebt sind GWAS zur Körpergröße, im Gehirn (»Mikroglia«). Im Fall der Schi-
derer, die aufgeben wollten. Die Hartnä- denn die ist leicht zu messen und hoch- zophrenie nährten sie den Verdacht, dass
ckigen jedoch insistierten. Sie machten die Rückbildung neuronaler Kontaktstel-
sich daran, nun sogar das Erbgut von Hun- len (»Pruning«) eine entscheidende Rolle
derttausenden zu durchforsten. Und end- spielt. Und bei der Darmerkrankung
lich begannen sich plötzlich, verstreut über Sogar die Kraft des Morbus Crohn offenbarten sie die Bedeu-
alle Chromosomen, lauter genetische Ein- Händedrucks und tung der zelleigenen Verdauung (»Auto-
flüsse vom statistischen Rauschen abzuhe- phagie«).
ben. Den Rekord hält derzeit eine GWAS
die Vorliebe für Weißwein Ihren größten Einfluss aber, da sind sich
zu Schlafstörungen: Daten aus DNA-Ana- haben Genforscher studiert. die Experten einig, werden die GWAS in

118 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Das Auto
von morgen
weiß selbst,
wohin es
fahren soll.
Wissenschaft
GRETCHEN ERTL NYT / REDUX / LAIF

GLENN JAMES / GETTY IMAGES


Risikoforscher Kathiresan, Basketballer Bradley (2. v. r.) mit Teamkollegen 2004: Das vermeintliche Geheimnis gibt es gar nicht

der Prävention entfalten. Der Kardiologe zielt Risikoprobanden für ihre Arznei- Kathiresan hält solche Sorgen für über-
Kathiresan will dafür sorgen, dass seine mittelstudien auswählen. trieben. Schließlich hätten die Menschen
Risikowerte in der Klinik möglichst schnell Kathiresan ist überzeugt davon, dass auch gelernt, mit den Risiken umzugehen,
weite Verbreitung finden. Sie zu ermitteln sich die polygenen Risikowerte schon bald die mit einem hohen Blutdruck oder Cho-
werde nicht mehr als 100 Dollar pro Pa- in der klinischen Praxis durchsetzen wer- lesterinwert verbunden sind. Warum, fragt
tient kosten. Wer bereits einen DNA-Test den. Er spricht von einer Zukunft, in er, solle es bei den polygenen Risikowerten
bei 23andMe, Ancestry oder einem ande- der jedes Kind auf ein Dutzend oder anders sein?
ren Erbgutanalyse-Anbieter hat machen mehr Krankheiten hin getestet werden Fragwürdiger scheint ihm der Nutzen
lassen, braucht gar nichts zu zahlen: Die könnte. Das dabei erstellte genetische Risi- der Studien zur Verhaltens- und kogniti-
Datensätze dieser genetischen Dienst- koprofil werde es sein Leben lang beglei- ven Genetik, bei denen meist menschliche
leister reichen aus, um daraus die Risiko- ten. Ärzte könnten darin jederzeit ablesen, Eigenschaften untersucht werden, die kei-
werte zu errechnen. auf die Symptome welcher Krankheiten nerlei Krankheitswert haben. Was nutze
Den Nutzen hält Kathiresan für erheb- sie besonders achten sollten. es, fragt Kathiresan, die genetische Veran-
lich. So wird der Mediziner fortan bei Eine Medizinbranche, die sich nicht nur lagung zur Intelligenz, zur Aggression
Patienten, die sich als besonders infarkt- der Kranken, sondern auch der Gesunden oder zur Vereinsamung zu bestimmen?
gefährdet erweisen, viel früher mit einer bemächtigt; Ärzte, die von der Krippe an Viel Aufmerksamkeit bekam jüngst eine
cholesterinsenkenden Statintherapie be- das Leben regieren: Manch einer mag die- GWAS, die den Einfluss der Gene auf
ginnen können. Studien sprächen dafür, se Vorstellung beklemmend finden – umso den Schulerfolg analysierte. Die Forscher
dass selbst diejenigen davon profitieren, mehr, als noch ungewiss ist, wie hilfreich werteten die Daten von mehr als 1,1 Mil-
die gar keinen erhöhten Cholesterinwert statistische Risikoaussagen für die Men- lionen Probanden aus und spürten am
haben. schen wirklich sind. Werden sie, wenn ein Ende 1271 genetische Varianten im Erbgut
Frauen mit hohem Risikowert für Brust- DNA-Test ihnen eine Veranlagung zu Ar- auf, die gute Schulleistungen zu begünsti-
krebs könnten Ärzte häufigere Mammo- teriosklerose oder Diabetes attestiert, ihre gen scheinen.
grafien empfehlen. Für Menschen mit Lebensweise entsprechend ändern, oder Doch ihr Effekt ist gering. Außerdem
hohem Diabetesrisiko wäre der Befund wird der Befund nur unnötig Ängste schü- ist fraglich, wozu dieses Wissen eigentlich
eines DNA-Tests möglicherweise ein zu- ren? Viele könnten das Ergebnis des Tests dient. Sollten Kinder, denen der Test eine
sätzlicher Ansporn, ihr Körpergewicht als Schicksalsspruch begreifen, obwohl hohe Begabung bescheinigt, besonders
zu kontrollieren. Patienten mit geneti- eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Lei- gefördert werden? Sollten umgekehrt die
scher Neigung zum Vorhofflimmern wie- den zu entwickeln, noch lange nicht heißt, potenziellen Schulversager von vornhe-
derum könnten vorsorglich Blutverdünner dass man wirklich erkrankt. rein Extranachhilfe bekommen?
nehmen. Außerdem birgt die anschwellende Gen- In einer Handreichung zu ihrer Studie
Schwieriger ist es, jene Tests zu begrün- datenflut die Gefahr von Missbrauch. Was, geben die Autoren Lesehilfen. Auf die
den, bei denen das Wissen um ein erhöhtes wenn Krankenkassen, Lebensversicherer Frage, welche politischen Konsequenzen
Risiko nicht weiterhilft. Was zum Beispiel oder Arbeitgeber Zugriff darauf bekom- zu ziehen seien, geben sie darin eine klare
nützt es einem Patienten, wenn der Arzt men? Die Einsicht in die Krankenakten ist Antwort: überhaupt keine.
ihm eröffnet, dass er Gefahr läuft, einen dazu oft gar nicht nötig. Beim genealo- Sie wollen ihre Arbeit als reine Grund-
Morbus Crohn zu entwickeln? Ein Mittel, gischen Dienstleister GEDmatch zum lagenforschung verstanden wissen. Doch
wie sich der Ausbruch der Krankheit ver- Beispiel sind die genetischen Daten der räumen sie ein, dass ihre Studie mögli-
hüten ließe, gibt es bisher nicht. Immerhin, Kunden frei zugänglich. Jedermann könn- cherweise zu Missverständnissen oder gar
sagt Kathiresan, zeige sich die Pharma- te daraus mit der richtigen Software Risiko- Missbrauch einlade. Johann Grolle
industrie interessiert: Die würde gern ge- werte errechnen.

120 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Die Planer
von morgen
haben alle
Details im Blick.
Wissenschaft

Derweil erhöht sich auch von europäi-

Bitte teilen scher Seite der Druck auf die Verlage, den
Wandel zu vollziehen. Anfang September
beschlossen elf europäische Forschungs-
organisationen, unterstützt von EU-Kom-
Forschung Wem gehört das mission und Europäischem Forschungsrat,
Wissen der Welt? Eine wachsende ab 2020 nur noch dann Projekte finanziell
zu fördern, wenn deren Ergebnisse frei zu-
Bewegung will erreichen,
gänglich veröffentlicht werden.
dass neue Veröffentlichungen Beim offenen Zugriff geht es indes um
künftig frei zugänglich sind. mehr als Geld. Es geht um das Recht,
am Weltwissen teilzuhaben – und um die


Freiheit vor allem junger Forscher, ihre

V or ein paar Tagen wollte Maik Luu,


Immunologe an der Universität
Marburg, eine Studie im Fachjour-
nal »Cell Metabolism« lesen. Er hoffte auf
Daten dort einzureichen, wo sie es für rich-
tig halten.
Für radikale Verfechter der Bewegung
wie den britischen Paläontologen Jon
Erkenntnisse für seine eigenen Experimen- Tennant bremsen die Bezahlschranken
te. »Mehr als eine kurze Zusammenfas- den Fortschritt in drängenden Fragen:
Mit öffentlichen Geldern unterstützte
sung konnte ich aber nicht einsehen«, sagt »Nur die Wissenschaft kann Lösungen für
Wissenschaftler schreiben über die
der Doktorand. Denn die Zeitschrift er- Ergebnisse ihrer Forschung. Probleme wie Klimawandel, Armut und
scheint im Fachverlag Elsevier, und mit Biodiversitätsverlust liefern«, sagt er, »da
dem hat seine Hochschule – so wie mehr Der Artikel wird bei einem wissen- ist es nicht hilfreich, den meisten Men-


als hundert weitere deutsche Universitäten schaftlichen Journal eingereicht. schen den Zugriff auf die Daten zu ver-
und Forschungseinrichtungen – Ende 2017 sperren.«
die Aboverträge auslaufen lassen. Ein Redakteur gibt die Nachwuchsforscher wie Maik Luu sind
Der Grund: Die Institutionen wollen Arbeit an Fachleute weiter, mit dem Internet aufgewachsen. Sie wis-
sich nicht mehr dem Preisdiktat der wis- die den Text begutachten sen, dass sie sich die meisten Artikel oh-
senschaftlichen Großverlage beugen. Rund (Peer Review). nehin über Piraten-Websites wie »Sci-
100 Millionen Euro zahlten sie bislang all- Hub« beschaffen können, sie glauben an
jährlich vor allem an Marktführer wie Else- Deren Feedback kann zur Ablehnung die Zukunft der offenen Wissenschaft.
vier, Springer Nature oder Wiley. Nur so führen oder zur Verbesserung – bis Längst gibt es Open-Access-Journale, in
dürfen Wissenschaftler auf Veröffentlichun- der Verlag der Veröffentlichung zustimmt. denen sie ihre Arbeiten verbreiten könn-
gen zugreifen, die mithilfe öffentlicher För- ten. Nur: Ihrer Karriere tun sie damit kei-
derung zustande kamen und auch noch nen Gefallen.
von Wissenschaftlern begutachtet wurden, »Selbst wenn ein solches Journal wirk-
die mit Steuergeldern bezahlt werden – lich großartige Papers veröffentlicht«, sagt
das ist der große Unterschied zu normalen Luu, »würde sich jeder Jungwissenschaft-
Verlagen, deren Autoren (und Lektoren) ler, der die Wahl hat, immer für eine eta-
keine staatliche Unterstützung erhalten. blierte Zeitschrift entscheiden.« Denn je
Ist das gerecht? Das System beschert den Traditionell teuer angesehener das Journal, desto besser die
Verlegern Traummargen von rund 30 Pro- Die klassische Veröffentlichung Aussichten auf Fördergeld und Festanstel-
zent. Und die Umsätze steigen weiter: bei über einen Fachverlag lung. »Ohne hochrangige Publikationen
Elsevier etwa um fünf Prozent pro Jahr. hat man kaum Chancen, überhaupt in ein
»Dieses Geschäftsmodell ist überholt«, Der Verlag fordert von allen Bibliotheken Berufungsverfahren zu kommen«, sagt
urteilt Horst Hippler, bis vor Kurzem Prä- und Forschungseinrichtungen, aber auch Thomas Korff, Physiologieprofessor an der
sident der Hochschulrektorenkonferenz von Privatpersonen, die den Artikel lesen Universität Heidelberg.
und gegenwärtig Verhandlungsführer der wollen, Gebühren. € Die Währung, mit der sich viele Nach-
Allianz der deutschen Wissenschaftsorga- wuchsforscher ihre Laufbahn erkaufen

nisationen im »Projekt Deal«. Hippler und müssen, heißt »Impact Factor«. Die Zahl
seine Mitstreiter wollen die Verlage wei- gibt an, wie häufig Beiträge bestimmter

terhin bezahlen – aber vor der Veröffent- Fachblätter in anderen Forschungsarbeiten


lichung, und zwar aus dem Budget der For- zitiert werden – wie wichtig die Erkennt-
scher, die die Artikel verfasst haben. nisse also offensichtlich sind.
Die Berichte wären dann im Netz frei Da der Faktor aber einen Durchschnitts-
abrufbar, für Wissenschaftler und Studie- wert für das jeweilige Journal angibt, sagt
rende, für Hobbyforscher und Patienten, Offen und günstig er wenig über die Qualität einzelner Arti-
in Harvard wie in Harare. Die Verlage hät- »Open Access«-Publikation kel. »Auch hier brauchen wir einen Para-
ten also weiterhin ihr Auskommen: Eine bei einem Fachverlag digmenwechsel«, sagt Reformer Hippler.
Veröffentlichung nach diesem – schon von »Einzelne Veröffentlichungen sollten nach
einigen Fachzeitschriften praktizierten – ihrer Bedeutung beurteilt werden, nicht
»Open Access«-System kostet die Autoren nach dem Journal, in dem sie erscheinen.«
oft einige Tausend Euro. Das sei vielleicht aufwendiger, als sich

Mit Springer Nature und Wiley scheint auf Impaktfaktoren zu verlassen. Machbar
nun eine entsprechende Einigung bevor- Die Autoren zahlen vor der Veröffentlichung eine aber sei es: »Die Kollegen müssen die Ar-
zustehen, doch mit Elsevier sind die Ver- Artikelbearbeitungsgebühr. Dafür steht das Werk beiten nur wirklich lesen.« Julia Koch
handlungen ins Stocken geraten. dann allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung.

122 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Der Paketdienst
von morgen
liefert innerhalb
von Minuten.
Das
Wirtschaftswunder
von morgen
ist digital.
Holen wir es nach
Deutschland.

Die Digitalisierung ist das große Thema unserer Zeit, sie beeinflusst
Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig. Nun wird mit dem „Internet of
Things“ das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es eröffnet viele neue Chancen,
insbesondere für die deutsche Wirtschaft. Um sie nutzen zu können, muss
die digitale Infrastruktur modernisiert werden – mit flächendeckenden
Glasfaseranschlüssen und mit 5G-Mobilfunknetzen.
Fortschritt durch Wettbewerb
Damit das „Internet of Things“ zur nächsten deutschen Erfolgsgeschichte wird, brauchen wir
leistungsstarke 5G-Netze und aktiven Wettbewerb um Innovationen. 1&1 sorgt permanent
für Bewegung im Mobilfunkmarkt: von der 1&1 All-Net-Flat, die seit 2010 Standard für
unbegrenztes Surfen und Telefonieren ist, über einen vielfach ausgezeichneten Kundenservice
bis hin zum kürzlich eingeführten 24-Stunden Vor-Ort-Austausch für defekte Geräte.
Kostenlos, egal ob technisches Problem, Bruch oder Wasserschaden.

Unser Angebot für Deutschland


1&1 ist bereit für den nächsten Schritt – den Bau eines 5G-Mobilfunknetzes der neuesten
Generation. Mit vielen tausend Antennen, die an unser leistungsstarkes Glasfasernetz
angeschlossen werden. Für Mobilfunk mit Gigabit-Geschwindigkeiten und Reaktionszeiten
im Millisekunden-Bereich. Und mit gewohnt günstigen Preisen.

Auf dem Weg zum 5G-Leitmarkt


Wo andere Mobilfunkanbieter 5G noch nicht ausgebaut haben, würde 1&1 sein Netz zu
fairen Konditionen zur Mitnutzung öffnen. Und umgekehrt bei Bedarf auf andere Netze
zurückgreifen – zu ebenfalls fairen Konditionen. Denn nur durch einen schnellen, sich
sinnvoll ergänzenden Ausbau wird in Deutschland ein 5G-Leitmarkt entstehen, wie es im
Koalitionsvertrag vorgesehen ist.

Politik und Bundesnetzagentur sind gefragt


Andere Länder sind schon weiter. In China, Japan, Südkorea und den USA starten die
ersten 5G-Netze und mit ihnen leistungsfähige Ökosysteme für das „Internet of Things“.
Daher müssen die 5G-Frequenzen nun schnellstmöglich versteigert werden, verbunden
mit klaren Regeln für die wechselseitige Nutzung vorhandener Netze zu wirklich fairen
Konditionen. Und – wenn nötig – mit schnellen Schiedsverfahren, ohne langwierige
Blockaden unter Wettbewerbern.

Schnell handeln und Kräfte sinnvoll bündeln – wir sind bereit!


AKG-IMAGES
Wissenschaft haben, mussten jedoch sehr vielen Leuten
missfallen. Mit der Aufforderung, die Lei-
chen der Gegner zu schänden und daraus
ein grausiges Volksspektakel zu machen,

»Geist und Gewalt« hat er die Bürger als Komplizen ins Boot
geholt. Das hat offenbar funktioniert.
SPIEGEL: Waren die Römer der Antike also
Geschichte Der Althistoriker Martin Zimmermann erzählt über die viel barbarischer, als wir heute denken?
Zimmermann: Teils, teils: Einerseits zele-
seltsamsten Orte der Antike: das Klo der Philosophen, brierte man in Rom lustvoll öffentliche Lei-
paradiesische Gärten und die Treppe der geschändeten Leichen. chenschändungen, andererseits erschauder-
te man vor den Ritualen vermeintlich unter-
legener Völker. Am Ende des zweiten Jahr-
Zimmermann, 58, ist Pro- eine ausführliche Schilderung wert. Wozu hunderts vor Christus fielen beispielsweise
fessor für Alte Geschichte die harte Tour? römische Truppen in Südgallien ein und stie-
an der Ludwig-Maximi- Zimmermann: Um zu zeigen, wie fremd ßen dabei auf eine Kultstätte der Kelten.
lians-Universität München. uns die Menschen in der Antike sind. Wir Die Gallier hatten dort die abgeschlagenen
können nicht wirklich verstehen, wie sie Köpfe diverser Feinde recht hübsch in Szene
SPIEGEL: Herr Professor getickt haben. Da steht man heute als Tou- gesetzt. Die römischen Legionäre waren so
Zimmermann, nehmen rist auf dem Forum Romanum, imaginiert entsetzt, dass sie an Ort und Stelle alles nie-
wir an, es gäbe eine Zeitmaschine, die uns sich die wunderbare Architektur der gro- derbrannten. Solche Widersprüchlichkeiten
zurück in die Vergangenheit bringen könn- ßen Marmorbauten von damals herbei – finden wir in der Antike häufiger.
te: Wohin würden Sie reisen? und vergisst völlig, dass nur unweit davon SPIEGEL: Sie meinen die Nähe von Grau-
Zimmermann: Direkt in den Garten in auf dem Weg zum Kapitol eine Treppe ge- samkeit und Grusel?
Eden! Eridu war die Urstadt der Mensch- baut wurde, auf der jeder Bürger Roms Zimmermann: Auch das unmittelbare Ne-
heit im heutigen Südirak, die um 6000 vor Leichen von Regimegegnern auf übelste beneinander von Geist und Gewalt. Neh-
Christus entstanden ist. Heute sehen Sie Weise zurichten durfte. Anschließend wur- men Sie den assyrischen König Assurba-
da nur noch staubige Hügel und eine ver- den die Toten dann mit Fleischerhaken an nipal, der im siebten Jahrhundert vor
trocknete Landschaft. Das hat unter ande- das Tiberufer gezerrt und ins Wasser ge- Christus eine fantastische Bibliothek mit
rem mit Staudämmen und der Politik Sad- worfen. über 25 000 Tontafeln anlegen ließ. Vieles,
dam Husseins zu tun. Früher muss es dort SPIEGEL: Bauen ließ die furchterregende was wir heute über das alte Mesopotamien
eine überwältigende Vegetation gegeben Gemonische Treppe Augustus, der als Frie- wissen, haben uns diese Quellen verraten.
haben, die Vorbild war für die biblische denskaiser galt. Was hat ihn zu diesem un- Nur hatte Assurbanipal auch weniger rei-
Vorstellung vom Paradies. menschlichen Projekt veranlasst? zende Neigungen. Zum Essen traf er sich
SPIEGEL: In Ihrem soeben erschienenen Zimmermann: Augustus war nur der Bau- beispielsweise mit seiner Frau im Garten,
Buch führen Sie die Leser aber auch an herr. Geschändet wurde dort erst unter sei- während vor ihnen an einem Ast der ab-
weniger paradiesische Schauplätze*. In nem Nachfolger und Stiefsohn Tiberius, getrennte Kopf eines Feindes baumelte.
Rom ist Ihnen die Schändung von Leichen und zwar aus Kalkül. Um Gegner leichter SPIEGEL: Sie wollen »Randzonen und Ge-
loswerden zu können, hatte er den Straf- genwelten« der Antike erkunden. Was
* Martin Zimmermann: »Die seltsamsten Orte der
tatbestand der Majestätsbeleidigung noch meinen Sie damit?
Antike. Gespensterhäuser, hängende Gärten und die verschärft. Solche Erlasse, die das Recht Zimmermann: Wenn wir die Menschen
Enden der Welt«. C. H. Beck; 336 Seiten; 22 Euro. zur freien Rede empfindlich beschnitten von damals annähernd verstehen wollen,

126
INSUNG CHOI / PICTURE ALLIANCE / PANTHERMEDIA

RAINER HACKENBERG / AKG-IMAGES


müssen wir auch jene bizarren Orte auf- Großbauten der Antike* Rom durchaus verbreitet. Sie zu besuchen
suchen, die bisher eher übersehen wurden. »Mit 10 000 Kriegsgefangenen als billigen galt als Privileg. Dazu musste man erst mal
Zum Beispiel die gewaltigen Käfiglager, die Arbeitskräften ist vieles leichter« die nötige Zeit haben.
sich vor den populären Tierhatzen mitten SPIEGEL: Der Tempel Ramses’ III. in
in Rom auftürmten. Tausende Wildtiere Medinet Habu, einem der gewaltigsten
wie Raubkatzen, Elefanten, Wölfe und Bä- schaft und ließ sich diese auch nicht neh- Orte der Antike, besticht durch seine ge-
ren, die aus entlegenen Winkeln Europas men. In einer Stadt wie Troja warteten da- radezu surreale Monumentalität. Ange-
oder Nordafrikas herangekarrt worden wa- mals Scharen von Touristenführern, um Be- sichts reihenweise scheiternder Großpro-
ren, harrten dort in Holzkäfigen ihres suchern all die tollen Dinge zu zeigen. Man jekte wie Stuttgart 21 oder des Berliner
Schicksals. Diese Orte haben die Menschen konnte sich etwa die Felsspalte ansehen, in Großflughafens BER: Waren die Men-
magisch angezogen, obwohl immer wieder der angeblich jene Schlangen verschwun- schen damals bessere Bauherren als wir?
Tiere ausgebrochen sind und Schaulustige den sind, die zuvor den Priester Laokoon Zimmermann: Wenn Ihnen 10 000 Kriegs-
töteten. Andere bekannte Orte müssen wir und seine Söhne getötet hatten. Das war gefangene als billige Arbeitskräfte zur
wohl in einem ganz neuen Licht sehen … mitnichten authentisch, hat aber nieman- Verfügung stünden wie Ramses III. bei sei-
SPIEGEL: … wie eines der sieben Weltwun- den gestört. Der Philosoph Giordano Bru- nem Totentempelbau um 1180 vor Chris-
der, die Hängenden Gärten von Babylon … no drückte diese Mentalität in einem wun- tus, ließe sich auch heute vermutlich man-
Zimmermann: Genau! Eine sagenhafte derbaren Satz aus: »Se non è vero, è molto ches Bauprojekt sehr viel leichter verwirk-
Prachtlandschaft, an deren Rekonstruk- ben trovato« – »Wenn es auch nicht wahr lichen. Im Übrigen gab es damals natürlich
tion sich heute zig Architekten versuchen. ist, so ist es doch sehr gut erfunden«. nicht so strenge Bauvorschriften wie heute.
In Wahrheit hat es diesen Ort sehr wahr- SPIEGEL: Auch ohne Übertreibungen sind Ansonsten aber waren uns die Menschen
scheinlich nie gegeben. Denn es ging um viele Orte höchst merkwürdig. Was hat der Antike ziemlich ähnlich. Der Apollon-
etwas ganz anderes. die Menschen beispielsweise dazu ge- Tempel in Didyma in der heutigen Türkei
SPIEGEL: Nämlich? bracht, sich ausgerechnet zum gemeinsa- ist nie zu Ende gebaut geworden. Das
Zimmermann: Sie müssen sich vorstellen: men Klogang zu verabreden? Kolosseum war zwar relativ schnell fertig,
Dieses Babylon war eine gigantische Stadt, Zimmermann: Es gab damals jede Menge blieb aber eine ständige Baustelle. Immer-
die von einer 18 Kilometer langen Stadt- medizinische Literatur dazu, wie man sich zu musste nachgebessert werden. Um
mauer umgeben war. Dann kommen plötz- am besten entleert und zu welcher Tages- 100 nach Christus waren etliche Städte des
lich die Griechen dahin, deren Städte im zeit. Die Ausgräber haben sich dennoch Römischen Reiches heillos verschuldet. In
Grunde Käffer von ein paar Hektar Größe ziemlich gewundert, als sie in der antiken ihrem Bemühen um die beste Ausstattung
waren, und die dachten sich: Wow! Dabei zyprischen Hafenstadt Salamis auf eine hatten sie sich gegenseitig regelrecht tot-
war Babylon zu diesem Zeitpunkt schon Stätte mit 44 nebeneinanderliegenden Toi- gerüstet.
ziemlich verfallen. Trotzdem hat dieser Ort lettenschüsseln stießen. Es hat die Archäo- SPIEGEL: Welche Folgen hatte das?
die Fantasie beflügelt. Und dann hat man logen früher einige Überwindung gekostet Zimmermann: Viele Bauprojekte, ob Was-
eben diese überwältigenden Eindrücke in zu akzeptieren, dass sich hier Menschen serleitungen oder Theater, lagen brach.
eine Liebesgeschichte eingebettet, in der ein tatsächlich zum Scheißen verabredet ha- Um den Notstand zu beenden, musste Kai-
König seiner an Heimweh leidenden Frau ben. Solche mehrsitzigen Prachtlatrinen, ser Trajan Sonderbeamte schicken, die die
einen zauberhaften Garten bauen lässt. wo sich die gebildeten Schichten zum Finanzen der Städte überprüften und die
SPIEGEL: Die Menschen haben es damals Plausch getroffen haben, waren im alten Fertigstellung wichtiger Bauvorhaben
mit der Wahrheit nicht allzu genau ge- streng überwachten. Im Grunde genom-
nommen? * Hängende Gärten von Babylon (Kupferstich von
men herrschte ein ähnliches Chaos wie
Zimmermann: Sagen wir es freundlicher: 1725), Kolosseum in Rom, Totentempel Ramses’ III. heute. Interview: Frank Thadeusz
Man schuf sich gern eine Mythenland- in Medinet Habu.

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 127


Technik

Schnipp,
oder gar abgetrennten Gliedern ins Kran- lor ein Siebenjähriger auf der Ostseeinsel
kenhaus gekommen, wobei für Hände grö- Fehmarn einen Fuß an einen Aufsitzrasen-
ßere Gefahr bestand als für Füße. Viele mäher, den ein Neunjähriger gesteuert hat-

schnapp
mussten stationär aufgenommen und ope- te. Ende September saß eine Vierjährige
riert werden – was zu Durchschnittskosten nahe Landshut bei ihrem Opa auf dem Ra-
pro Patient von 37 000 Dollar führte. senmähertraktor. Plötzlich geriet sie mit
Auch Kinder bis zum Alter von vier Jah- ihrem linken Fuß in den Schneidebereich,
Gartenpflege Knatternde Rasen- ren tauchten auffällig häufig in den Medi- anderthalb Zehen wurden abgetrennt.
mäher sind eine Landplage zinstatistiken auf, zumeist, weil sie zu ih- Und im Oktober griff ein 66-Jähriger im
rem mähenden Vater hinrannten und dann bayerischen Ichenhausen in das blockierte
und ungeahnt gefährlich für Leib irgendwie mit dem Fuß unter die rollenden Schneidwerk seines Mähapparats. Die
und Leben. Sind Roboter die Messer geraten waren. Polizei berichtete lapidar von »erheb-
Rettung für Mensch und Tier? Ein weiterer Unfallklassiker: Wenn der lichen Verletzungen«.
Mäher nicht mehr mäht, etwa wegen aku- Was also tun mit der nervigen Risiko-
ter Verstopfung, fingern erschreckend vie- technik im Gartenschuppen? Glücklicher-

I n seinem Garten will der Mensch


Ruhe finden, doch kann er das? Ra-
tatatata. Krrrrrrrrr. Wwwwhheeee-
wwwhhhee. So grausig schallt es in den
le Leute ohne jedes Risikobewusstsein im
Mähwerk herum – schnipp, schnapp.
Besonders beunruhigend findet die
Intensivmedizinerin und Studienleiterin
weise steht das Problem kurz vor der
Lösung. Seit einigen Jahren boomt der
Markt für Mähroboter. Die smarten
Elektrogefährte kosten zum Teil zwar
Einfamilienhaussiedlungen Deutschlands Deborah Schwengel, dass die Zahl der jähr- mehrere Tausend Euro, aber sie schneiden
tagein, tagaus, vom Früh- penibel, zuverlässig und
ling bis in den Spätherbst. selbstständig; viele arbei-
Keine Spur von Garten- ten so leise wie Geschirr-
ruhe, denn irgendein Nach- spüler und verbreiten kei-
bar mäht immer. nerlei Gestank.
Auf der Liste der ärger- Offensichtlich sind Mäh-
lichsten Erfindungen der roboter viel sicherer als
Menschheit gebührt insbe- ihre Vorgänger, denn Men-
sondere dem Benzinrasen- schen können ihnen fern-
mäher mit Zweitaktmotor bleiben und sie aus siche-
ein Platz ganz weit oben, rem Abstand per App am
sogar noch vor dem Laub- Smartphone dirigieren. Ri-
bläser. Er nervt. Er stinkt. siken bleiben dennoch – für
Er vergiftet die Luft mit Kinder und Tiere.
Schadstoffen (Katalysator? Die Stiftung Warentest
Fehlanzeige!) und die Nach- hat kürzlich acht Mäh-
barschaft mit Streit. Längst roboter getestet. Alle Ge-
gehört der Knattermäher räte stoppten, sobald ein
des frühen 20. Jahrhun- stehendes Kind vor ihnen
derts auf den Schrottplatz – auftauchte. Ein simulier-
doch bisher ist das Stück tes krabbelndes Baby hin-
Uralttechnik kaum totzu- gegen haben zwei der
VARIO IMAGES

kriegen, trotz klar besserer Modelle schlicht ignoriert.


Alternativen. Die Tester erteilten daher
Jetzt haben Forscher der beiden – dem »Robomow
Johns Hopkins University Risikogerät Rasenmäher: Platzwunden, Knochenbrüche, Amputationen RC304u« und dem »Hon-
in Baltimore den Beweis ge- da Miimo 310« – die Note
führt, dass die Rasenrasie- »mangelhaft«.
rer mit den schnell drehenden horizonta- lichen Unfälle fast konstant hoch bleibt. Wie wichtig solche Versuche sind, zeigte
len Klingen sogar eine weithin unterschätz- Aufklärungsaktionen und Warnschilder sich im Juni in Österreich: Ein Mähroboter
te Gefahr für Leib und Leben darstellen. richten offenbar wenig aus. Die Forscherin fuhr einen 14 Monate alten Jungen in
Die Maschinen schneiden nämlich mehr wünscht sich nun mehr Anstrengungen Österreich an, den seine Mutter nur für
ab als nur Grashalme. Überraschend oft von den Herstellern: Sie sollten die typi- Augenblicke außer Sicht gelassen hatte.
brechen sie Knochen, trennen Finger von schen Verletzungsprofile analysieren und Das Kind musste mit Schnittverletzungen
Händen, Zehen von Füßen, sie hacken ins intelligente Rasenmäher entwickeln, die ins Krankenhaus.
Fleisch und verbrennen Haut. Im Schnitt, sofort den Notstopp einleiten, sobald ein Viele Gartenbesitzer schicken ihre stil-
so schreiben die Forscher im Fachblatt Mensch in der Gefahrenzone auftaucht. len Schnippler selbst nachts ans Werk, wo-
»Public Health Reports«, sorgen Unfälle mit Es irrt, wer meint, all dies sei ein typisch vor Tierschützer nun aber eindringlich
Rasenmähern in den USA jedes Jahr für amerikanisches Problem und kein Wunder warnen. Beim Showdown zwischen be-
6400 Einlieferungen in die Notaufnahmen. in einem bildungsschwachen Land, wo waffneten Robotern ohne Mitgefühl und
Die Wissenschaftler beziehen sich auf Katzen zum Trocknen bisweilen in die nachtaktiven Tieren ohne Fluchtreflex zie-
Daten zu mehr als 51 000 Rasenmäher- Mikrowelle gesteckt werden. Auch in hen Letztere immer den Kürzeren. Zahl-
opfern aus einer Zeitspanne von acht Jah- Deutschland dürften Alltagsunfälle mit Ra- reiche Igel haben so eine Begegnung be-
ren. 85 Prozent der Geschädigten waren senmähern zahlreich sein – sie werden nur reits mit ihrem Skalp bezahlt – oder ihrem
Männer. Fast die Hälfte der Verletzten hat- schlechter wissenschaftlich dokumentiert. Leben. Marco Evers
te heftige Platzwunden erlitten. Jeweils Die Presse jedenfalls ist voll von schau- Mail: marco.evers@spiegel.de
22 Prozent waren mit Knochenbrüchen rigen Berichten. Im April zum Beispiel ver-

128 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Schutzmantel für die Zähne


Die meisten Zahnpflegeprodukte setzen auf den Wirkstoff Fluorid, um vor Karies
zu schützen. Doch es geht auch anders: Die Karex-Zahnpasta beugt mit dem Mineral
Hydroxylapatit vor – dem Hauptbestandteil des Zahnschmelzes.

Fotos: picture alliance/dpa Themendienst


ZAHNPFLEGE
Effektiver Kariesschutz
mit Hydroxylapatit

S
eit mehr als 60 Jahren sind Karius und menschlichen Körper, aber trotzdem nicht rung. Bei den 65- bis 75-Jährigen sind es
Baktus in deutschen Kinderzimmern undurchdringlich. Nimmt der Mensch Nah- durchschnittlich 17,7 Zähne. An dieser Stel-
zu Hause. Die beiden Trolle aus dem rung zu sich, zersetzen Bakterien diese zu le setzt eine Kariesprophylaxe an, die auf
gleichnamigen Kinderbuchklassiker sollen einem Teil im Mund. Dabei entsteht Säure, dem effektiven, zahnverwandten Wirkstoff
dem Nachwuchs das richtige Zähneputzen welche die Zähne angreift und Mineralien Hydroxylapatit basiert. Die Zahnpasta von
näher bringen. Auf eine fast ebenso lange aus dem Zahnschmelz-Gitter herauslöst. Karex nutzt das Mineral, das dem Hauptbe-
Karriere kann auch Fluorid als Wirkstoff in Bakterien können sich an der Zahnoberfläche standteil des natürlichen Zahnschmelzes
Zahnpasta, Mundwasser und Co. zurückbli- ansiedeln, deren Stoffwechselprodukte die nachgebildet ist. Täglich angewendet, unter-
cken. Der Wirkstoff soll Zähne widerstands- Zähne weiter angreifen. Die Folge: Karies. stützt Karex die Regeneration angegriffener
fähiger gegen Kariesbefall machen. Zahn- Stellen im Zahnschmelz und bildet eine
schmelz, das einem Gitter aus Mineralien Schädliche Einflüsse Schutzschicht. Zusätzlich wirkt sie mit Zink
gleicht, ist zwar die härteste Substanz im Dabei fördern verschiedene Faktoren die und Xylit antimikrobiell, sodass Bakterien
Entstehung von Karies. Neben entsprechen- und Zahnbelag deutlich weniger Chancen
den Bakterien spielt die Ernährung eine haben, sich festzusetzen. Damit bietet Karex
GUT GESCHÜTZT wichtige Rolle. Aber auch Mundtrockenheit, einen modernen, wirksamen Kariesschutz
ausgelöst durch eine Vielzahl von Medika- – ohne Fluorid.
Rund 97 Prozent des menten, kann zu einem erhöhten Karies-
Zahnschmelzes und
risiko führen.
70 Prozent des
Dentins bestehen
aus Hydroxylapatit. Ein
Zahnschmelz stärken
Wirkstoff, der in Karex Zahnärzte müssen immer noch häufig zum
enthalten ist und der Bohrer greifen. So haben jüngere Erwachse-
Natur nachempfunden ne zwischen 35 und 44 Jahren laut Fünfter QR Code scannen und im Film
wurde. Deutscher Mundgesundheitsstudie im „Karies vorbeugen“ erfahren,
Quelle: Karex
Schnitt an 11,2 Zähnen eine Karieserfah- wie ein moderner Kariesschutz ohne Fluorid wirkt.
Kultur
Bei Feine Sahne Fischfilet gibt es keine Rollenprosa. Sie erleben täglich, wovon sie erzählen. ‣ S. 132

KOOL / FILMAGENTINNEN
New York Public Library

Dokumentationen

Lebensmittel Wissen
 Selten zeigte ein Film die Gesichter so vieler Menschen, man erkundet sie mit der Entdeckerfreude eines Pioniers,
die völlig versunken sind. In seiner Dokumentation »Ex der einen neuen Kontinent durchmisst. Er beschreibt die New
Libris: Die Public Library von New York«, die nun in die York Public Library als durch und durch demokratischen
Kinos kommt, will US-Regisseur Frederick Wiseman heraus- Ort, an dem Menschen aus allen sozialen Schichten zusam-
finden, wie Menschen aussehen, wenn sie ganz und gar von menkommen, weil sie das menschliche Grundbedürfnis
Wissbegier erfasst sind. Sein Film ist das packende Porträt nach Wissen stillen wollen. Drei Stunden und 17 Minuten ist
einer der größten öffentlichen Bibliotheken der Welt. Wise- dieser Film lang – nicht eine Sekunde davon ist zu viel. LOB

Glosse

Warum sich Amerika kleinmachen muss


Der Streit um den angeblich mangelnden Patriotismus des Films »Aufbruch zum Mond« basiert auf Irrtümern.

Präsident Trump polterte, er werde sich den Film nicht ansehen. Tatsächlich ist der flaggenschwenkende Patriotismus, der etwa
Kommentatoren warfen dem Weltraumdrama »Aufbruch zum im US-Kino der Achtzigerjahre angesagt war, aus der Mode gekom-
Mond«, das von der Mondlandung im Jahr 1969 erzählt, mangeln- men. Dies hat ökonomische Gründe. Hollywood spielte vor 30 Jah-
den Patriotismus vor. Die Einspielergebnisse des ersten Wochen- ren das Gros seiner Einnahmen in Nordamerika ein. Heute erzielen
endes liegen mit rund 16 Millionen Dollar unter den Erwartungen. die Studios nicht selten drei Viertel des Box Office im Rest der Welt.
Regisseur Damien Chazelle, der für sein Musical »La La Land« Die Stars and Stripes in Großaufnahme lösen in Europa oder China
2017 den Oscar erhielt, machte aus dem Stoff ein mitreißendes selten Euphorie aus. Eher ist mit negativen Emotionen zu rechnen.
Drama. Beim Festival von Venedig wurde er dafür gefeiert. In den Trump wünscht sich, dass alle Amerikaner nur noch US-Pro-
USA wird er attackiert. Warum? Den Moment, als Neil Arm- dukte kaufen und der Rest der Welt es ihnen gleichtut. Wenn
strong die US-Flagge in den Mondsand steckt, zeigt er nicht. Das Filme Helden feiern, die nur in zweiter Linie Amerikaner sind,
Publikum bekommt sie zwar zu sehen, aber nur in einer Totalen. verkaufen sie sich weltweit offenbar besser. Hollywoods Erfolgs-
Ist das unpatriotisch? Oder lakonisch, cool, selbstbewusst? formel lautet: Make America small. Lars-Olav Beier

130 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Internet bizarre Fälle zusammen, in denen Men- Nils Minkmar Zur Zeit
Im Netz der Leidenschaft schen unversehens im digitalen Netz der

 Die Liebe ist ein ziemlich schwieriges


Leidenschaft zappelten und nicht mehr
herauskamen. Ein Mann gab sich im Inter-
Spießer werden
Unterfangen. Diverse Datingplattformen net als Pfarrer aus und lockte Frauen in Das Schlimmste an der Puber-
versprechen ihren Kunden, ihnen die eine Kirche, um Sex im Beichtstuhl zu tät ist, dass währenddessen,
Suche nach einem haben, ein Student aus Nigeria lande- davor und danach so viel
Partner fürs Leben te bei der Kontaktsuche versehent- von der Pubertät die Rede
oder zumindest lich auf einer Website von Neonazis. ist. Als wäre es die einzige
für eine heiße Aus all diesen Fällen, die am Ende vor Zeit, in der etwas mit einem
Nacht enorm zu Gericht verhandelt wurden, macht Ste- passiert. Mit der Geburt beginnt
erleichtern. Der vens eine amüsante Tour de Force durch die Vorpubertät, dann kommen eben
Münchner Rechts- eine Welt unerfüllter Sehnsüchte, falscher jene berühmten Monate, an die sich die
anwalt Alexander und doppelter Identitäten und mehr oder Postpubertät anschließt, und dann
Stevens trägt in sei- weniger raffinierter Betrüger. LOB stirbt man. Es ist ein Entlastungsbegriff:
nem Buch »Ver- Jeder versteht irgendetwas darunter,
hängnisvolle Affä- Alexander Stevens: »Verhängnisvolle Affären«. und man braucht bloß wissend zu
ren« nun einige Piper; 176 Seiten; 10 Euro. lächeln, um als Experte zu gelten. Gru-
seliger als die Sache selbst ist die Infor-
mation darüber. Zu meiner Zeit gab es
zum Thema Fotostorys in der »Bravo«,
Ausstellungen ben fühle und im kommenden Jahr auf- da hatten die Jungs lange Haare, einen
Moment, Aufnahme! hören werde. Für die Wiener durchaus ein Oberlippenbart und eine Kette, die
Verlust, denn Ausstellungen wie diese Mädchen kurze bunte Haare und nur
 Ein wichtiges Statussymbol unserer (oder wie sein »Populismus«-Projekt von einen Ohrring. Aufklärerischer Terror
Jahre ist der auf Instagram vorzeigbare 2015) zeigen, dass er ein Gespür für die durch repressiv normierende Sexuali-
Freundes- oder Familienkreis. Solange Psyche der Gesellschaft hat. UK tätsbeschreibungen.
sich für die Dauer eines Schnapp- Der Mensch ist im Wandel, nicht nur
schusses alle in den Armen liegen in der Pubertät, sondern auch davor
und über mögliche Konflikte hin- und danach. Das größte Rätsel ist er
weglächeln, ist die Welt in Ordnung. sich selbst. Nehmen Sie mich. Ich begin-
Buck Ellison, ein junger Künstler ne manchmal den Tag, indem ich maß-
aus Kalifornien, bezieht sich mit sei- voll Sport mache und dazu klassische
nen absichtlich ein wenig zu glatten Musik höre. Noch mit Ende vierzig hät-
Fotos auf solche Inszenierungen te ich das nicht nur nicht gemacht, ich
eines Miteinanders, die dazu die- hätte so ein Verhalten für mich ausge-
nen, Nähe vorzutäuschen, wo viel- schlossen. Auf vielen Medien habe ich
leicht gar keine ist (Foto oben). Zu Sammlungen von Popmusik. Zugege-
sehen sind seine Porträts einer zeit- ben, ich fand meinen Musikgeschmack
BUCK ELLISON

typischen Beziehungslosigkeit vom selbst grenzwertig. Vor vielen Jahren


kommenden Donnerstag an in der sollte ich im Kollegenkreis mal er-
Wiener Kunsthalle, und zwar in zählen, was ich so höre. Schweigen
einer Gruppenschau mit dem frosti- breitete sich aus. Eine Sekretärin flüs-
gen Titel »Antarktika«. Die These terte: »Das war aber mutig.« Heute
der Kuratoren: Der Mensch ent- würde ich, ohne Mut aufbringen zu
fremde sich zunehmend von der müssen, aber ebenso begeistert,
Natur, aber eben auch von seinen von Igor Levit und Isabelle Faust vor-
Mitmenschen, Selbstoptimierung schwärmen.
sei ihm wichtiger als die Nähe zu Es kommt öfter vor, dass ich die Bun-
anderen Personen. Diese Entwick- deskanzlerin verteidige, obwohl sie
JANA SCHULZ

lung irritiert und fasziniert immer bekanntlich der CDU angehört. Auch
mehr Künstler; die Berlinerin Jana das hätte ich bis zum Sommer 2015
Schulz etwa widmet sich dem Kör- nicht nur nie getan, sondern glatt ausge-
perkult junger Boxer unter anderem schlossen. Das Gleiche gilt für Aufste-
in den USA und der Türkei (Foto hen um sechs Uhr, Wanderungen und
Mitte); der Brite Ian Wallace zeigt generell die Lust an der persönlichen
Menschen, die sich begegnen und Verspießerung. Ich hätte noch vor weni-
doch verpassen (Foto unten). Zu- gen Jahren lange Listen zum perfekten
gleich ist die Schau so etwas wie ein Tag erstellen können, heute finde ich
vorgezogener Abschiedsgruß des alle Tage super, insbesondere die ohne
COURTESY HAUSER & WIRTH

aus Deutschland stammenden Di- Besuch beim Anwalt oder beim Arzt.
rektors Nicolaus Schafhausen, eine Die Veränderung ist unsere Konstante
Metapher dafür, dass auch er auf im Leben und – ich schließe jetzt nichts
Distanz geht: Schon vor einiger Zeit mehr aus – vielleicht auch danach.
hat er erklärt, dass er sich in Öster-
reich und der dortigen politischen An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Landschaft nicht mehr gut aufgeho- Werke der »Antarktika«-Gruppenschau Elke Schmitter im Wechsel.

131
Kultur

Der nötige
Zündstoff
Pop Nazis hassen sie, der Verfassungsschutz hat sie
beobachtet – und der Bundespräsident empfahl
ihr Konzert: Die vorpommersche Punkband Feine Sahne
Fischfilet macht linke Volksmusik. Von Arno Frank

C
ampino spielt nicht einfach nur Hosen, unter deren Fittichen sie ihre Qua-
Pingpong. Der Sänger der Toten litäten erst voll entfalten konnten. Die
Hosen spielt Tischtennis. Back- Tournee führte Feine Sahne Fischfilet in
stage steht immer irgendwo eine die Stadien, in die großen Hallen von Dort-
Platte, und der Mann ist oft auf Tournee. mund bis Wien, von Dresden bis Luzern,
Ehrgeizig spielt er, auf Sieg. Tückisch sind von Bayreuth bis hierher, in den tiefsten
besonders seine Aufschläge, aber alle an- Südwesten der Republik, an den Bostalsee
deren Finten beherrscht er auch. Topspin, im Saarland, an diese Tischtennisplatte.
Unterschnitt, Flip, das ganze Programm. Ihr wichtigstes Konzert liegt da keine
Sobald er die Gelegenheit wittert, schmet- zwei Wochen zurück und war das viel-
tert er. Dann wird’s eng. Campino ist der leicht wichtigste kulturelle Ereignis die-
Timo Boll des Punkrock. Weltklasse. ses Jahres überhaupt: »Wir sind mehr« in
Noch weiß er es nicht. Noch hängt er Chemnitz.
sich richtig rein, täuscht, fuchtelt, flucht. Es spielten Kraftklub aus Chemnitz, die
Aber an diesem Nachmittag hat Campino das Festival organisiert und dafür kurzfris-
seinen Meister gefunden. tig einen Freundeskreis aus Gleichgesinn-
Anderer Stil, anderer Typ. Sein Gegner ten mobilisiert hatten. Auf der Bühne stan-
ist fast zwei Meter lang und gut drei Zent- den des Weiteren Feine Sahne Fischfilet,
ner schwer. Ein bärtiger Kaventsmann mit K.I.Z., Trettmann, Marteria und Casper.
ausführlich illustriertem Körper, der sich Nicht fehlen durften die Toten Hosen, de-
nicht einmal bei den langen Bällen wirk- ren moralischer Kompass inzwischen so-
lich langmachen muss. Auf nackten Füßen gar ein wenig präziser ist als der von U2.
ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach Es war ein friedliches Fest der Zivilgesell-
links, so retourniert er routiniert noch je- schaft mit 65 000 Teilnehmern, die sich da
den Angriff. Macht sein Ding, verteidigt am 3. September 2018 auf dem Platz bei
ruhig und wartet einfach ab, ein konzen- der Johanniskirche versammelt und ge-
triertes Lächeln im runden Gesicht. feiert hatten, sich selbst, die Vielfalt, die
Das ist Jan Gorkow, 31, genannt Monchi, Stadt. Ein symbolischer Sieg gegen die
Sänger von Feine Sahne Fischfilet. Das Sex- dort zuvor aufmarschierten Rechtsextre-
tett hat in diesem Jahr einen weiteren Hö- men, die bereits Morgenluft getwittert und
hepunkt seiner unwahrscheinlichen Kar- von Chemnitz als Ausgangspunkt einer
riere erreicht. Das Album »Sturm & Dreck« völkischen Revolution fantasiert hatten.
schaffte es auf Platz drei der Charts, und Sie waren weniger. Hälfte an antirassistische Projekte in Sach-
kürzlich sind sie für die Europe Music Es war einer der seltenen Momente, in sen gingen, als zynischen »Tanz auf Grä-
Awards von MTV als »Best German Act« denen Pop und Politik tatsächlich zusam- bern«. Und »Bild«-Chefredakteur Julian
nominiert worden. Gitarrist Christoph Sell, menfallen. Dabei fehlte es nicht am nöti- Reichelt fiel womöglich allzu gern auf rech-
der die meisten Songs schreibt, dämpft sei- gen Zündstoff für eine Explosion. »Wir te Fake News herein. Ein NPD-Funktionär
ne eigenen Erwartungen. Die heimische waren total erleichtert«, erzählt Monchi, hatte ein Foto geteilt, das Monchi ver-
Konkurrenz aus dem Hip-Hop sei »im »dass uns das Ding nicht um die Ohren ge- meintlich beim Hitlergruß zeigt. Reichelt
Internet viel besser vernetzt«, da hätten flogen ist.« verbreitete das Bild und erkundigte sich
Feine Sahne Fischfilet keine Chance. Trotz- Die Größe des moralischen Erfolgs spie- treuherzig bei seinen Followern auf Twit-
dem möglich, dass Monchi, Sell, Kai Irr- gelte sich im Hass der Unterlegenen im ter: »Handelt es sich um eine Fälschung?
gang, Olaf Ney, Jacobus North und Max Meinungskampf – vor allem auf Feine Wer kann helfen?«
Bobzin aus Mecklenburg-Vorpommern Sahne Fischfilet. Helfen konnte 40 Minuten später die
demnächst in Bilbao mit Eminem, Nicky Die AfD deutete die Veranstaltung, die nicht eben linksradikale sächsische Polizei:
Minaj und David Guetta feiern können. mit einer Schweigeminute für das Opfer »Das Foto ist ein Fake!«
Es läuft also. Viel Zirkus um die Gruppe. Daniel H. begonnen hatte und deren Ein- Gediegenere Kritik kam aus dem bür-
Sie spielten im Vorprogramm der Toten nahmen zur Hälfte an dessen Familie, zur gerlich-konservativen Lager. Nachdem

132 Fotos: Bastian Bochinski


Auftritt von Feine Sahne Fischfilet in Burg bei Magdeburg am 2. September 2017: Kollektiver Abwehrzauber gegen das Böse

Frank-Walter Steinmeier das Konzert kommt. 2009 textete Monchi: »Die Bul- Wenn eine kleine ehemalige Schüler-
auf seiner offiziellen Facebook-Seite be- lenhelme, sie sollen fliegen / Eure Knüppel kapelle von der Ostsee zum Gegenstand
worben hatte, keilte CDU-Generalsekre- kriegt ihr in die Fresse rein«. Vielleicht bundespolitischer Debatten auf höchster
tärin Annegret Kramp-Karrenbauer ge- spielte sie auch darauf an, dass Feine Sah- Ebene wird, dann hat sie jedenfalls die
gen den Bundespräsidenten: »Was wir ne Fischfilet von 2011 bis 2014 im Verfas- Grenzen ihres angestammten Wirkungs-
wollen, ist, unsere Demokratie und un- sungsschutzbericht des Landes Mecklen- bereichs deutlich überschritten.
seren Rechtsstaat gegen rechts zu schüt- burg-Vorpommern erwähnt wurden. Die Monchi kann das gut verstehen. Alles.
zen. Und wenn man das dann mit denen Gruppe lege eine »explizit anti-staatliche Und er dementiert nichts. Gar nichts.
von links tut, die genau in der gleichen Haltung« an den Tag und »versteht sich »Ich bin kein Engel«, sagt er. »Ich habe
Art und Weise auf Polizeibeamte verbal als politischer Zusammenschluss«. total oft Gülle im Kopf. Bis heute.« Es sei
einprügeln, dann halte ich das für mehr Und auf Druck von CDU und AfD wur- für sie damals völlig normal gewesen,
als kritisch.« de am Donnerstag ein Konzert der Band gleichzeitig Die Ärzte mit dem Anti-Nazi-
Damit spielte die Politikerin vielleicht am Bauhaus Dessau abgesagt. »Schwer bis Hit »Schrei nach Liebe« und die rechte
auf frühe Songs an, in denen durchaus nicht nachvollziehbar« nannte der Regie- Band Landser zu hören, »dazu zu kiffen
eine gewisse Skepsis gegenüber dem Ge- rungssprecher von Sachsen-Anhalt die Ein- und abzuhitlern«. Seine Vergangenheit als
waltmonopol des Staates zum Ausdruck ladung. Fan von Hansa Rostock, als Ultra, ist stadt-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 133


Kultur

und polizeibekannt. Keiner Prügelei und Verlass, dort in der frustrierten und vom mer mehr davon auf ihren Konzerten auf-
keiner Randale ist er damals aus dem Weg Staat vernachlässigten Fläche. »Wenn die tauchten, entwickelte die Gruppe ihre
gegangen. Er ist ihnen sogar hinterherge- Altenpflege abkackt«, erzählt Monchi, strikt antifaschistische Haltung.
reist. Hat seine eigene Schwester beklaut, dann machten die Rechten den Pflege- Im Unterschied zum Punk der Neunzi-
um sich die Fahrten zu den Auswärtsspie- dienst Pommern auf. »Bibliothek. Hartz- gerjahre, zu Songs wie »Sascha ... ein auf-
len leisten zu können. Mit 14 mussten IV-Beratung. Kinderfeste. Alles.« rechter Deutscher« von den Toten Hosen
seine Eltern ihn in Dortmund aus der Zel- Der Schauspieler Charly Hübner hat oder »Schrei nach Liebe« von den Ärzten,
le holen. Mit 18 hat er einen verwaisten eine berührende Dokumentation gedreht, blicken Feine Sahne Fischfilet nicht mit
Polizeiwagen in Brand gesetzt und dafür »Wildes Herz«, über das Zurückbleiben ironischer Distanz auf ein Problem. Sie ha-
eine Bewährungsstrafe kassiert. Hat einen in einem Landstrich, der von Faschisten ben es vor der eigenen Haustür und bis-
»Landfrieden« gebrochen, an den er bis schleichend kolonialisiert wird – und weilen auch Buttersäure im Briefkasten.
heute nicht glaubt. Hat über all das gesun- die Möglichkeiten des Widerstands dage- Bei Feine Sahne Fischfilet gibt es keine
gen, ganz direkt in »Niemand wie ihr« auf gen. Darin fragt Monchi seinen Vater: Rollenprosa. Sie erleben täglich, wovon
»Sturm & Dreck«, dem jüngsten Album. »Hast du schon mal eine Mülltonne ge- sie erzählen.
Es ist eine Hymne auf seine Familie, seine schmissen, ohne Grund?« Und liefert die Der Clou ist, dass diese Gruppe junge
Eltern: »23 000 kostet ein Sixpack, wenn Antwort gleich mit: »Freiheit.« Gleich- Männer nicht kaninchengleich die Schlan-
es brennt / In dieser Zeit hatte ich Angst, wohl fand er die linken Ausschreitungen ge fixiert. Der Clou ist, dass sie sich alle
dass ihr euch trennt«. bei den G-20-Protesten in Hamburg »auch zusammen umdrehen. Ein tänzelnder
Überhaupt, die Eltern. Auf seiner rech- total düsig, da irgendwelche Kleinwagen Schritt um die eigene Achse, und plötzlich
ten Wade hat er Cartman aus »South Park« abzufackeln«. stehen sie vor Freunden.
tätowiert, den ewigen Grundschüler und
großen Anarchisten, dazu die Sprechblase:
»Strictly Antifascist«. Die linke Wade teilt
sich der Schriftzug »Rostock« in Fraktur –
mit Porträts seiner Eltern. Der Vater ist
Bauunternehmer, die Mutter arbeitet als
Zahnärztin. »Das war schon ein Vorteil,
als mir bei einer Schlägerei mal die Vor-
derzähne ausgeschlagen worden sind.«
Auf dem Album singt er: »Sollte ich mal
Kinder haben, will ich so sein wie ihr«.
Der Punk kommt kurioserweise selten
von unten, sondern aus der bürgerlichen
Mittelschicht. So auch hier. Die Eltern der
Bandmitglieder zumindest sind keine Ver-
lierer der Abwicklung, der Abwertung und
Abwanderung von allem, was das Leben
in der DDR bis zur Wende geprägt hatte.
Und die Söhne sind Krankenpfleger oder
studieren Kunstgeschichte, Politik, Islam-
wissenschaften. Die haben alle etwas im
Kopf und wissen genau, was sie tun. Auch Bandmitglieder: »Explizit anti-staatliche Haltung«
Monchi, der kurz vor dem Abitur das
Gymnasium geschmissen und keine Lehre
gemacht hat. So oder so kommt um eine ungesunde Kein Hass auf die Rechten. Liebe für
Da steht man schnell mal auf der Kippe oder auch gesunde Wut nicht herum, wer die Richtigen.
in Jarmen, einem Kaff mit knapp 3000 in den Neunzigerjahren im Osten aufge- Das ist das entscheidende Manöver in
Einwohnern, aus dem einmal täglich ein wachsen ist. »Pazifismus muss man sich dieser Kunst.
Bus in die nächste Großstadt abfährt, und leisten können«, sagt Monchi. Bullen, Das ist neu.
die nächste Großstadt ist dann Rostock. Knüppel, Fresse? »Hier hat man halt oft Diese Liebe spricht mit Wucht und Pa-
Monchi springt nicht ab nach Hamburg das Gefühl, dass die Polizisten den Faschos thos aus einem Song wie »Zuhause«, in
oder Berlin. Und fragt in einem Song den Weg freiknüppeln. In Chemnitz tun dem Monchi seine Heimat besingt, ohne
rhetorisch: »Was bleibt, wenn immer nur sie ganz hilflos und lassen die Nazis mar- von »Heimat« sprechen zu wollen, denn:
die Guten gehen?« schieren. Aber im Hambacher Forst prü- »Ich habe das Glück, auf diesem Fleckchen
Was, wenn die Mehrheit der verbliebenen geln gefühlt 3500 Bullen 180 Hippie-Ze- Erde geboren zu sein, und getan habe ich
Männlichkeit sich dem Hass ergibt und den cken weg, die sich irgendwo im Baum ver- dafür exakt gar nichts.« Sein »Zuhause«
Angeboten der »Faschobratzen«, wie Mon- orten«, sagt Monchi und zuckt mit den ist eines, auf das man deshalb stolz sein
chi sie nennt? Weil »aufs Maul« bekommt, Schultern: »Man hat sich nicht auf die zu kann, weil es allen offensteht, und er be-
wer irgendwie anders aussieht? Und darüber, verlassen. Ich meine, der Verfassungs- singt es mit einer Herzlichkeit, die schon
wer anders aussieht, nachts auf der Straße schutz hat meine Karre verwanzt!« kein Punk mehr ist. Eher Northern Soul.
im Zweifelsfall die Nazis entscheiden? Weil Gegründet hat sich die Gruppe 2007 North East German Soul. Mit Eiern.
die Kameradschaften in manchen Provinzen »aus Langeweile«, weil eben sonst nichts Feine Sahne Fischfilet mögen Ton Stei-
längst erobert haben, was in der Sprache los war in der Steppe. Anfangs ging es in ne Scherben ähnlicher sein als den Sex Pis-
der Soziologie vornehm als »kulturelle Text und Tat ohnehin nur ums Feiern und tols, radikal ist nur ihr Humanismus. Punk
Hegemonie« bezeichnet wird? Saufen, klassische Themen des Punk. Fürs bis ins Mark allerdings ist die Art und Wei-
Wie fühlt sich dieser Landfrieden an, Feiern und Saufen interessieren sich auch se, wie Feine Sahne Fischfilet mit dieser
vor Ort? Auf die Neonazis jedenfalls ist Neonazis. Erst aus der Tatsache, dass im- Haltung abstrahlen auf die Gegend, aus

134 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


der sie kommen. »Da hat man sich schluss- sind, die man im Geilsein bestärkt. Mon- Christen oder Juden ersaufen. Sondern
endlich geradezumachen«, sagt Monchi chi selbst sagt, er sei »kein Sozialarbei- Menschen«. Und das, so Monchi, sei die
und betont: »Allein geht das nicht, nur ge- ter«, und räumt auf Nachfrage ein: größte aller Sauereien.
meinsam.« Gemeinsam mit Gleichgesinn- »Wenn ich sage, dass wir keine Sozial- Das ist eine Pointe, aber noch nicht der
ten vor Ort, die auch noch alle da sind, arbeiter sind, kannste davon ausgehen, ganze Witz.
wenn »die Guten« längst abgewandert dass ich weiß, dass wir eben doch Sozial- Der Witz ist, dass Monchi am nächsten
sind, mit der freiwilligen Feuerwehr und arbeit machen.« Morgen nach Lesbos fliegen wird. Er wird
dem örtlichen Metzger und dem DLRG Und Party. Auf der Bühne am Bostalsee aussteigen am Flughafen an der Küste, an
und dem Sportverein, »da lässt sich immer teilt sich mit, wozu diese Gruppe, wozu dessen Lichtern sich nachts die Flüchtlings-
was reißen«. Beispielsweise eine Tournee rohe Gitarrenmusik mit ein paar Trompe- boote aus der Türkei orientieren. Er wird
wie »Noch nicht komplett im Arsch«, mit ten in der Lage ist. Monchi schwitzt und im Lager Moria einem Familienvater aus
der Feine Sahne Fischfilet vor der vergan- boxt die Luft und wirft Flaschen ins Publi- Algerien begegnen, der mit seinen Kin-
genen Landtagswahl in Mecklenburg-Vor- kum, zündet Bengalos. Es ist ein dionysi- dern seit elf Monaten unter einer Plas-
pommern über die Dörfer tingelten. sches Fest der Ausgelassenheit, der gerich- tikplane »zu Hause« ist. Er wird in ein
Daher der Hass der Neonazis. Weil die- teten Aggression. Ein kollektiver Abwehr- Schlauchboot steigen, das ihn zu einem
se Gruppe den Mumm hat, in deren Revier zauber gegen das Böse und Ertüchtigung Kutter vor der Küste übersetzen wird. Das
zu wildern. Ganz offen, mit durchaus ver- zum Guten zugleich. Schlauchboot heißt »Mudder«, und neben
wandten Angeboten. Präsenz zeigen. An- Irgendwann dann steigt Monchi auf die dem Steuer steht: »Mudder ist wichtiger
gebote machen. Und Party, das auch, Party Monitorbox. Ansprache ans Publikum, als Deutschland«. Die Crew des Kutters
und Saufen. Hier geht es weniger um linke über dem die Fahne der Antifa weht, in wirkt, als hätte der schwarze Block das
Schiff übernommen. Der Kapitän der
»Mare Liberum« ist selbst Punkrocker, bis
in beide Ohren tätowiert und ein Freund
von Monchi. Transportiert eigentlich Die-
sel auf der Elbe. Im Urlaub hält er für eine
NGO hier »die Stellung« auf dem privaten
Seenotretter, weil: »Wir lassen die Leute
nicht einfach absaufen. Punkt.«
Monchi wird nicken, das sagt er auch
immer. Er wird fragen, wie er sich nützlich
machen könne, weil: »Ich habe zwei linke
Hände.« Er wird ein paar Mails an Freun-
de verschicken und mit einem konzentrier-
ten Lächeln lesen, was die »Faschobrat-
zen« im Netz so machen. Abends wird er
dem Gewummer lauschen, das von einer
Technoparty am Strand kilometerweit
übers Wasser schallt, wird über das Ne-
beneinander von Lebensfreude und Le-
bensgefahr nachdenken und über Europa,
ach, Europa. Er wird sich zur Nachtwache
Sänger Gorkow: »Total oft Gülle im Kopf« einteilen lassen und hören, was der Kapi-
tän aus dem zentralen Mittelmeer zu er-
zählen hat, von verwesenden Wasserlei-
Folklore à la »Alerta, Alerta, Antifascis- dem es von »FCK AFD«-T-Shirts nur so chen und kleinen Kindern, die nach Tagen
ta!«, das auch, vor allem aber um eine Re- wimmelt. auf offener See zu zitternden Greisen ge-
conquista all dessen, was das Leben lebens- Aber Monchi ist in seinem Element, worden sind. Monchi wird leise die Hoff-
wert und die Heimat liebenswert machen jetzt ist er beides, Rhetor und Punk. nung äußern, dass »von der ganzen Auf-
kann. Volks-Rock-’n’-Roll von links sozu- Den unbefangenen Beobachter erinnert merksamkeit und dem Zirkus, den wir
sagen. Einer Richtung, aus der man ihn am die Szene an einen Einwand gegen diese gerade mit der Band haben«, auch etwas
wenigsten erwartet. Und es funktioniert. wohlfeile »Haltung des Protestierens«, die abfällt »für die geilen Leude hier«. Im Mor-
Daher auch das Misstrauen im bürger- der Schriftsteller Uwe Johnson schon 1967 gengrauen wird er seine Matratze auf
lich-konservativen Lager. Weil sich diese erhob: »Die guten Leute stehen auf dem Deck ausrollen, denn es ist warm, und sich
Gruppe tatsächlich als »politischer Zusam- Markt und weisen auf sich hin als die bes- mit seiner eigenen Bettwäsche zudecken.
menschluss« versteht, der vom Staat und seren.« Und: »Sollen sie aufhören zu re- Sie ist mit dem Logo des FC Hansa Ros-
seinen Organen nichts mehr erwartet, der den von einem Gutsein, zu dessen Unmög- tock bedruckt, einer stilisierten Kogge.
das »Do it yourself!« des Punk auf den lichkeit sie beitragen.« Er wird nicht aufhören, auf die guten
politischen Stoppelacker führt. Eine manch- Wer jemanden absticht, ruft Monchi der Leute hinzuweisen. Und nicht aufhören
mal rohe, oft sentimentale, immer aber ge- wogenden Menge zu, der sei »ein mieses zu reden von einem Gutsein, zu dessen
richtete Kraft. Ein linker Kreis, der um sich Arschloch«, ganz egal ob Muslim, Jude Möglichkeit er beiträgt.
herum konzentrische Kreise der Selbster- oder Christ. Und dann spannt er den ganz
mächtigung zieht. Man könnte es auch ein- großen Bogen, kommt vom Hölzchen auf
fach Zivilgesellschaft nennen. Baseballschläger, von Pegida zu Horst See- Video
So klingen Feine
Wenn die Probleme dieser Gesellschaft hofer und der angeblichen »Mutter aller Sahne Fischfilet
zu lösen sein sollten, dann so. Von innen, Probleme«, von wo es nicht mehr weit ist spiegel.de/sp432018fischfilet
durch Netzwerke der »geilen Leude«, bis zur EU-Außengrenze und zum Mittel- oder in der App DER SPIEGEL
denen man auch sagt, dass sie geile Leute meer, in dem auch »keine Muslime oder

135
Kultur

Eine verkleidete Frau


Sängerinnen »Je t’aime«, ihr Duett mit Serge Gainsbourg, hat Jane Birkin in den Sechzigern
weltberühmt gemacht. Nun veröffentlicht sie ihre Tagebücher.
Sie erzählen von den Ängsten eines verunsicherten Sexsymbols. Ein Treffen in Paris.

NICOLAS TIKHOMIROFF / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS

Paar Birkin, Gainsbourg 1969: Eine Art Dynastie begründet

136
E
s gibt diesen Moment im Film von spricht keine Frau, die gelassen auf ihr Le- mehr als andere. Birkin ist vielmehr wohl-
Agnès Varda über Jane Birkin, in ben blickt. erzogene Tochter einer britischen Ober-
dem die Regisseurin hinter der Ka- Hier fragt sich jemand, wie es passieren schichtsfamilie als femme fatale.
mera hervortritt, um ihre Protago- konnte, dass sie sich, fortlaufend, von an- Sie beschreibt in ihrem Buch ehrlich ver-
nistin zu analysieren. deren hat verkleiden lassen. wundert, wie sich der 18 Jahre ältere Chan-
Du, sagt Varda, diese kleine, kompakte Denn Jane Birkin ist nicht mehr die jun- sonnier, Dichter, Maler, kurz: das Genie
Frau mit der Helmfrisur, zu Birkin, »du ge Frau mit den groß gemalten Bambi- Serge Gainsbourg, den sie zuerst furchtbar
bietest dich jedem an«. Und Birkin weicht augen, die sich 1966 in Antonionis »Blow arrogant findet, in sie verliebt. Wie erleich-
diesem Blick aus, dreht den Kopf weg. Als Up« auszog und kurz darauf, 1969, für tert sie ist, dass er sturzbetrunken während
wolle sie das gar nicht hören. Gainsbourg »Je t’aime ... moi non plus« ihrer ersten gemeinsamen Nacht bereits
»Ich kann dich verkleiden, wie es mir hauchte. Sie ist nicht mehr die Kindfrau, auf dem Hotelbett eingeschlafen ist, als sie
gefällt«, fährt Varda fort. Und dann, mehr die Alain Delon in »Der Swimmingpool« aus dem Badezimmer tritt.
zu sich selbst: »Vielleicht habe ich dich des- mit ihrem knabenhaften Körper betörte. Dass er zuvor mit Brigitte Bardot zu-
halb filmen wollen.« Manchmal wundert sie sich über sich sammen war, bereitet ihr Albträume, ver-
Drei Jahrzehnte nach dieser Szene emp- selbst, ist erstaunt über ihren Erfolg: »Ehr- stärkt ihre Komplexe gegenüber dem ei-
fängt Jane Birkin in Paris in der Küche ih- lich gesagt, war da nicht viel, was eine sol- genen Körper. Denn er, Serge, schreibt sie,
res Hauses nahe der Seine. Eingefasst von che Karriere gerechtfertigt hätte.« habe über »das schönste Paar Brüste der
schweren Samtvorhängen und einer Wand Weder schauspielerisches Talent noch Welt« verfügen dürfen; aber sie dagegen,
mit Tulpentapete, an der unzählige ge- eine herausragende Stimme. Jane, habe ja gar keine.
rahmte Familienfotos hängen, sitzt sie vor Sie erzählt, wie Gainsbourg sie in eine
einer Tasse Tee und hustet. Ausstellung führte, vor einem Gemälde
Auch jetzt schaut sie ihrem Gegenüber von Cranach stehen blieb, auf eine dieser
eher ungern in die Augen, wenn sie von schmalhüftigen Cranach-Frauen zeigte
sich erzählt. und sagte: »Das bist du, so siehst du aus.
Anlass für den Besuch ist die Veröffent- Wunderschön.«
lichung des ersten Teils ihrer Tagebücher. Es mögen die Ängste und die Probleme
»Munkey Diaries« heißen die Briefe an ih- einer jungen Frau sein, aber das Erstaunli-
ren Plüschaffen, Munkey genannt. Datiert che ist, dass sie Birkin nie verlassen haben.
sind sie von 1957, da war sie elf Jahre alt, Sie, Schönheitssymbol ihrer Zeit, zaudert
bis 1982, kurz nach der Geburt ihrer drit- und zweifelt, vor allem an sich selbst. Sie
ten Tochter. Geschrieben hat Birkin da- sang mit Gainsbourg »Je t’aime«, damit
mals noch auf Englisch, ihre Einträge hat er es mit keiner anderen »dieser wunder-
sie selbst ins Französische übersetzt und schönen Frauen, die um ihn herumschar-
kommentiert. Was sie darin von sich preis- wenzeln«, sang.
gibt, ist beides zugleich: ein berührendes Es stehen in diesem Tagebuch viele
Zeitdokument; aber auch das Zeugnis ei- Sätze, die für die Generation ihrer Töchter
ner Frau, der es – vielleicht ein Leben lang unsagbar klingen. »Wenn ich alt bin und
OLIVER FRITZE / FAYARD

– Mühe bereitet, sich selbst in dem Bild zu hässlich«, steht da. »Wenn ich 40 bin
erkennen, das sie nach außen abgibt. De- und mein Leben vorbei ist.« Oder auch:
ren Selbstbild so anders ist als jenes Bild, »Bald bin ich 30 Jahre alt, und mich will
das sich andere von ihr machen, seien es keiner mehr.«
ihre Männer oder ihre Fans. Ist das Alter wirklich etwas so Furcht-
In Birkins Tagebüchern geht es nicht Autorin Birkin bares, Madame Birkin?
um die Filme, die sie gedreht hat, und auch »Gern jemand anderes« »Es ist eine Erleichterung«, sagt Birkin.
nicht um die Lieder, die sie gesungen hat. Der Wettbewerb habe nun ein Ende.
Es geht um sie, das Mädchen, die Frau, die Nur ihr Aussehen. Ihre Verkleidung. »Insecure« sei sie gewesen, sagt sie und
Mutter. Vor dem Hintergrundrauschen die- Sie spricht klar, so kühl, als ginge es da- benutzt das englische Wort, nach einem
ser ewig swingenden Sechziger- und Sieb- bei gar nicht um das, was andere ihr Le- halben Jahrhundert in Frankreich. »Und
zigerjahre beschreibt sie ihre Gedanken, benswerk nennen. ich bin es geblieben.«
ihre Gefühle und widerspricht damit auf Jane Birkin ist jetzt 71 Jahre alt, sie hat Wie ein roter Faden flicht sich die Un-
leise, intime Weise dem Klischee einer gan- eine Leukämieerkrankung überlebt und sicherheit durch ihr Leben, zieht sich von
zen Epoche. Insbesondere aber der Legen- kämpft noch mit dem Verlust ihrer ältesten den Tagebucheinträgen bis zu diesem Alt-
de um sie selbst. Tochter Kate, die 2013 bei einem Sturz weibersommertag am Pariser Küchentisch.
An diesem Nachmittag, man sitzt noch aus dem Fenster ums Leben kam. Ob Kate »Ich wäre gern jemand anders, mit star-
keine fünf Minuten in ihrer Küche, sagt Barry, damals 46 Jahre alt, sich selbst kem Charakter, jemand, der sich nicht da-
sie: »Eigentlich habe ich immer nur gefal- tötete oder ob sie verunglückte, ist bis heu- rum schert, was andere von ihm denken«,
len wollen.« te unklar. sagt sie.
Und, als nähme sie den fiktiven Ge- Birkin ist nicht mehr Jane B., unbe- Als kleines Mädchen wollte sie sein wie
sprächsfaden von Varda damals wieder schwert, unbekümmert, sexy. ihr Bruder Andrew: ein Junge, mutig, frei.
auf: So groß sei die Angst gewesen, ver- Sie sagt, so sei nie gewesen. Über ihren Lebenspartner Gainsbourg
lassen zu werden. Liest man ihr Tagebuch, verfestigt sich sagte sie, es sei noch nicht allzu lange her,
Bei diesem Treffen mit Birkin, die auch dieser Eindruck. Es wird zwar gefeiert, ge- sie halte ihn »hoch wie eine Fackel in einer
ein halbes Jahrhundert nach 1968 immer raucht und getrunken, schließlich sind es olympischen Zeremonie«. Sie liest seine
weiter und immer wieder als Stilikone, als die Sechziger-, die Siebzigerjahre!, aber Gedichte, singt seine Lieder. Immer noch.
Muse des großen französischen Selbstdar- es wird eben auch – wirklich, verzweifelt In ihrem Tagebuch schreibt sie von der
stellers Serge Gainsbourg verehrt und – geliebt. Und wer liebt und geliebt werden Angst, ausschließlich als sein – Serges – Ge-
beschrieben wird, wird rasch klar: Hier will, der sorgt sich, der zweifelt. Manche schöpf wahrgenommen zu werden. Nichts

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 137


Kultur

eigenes zu haben, nicht eigenständig zu glied sich selbst tötet. Der Schmerz sei Seit Kates Tod ist auch ihr Selbstbe-
existieren. für alle gleich, sagt Birkin. »Aber als Mut- wusstsein als Mutter, als Großmutter ver-
Liebst du mich?, fragte sie ihn einmal. ter frage ich mich, warum ich nichts be- schwunden.
»Klar«, antwortete er. »Sonst hätte ich dich merkt habe.« Sie macht sich Vorwürfe, dass sie zu we-
längst rausgeschmissen.« Kate sei manchmal mütterlicher gewe- nig für die anderen beiden Kinder da war,
Verletzt schreibt Birkin an ihren Mun- sen als sie selbst, erzählt sie. Ein harmlos zu wenig Zeit mit den Enkelkindern ver-
key, sie hätte sich eine andere Antwort ge- klingender Satz, der es in sich hat. bracht hat.
wünscht. »Je suis de passage«, folgert sie, Ihre erste Tochter bekam sie mit 20 Jah- Ihre Tochter Charlotte Gainsbourg lebt
eine Interimskonkubine. ren, gerade eben verheiratet mit deren Va- mittlerweile meistens in New York. »Sie
Das allerdings war sie nicht. Selbst als ter, dem mehrfach oscarprämierten Film- musste sich selbst retten«, sagt Birkin.
sie sich nach zwölf Jahren trennten, kam komponisten John Barry, um einiges älter Lou, ihre jüngste Tochter, Vater ist der
er oft zu Besuch, manchmal wollte er mit- als sie selbst. Regisseur Jacques Doillon, sei immer um
ten in der Nacht von ihr bekocht werden. Barry, man muss das so sagen, scheint sie herum: »Wie ein kleines Rettungsfloß.«
Mit der gemeinsamen Tochter Charlotte zumindest in dieser Periode seines Lebens »Natürlich lebt man weiter und bringt
haben sie eine Art Dynastie begründet, die ein veritables Arschloch gewesen zu sein. sich nicht selbst um«, sagt sie, aber es
die Franzosen verehren und der sie bis Seine junge Frau ließ er am liebsten zu klingt, als koste dieses Weiterleben nach
heute huldigen. Hause, wo sie mit dem Kajalstift unter wie vor viel Kraft.
Charlotte Gainsbourg, das Gesicht gro- dem Kopfkissen schlief, um sich schnell Ihre Töchter, sagt Birkin, seien anders
ßer Modehäuser; Muse berühmter Regis- schminken zu können, falls er doch noch als sie selbst. Sicherer. »Sie werden um
seure, und wer sie bei einem ihrer Kon- auftauchte. ihrer selbst willen geliebt«, sagt sie. Nicht
wegen ihrer Männer oder weil sie toll ge-
schminkt seien. Sondern für das, was sie
geschaffen haben. Charlotte trage oft gar
kein Make-up, erzählt sie, und Lou, die
Jüngste, mittlerweile erfolgreich als Sän-
gerin, habe sich alles selbst beigebracht,
sogar das Klavierspielen.
Wenn sie mit Lou durch Paris gehe, wer-
de sie immer wieder angehalten. Zu ihr
sage man dann: »Oh Jane, wir mögen dich
so, du bist immer so freundlich!« Ihre
Tochter hingegen werde gelobt für ihre
Musik, ihre Texte.
Birkin legt ihre feine Metallbrille
auf den Tisch: »So muss es sein.« Man
BOTTI / GAMMA-RAPHO / LAIF

müsse geliebt werden für das, was man


tue. Nicht weil man »so freundlich«
sei. Nicht weil man vielleicht schön an-
zusehen sei.
Aber nicht einmal das lässt sie für sich
gelten: Sie sei kaum mehr gewesen als eine
Schauspielerin Birkin 1968: Kajalstift unter dem Kopfkissen kleine Kopie des Models Jean Shrimpton.
Am besten gefiel sie sich selbst, als sie
so um die 40 war. Mit kurzen Haaren und
zerte auf der Bühne gesehen hat, der ver- Ihr Unglück schrieb sie in einem imagi- ohne Make-up.
steht auf einmal, warum in ihrem Heimat- nären Brief nieder: »Darling John«, steht Der Besuch bei Birkin hat auch deshalb
land sogar ein Bande dessinée, ein Comic, da, »ich bin verheiratet, ich lebe mit je- etwas Verstörendes, weil man eine Frau
über sie existiert. Es heißt »Charlotte mandem, aber ich habe keinen Kontakt trifft, die so ausnahmslos hart über sich
Gainsbourg, mon amour«. zu ihm. Das erstickt mich beinahe.« und ihr Dasein urteilt. Bei der das Nega-
Fragt man Jane Birkin, was sie fühlt, Und ein Stückchen weiter: tive nahezu alles überlagert. Kein Filter,
wenn sie zurückblickt auf ihr Leben, bleibt »Ich sehe ein Glas und möchte es zer- kein Weichzeichner, keine Euphemismen.
sie eine ganze Weile stumm. Sie wisse schlagen und mich damit schneiden. Ich Statt sich als weise alternde Ikone zu
nicht, was sie darauf antworten solle, mur- will mich verletzen.« präsentieren, die so stilprägend war, dass
melt sie: Alles sei so voller Fehler. Sie Kurz darauf gab er ihr den Laufpass, sie das Luxuslabel Hermès eine Tasche nach
spricht leise, stockend. Sie habe nicht den zog wieder zu den Eltern, schrieb trotzig ihr benannte, macht sie dem verhärmten
Eindruck, dass ihr irgendetwas im Leben an den Affen Munkey: Er hat seine Gelieb- Teil ihres Ichs Platz, benennt ihre Verlet-
gelungen sei. Sie hoffe, dass sie noch Zeit ten, ich habe Kate. zungen.
habe, »es besser zu machen«. Die sie jetzt eben nicht mehr hat. De- Das ist nicht nur bemerkenswert, son-
Dann, plötzlich: »Wenigstens bin ich ren »besonderer Blick« ihr fehlt. Immer dern dazu gehört auch: Stärke.
ehrlich.« Fast ruft sie es. fehlen wird. Fragt man Birkin, wie sie sich heute
Man spürt die Schwermut einer Frau, Das Muttersein, sagt sie, sei die einzige selbst bezeichnen würde, da sie doch die
einer Mutter bei ihr, die nicht weiß, ob Domäne in ihrem Leben gewesen, die sie Zuschreibungen anderer so oft als irritie-
das eigene Kind sich umgebracht hat geglaubt habe zu beherrschen. Wo sie sich rend falsch empfindet, überlegt sie lange.
oder ob es verunglückte. Erst am Morgen von niemandem etwas habe sagen lassen, Vielleicht, schlägt sie vor, »eine Persön-
hat sie eine Radiosendung gehört, in der wo ihr niemand habe hineinreden dürfen. lichkeit«?
Angehörige von dem Schmerz erzählen, »Ich hatte den Eindruck, dass ich das sehr Mit Sicherheit. Julia Amalia Heyer
den es verursacht, wenn ein Familienmit- gut machte«, sagt sie.

138 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Kultur

Sie ist es wirklich


Literatur Dörte Hansens »Altes Land« war eines der erfolgreichsten Bücher
der vergangenen Jahre. Für ihren neuen Roman ist sie in
ihre Heimat zurückgekehrt: nach Nordfriesland. Von Maren Keller

D
ie Leser sind ja nicht die Einzigen, dass die Gegend diesmal nicht das Alte natürlich nicht gibt, aber geben könnte,
die Schriftsteller lieben. Es gibt Land jenseits der Elbe ist, sondern Nord- heißt Brinkebüll. Ingwer ist Archäologe
Schriftsteller, die von anderen friesland. Hansens eigene Heimat. an der Universität in Kiel, mit großem In-
Schriftstellern geliebt werden. Im Roman kehrt Ingwer Feddersen teresse an Steinen und einer heimlichen
Es gibt Schriftsteller, die von Kritikern ge- zurück in das Geestdorf, in dem er gebo- Liebe zu Neil Young. Hundert Kilometer
liebt werden. Und dann gibt es die Schrift- ren und aufgewachsen ist, um sich um sei- liegen zwischen seinem neuen Leben und
steller, die von den Buchhändlern geliebt ne alt gewordenen Großeltern zu küm- der Heimat, aber er ist trotzdem nie von
werden. Zu denen gehört Dörte Hansen. mern. Das Dorf, das es in Wirklichkeit ihr weggekommen.
Und ganz besonders gilt das für Frau See-
mann aus der Buchhandlung im Husumer
Schlossgang.
»Sind Sie es wirklich?«, ruft Frau See-
mann in gespieltem Erstaunen, wenn sie
Hansen zufällig auf einer der Husumer
Straßen trifft, was nicht besonders schwer
ist, weil Husum eine eher überschaubare
Anzahl von Straßen hat. Das Aufeinander-
treffen findet also zum Beispiel wie an
diesem Tag um die Ecke des Schifffahrts-
museums statt.
Und Hansen, die dann gerade zum Bei-
spiel mit Fahrrad, Packtasche und Regen-
mantel auf dem Weg zu ihrem Büro ist,
lacht freundlich über den Scherz und ruft:
»Ja, ich bin es!«
In Langform hieße das: Sie ist tatsäch-
lich und wahrhaftig Dörte Hansen, zwi-
schenzeitlich Namenspatin für das »Dörte-
Hansen-Wunder«, weil ihr Roman »Altes
Land« bei seinem Erscheinen vor drei Jah-
ren der Überraschungserfolg des Jahres
wurde. Allein in Deutschland: mehr als
860 000 verkaufte Exemplare bisher.
Frau Seemann guckt dann sehr glücklich
und auch etwas stolz. Eine Bestseller-
autorin in ihrer Stadt! Und dann sagt sie
noch, dass Hansen nun aber wirklich bald
noch zum Signieren vorbeikommen müs-
se; es ist auch schon alles vorbereitet,
Schutzfolie ab, Bücher gestapelt, denn
noch ist es am Tag dieses Treffens Ende
September, noch liegen im Schaufenster
der Buchhandlung andere Romane aus.
Aber bald erscheint Dörte Hansens
zweiter Roman. Weswegen Frau Seemann,
die normalerweise in ihrem Laden eben
Bücher verkauft und keine Kalender, kei-
nen Tinnef, keine Kuscheltiere, ausnahms-
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

weise Kaffeebecher mit dem Covermotiv


organisiert hat.
»Mittagsstunde« heißt dieser neue Ro-
man*. Wieder spielt er auf dem Land. Nur

* Dörte Hansen: »Mittagsstunde«. Penguin; 320 Seiten;


22 Euro.

140 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Wenn er irgendwo langläuft, denkt er, Großeltern sind noch jung. Der Gasthof, den Rückkehr zu erwähnen. Die von Dörte
die Menschen müssten doch sehen, dass sie betreiben, ist noch das Zentrum des Dorf- Hansen selbst.
er geht, als schöbe er eine Schubkarre vor lebens, überhaupt: das Dorf noch lebendig. Der Erfolg von »Altes Land« hat Han-
sich her. Wenn er das Fischgrätmuster des Dieser zweite Teil ist vor allem die Ge- sen ermöglicht, zurück in ihre Heimat zu
Bodens in der Seminarbibliothek sieht, schichte von Ingwers Mutter Marret, die ziehen. Weil sie nun als Schriftstellerin
muss er an den Brinkebüller Saal denken. schon immer anders war, die Dorfverrück- nicht mehr regelmäßig nach Hamburg in
Und wenn in einem seiner Seminare eine te gewissermaßen. In Holzlatschen läuft die Büros des Norddeutschen Rundfunks
Studentin mit einem nordfriesischen Na- sie durch den Ort und sammelt in einem muss wie noch als Journalistin.
men sitzt, hat er alles wieder direkt vor Heft Zeichen dafür, dass der Untergang Sie wohnt jetzt in einem Haus nicht weit
sich. Den Schrägregen. Den Bücherbus. nicht mehr weit ist. Als sie nach einer un- von ihrem Heimatort entfernt. Mit ihrem
Die Silberpappeln. Die hohen Straßenlam- glücklichen Liebesgeschichte mit einem Mann und der Tochter, die inzwischen das-
pen mit dem bleichen Licht. Die Furchen Landvermesser schwanger wird und Ing- selbe Gymnasium besucht, auf das Hansen
der nassen Stoppelfelder. »Er hing an die- wer auf die Welt kommt, ist klar, dass es früher gegangen ist.
sem rohen, abgewetzten Land«, heißt es die Großeltern sind, die den Jungen wer- »Mittagsstunde« hat Hansen in einer
im Buch, »wie man an einem abgeliebten den großziehen müssen. So wird aus Ing- kleinen Dachkammer im neuen Haus ge-
Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, wer »der Kümmerling«, der im Gasthof schrieben, kleiner noch als die, in der sie
das am Bauch schon kahl war.« schon hinterm Tresen steht, als er noch »Altes Land« geschrieben hat.
Der Roman spielt abwechselnd in dieser kaum über ihn hinweggucken kann. Inzwischen hat sie sich aber ein Büro
Gegenwart und in der Vergangenheit. Ein Aber man kann nur schwer über »Mit- gemietet, mit Holzbalken unter der Decke
halbes Jahrhundert vor der Rückkehr. Die tagsstunde« schreiben, ohne eine andere und Tee im Küchenschrank und einem
Flechtsessel am Fenster. Wenn man vorn
aus dem Büro guckt, sieht man direkt auf
den Husumer Hafen. Wenn man hinten
aus dem Büro schaut, sieht man in Theo-
dor Storms Garten. Und wenn man das
Gebäude betritt, sieht man Hansens Ver-
mieter am Geländer lehnen, der es neuer-
dings mit dem Knie hat.
Dort empfängt sie jetzt Journalisten,
um über die Geschichte Brinkebülls zu
reden, die – wie die verrückte Marret es
vorhergesehen hat – auf gewisse Weise
tatsächlich die Geschichte eines Unter-
gangs ist.
Hansen sagt, es habe sie fasziniert, wie
es nur anderthalb Generationen brauchte,
um das Leben in dieser Gegend für immer
zu ändern. Familienbetriebene Bauern-
höfe haben aufgegeben oder sich in
Monokulturlandwirtschaftsbetriebe ver-
wandelt. Die Jungen sind fortgezogen. Lä-
den haben geschlossen. Und Männer, die
früher Landwirte oder Landwirtschafts-
maschinenhersteller waren, hatten plötz-
lich das Gefühl, ihr Platz auf der Welt sei
verschwunden. Hansen hat in der eigenen
Familie erlebt, wie verloren einen diese
Erfahrung zurücklassen kann.
Während ihrer Recherche hat Hansen
die »Husumer Nachrichten« gelesen, und
jedes Mal, wenn sie in einer der Todes-
anzeigen neben dem Namen eines Mannes
eine Ähre oder einen Pflug sah, ging es ihr
wie Ingwer, wenn er einen nordfriesischen
Namen hört. Sie sah alles vor sich.
Die Geschichte, die »Mittagsstunde« er-
zählt, ist natürlich eine erfundene. Aber
sie ist eben auch die Geschichte des Dorfes,
in dem Hansen aufgewachsen ist, und die
Geschichte all der anderen Dörfer auf der
Geest.
Das eigentlich Besondere an diesem
Buch ist deshalb, dass es dieses alte Leben

Schriftstellerin Hansen bei Husum


»Dieses rohe, abgewetzte Land«

141
Kultur

noch einmal auferstehen lässt Demnächst will sie unbedingt


und dieses Lebensgefühl kon- Juli Zehs Roman »Unterleu-
serviert. ten« lesen, der ebenfalls in
Hansen sagt, für sie sei kein einem Dorf spielt und an den
Gefühl stärker mit dieser Ge- sie sich während des Schrei-
gend verbunden als der heilige bens nicht herangetraut hat,
Ernst, mit dem während der um sich ja nicht beeinflussen
Mittagsstunde Ruhe zu halten zu lassen.
war. »Niemand konnte leiser Bald nach Erscheinen des
essen und Treppen geräuschlo- Buches wird es für Hansen

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL


ser hinaufschleichen als Kinder, wieder mit den Lesungen los-
die in Nordfriesland aufge- gehen, immer unterwegs, im-
wachsen waren«, heißt es im mer neue Städte, nur selten
Buch. Und wann immer sie mit wird sie in ihrem Büro sein.
jemandem rede, der ebenfalls Sie wollte das Büro trotz-
von hier komme, sei sie sicher, dem unbedingt haben, damit
dass sie diese Erfahrung verbin- sie ihr Arbeitsleben besser von
de. Deshalb sei für sie schon Autorin Hansen: Ohne den Zusatz Bestseller ihrer Familie trennen kann,
immer klar gewesen, dass das vor allem wegen der Tochter,
Buch diesen Titel haben müsse. der sie nicht zumuten wollte,
Und neben diesem Gefühl gibt es für Aber es sei doch so, sagt sie, dass man dass immer mal wieder Journalisten
Hansen auch einen Satz, der von zentraler jedes Mal ganz von vorn anfange. durchs Haus spazieren und nach kleinen
Bedeutung für das Lebensgefühl ist: »Es Natürlich kann man nie vorhersehen, Details Ausschau halten, mit denen sie
ging hier gar nicht um das bisschen warum ausgerechnet welches Buch beson- dann ihr Porträt ausschmücken können.
Mensch«, lautet er. Mehrmals taucht er im ders erfolgreich wird. Und niemand kann Man kann das Büro aber auch als äu-
Buch auf. Denn das Land, es nimmt ja kei- sagen, ob sich mit »Mittagsstunde« der ßerliches Zeichen dafür sehen, dass Han-
ne Rücksicht auf die Bewohner und ihre Erfolg von »Altes Land« wiederholen wird. sens Verwandlung von der Journalistin zur
Sorgen. Der Wind weht einfach weiter. Die Aber die Chancen stehen nicht schlecht. Schriftstellerin nun endgültig abgeschlos-
Findlinge harren auf den Feldern aus. Dem Die Leser, die Hansen für »Altes Land« sen ist. »Altes Land« hat sie noch in den
Regen ist es egal, ob er auf einen Dorfgast- geliebt haben, werden sie sehr wahrschein- wenigen Stunden geschrieben, in denen
hof prasselt oder auf eine Ruine. lich weiterhin lieben. Denn das Mitgefühl die Tochter in der Schule war. Geschenkte
Und dann steckt dieses Lebensgefühl und das Wohlwollen den Figuren gegen- Zeit, um etwas Neues auszuprobieren.
natürlich noch in all den plattdeutschen über sind auch in »Mittagsstunde« spürbar. Und hätte der Roman kein Ende gefunden
Sätzen, die durch das Buch gestreut sind. Hansen schreibt mit einer gewissen oder keine Agentur, keinen Verlag oder
Wie kleine Anker, die das Buch fest ver- Herzenswärme, die in »Mittagsstunde« keine Leser, dann wäre sie vielleicht ein-
orten. »Kiek mol, wat is de Himmel vielleicht sogar noch deutlicher wird als fach zurückgekehrt in ihr altes Leben als
so rot.« in »Altes Land«, weil sie so einen deut- Journalistin.
Das Plattdeutsche, es gehört zu dieser Jetzt ist Hansen Autorin. Und am liebs-
Gegend. Und es gehört auch zu Hansen. ten hört sie das einfach so: Autorin. Ohne
Zu Hause redet Hansen mit ihrem Mann »Mittagsstunde« ist auch den Zusatz Bestseller. Oder, noch abwer-
und der Tochter Platt, natürlich. An ihre Geschichte, und tender, Autorin für Frauenliteratur, eine
der Universität hat sie über das Plattdeut- Kategorie, die Hansen unter allen Umstän-
sche promoviert, natürlich. Genauer: an einigen Stellen im den vermeiden will.
über »Transfer bei Diglossie – Synchrone Buch wird sie sichtbar. Auch deshalb hat sie sich mit Ingwer
Sprachkontaktphänomene im Niederdeut- eine männliche Hauptfigur gesucht. Zu-
schen«. gleich hatte sie so mehr Distanz zu sich
Hansen sagt, sie habe erst lernen müs- lichen Gegensatz bildet zu dem kalten selbst. Aber natürlich ist »Mittagsstunde«
sen, dass man wohl für jeden neuen Wind und dem geschundenen Land. zu einem Teil auch ihre Geschichte, und
Roman eine neue Sprache finden müsse. Die Kritiker, sie könnten Hansen even- sie wird an einigen Stellen im Buch sicht-
Sie wusste schon früh nach ihrem ersten tuell von nun an auch lieben, weil »Mit- bar. Sie steckt zu einem Teil in den Ka-
Buch, wovon ihr nächstes handeln solle, tagsstunde« nicht mehr so leicht daher- puzenkindern, wie sie im Buch heißen.
aber dann habe es doch gedauert, bis sie kommt wie »Altes Land« und bisweilen Den Kindern, die früh am Morgen an der
auch nur eine Seite habe schreiben kön- ja noch immer das ungeschriebene Gesetz Haltestelle stehen und auf den Schulbus
nen. Es ist ihr erst gelungen, als sie spürbar ist, wonach nur das Schwere von warten, die Kapuze des Anoraks tief ins
sich gedanklich von Vera Eckhoff und Bedeutung sein kann. Gesicht gezogen, wegen des Winds und
Heinrich Lührs und all den anderen Fi- »Mittagsstunde« kann man nur schwer des Regens. Sie steckt in dem klugen
guren aus »Altes Land« getrennt hat. Sie in einer voll besetzten U-Bahn zwischen- Mädchen, das unbedingt das Gymnasium
hat mit den Lesungen aufgehört, obwohl durch lesen. Es ist eher ein Buch für ein- besuchen will, obwohl das eigentlich nicht
sie kaum etwas so sehr liebt, wie ihren same Herbstabende daheim geworden. vorgesehen ist. Sie steckt ein wenig in
Lesern in Buchhandlungen gegenüber- Und was die anderen Schriftsteller be- den Jungen, die weggezogen sind, um zu
zusitzen. Sie hat all das in eine Kammer trifft, so will sich Hansen in Zukunft mehr studieren.
in ihren Gedanken verbannt. austauschen. Sie steckt in dem Buch, oder vielleicht
Und noch etwas war nötig zu verstehen. Kürzlich hat sie auf einer Veranstaltung ist es eher so, dass dieses Nordfriesland
Anfangs hatte Hansen das Gefühl, sie wis- die Schriftstellerkollegin Mariana Leky eben in ihr steckt. Dass sie auch zu
se ja jetzt, wie man ein Buch schreibt. Sie getroffen, die ebenfalls einen Roman über dem bisschen Mensch gehört, um das
hatte die Hoffnung, dass manches ihr leich- ein Dorf geschrieben hat, und es sehr es nicht geht.
ter fallen werde als beim ersten Roman. genossen, sich mit ihr zu unterhalten.

142 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
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Belletristik Sachbuch

1 (–) Michael Hjorth / Hans Rosenfeldt 1 (–) Bob Woodward


Die Opfer, die man bringt Furcht Rowohlt; 22,95 Euro
Wunderlich; 22,95 Euro
2 (1) Eckart von Hirschhausen / Tobias Esch
2 (1) Charlotte Link Die bessere Hälfte Rowohlt; 18 Euro
Die Suche Blanvalet; 24 Euro
3 (2) Thilo Sarrazin
3 (8) Elizabeth George Feindliche Übernahme FBV; 24,99 Euro
Wer Strafe verdient Goldmann; 26 Euro
4 (3) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für
4 (2) Carmen Korn das 21. Jahrhundert C. H. Beck; 24,95 Euro
Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro 5 (5) Udo Lindenberg / Thomas Hüetlin
5 (–) Inger-Maria Mahlke Udo Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro

Archipel 6 (4) Kollegah


Rowohlt; 20 Euro Das ist Alpha! Riva; 22 Euro

In ihrem Familienroman 7 (6) Dirk Müller


erzählt Mahlke vom spani- Machtbeben Heyne; 22 Euro
schen Faschismus und Kolo-
nialismus – und erhielt dafür 8 (7) Bas Kast Der Ernährungskompass
den Deutschen Buchpreis C. Bertelsmann; 20 Euro

9 (10) Christopher Schacht


6 (4) Juli Zeh Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro
Neujahr Luchterhand; 20 Euro
10 (–) Nora Krug
7 (3) Jonas Jonasson
Der Hundertjährige, der
Heimat Penguin; 28 Euro In der nächsten
zurückkam, um die Welt zu retten 11 (12) Richard David Precht
C. Bertelsmann; 20 Euro Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro SPIEGEL -Ausgabe
8 (–) Dörte Hansen 12 (19) Frank Thelen
Mittagsstunde Penguin; 22 Euro
Startup-DNA. Die Autobiografie
Murmann; 22 Euro
am 27.10.2018
9 (5) Rita Falk
Eberhofer, Zefix! dtv; 8 Euro
13 (–) Tina Turner
My Love Story
10 (9) Martin Suter Penguin; 28 Euro
Allmen und die Erotik Diogenes; 20 Euro Die Rocksängerin erzählt
von ihrem harten Weg
11 (7) Jussi Adler-Olsen zum Erfolg – von Kämpfen
Miese kleine Morde dtv; 10 Euro gegen Vorurteile, Krank- Themen im November:
heiten und ihrem gewalt-
12 (–) Victoria Aveyard tätigen damaligen Ehemann
Wütender Sturm Carlsen; 24,99 Euro
14 (15) Harald Lesch / Klaus Kamphausen Große Neu-Ausgabe:
13 (10) Maxim Leo / Jochen Gutsch Wenn nicht jetzt, wann dann?
Es ist nur eine Phase, Hase Penguin; 29 Euro
Warum ist Georges Simenon
Ullstein; 12 Euro
15 (8) Rainer M. Schießler einer der größten Schrift-
14 (–) Kate Morton Die Tochter Jessas, Maria und Josef
des Uhrmachers Diana; 22 Euro
Kösel; 20 Euro
steller des 20. Jahrhunderts?
16 (11) Rainer Mausfeld
15 (13) Robert Seethaler Warum schweigen die Lämmer?
Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro
Westend; 24 Euro »Marlow«: der neue Roman
16 (6) Iny Lorentz Die Wanderhure 17 (13) Mrs. Bella
und die Nonne Knaur; 19,99 Euro
Contour & Confidence Fischer; 16 Euro
des Babylon Berlin-Erfinders
17 (12) Frank Schätzing 18 (20) Harald Meller / Kai Michel
Volker Kutscher.
Die Tyrannei des Schmetterlings Die Himmelsscheibe von Nebra
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
Propyläen; 25 Euro
18 (11) Annette Hess Das Leben der Bäume: Der
Deutsches Haus Ullstein; 20 Euro
19 (–) Winfried Kretschmann
Worauf wir uns verlassen wollen Amerikaner Richard Powers
19 (–) Karen Duve Fräulein Nettes S. Fischer; 13 Euro
kurzer Sommer Galiani; 25 Euro
geht mit Die Wurzeln des
20 (–) Robert Habeck
20 (14) Andreas Eschbach NSA – Nationales Wer wir sein könnten Lebens in den Wald.
Sicherheits-Amt Lübbe; 22,90 Euro Kieperheuer & Witsch; 14 Euro

143
Kultur

der Festspiele zu Ehren des Gottes der Freude und der Eksta-

Sehnsucht se, an mehreren Tagen jeweils drei Tragödien und ein Satyr-
spiel nacheinander gezeigt – im Rahmen eines Wettkampfs.
Auch »Dionysos Stadt« ist ein sportliches Großereignis, das

nach dem Rausch stets zwischen provozierender Tragödienton-Verhöhnung


und ernsthaftem Rollenspiel schwankt.
Drei Geschichten werden mehr skizziert als erzählt. Pro-
metheus, dargestellt von dem Schauspieler Benjamin Rad-
Theaterkritik »Dionysos Stadt«, das Zehn- jaipour, wird zur Strafe dafür, dass er den Menschen das
Stunden-Drama an den Münchner Kammerspielen Feuer brachte, von den Göttern in einer Baukran-Gondel
auf halber Bühnenhöhe angekettet und mit weißer Farbe be-
spritzt. In Teil zwei erzählen die Darsteller den ersten be-

I hr wollt endlich mal wieder Klassiker auf der Bühne se-


hen? Wir geben euch drei! Es wirkt wie Hohn und Trotz,
wenn das Leitungsteam der Münchner Kammerspiele
um den Intendanten Matthias Lilienthal nun »10 Stunden
kannten Weltkrieg der Geschichte nach, den Krieg zwischen
Griechen und Trojanern; sie rezitieren aus der famosen neuen
»Ilias«-Übersetzung von Kurt Steinmann, während der Mu-
siker Matze Pröllochs auf der Bühne zu bunten Lichtblitzen
Antike« auf Plakate und Programmhefte druckt und drei auf ein Schlagzeug eindrischt. Teil drei schildert dann die
griechische Tragödienstoffe auf die Bühne klatscht. »Unge- erste bekannte Familienseifenoper der Geschichte: Man filmt
heuer ist viel«, brüllt kurz nach Vorstellungsbeginn der blond- die in der »Orestie« geschilderten Mord- und Beischlaforgien
gelockte Schauspieler Nils Kahnwald, der im Stil eines Zir- am Hof von Mykene im Stil einer Fernsehserie auf einer
kusdirektors vor das Publikum tritt, einen
berühmten Klassikerhalbsatz von Sopho-
kles – und bricht jäh ab. Angewidert schüt-
telt Kahnwald Kopf und Glieder und ver-
kündet: »Nein, das geht nicht.«
Der Kammerspiele-Chef Lilienthal ist
in den Richtungskämpfen der deutsch-
sprachigen Theaterwelt eine umstrittene
Symbolfigur. Er gibt sich als Verächter tra-
ditioneller Theaterstücke, die Interpreta-
tion literarischer Dramen nannte er mal
»Kunstkacke«. In München zeigte Lilien-
thal seit seinem Amtsantritt 2015 viele ver-
meintlich fortschrittlichere Projektformate
und ein Crossover zwischen Theater, Poli-
tik und bildender Kunst – und ist damit
gescheitert.
Die Zuschauer kamen zu spärlich, die

JULIAN BAUMANN
im Stadtrat mitregierende CSU schäumte,
die »Süddeutsche Zeitung« tat sein Pro-
gramm als »Pipifax-Theater« ab. Da half
das Lob vieler überregionaler Kritiker für
einzelne Lilienthal-Angebote wenig. Im Szene aus »Dionysos Stadt«: Mord und Beischlaf
März gab der Chef auf, indem er mitteilte,
dass er seinen bis 2020 geltenden Vertrag
nicht verlängern mag. Zu seinen Zukunftsplänen schweigt er Wohnzimmerbühne ab und führt sie auf einer Riesenlein-
beharrlich. wand vor.
Jetzt also »10 Stunden Antike«, sehr große Kunstkacke, Es ist keineswegs alles große Kunst, was Rüpings un-
um in Lilienthals Worten zu bleiben. Der 33-jährige Regisseur ermüdlich rackernde Theaterathleten auf der Kammerspie-
Christopher Rüping lässt wie im alten Griechenland drei Tra- le-Bühne präsentieren. Wenn im Mittelteil der Tragödien-
gödien und ein Satyrspiel vorführen und nennt das Projekt trilogie Troja gefallen ist, versammeln sich die drei Schau-
»Dionysos Stadt«. Um 13 Uhr mittags beginnt die Show, kurz spielerinnen Wiebke Mollenhauer, Gro Swantje Kohlhof
vor 23 Uhr endet sie, die drei Dramenblöcke heißen »Pro- und Maja Beckmann mit schreckgeweiteten Augen und
metheus«, »Troja« und »Orestie« und sind zusammengemixt emporgereckten Armen zu einem grotesk missglückten
aus Texten unter anderem von Homer und Aischylos, Goethe Klagegesang, dazu gibt es eine kitschige Pantomime um ein
und Heiner Müller. Nur acht Schauspieler, drei Frauen und geraubtes, zum Tode verurteiltes Königskind. In solchen
fünf Männer, treten an. Drei Pausen gibt es, von denen die Momenten sieht »Dionysos Stadt« plötzlich nach rückstän-
längste viel zu lange 75 Minuten dauert. Im kurzen Satyrspiel digstem Provinz-Stadttheater aus, nach hilflos exerziertem
zum Schluss sind zwei kleine Fußballtore auf der Bühne auf- Handwerk der psychologischen Einfühlung.
gestellt, die Darsteller kicken ein bisschen und tragen dann Trotz solcher Abstürze ist das Münchner Zehnstundenthea-
eine Ode an den französischen Kopfstoßfußballer Zinédine ter ein Ereignis, das von den Zuschauern am Ende mit minu-
Zidane und dessen Ausraster im WM-Endspiel 2006 vor. tenlangem Applaus gefeiert wird. Der Regisseur Rüping spielt
Titel dieses Schlussakts: »Was hat das mit Dionysos zu tun?« nicht bloß mit der Sehnsucht nach dem Besonderen, dem
Das ganze Münchner Riesenunternehmen ist eine Be- Spektakel, dem Rausch – er müht sich auch nach Kräften, die-
schwörung des dionysischen Geistes, der Ursprünge des Thea- se Sehnsucht zu stillen. Insofern gilt für die Akteure und das
ters im antiken Griechenland. Vom sechsten vorchristlichen Publikum in »Dionysos Stadt« dieselbe beinahe olympische
Jahrhundert an wurden in Athen während der Dionysien, Wettkampflosung: Dabeibleiben ist alles. Wolfgang Höbel

144 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


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Nachrufe
Berthold Leibinger, 87 system avancierte zum
Wie kein anderer verkörper- Branchenstandard – und
te er den deutschen Mittel- die Softwarefirma zum IT-
stand: ein schwäbischer Giganten. 1982 diagnosti-
Tüftler, der aus einem klei- zierten die Ärzte bei Allen
nen Maschinenbauer einen Lymphdrüsenkrebs, er stieg
globalen Milliardenkonzern bei Microsoft aus. Mit
und Technologieführer einem Vermögen von schät-
formte. Als Lehrling fing zungsweise 26 Milliarden
Berthold Leibinger 1950 bei Dollar gehörte der Techpio-
Trumpf an, studierte nier zu den reichsten Men-
Maschinenbau und kehrte schen der Welt. Allen kauf-

THOMAS DASHUBER / AGENTUR FOCUS


zurück. Dank seiner Erfin- te sich Sportklubs, förderte
dungen wuchs das Unter- aber auch das kulturelle
nehmen, schließlich bot ihm Leben in Seattle und eröff-
dessen kinderloser Eigen- nete dort im Jahr 2000 ein
tümer an, Anteile zu erwer- Popkulturmuseum. Paul
ben; nach einiger Zeit war Allen starb am 15. Oktober
Leibinger Alleineigentümer. in Seattle an den Folgen
der Krebserkrankung. AJU

Wilfried Scharnagl, 79 Ara Güler, 90


»Was ich denke, schreibt Scharnagl«, hatte der langjährige Er porträtierte Pablo Picas-
CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß einst über seinen so, Winston Churchill und
engsten Vertrauten gesagt. Wilfried Scharnagl, der das Par- Alfred Hitchcock. Berühmt
teiorgan »Bayernkurier« von 1977 bis 2001 als Chefredak- wurde Ara Güler aber vor
teur leitete und zahlreiche Parteiprogramme mitformu- allem durch Aufnahmen sei-

VOLKER DAUTZENBERG
lierte, und den Übervater der Christsozialen verband weit ner Heimatstadt Istanbul:
mehr als das Politische. Einmal im Jahr überquerten sie die Seine Schwarz-Weiß-Fotos
Alpen in einem Geländewagen. Später kritisierte Scharnagl aus den Fünfziger- und Sech-
den Umgang der CSU mit Strauß’ Erbe. Als dessen BMW, zigerjahren von Fischern auf
der in der Garage der Parteizentrale stand, Jahre nach dem Bosporus oder von Pas-
seinem Tod verkauft werden sollte, empörte sich Schar- santen auf der Galata-Brü-
nagl: »Und dann hat diese pietätlose Partei gesagt: Wir Die Lasertechnik, die cke gehören zum türkischen
brauchen Platz in der Tiefgarage.« Er kaufte ihn selbst. Bis Leibinger in den USA ent- Kulturerbe. Bewunderer
zuletzt vertrat Scharnagl provokante Thesen, etwa die, deckt hatte, trug entschei- nannten ihn das »Auge von
dass Bayern sich vom Rest der Republik abspalten solle. dend zum Erfolg des Unter- Istanbul«. Güler war Sohn
Mit ihm verliert die CSU einen aufrechten Konservativen nehmens bei. Berthold eines armenischen Apothe-
alter Schule, der bei aller politischen Streitlust noch Wert Leibinger starb am kerpaars. Mit 22 Jahren
auf Anstand und Manieren legte. Bei einem Besuch vor 16. Oktober in Stuttgart. AM heuerte er als Fotoreporter
wenigen Wochen in seinem Haus in Allershausen sagte er: bei der Zeitung »Yeni Istan-
»Ein Ergebnis mit einer Drei am Anfang ist unvorstellbar Paul Allen, 65 bul« (»Neues Istanbul«)
für mich.« Die Drei für seine geliebte CSU ist ihm nicht Im Winter 1974/75 lasen an, später durfte er Mitglied
erspart geblieben. Wilfried Scharnagl starb am 16. Oktober, Paul Allen, damals 21, und der Fotoagentur Magnum
zwei Tage nachdem die CSU mit 37,2 Prozent ihr schlech- der drei Jahre jüngere Bill werden. Mit den Neubauten,
testes Ergebnis seit 68 Jahren eingefahren hatte. MFK Gates in »Popular Electro- dem Verkehr seiner Stadt
nics«, wie man selbst einen haderte er. Und doch war
Computer bauen kann. Istanbul für ihn wie »eine
Mel Ramos, 83 Mikrorechner für jeder- Schatulle voller Juwelen«.
Wer keinen Humor habe, werde seine Werke wahrschein- mann: Diese Idee elektri- Ara Güler starb am 17. Okto-
lich nicht mögen, sagte der US-Künstler. Tatsächlich sierte das Duo, Freunde ber in Istanbul. POP
musste er sich im Laufe seiner Karriere immer wieder kriti- seit der Schulzeit in Seattle,
sieren lassen für die Bilder von Pin-up-Girls, die er so und sie entschlossen sich,
gern malte. Mel Ramos kam 1935 in Sacramento zur Welt, eine Software dafür zu
und man könnte meinen, das Leben in Kalifornien sei schreiben. Allen kam folge-
eben schon immer unangepasster, auch unangezogener richtig auf »Micro-Soft«
gewesen. Dabei ist der Nachkomme portugiesischer Ein- als Name für ihr Start-up-
wanderer zwischen lauter gläubigen Katholiken aufgewach- Unternehmen. Den Durch-
sen. Wie etliche andere Künstler seiner Generation ent- bruch erzielten sie 1980,
deckte Ramos dann die Verlockungen des Konsums und als sie mit dem mächtigen
seiner Ästhetik, auch die unterhaltsamen Bilderwelten der IBM-Konzern ins Geschäft
IMAGO/DEPO PHOTOS

Comics. Bald wurde er zu den Pop-Art-Künstlern gezählt, kamen und dessen ersten
und wenn er auch nie so berühmt wurde wie Andy Warhol, Personal Computer mit
so hatte er doch immer beachtlichen Erfolg. Trotz oder dem »Microsoft Disk Ope-
wegen der Kritik, die sein Werk begleitete. Mel Ramos starb rating System« (MS-DOS)
am 14. Oktober im kalifornischen Oakland. UK ausstatteten. Das Betriebs-

DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018 147


Personalien

Affenstark
G Der deutsche Opernsänger Jonas
Kaufmann, 49, will es in nächster Zeit eher
ruhig angehen lassen. Diese Woche trat er
nach langer Pause wieder in der New Yorker
Met auf, deren Publikum er zuvor durch
mehrere kurzfristige Absagen aus gesund-
heitlichen Gründen sehr enttäuscht hatte.
Um mehr Zeit für die Familie zu haben,
aber auch um Kraft zu sammeln und »frisch«
zu bleiben, kündigte er nun an, in den kom-
menden Jahren seine Verpflichtungen zu
reduzieren. Einige wenige Opernrollen will
der international gefragte Tenor annehmen
und nur eine Konzerttour absolvieren.
Dabei sei die Versuchung immer groß, mehr
zu machen und Nein zu sagen, »sehr hart«.
Und Kaufmann erhält nicht nur Anfragen
von den großen Konzerthäusern dieser

GREGOR HOHENBERG / SONY CLASSICAL


Welt – zuletzt bat ihn der Wiener Tiergarten
Schönbrunn um einen Auftritt. Kaufmann
erschien Ende September und übernahm
die Patenschaft für die Weißhandgibbons im
ältesten Zoo der Welt. Das passt so gut,
weil diese Affen zur Kommunikation einen
melodischen Gesang praktizieren, der dem
von Opernsängern durchaus ähnelt, wie
Kaufmann feststellte. KS

ren vorbehalten war; »Tat- auch ein wenig peinlich, denn


Nicht Ehrhardt! ort«-Darsteller Wotan Wilke Schauspieler Möhring trägt
G Ein 70 Jahre alter Text Möhring hat ihn eingespro- darauf außerdem die Rüge
aus dem SPIEGEL hat es chen. Produzentin des Hör- vor, die Erhardt der Redak-
auf ein Hörbuch geschafft. buchs ist Erhardts Enkelin tion nach Abdruck seines Bei-
Verfasser ist der Komiker Nicola Tyszkiewicz, die da- trags erteilte. Das Magazin
Heinz Erhardt. In Ausgabe rauf auch unveröffentlichte hatte – entgegen aller selbst
10/1948 beschrieb er, wie Werke ihres 1979 verstorbe- auferlegten Akribie – in der
er von seinem kindlichen nen Großvaters versammelt. Überschrift den Namen des
Berufswunsch Lokomotiv- Es erscheint kommende Wo- Komikers falsch geschrieben.
führer abgerückt war, um che, gemeinsam mit einem Der wehrte sich poetisch:
Komponist, Dichter und weiteren Album, für das die »Nicht Ehrhardt, Erhart, auch
schließlich Humorist zu wer- NDR Bigband Erhardt-Kom- nicht Ehrhart, auch Erhard tut
den. Der Beitrag erschien positionen eingespielt hat. dem Heinz sehr weh. Ich
in der Reihe »Eine SPIEGEL- Für den SPIEGEL ist das Hör- schreib mich, bitte buchstabie-
DPA

Seite für …«, die Gastauto- buch nicht nur Ehre, sondern ren Sie: E-r-h-a-r-d-t!« AKÜ

148 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


haft gekleidet in New York
Fabelhaftes für nach der Liebe suchte, arbei-
die Füße tet jetzt im eigenen Schuh-
geschäft. Verheiratet ist
G Die kleine Schuhverkäufe- Parker schon seit mehr als
rin von nebenan wird für den 20 Jahren, drei Kinder ge-
Film entdeckt, kommt groß hören zur Familie. Unweit
raus, und am Ende findet sie der Wall Street berät sie nun
auch noch den Mann fürs regelmäßig höchstpersönlich
Leben. Klassischer Holly- Kundinnen, die sich für ihre
woodstoff. Im wahren Leben Kreationen interessieren.
macht es die Schauspielerin Von der Sandale über Pumps
Sarah Jessica Parker, 53, bis hin zum Stiefel ist alles
genau umgekehrt. Der Star dabei. Ihre Designs entste-
aus der Serie »Sex and the hen in Kooperation mit dem

GABRIELA NEEB
City«, der als Carrie Brad- Luxuslabel Manolo Blahnik,
shaw von Kopf bis Fuß fabel- das auch für Schuhliebhabe-
rin Carrie in der Serie eine
existenzielle Rolle spielte. Es
ist bereits das zweite Geschäft, Der Augenzeuge
das Parker eröffnet hat, und
sie liebt es, unangekündigt
aufzutauchen. Den eigent-
lichen Verkauf überlässt Par-
»Warum stirbt Jesus?«
ker allerdings lieber anderen; Zum 42. Mal bereiten sich die Einwohner im
die Schuhe kosten zwischen bayerischen Oberammergau auf die berühmten
250 und 600 Dollar, und die Passionsspiele vor. Mit der Besetzung der
DANIEL DORSA / NYT / REDUX / LAIF

Vorstellung, dass sich durch


nächsten Aufführung fordert Regisseur Christian Stückl,
ihre Präsenz »irgendjemand
gezwungen fühlt«, etwas 56, die Traditionalisten einmal mehr heraus.
zu kaufen, behagt ihr nicht.
Aber auf dem Boden zu G »Die nächsten Festspiele finden in zwei Jahren statt, etwa
knien und Passgenauigkeit 1800 Erwachsene und 500 Kinder wollen mitspielen. Unter
zu prüfen macht ihr an- den Darstellern wird diesmal auch ein 18-jähriger Muslim
scheinend Spaß. KS aus dem Ort sein. Er ist für den Christus noch zu jung, aber
er wird einer der drei großen Apostel werden: Johannes,
Petrus oder Judas.
Natürlich erwarte ich Diskussionen über diese Besetzung.
schafts- und Arbeitgeber- Es gibt immer Leute im Dorf, die das Stück in seinen Wur-
Funktionäre funktionären auf die Bühne zeln gefährdet sehen. Seit 1634 wird es aufgeführt, in der
unter sich trotten sah (Jörg Hofmann, Regel alle zehn Jahre, und bis 1990 durften keine verheira-
IG Metall, 62, Frank Bsirske, teten Frauen mitspielen, weil man wollte, dass die Frauen-
G Es gibt nicht viele männ- Ver.di, 66, Rainer Dulger, rollen von Jungfrauen dargestellt werden. Dass ich mich von
liche Politiker, die sich als Gesamtmetall, 54, Andreas Rabbinern beraten lasse, empört einige Leute ebenfalls,
Feminist zu erkennen geben. Eurich, Versicherungen, 51), doch Jesus war Jude, und die Geschichte handelt weitgehend
Hubertus Heil, 45, gehört merkte er spöttisch an, von einem innerjüdischen Konflikt. Und als ich zum ersten
offenbar dazu, wie er diese dass auch die Tarifverbände Mal einem Protestanten eine Hauptrolle gab, setzte mich der
Woche seiner Kernklientel Nachholbedarf in Sachen damalige Priester unter Druck.
klarmachte. Als der SPD- Frauenförderung hätten. Aber die Regeln sind so: Jeder, der im Ort geboren ist
Arbeitsminister bei einem Wenn er sich die Reihe so oder hier seit 20 Jahren lebt, hat ein Spielrecht. Und ich
sogenannten Sozialpartner- ansehe, gebe es auch unter möchte auch nicht provozieren, ich möchte nur gutes Thea-
Gespräch in Berlin die den Funktionären »offenbar ter. Dazu gehört Vielfalt. Mein zweiter Spielleiter Abdullah
Männerriege aus Gewerk- ein Genderthema«. MSA Karaca ist ebenfalls Muslim, wir reden ständig über die
Aussage des Stücks. Mir geht es dieses Mal vor allem um
eine Frage – und mit der müssen sich Abdullah und alle Spie-
ler auseinandersetzen: Warum stirbt Jesus? Letztlich doch
für die Konsequenz, mit der er seinen Glauben lebt. Das ist
ein extrem schwieriger Gedanke, ich weiß, religiöse Fana-
tiker denken genauso. Aber die christliche Botschaft ist eine
andere.
Im Zentrum steht Menschenliebe – Nächstenliebe wie
BENJAMIN ZIBNER / BILD

Feindesliebe. Wie gehen wir miteinander um, mit Fremden,


mit Flüchtlingen? Wie sehr lassen wir uns von Populisten
aufhetzen? Bei diesen Fragen ist es doch ein riesiger Gewinn,
wenn die Sicht von jungen Muslimen in das Stück einfließt.«
Aufgezeichnet von Katja Thimm

149
»Das Verhältnis der Deutschen zur Revolution verdeutlicht eine Anekdote
über den letzten sächsischen König: ›Majestät, das Volk macht Revolution!‹,
ruft ein Lakai. Darauf der König: ›Ja, dürfen die denn das?‹«
Harry Paul, Zeuthen (Brandenburg)

Ab aufs Pferd gelinde gesagt ein Witz: In der Diktatur Die Städte werden schön
Nr. 42/2018 Revolution – warum die
der ehemaligen DDR lebten mehr als 15 Mil- Nr. 41/2018 Leitartikel: Die Politik
Deutschen so oft scheitern lionen Menschen in Unfreiheit. Sie konn- sollte die Autobranche endlich zu ihrem
ten sich weder frei bewegen noch frei äu- Glück zwingen
Dirk Kurbjuweit hat einen fesselnden Par- ßern. Totalitäre Bespitzelung und Repres-
forceritt durch die Geschichte nationaler sionen waren Teil des Alltags. All diese In der Stadt hängt der Kraftstoffverbrauch
Revolutionen vorgelegt. Am Beispiel von Menschen können heute frei in der Bun- eines Autos in erster Linie von dessen Ge-
dreieinhalb deutschen Revolutionen (1848, desrepublik leben, auch wenn vielleicht wicht ab. Schwere Wagen verbrauchen
1918, 1968 und 1989) macht er wie die noch nicht alle Lebensverhältnisse perfekt viel Treibstoff, kleine weniger – das Glei-
Historiker Heinrich August Winkler und angeglichen werden konnten. Dieser Fort- che gilt für den Schadstoffausstoß. Deshalb
Wolfgang Mommsen mangelnde Ent- schritt ist mehr als ein Quantensprung! Ins- sollte man mit Fahrverboten vor allem die
schlossenheit bei der Durchführung als besondere ist Ihre mit diesem Titel einher- dicken Angeberautos – in denen nur eine
ein spezifisch deutsches Phänomen aus. gehende Geschichtsvergessenheit gegen- Person sitzt– bestrafen!
»Pflaumenweiche Elemente« seien am über allen mutigen DDR-Bürgern, die in Bodo Koglin, Berlin
Werk gewesen, beklagte gar Rosa Luxem- einer Diktatur unter Androhung von
burg. War die deutsche Nation allein schon strengsten Repressionen auf die Straße gin- Mir geht schlicht der Hut hoch, wenn Sie
deshalb nicht bereit zu radikalen Umwäl- gen, um die damaligen Zustände anzupran- ausgerechnet in einem SPIEGEL-Leitarti-
zungen, weil sie, wie Peter Sloterdijk in gern und friedlich eine Neuordnung zu for- kel den Elektromotor als »Technologie der
seiner Rede zum 9. November 1997 im dern, hinsichtlich ihres Erfolgs eine boden- Zukunft« bezeichnen. Sie wissen doch,
Berliner Renaissance-Theater meinte, eine lose Frechheit, die mich tief erschüttert. dass sich ein E-Auto in Relation zu einem
Stressgemeinschaft sei, die sich ständig Dr. Matthias Flurl, München Auto mit Verbrennungsmotor ökologisch
selbst errege, terrorisiere und in Panik ver- erst nach 80 000 Kilometern »rechnet«.
setze? Hätte eine geglückte Revolution Berücksichtigt man auch noch die Produk-
1918 die Nazis verhindern können? tionsgegebenheiten des E-Autos, verdrei-
Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) facht sich diese Zahl. Der E-Motor kann
deshalb allenfalls als Zwischentechnologie
SCHERL / SV-BILDERDIENST

Ich lese den SPIEGEL jede Woche vom An- bezeichnet werden, die uns nach kurzer
fang bis zum Ende und schreibe nie eine Zeit ähnliche Probleme wie der erdölge-
Lesermeinung, aber diese Titelgeschichte triebene Ottomotor bescheren wird. Die
ist leider völlig misslungen. Die Behaup- Zukunft liegt allein in der Wasserstofftech-
tung, »die Deutschen« würde in revolutio- nologie, deren Erforschung Industrie und
nären Augenblicken »das Große Gemä- Politik ebenfalls tief verschlafen.
ßigtsein« überkommen, weil nicht jeder Demonstrierende Matrosen in Kiel 1918 Joachim Wittern, Papendorf (Meckl.-Vorp.)
gleich zu den Waffen griff und man sich
lieber an die ach so geliebte Obrigkeit an- Revolutionen scheitern immer und überall. Der Verbrennungsmotor ist am Ende, weil
kuschelte, ist derart selbstgerecht, respekt- Was hatten die Franzosen nach ihrer Re- er die Leute davon abhält, wenigstens die
los und verächtlich gegenüber ganzen Ge- volution? Einen Kaiser statt einen König. kurzen Strecken in der Stadt zu Fuß zu ge-
nerationen von Menschen, dass es einem Was hatten die Russen nach ihrer Revolu- hen oder sich aufs Rad zu setzen. Da ist
die Sprache verschlägt. Man kann diese tion? Einen Diktator statt einen Zaren. das Zweitauto mit Elektroantrieb genauso
Revolutionen eben nicht in so einer ober- Was hatten die Chinesen nach ihrer Revo- fehl am Platz. Die Städte ersticken ja nicht
flächlichen Weise einfach gegenüberstellen lution? Einen Diktator statt einen Kaiser. nur an den Abgasen, sondern auch an der
und daraus eine zeitgenössische journalis- Ist es den Menschen in diesen Ländern schieren Menge Autos. Um die Städte um-
tische Erzählung, noch dazu mit einer kla- nach den Revolutionen besser gegangen zuwandeln, reichen Fahrverbote nicht aus.
ren politischen Botschaft dahinter, über als vorher? Mitnichten, millionenfaches Es braucht Anstöße wie die Verknappung
»den Deutschen« und sein »zahmes We- Elend und Massenmorde waren die Folge. von Parkplätzen, die Bevorzugung des
sen« machen. Nichtsdestotrotz wird alles Darüber sollten sich Menschen, die über Radverkehrs, die Optimierung und Verbil-
gut, und ich werde dem Autor meine Zeit- Revolutionen nachdenken, Gedanken ma- ligung des öffentlichen Nahverkehrs und
kapsel schenken: Dann reist er beherzt ins chen. Gut, dass Revolutionen auch mal vieles mehr. Die Leute werden merken,
Jahr 1848, wird sich auf sein Pferd schwin- scheitern – vielleicht ist das Elend für das dass man auch anders in die Stadt kommt
gen und »uns Deutschen«, als freiheitslie- Volk dann geringer, als wenn die Revolu- und dass die Städte auf einmal viel schöner
bender George Washington, ihr »zahmes tion obsiegt. werden.
Wesen« mal so richtig austreiben. Hans-Joachim Lenz, Eppelheim (Bad.-Württ.) Hanspeter Maier, Mörfelden (Hessen)
Florian Kampa, Leipzig

Im Titelbild mit der Zeile »Revolution – Korrektur


Warum die Deutschen so oft scheitern« zu Heft 42/2018, Seite 5: Inhaltsverzeichnis
führen Sie die Jahreszahl 1989 an. Das ist Christiane Benner ist Zweite Vorsitzende der IG Metall und nicht DGB-Vizechefin.

150 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Wolf Singer, Hirnforscher
Ernst Strüngmann Institut für Hirnforschung in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft, Frankfurt am Main

Dahinter steckt
immer ein kluger Kopf.
Scholz & Friends

Was passiert beim Lesen im Gehirn?


Jetzt das Interview anschauen auf faz.net/singer
»Es ist doch bezeichnend für den Zustand der Gesellschaft,
dass es einer Extraausgabe bedarf, damit die Frauen sichtbar werden.«
Karen Kross, Schmalstede (Schleswig-Holstein)

Das #frauenland-Heft ist noch bis Anfang Dezember im Handel erhältlich.

Wir sind die Hälfte delt und dass sie zudem alle Texte und Fo-
tos auf versteckte Frauenfeindlichkeit und
Sonderausgabe 1/2018 #frauenland
Sexismus prüfen. Wir sind die Hälfte. Wel-
Das Sonderheft #frauenland ist mit Sicher- che Ausrede gibt es? Jedenfalls würde
heit das beste SPIEGEL-Heft, das ich je in dann mein Nachbar seinen SPIEGEL öfter
der Hand hatte. Jeder einzelne Artikel ist vermissen.
interessant! Grandios. Susanne Weik, Bad Zwesten (Hessen)

HERLINDE KOELBL
Diana Borowski, Troisdorf (NRW)
Sorry, aber wenn ich die »Emma« lesen
Diese Ausgabe ist von der ersten bis zur wollte, hätte ich sie abonniert. Diese Aus-
letzten Seite überflüssig. Sollten in der Da- gabe war überflüssig, selten so gelangweilt.
menwelt Komplexe herrschen über emp- Jörg Hardel, Langenhagen (Nieders.) Kanzlerin Merkel
fundene Einschränkungen, kann die Folge
dieses Umstandes nicht sein, dass ich mich Es reicht! Ich bin seit nunmehr fast zwanzig Ohne sie gäbe es kein Gesetz für die gleich-
als Person zweiter Klasse zu fühlen habe, Jahren treuer SPIEGEL-Leser und weder berechtigte Teilhabe von Frauen und Män-
nur weil ich ein Mann bin. Weil Frauen Macho noch Frauenfeind. Aber eine Sonder- nern an Führungspositionen, ohne sie gäbe
sich diskriminiert fühlen, ist die Antwort, ausgabe zum Thema Feminismus? Schaut es nicht so viele Diskussionen zur gleichen
dass Männer diskriminiert werden müs- eigentlich einer Ihrer Redakteure/innen Bezahlung, keinen Equal Pay Day – und
sen? Diese SPIEGEL-Ausgabe war die ers- (fast vergessen!) mal aus dem Fenster Ihres auch beim Gesetz zur Entgelttransparenz
te, die ich wütend in die Zimmerecke ge- Wolkenkuckucksheims in Hamburg? Die haben die Frauenverbände mitgewirkt.
worfen habe. Welt, Europa und Deutschland stehen vor Monika Schulz-Strelow, Präsidentin der Initiative
Christian Müller, Bergisch Gladbach (NRW) Riesenproblemen, und Sie produzieren Frauen in die Aufsichtsräte (FidAR) e. V., Berlin
eine Sonderausgabe zum Thema Gleich-
Meinem Nachbarn den SPIEGEL aus dem berechtigung? Ehrlich, geht’s noch? Als Da habe ich wohl die Niete unter den acht
Briefkasten geklaut, als ich den Titel sah. Abonnent muss ich diesen, mit Verlaub, verschiedenen Titelbildern bekommen.
Diesen und den folgenden Abend gelesen – Lifestylejournalismus auch noch bezahlen! Wie armselig ist es, wieder eine leicht be-
fast jeden Artikel! Das passiert mir sonst Ich erwarte vom SPIEGEL anständigen kleidete, mit Seide und Ketten geschmück-
nie, ich schaffe höchstens ein Fünftel, Journalismus zu aktuellen Themen. te Schöne als Lockvogel zu benutzen.
wenn überhaupt. Ja, warum lesen weniger Steffen Reinhardt, St. Egidien (Sachsen) Schade, besonders für dieses Heft. Wurde
Frauen als Männer Tageszeitungen und die Entscheidung von einer Frau getrof-
politische Magazine wie den SPIEGEL? fen? Als ehemalige Praktikantin in den
Klare Antwort: weil sie und ihre Lebens- Siebzigern beim SPIEGEL finde ich es aber
situation üblicherweise wenig darin vor- sehr gut, dass Sie bei dem Thema #MeToo
MONIKA HÖFLER / DER SPIEGEL

kommen. Vielleicht haben wir einfach kei- nicht die Augen vor Rudolf Augstein und
ne Lust, ständig von Männergerangel und seinen Männern verschließen.
Rechthaberei zwischen und innerhalb der Katrin Malanowski, Krefeld (NRW)
Parteien zu lesen, von alten Jungs zu
hören, die im »Sandkasten Weltpolitik« Ich hatte mir im Stillen ein Exemplar mit
(Handels-) Krieg spielen, sich gegenseitig Charlotte Roche auf dem Cover ge-
bedrohen, sich verbünden, damit angeben, wünscht. Hab ich bekommen. Danke!
wer den größten roten Atomknopf besitzt, Musikerin Ace Tee Aber: Wie macht ihr das?
und Konflikte mit Macht, Intrigen und Ge- Wolfgang Ahrens, Hamburg
walt lösen. Womöglich interessieren uns Solange in Ihrem Heft die Meinungsartikel
die Vorgänge in der kapitalistischen Wirt- am Anfang des Heftes nur von Männern Ich halte gerade die weibliche Ausgabe des
schaft und das Gezocke an der Börse nicht (Augstein, Feldenkirchen und Fleischhauer) SPIEGEL in der Hand und spüre, wie mei-
besonders. Wir haben anderes zu tun: für stammen, kann ich Ihre Auseinanderset- ne Tränendrüsen reagieren. Wie sehr ver-
unglaublich wenig Geld andere Menschen zung mit Frauenthemen nicht wirklich misse ich als politisch interessierte Frau
pflegen, betreuen, versorgen, behandeln, ernst nehmen. eine Zeitschrift für weibliche Tagespolitik,
unterrichten, an der Kasse sitzen, verkau- Dr. Doris Behrendt, Biebelried (Bayern) in der es um »unsere« Belange geht. Ohne
fen – neben der Berufstätigkeit noch die die ständige Alphatier-Showbühne. Ohne,
meiste Hausarbeit erledigen und uns um Wir freuen uns über die Sonderausgabe dass es gleich automatisch um die Ver-
die Kinder und die alten Eltern kümmern. und begrüßen diese Initiative ausdrücklich. schwesterung mit gender-diskussionsbezo-
Schlage vor, dass ab dieser Ausgabe beim Allerdings mussten wir mit Verwunderung genen oder kämpferischen feministischen
SPIEGEL eine Feministin den Auftrag be- feststellen, dass keine der zivilgesellschaft- Belangen geht. Bitte mehr und öfter so et-
kommt, darauf zu achten, dass jeder zwei- lichen Fraueninitiativen und Frauenverbän- was. Ich kaufe gleich zehn Exemplare und
te Beitrag von einer Frau geschrieben wird de, die teilweise seit Jahrzehnten an diesen verschenke sie an Freundinnen.
und jeder zweite Beitrag von Frauen han- Themen arbeiten, hier Erwähnung finden. Nadja Lehmann, Göttingen

152 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018


Briefe

Das geht so nicht! rungsposition und fühle mich nicht diskri- islamistischen (nicht islamischen!) Indok-
miniert. Mein Mann und ich haben von trinierung und Verhetzung hergestellt.
Sonderausgabe 1/2018 Anzeige
Anbeginn an immer alles, was anfiel, glei- Ganz wie zum Beispiel Kamel Daoud und
Konferenz »Futura«
chermaßen angepackt, ohne große Diskus- viele andere MuslimInnen.
Im Essay »Dinge, die sonst nur Männer sionen, ob das auch gleich sei. Es muss Alice Schwarzer, Köln
tun« schreibt Barbara Supp: »Es war zur nicht gleich bemessen sein, es muss gleich
Gewohnheit geworden, dieses Denken, gefühlt sein. Ich lege beispielsweise alles
wenn es um Podien, Kongresse oder auch auf Kante zusammen, manchmal auch das, Das wäre ein Signal gewesen!
manche Talkshow ging: Wir brauchen eine was er schon zusammengelegt hat. Darü- Sonderausgabe 1/2018 Die Ex-Minis-
Frau.« Das scheint sich auch das Organi- ber lachen wir inzwischen, und einer gibt terinnen Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD),
Rita Süssmuth (CDU) und Sabine
sationsteam der Futura-Konferenz, die auf sich dann mehr Mühe, einer nimmt sich
Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
der letzten Seite beworben wird, gedacht zurück. Gott bewahre, dass wir alle irgend- im SPIEGEL-Gespräch über Machos
zu haben. Eine Frau zwischen sieben Män- wann gleich sind: In einer solchen Welt und Feminismus in der Politik
nern, ist das euer Ernst? So wird Deutsch- möchte ich nicht leben!
land nie zum Frauenland. Sandra Unberath, Fürth (Bayern) Wenn es um Teilhabe von Frauen in der
Helena Schäfer, Bayreuth Politik geht, kann ich viele Positionen der
Das ist ja gruselig. Man schreibt eine Ex- drei befragten Damen nachvollziehen. Als
Schöne Idee, dieses eine Heft. Ambitio- cel-Tabelle, um rauszufinden, ob es in der es aber darum ging, 1994 mit Hildegard
niert, streitbar, inspirierend, um (Auf-)Klä- Partnerschaft gerecht zugeht? Der Num- Hamm-Brücher erstmals eine Frau zur
rung bemüht. Und dann, zehn Zentimeter mer gebe ich keine zehn Jahre, dann muss Bundespräsidentin zu wählen, war von
vorm Ziel, die Einladung zu Futura, initi- die Tabelle umbenannt werden, weil sich
iert vom SPIEGEL. Acht Referenten. Da- die Namen der Beteiligten geändert haben.
von eine Frau. Leute, das geht so nicht. Wie wäre es denn einfach mit gesundem
Ich hätte lieber nicht gemeckert, aber das Menschenverstand? Es wird nie gerecht
ist dann wirklich peinlich am Ende eines zugehen, egal ob in einer Beziehung, der
solchen Heftes. Elternschaft, am Arbeitsplatz oder auf dem

LÊMRICH / DER SPIEGEL


Bettina Rust, Berlin Kindergeburtstag. Die Frage ist, ob ich mir
da so einen Kopf drum mache oder einfach
DER SPIEGEL Liebe Frau Schäfer, liebe nur mache. Wenn mir an meinem Partner
Frau Rust, wir freuen uns, dass mittler- gelegen ist, muss ich nicht Buch führen
weile vier weitere Referentinnen für die oder über Gerechtigkeit diskutieren.
Veranstaltung zugesagt haben. Darüber Christoph Uckelmann, Münster Ex-Ministerin Süssmuth
hinaus sind noch weitere Anfragen offen,
deren Bestätigung wir positiv entgegen- Wichtige Antwort den dreien nur Sabine Leutheusser-Schnar-
sehen. Unser Bestreben ist es generell, ein renberger mit »im Boot«. Rita Süssmuth
Sonderausgabe 1/2018 Ewige Fragen I
ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter hätte – als Bundestagspräsidentin mit gro-
auf der Konferenz zu erreichen, sowohl Weshalb ziehen Männer den Pullover an- ßem Gewicht und in Kenntnis der Ver-
auf der Bühne als auch im Publikum. ders aus als Frauen? Eine wichtige Antwort dienste von Frau Hamm-Brücher gerade
Herzliche Grüße, fehlt: weil Männer die Pullover meist nicht um die Parlamentsreform – zumindest so
Sacha Lahme, Leiter des Konferenzgeschäftes der waschen, sondern Frauen! Frauen waschen lange Position beziehen können, wie die
SPIEGEL-Gruppe die meisten Sachen auf links, um Gewebe Union noch keinen Kandidaten offiziell
und Farben zu schonen. Deshalb ziehen benannt hatte. Ob Heidemarie Wieczorek-
Gleich gefühlt sie die Pullover mit gekreuzten Armen von Zeul wie viele ihrer Parteigenossinnen per-
unten über den Kopf. Dann ist er gleich sönlich in Frau Hamm-Brüchers interfrak-
Sonderausgabe 1/2018 Wie ein Paar sich
links. Wenn Männer den Pullover wie be- tioneller Arbeitsgruppe »Parlamentsre-
die Hausarbeit und die Kindererziehung
mithilfe von Excel aufteilt schrieben ausziehen, bleibt er rechts. Das form« mitgearbeitet hat, weiß ich nicht.
wollte ich nun als Mann noch ergänzen. Aber dass der SPD durch parteitaktisches
Was Familie Prinz lebt, das war mein Le- Peter Held, Wiesbaden Festhalten am eigenen aussichtslosen Kan-
ben: verheiratet ab 1985, gleiche Schulbil- didaten Johannes Rau im dritten Wahl-
dung und Studium wie mein Mann, mit je- »Islamismus« – nicht »Islam« gang der Bundesversammlung in der Kon-
dem der zwei Kinder jeweils ein Jahr zu sequenz der Konservative Roman Herzog
Sonderausgabe 1/2018 Feministin sein
Hause, sonst ganztags berufstätig, unwe- lieber war als die so sehr verehrte und ho-
und Schleier tragen – passt das zusammen?
sentlich geringeres Einkommen, beide Kin- fierte Frau Hamm-Brücher, das bleibt mir
der mit akademischen Abschlüssen. Meine In Ihrem Frauensonderheft behaupten Sie, in schlechter Erinnerung und trifft auch
Arbeit ist interessant, ich will keine Füh- ich würde »dem Islam kritisch begegnen«. Frau Wieczorek-Zeul. Hildegard Hamm-
Doch ich habe noch nie über »den Islam« Brücher, das wäre ein Signal gewesen! Die
geschrieben, der für mich eine Religion Grünen hatten das erkannt und sie im zwei-
und Glaubensfrage ist. Ich schreibe seit ten Wahlgang gewählt, wo aber waren die
1979 (Khomeini) ausschließlich über »den SPD-Frauen und Frau Wieczorek-Zeul?
Islamismus«, also den politisierten Islam, Dr. Wolfgang Weng (FDP, Mitglied des Bundestages
der eine Ideologie ist. Ebenso falsch ist, von 1983 bis 1998), Gerlingen (Bad.-Württ.)
LÊMRICH / DER SPIEGEL

dass ich apropos der Silvestervorfälle 2015


in Köln »einen Zusammenhang zwischen
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
den Übergriffen und der Religion der Tä-
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
ter« hergestellt hätte. Ich habe einen Zu- sowie digital zu veröffentlichen und unter
sammenhang mit der Herkunft der Täter, www.spiegel.de zu archivieren.
Vater Christopher Prinz mit Sohn ihrer patriarchalen Tradition sowie ihrer

153
Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die »Allgemeine Zeitung« aus Bad
Kreuznach über ein umgekipptes Auto: Die »Süddeutsche Zeitung« zum
»Mit einem Seilzug und Manneskraft 80. Geburtstag der legendären SPIEGEL-
kippten die Feuerwehrmänner schließ- Reporterin Marie-Luise Scherer:
lich das Auto wieder auf vier Räder.« Jetzt im Welche Chancen hat im deutschen Geis-
Handel tesleben der Fünfziger ein Mensch, der
kein Abitur besitzt und dazu noch eine
Frau ist? Da bleibt eigentlich nur eines:
Journalistin! ... Marie-Luise Scherers Ruf
bis heute begründen die Reportagen, die
Anzeige in der »Melsunger Allgemeinen« sie für den SPIEGEL geschrieben hat. In
diesem Leitmedium der noch ziemlich jun-
gen BRD erringt sie ein Privileg, das außer
Aus der »Rheinpfalz«: dem Chef persönlich sonst keiner genießt:
»Der Spritablass vom Samstag war der Sie darf dort »ich« sagen. Vom SPIEGEL-
19. Fall, bei dem Flugzeugpiloten Sound stechen sie scharf ab. Sie besucht
über Deutschland in diesem Jahr Kerosin Modenschauen und Gourmetkonferenzen;
absonderten.« sie erlebt die großen alten Damen des
Show-Geschäfts: Lilli Palmer, wie sie in
ihrem Hosenanzug auf dem Sofa herum-
turnt; Hildegard Knef, die sich im Foyer
eines Luxushotels mit rauchiger Stimme
die Verehrer vom Hals hält; die fast er-
blindete Zarah Leander beim Auftritt vor
einem Publikum, das sie nicht zu schätzen
weiß. Liest man diese Texte im Abstand
von Jahrzehnten, merkt man, wie in den
Schild an einer Tankstelle in Riegelsberg scheinbar kleinen Beobachtungen eine
(Saarland) ganze Expoche eingeschlossen ist.

Aus der »WAZ«: Das Kunstmagazin »Monopol«


»Investoren sind aber nach Darstellung über Jonathan Meeses im SPIEGEL
der Messe-Teilnehmer aus Oberhausen offenbartes Verhältnis zu Politik
auch auf der Suche nach Standorten (»Furzgrößenwahn«, Nr. 24/2012):
für neue Hotels – trotz der derzeit hier
laufenden Hotelneubauten locken die www.spiegel-geschichte.de Meeses Aktionen fehlt das Agitatorische,
über 22 jährlichen Besucher der Neuen ihm selbst die Neigung zum Guruhaften.
Mitte Hotelinvestoren an.« Joseph Beuys, so Meese im SPIEGEL-
Gespräch, »war ichversaut … bis zum
Gehtnichtmehr, der hat die Grüne Partei
Aus den »Ostfriesischen Nachrichten«: gegründet, das ist ja ganz grauenhaft.
»Nach einem internen Umbruch Komischerweise sind alle Künstler heute
der Mannschaft in dieser Saison mit den linkspolitisch. Ist doch mickrig. Sei doch
Abgängen von einigen Stammspielern gar nichts.« Das »gar nichts« oder die
begann das Team erfolgversprechend. Idee, sich als »Ameise der Kunst« nützlich
Diese guten Leistungen konnten leider
Lesen Sie in zu schrumpfen, trifft vor allem auf den
nicht kompensiert werden, so Salwe.« privaten Meese zu, der im Karriereverlauf
diesem Heft: zunehmend hinter der Kunstfigur zurück-
trat.
Die Staufer
Kämpfe zwischen Der SPIEGEL berichtete …
Kaiser und Papst … in »Vater unser« (Nr. 1/2018)
über das »Kentler-Experiment«, bei
Friedrich der Große dem der Berliner Senat Straßenkinder
in die Obhut pädophiler Pflegeväter
Werbeschild in Strande bei Kiel
Der aufgeklärte gab, beginnend in den Sechzigerjahren.
Militarist
Am Montag entschuldigte sich die Berliner
Aus der »Ostthüringer Zeitung«: Jugendsenatorin Sandra Scheeres (SPD)
»Til Schweiger (54), Regisseur, Nationalstaat bei den Opfern. Sie hat Forscher der Uni-
hatte seine Eltern überzeugt, Medizin
zu studieren.«
Gab es den deutschen versität Hildesheim beauftragt, die Vor-
gänge aufzuarbeiten.
Sonderweg?
154 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018
„ Schwarzriesling!
Hab' ich neu entdeckt! “

Erstaunlich
kräftig.

Martin W., 59, Ingenieur

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