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1
Der Vortrag wurde im Wissenschaftskolleg zu Berlin aus zweifachem Anlaß gehalten. Einmal
als Abschluß der Nietzsche-Tagung, zum anderen als letzter Colloquiumsvortrag des Akade-.
mischen Jahres 1981/82. Daraus erklärt sich die übergreifende Thematisierung. Vor einem gela-
denen Publikum sollte Nietzsche in einem erweiterten Spektrum betrachtet werden.
2
Odo Marquard: Über positive und negative Philosophien, Analytiken und Dialektiken, Beam-
te und Ironiker und einige damit zusammenhängende Gegenstände. In: Positionen der Negati-
vität. Hrsg. v. Harald Weinrich. Poetik und Hermeneutik VI. München 1975.
Literarische Aspekte des Nihilismus 81
neue Gegenständlichkeit, bevor ich also die philosophische Antwort gebe, len-
ke ich, im Vorübergehen gleichsam, den Blick in die heutige Kunstszene: dia-
lektisch operiert diese Kunst nicht, aber besessen ist sie von jener Negation,
die zwangsläufig das eigene Ende herbeiführen müßte, den eigenen Untergang.
Geht es den Künsten wie der Philosophie? Zögern auch sie nur hinaus? Wo es
keine Positionen mehr gibt, sondern nur noch Indispositionen, wäre der Ex-
itus die Konsequenz. Das Überleben der Künste gelingt weniger durch Stildif-
ferenzierung als durch Differenzen Stil gegen'Stil. Ein ständiges Aüseinander-
dividieren, um dem tödlichen Eingeständnis der Identität zu entgehen: der
endgültigen Negation. Nach allen Negationen bleibt nur noch die Negation
der Negation. Aber die negative Dialektik, wie gesagt, führt aus dem Zirkel
nicht heraus. Am Ende stünde, bei aller Konsequenz, die Selbstnegation. Wie
halten es da die Philosophen?
„Wo jeder nächste Schritt in den Abgrund führt, ist es nützlich, möglichst
lange über möglichst viele möglichst entgegengesetzte nächste Schritte streiten
zu können, statt sie zu tun. Indem die Philosophie als Gegenmittel gegen eine
schlimme Identität den.Ausweg fand, nicht eine, sondern mehrere Philoso-
phien zu sein, erwarb sie sich den Vorteil jener weisen Tausendfüßler, die mit
tausend Füßen zwar nicht schnell laufen, wohl aber ~ immerhin -~ über tau-
send Füße stolpern können: es ist der Vorteil wenn nicht der Seelenruhe, so
wenigstens des Zeitgewinns."
Die Dialektik des Philosophierens von Fichte über Hegel bis £u Marx und
Adorno ist für uns schon darum von Interesse, weil Nietzsche aus diesem Rei-
gen ausgeschert ist. Er witterte wohl die Gefahr, die solcher Dialektik eigen
ist: sich in Antinomien zu verwickeln und in ihnen zu ersticken. Überall Ne-
gativität, überall Zusammenbrüche: doch darüber der dialektisch gezauberte
Traum des Absoluten. Aber dieses Absolute, vernehmen wir ws philosophi-
scher Sicht: „ — das Absolute der absolut gesetzten Dialektik, das Ajjsolute der
negativen Philosophie — ist nur das kommissarische Nichts. Aufschlußreich
bleibt, daß einzig der ältere Fichte es wagte, den Vorwurf des Nihilismus zur
akzeptierten Losung umzustilisieren, daß jedoch die jüngeren Dialektiker den
Umgang mit dieser gefährlich zutreffenden Vokabel mieden und ihn lieber den
Nichtdialektikern überließen: also etwa Nietzsche." Das ist eine durchgreifen-
de Feststellung, gewürzt vom Bonmot des „unendlichen polemischen Appe-
tits" der Dialektik, flankiert von der Feststellung, warum .ein Dialektiker nicht
zerbricht. „Das einfache Gegenmittel besteht darin, die Vernichtung vor-
sichtshalber gar nicht erst abzuschließen, sondern sie zur unendlichen werden
zu lassen. . . Wie Scheherezade immer-noch etwas einfallen mußte, um den
folgenden Tag zu überleben, muß dieser Dialektik — und so kommt es zu ih-
rem immensen Entlarvungsaufwand und ihrem enormen Bedarf an Häresien ~—
immer noch etwas destruieren, um nicht dort anzukommen, wo sie nicht an-
Literarische Aspekte des Nihilismus 83
kommen darf, um nicht ins Nichts zu fallen . . . Darum bleibt der Dialektiker
auf seiner Strecke, um nicht auf der Strecke zu bleiben."
Bevor ich zu Nietzsche komme, der bekanntlich auf der Strecke blieb,
verlasse ich das hohe Podest der dialektisch-negativen Philosophie, die dem
Phänomen des Nihilismus so elegant ausgewichen ist. Dem Nichts werden wir
noch begegnen^ bei den Poeten allerdings — und das sehr früh in Deutschland.
Zuvor will ich empirisch werden, alltäglich geradezu. Den Erfahrungshorizont
des Negativen will ich kurz umreißen. Das geistige Problem unserer Zeit ist
nun einmal die Negativität. Das Negative als Zustand der Kultur, als Thema
der Kunst. Die Negation falscher Wertansprüche ist seit Nietzsche manifest.
Die Negation falscher Kunstansprüche seit der ästhetischen Revolution vor
rund siebzig Jahren. Daraus resultierte die Negation als Modeartikel der Kün-
ste, der literarischen und der sogenannten bildenden, genauer, der bildlosen
Künste in der Tradition des Modernismus, jener Protestwelle, die seit dem Ex-
pressionismus, genauer dem Futurismus und Dadaismus die Kunstszene in Be-
wegung hält. Das Dadaistische Manifest von 1918 setzt plakativ in versalen
Lettern sechsmal den Ausruf NEIN! „Ein Gewebe zerreißt sich unter der
Hand, man sagt ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher will." Tritt
hier als Camouflage doch eine Art von Dialektik auf den Plan? Richard Huel-
senbeck gab 1964 rückblickend einige aufschlußreiche Erklärungen. „Die
Dadaisten waren — sie eilten der Zeit weit voraus — diejenigen Menschen, die
auf Grund einer besonderen Sensibilität die Nähe des Chaos verstanden und es
zu überwinden suchten. Sie waren Anarchisten ohne politische Absichten, sie
waren Halbstarke ohne Gesetzesüberschreitung. . . Viele von ihnen gingen
durch eine initiale Periode äußerster Regression, äußersten Negativismus, wie
zum Beispiel Ball... aber er konnte auf die Dauer auch den Nihilismus Nietz-
sches nicht ertragen." Huelsenbeck diagnostiziert die Gesamtrichtung der mo-
dernen Kunst, vom Kubismus bis zur Pop-Art, als Ausdrucksphänomen der
Leere, als ein fundamentales „Verständnis des Nichts". In der Tat waren das
die „Anfänge eines Gesamtgefühls des Negativismus"4.
Die Erfahrung des Chaos und der Anarchie gehören heute zur Alltags-
szene. Die Negation insgesamt, bis in die Subkultur hinab. Die banalen Exzes*·
se einer Sprache, die nicht mehr ja sagen kann. Die immer mehr schwindende
Möglichkeit von Affirmation. Wir alle.entsinnen uns an den Siegeszug des
Wortes Frustration. Auch das ist zu bedenken. Das ablehnende Schweigen der
Studenten, die gestern noch Schüler waren, oder der Schüler von heute, wenn
es um sogenannte Kulturvermittlung geht. Ich halte es für unstatthaft, der
Kunst allein die-Negativität zu konzedieren, sie zu preisen, mit Preisen auszu-
4
Dada, Eine literarische Dokumentation, Hrsg. von Richard Huelsenbeck. Reinbek bei Ham-
burg 1964, S. 7-23.
84 Bruno Hillebrand
zeichnen dafür, daß sie uns den Spiegel vorhält, — während andererseits die
Jugend, die den Zustand dieser Negativität durchlebt, auslebt meinetwegen,
für dieses Erleben gestraft und zusammengeknüppelt wird.
Wo wir heute stehen, wird uns ständig mitgeteilt: in Schlagzeilen und
Songs, in Bildern und Büchern, Medien und Feuilletons, in ausladenden Kul-
turanalysen, auf der Bühne, auf der Straße, von Intellektuellen und Dumm-
köpfen, von jungen Menschen und solchen, die nicht älter werden wollen. Das
wissen wir alle, darüber habe ich nicht zu sprechen. Vor allem habe ich kein
Rezept anzubieten. Ich weiß nicht, wie die Welt zu verbessern ist, wenn ich
literarisch ein Modell dieser Welt entwerfe. Das läuft notwendig auf utopische
Horizonte zu. Faktisch aber, politisch und ökonomisch also, sozial und öko-
logisch gesehen, sind die Probleme von einer Brisanz, die wir nicht scharf ge-
nug herausstellen können. Eben faktisch. Nicht fiktional. Das isit zu unter-
scheiden. Daß die Menschheit sich auf die Grenze ihrer Selbstvernichtung zu-
bewegt, lesen wir heute auf den Titelseiten, in Tages- und Wochenzeitungen,
das hören wir in Kommentaren, diese alarmierende Nachricht hat jeder im
Ohr, der sich die Ohren nicht zuhält. Daß sich aus diesem Wissen, das wir
bewußt oder unterbewußt alle haben, eine spezifische Kulturstimmung sedi-
mentiert, das ist der Inhalt unserer Diskussionen. Das ist der Inhalt der Kün7
ste, es ist aber auch das Thema jener Richtung von Philosophie* die man, un-
scharf genug, Kulturphilosophie nennt. Nietzsche wird ihr zugerechnet, zu-
recht oder zu unrecht, das ist wiederum eine andere Frage. Von allen Künsten
steht ihr, verständlich und oft wörtlich, die Literatur am nächsten. Das also ist
der Gegenstand, über den ich sprechen werde: ein Kulturphänomen, das bald
seinen zweihundertsten Geburtstag feiert, per Definition zumindest, insofern
der Nihilismus Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Wortschatz sich eta-
blierte. Ich komme darauf noch genauer zu sprechen.
Das Nihilismus-Syndrpm hangt selbstverständlich mit der Gesamtheit al-
ler kulturellen Bedingungen und ihrer zivilisatorischen Fakten zusammen. Ich
kann, angesichts dieses komplexen Dschungels, nur eines tun: summarisch no-
tieren, was ich beim Überfliegen des Kulturgeländes wahrnehme. In einer sehr
bestimmten Weise gehört das zum Verfahren der Literatur. Literarische
Aspekte des Nihilismus sind sui generis etwas anderes als philosophische De-
duktionen, Induktionen oder auch Definitionen. Ich sage das vorweg, um den
Philosophen .jetzt schon Wind aus den Segeln zu nehmen .im Hinblick auf die
Diskussion. Daß ich den Politologen und Soziologen schon ausgewichen bin,
geschah natürlich mit derselben Absicht. Das Thema, ich gebe es zu, ist so
verwirrend, wie es umfassend ist. Aber darum wohl auch so interessant. Mein
Verfahren, wenn ich es benennen sollte, ist ein historisch-pointillistisches, ge-
tragen von der Erwartung, daß ein anschauliches Bild dabei zustande kommt.
Was ich heute, in der gebotenen Kürze der Zeit, vortrage, ist wiederum nur ein
Literarische Aspekte des Nihilismus 85
Bruchteil der Facetten,-die ich essayistisch, denn anders ist das nicht möglich,
zusammensetzen werde zu einem größeren Bild in einem entsprechend größe-
ren Rahmen. Mein Interesse spannt dabei den Bogen von der Metaphysik bis
zur banalen Alltagsszene. Der Nihilismus ist überall greifbar. Gerade durch
die Feststellung, daß alles abgegriffen und wertlos ist. Die Sprache der jungen
Leute hat neuerdings für diesen Zustand ein spezifisches Ausdrucksspektrum
entwickelt. Wenn ich richtig informiert bin, steht dieses Symptom unver-
gleichbar da im historischen Ablauf unserer Kultur.
Lassen Sie mich entsprechend banal beginnen. Der Vorwurf wird ja im-
mer noch erhoben, von einem immer noch resistenten Bildungs-Bürgertum,
diese Jugend habe keine Werte mehr, sie lasse sich gehen oder auch hängen.
Das erinnert mich an die fünfziger Jahre, als der Existentialismus in Mode war,
ich war noch Schüler, da strafte mich ein Lehrer mit dem verächtlichen Wort:
Sie sind ein Nihilist. Ohne zu begreifen warum, buchte ich die Invektive als
Ehrentitel. Mit einigen Nihilisten der russischen Literatur hatte ich mich schon
angefreundet, Nikolai Stawrogin, Petschorin, Ivan Karamasov, Basarow und
wie sie sonst noch heißen, rein instinktiv waren sie mir sympathisch. Meine
Auseinandersetzung mit Nietzsche begann erst einige Jahre später. Sehr viel
später hörte ich dann, die fünfziger Jahre seien die Zeit des Kulturpessimismus
gewesen. Ich habe das nicht bestätigt, obwohl ich die Perspektive der 68er-Be-
wegung verstand. Offensichtlich, und das wissen wir heute, konnte diese Be-
wegung sich nur kontrastierend abheben vom Kulturklima der fünfziger Jahre
in Deutschland. Die materialistische Entscheidung stellte sich konsequent ge-
gen die Restbestände idealistischer Erlebnisformen. Brecht gegen Benn — das
schloß als Formel den Vorgang zusammen. Gleichzeitig war das der Abschluß
der verbalisierten Geschichte des Nihilismus.
Plötzlich wurde bewußt, wie abgegriffen die Münze ist, daß sie keine
Kaufkraft mehr hat. Wir können sagen: vor fünfundzwanzig Jahren etwa ist
die Währung vollends verfallen. Der Nihilismus als Erlebnisform kam nach
dem Zweiten Weltkrieg zunehmend außer Kurs. Die innere Glut des Phäno-
mens, so scheint es, war verbrannt. Die Faszination verbraucht. Den Literaten
der Gruppe 47 was das Pathos fremd geworden, das der Tragik einmal Aus-
druck gab: daß nun für immer die Götter und die Ideale und die Werte dahin
seien. Die letzten Dichter, die das betrauerten, die diese Trauer noch einmal in
Gesang verwandelten, in lyrische und episch intonierte Musik, man denke an
Benn oder an Figuren wie Adrian Leverkühn, alias Nietzsche, diese Dichter
starben um die Mitte 'der fünfziger Jahre.
Das Phänomen des Nihilismus ging nicht unter mit ihnen, es verlagerte
sich nur die Perspektive seiner Einschätzung. Das Phänomen der Negativität
blieb. Das Gefühl des Umsonst, das Gefühl der Unlust am Dasein. Damit habe
ich Nietzsche zitiert, aber keineswegs im Sinne heutiger Jugend. „Daß dies
86 Bruno Hillebrand
Wir glauben es ihm, daß er nicht zurückkehren wollte in den alten metaphysi-
schen Schoß. Das sind keine Regressions tendenzen. Aber es klingt doch allzu-
schmerzlich die Trauer um etwas Verlorenes durch. Das Instrument, auf dem
gespielt wird, hat einen Riß. Verloren ist die Heimat, und Heimat hat immer
etwas mit Kindheit zu tun. Zum Antichrist hat Nietzsche sich erst entwickeln
müssen. Der Notwendigkeit seines Denkens zufolge. Den geborenen Mörder
gibt es nicht. Auch der tolle Mensch begreift nicht seine Mitschuld an der gro-
ßen Tat, der größten, wie er sagt, die je die Geschichte des Menschen erschüt-
terte: die Ermordung Gottes. „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen!
Wir haben ihn getödtet, - ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!" 1882
erschien in der Fröhlichen Wissenschaft unter der Nummer 125 diese Mittei-
lung des Philosophen Friedrich Nietzsche, der gern in Bildern spricht, eben als
Poet, wenn es um seine Wahrheit geht. Das Land, sagt er zuvor, haben wir
verlassen und sind zu Schiff gegangen. „Wir haben die Brücke hinter uns, —
mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen!" Ein absurdes Bild.
Jetzt gibt es nur noch das Meer. Die unendliche Land- und Heimatlosigkeit.
Die Überschrift signalisiert die Situation: „Im Horizont des Unendli-
chen." Und dann das Won: „Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt,
als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, — und es giebt kein ,Land* mehr!"
88 Bruno Hiilebrand
Bildhaft befinden wir uns demnach auf See. Aber die Bilder der Dichtung ken-
nen keine Logik.
Die Absurdität wird perfekt, wenn der tolle Mensch mit durchbohrenden
Blicken auf dem Markte weiterschreit. Ratlos, sich überschlagend mit Fragen:
wie haben wir das gemacht, wir Mörder Gottes? Denn aller Vernunft nach
kann Gott nicht getötet werden durch Menschenhand. „Aber wie haben wir
diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den
Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir
diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin
bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und
rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und
ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns
nicht der leere Raum an?"
Kosmisch, das wissen wir natürlich, bewegt sich die Erde weiter in ihrer
gewohnten Bahn. Nur im Gehirn des Menschen hat sich etwas verändert, und
damit in seinem Lebensgefühl. Erst ging das geozentrische Weltbild verloren,
diese bergende Vorstellung der Antike und des Mittelalters, dann löste sich
auch der heliozentrische Kosmos noch auf, und im Sog der allgemeinen, neu-
zeitlichen Relativierung verflüchtigten sich die Restbestände anthropözentri- „
scher Stabilität. „Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrüm ins x."8
Diese Notiz Nietzsches aus den Jahren 1885/86 ist dezidiert den „nihilisti-
schen Consequenzen" der Naturwissenschaft zugeordnet. Man sieht, wie weit
der Rahmen gesteckt ist. Er umfaßt universal die Geschichte der Neuzeit.
Nicht nur die Geschichte metaphysischer und religiöser Tradition. Es gibt die
„nihilistischen Consequenzen der politischen und volkswirtschaftlichen
Denkweise", und es gibt die „nihilistischen Consequenzen der Historie".
Ganz konsequent hat auch die Kunst zur Vorbereitung des Nihilismus beige-,
tragen. Das entnehmen wir den Andeutungen der Fragmente, bei allereebote-'
nen Vorsicht. Denn systematisieren läßt sich hier gar nichts. Das ist nicht mei-
ne Absicht. Die literarischen Aspekte des Nihilismus will ich beleuchten, nicht
mehr. Mein Scheinwerfer ist aufgebaut auf dem heutigen Wahrnehmungspo-
dest.
Von dort aus sehe ich die Wehmut und den Schmerz in Nietzsches Poesie.
Ich lese die Geschichte vom tollen Menschen, der auszog, Gott zu suchen und
ihn nicht fand. Ich lese, daß wir alle die Mörder sind, also auch wir, wenn ich
den Text poetisch ernst nehme. ,jWie trösten wir uns, die Mörder aller Mör-
der? Das Heiligste und Mächtigste* was die Welt bisher besass, es ist unter
unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab?" Ich will die
poetische Qualität dieser dramatischen Prosa nicht bewerten. Das ist ohnehin
8
KSA 12, 127, 2[127],
Literarische Aspekte des Nihilismus 89
eine verfängliche Sache. Ich kann,nur feststellen das Maß der Betroffenheit.
Und auch in diesem Punkte kann ich nur subjektiv sein. Ich stelle fest: wie
weit liegt das zurück, wie unerreichbar ist uns dieser Zustand geworden, diese
Erfahrung, dieses Erlebnis. Die hundert Jahre sind zu einer Mauer geworden.
Eine Klagemauer von der Rückseite, von uns her eine Abschottung. Wir ste-
hen diesseits, während Nietzsche noch jenseits stand. Der Tod Gottes ist ein
historisches Faktum geworden. Wir haben uns daran gewöhnt, daß es ihn
nicht gibt. Das unterscheidet uns von den Narren des 19. Jahrhunderts, die der
Wahnsinn schlug, weil ihnen der Weltsinn verloren ging. Von diesen Narren
möchte ich noch sprechen, diesen literarischen Narren, entsprungen aus den
Köpfen der Poeten, die ihren erfundenen Figuren näherstanden als den Zeitge-
nossen, die sich durch sie zurecht genarrt fühlten. Denn für die Wahrheit war
es noch zu früh. Auch das sagt der tolle Mensch der tauben Menge auf dem
Markte, Er komme zu früh, er sei noch nicht an der Zeit. Das ungeheure, un-
faßbare Ereignis sei noch unterwegs. Wir wissen heute, wie recht er hatte. Die
Geschichte hat es bestätigt. „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher
kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?"9 Das war die Frage Nietzsches
und er suchte nach zureichender Antwort. Wir wissen heute, was er angerich-
tet hat, dieser unheimlichste aller Gäste. Das macht der Unterschied von hun-
dert Jahren. Historisch gesehen eine überschaubare Zeit?
„Der heraufkommende Nihilismus" — das potentielle Moment histori-
scher Entfaltung. Die Apokalypse erscheint am Horizont. Wobei wir heute
wissen, daß der von Nietzsche deklarierte europäische Nihilismus sich ausge-
weitet hat zu globaler Dimension. Mit alleivKonsequenzen ausgerüstet, die er
dem Nihilismus zuschrieb. Positiv intendiert: Krieg und Gefahr, Sieg des Stär-
keren, Untergang des Schwachen. „Gegen das Versöhnen-Wollen und die
Friedfertigkeit." Die Herrenmoral! Der Übermensch! Der Züchtungsgedan-
ke! Die Korrumpierung durch den Nationalsozialismus ist zu bedenken. Aber
es dürfen solche Bedenklichkeiten nicht den Blick verstellen auf die philoso-
phische Intention. Der denkerische Weg Nietzsches zur Affirmation mufr zu-
nächst durchschritten werden. Dann folgt die zeithistorische Reflexion. Na-
türlich ist vieles fragwürdig — im Sinne des Wortes. Aber mehr noch ist es
bedenkenswert. Von heute aus, nicht historisierend. Eben historisch abwä-
gend, ohne leichtfertige Aktualisierung. Sonst fühlen sich alle bestätigt, oder
alle auf den Fuß getreten. Die Feministinnen zuerst und die Demokraten
gleich danach. Lieber Untergang als Vermittelmäßigung. Das war sein Wahl-
spruch. Und von den „Schlechtweggekommenen" sagt er, daß sie keinen
Trost mehr haben, seit der Nihilismus sie ereilt hat. Abgelöst von der Moral,
von Gott und Jenseits, fehlt die Begründung, sich zu ergeben — in Demut,
9
Vgl. nachfolgend KSA 12, 125ff., 2[127].
90 Bruno Hillebrand
10
KSA 12, 350, 9[35].
11
KSA 13, 521, 17p], 2.
12
KSA 13, 522, 17[3], 4.
13
KSA 13, 241, 14[47]:
14
EH Also sprach Zarathustra 1.
Literarische Aspekte des Nihilismus 91
Fünfzehn Jahre nach Erscheinen des Romans denkt Nietzsche über ihn
nach; Nein, er ist ihm kein Vorbild, obwohl er ihn großherzig nennt. „Ich
sehe die Größe seiner Seele darin, daß er den Kopf verloren hat. Niemals wür-
de ich so handeln können."15 Die Logik des Atheismus, das allerdings gesteht
Nietzsche ein, spricht für Kirilloffs Tat. Wenn ich selbst Gott bin, muß ich das
auch beweisen. Durch den Selbstmord beweist Kirilloff seine Unabhängigkeit.
Eben die totale Unabhängigkeit. Er, Nietzsche, sieht keinen Grund mehr dar-
in, solche Beweise antreten zu müssen. Er hat ja auch recht: beweist man nicht
dadurch gerade die Abhängigkeit von einer toten Idee? Mit Emphase ruft er es
aus: „Niemals, niemals würde ich mich erschießen können . . ." Er hat anderes
im Sinn, seit längerem schon. Für Zarathustra ist der Tod Gottes als neue Auf-
gabe das glücklichste und hoffnungsreichste Ereignis16. Alles zielt hin auf Af-
firmation. Die Vorstellung vom Übermenschen und die Erfahrung der ewigen
Wiederkunft sind keine bloßen Ideen in Nietzsches Werk. Musikalische Leit-
themen einer fundamentalen Unmittelbarkeit nennt sie Giorgio Colli.
Schauen wir zurück in die Geschichte. Den Nihilismus haben die Poeten
als erste erlebt und festgestellt, nicht die Philosophen. Das war zur Zeit des
sogenannten deutschen Idealismus. Da zimmerten die Philosophen immer
noch fleißig an ihren Systemen, als den Dichtern bereits die Wirklichkeit des
Geistes zerbrochen war. Die elegische Trauer um den Verlust der Götter hat
Tradition. Schiller hatte diesen Gesang schon angestimmt und nach ihm Höl-
derlin. Nicht, daß sie Nihilisten waren im geschärften Sinne des 19. Jahrhun-
derts. Aber bei Hölderlin zeigt sich schon jene poetische Empfindung, die wie
ein Seismograph das Erdbeben notiert. Sehen im Hyperion gibt es die Refle-
xionen über das Nichts — dieses Zauberwort der Zeit, das soviele Poeten faszi-
nierte. Das war im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Schuld an allem, so
scheint es heute, war Fichte. So sahen es jedenfalls seine Schüler, die Poeten.
Erst waren sie begeistert, dann traten sie als Renegaten auf. Ludwig Tieck ist
als einer der ersten zu nennen. Sein Roman William Lovell ist das früheste
Zeugnis des literarischen Nihilismus in Deutschland. Ohne daß Tieck den Be-
griff schon kannte — das Phänomen war ihm gründlich vertraut.
Erstmals scheint der Begriff des Nihilismus im Jahre 1799 aufzutauchen,
und zwar in einem Brief Friedrich Heinrich Jacobis an Fichte. „Wahrlich,
mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sei,
Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus
schelte, entgegensetze."17 Das war im Jena der Frühromantik, man verkehrte
im Salon der Caroline Schlegel, Gattin des Literaturprofessors August Wil-
heim Schlegel, im selben Hause wohnte dessen Bruder Friedrich, ständige Gä-
ste waren Fichte, später auch Tieck, Novalis, Brentano, Schleiermacher, dann
Schelling, der Nachfolger Fichtes auf dessen Lehrstuhl. Fichte mußte Jena ver-
lassen, ging nach Berlin, wegen skandalösen Atheismus-Verdachts. Jacobi also
hat die Begriffe Idealismus—Atheismus—Nihilismus ineinander gerückt. Er,
der von sich sagte, mit dem Kopf sei er ein Heide und mit dem Herzen ein
Christ. Der seinen Kopf an alle philosophischen Tore schlug, um zu erfahren,
wie nachgiebig sie für ihn seien. Für seine Existenz, für sein Dasein, für sein
Heil. Ob Giordano Bruno, Spinoza, Leibniz, Kant oder eben jener Fichte, der
ihn letztlich zum Salto mortale trieb, wie er selbst schreibt, zurück in die Kir-
che. Der Ausweg war, wie so oft in dieser Zeit, der Rückzug in den Glauben.
Aber vorher jenes bedeutsame Wort vom Idealismus als Nihilismus, oder im
selben Brief die schlagartige Formulierung vom „unendlichen Nichts". Und
prophetisch an anderer Stelle: „Wir selbst werden sein wie Gott"* Da aber
dieser zum Gespenst wurde, werden auch wir Gespenster sein: „es wird lauter
Lachen sein unter den Menschen."18
Das schauerliche Lachen des Nihilismus ist 4ie Begleitmusik zur funda-
mentalen Anklage vor einem imaginären metaphysischen Gericht. Als Ange-
klagter steht ein Gespenst vor den Schranken. Und Gespenster sind bekannt7
lieh nicht greifbar. „Ein nichtiges Gespenst. — Mir schaudert . . . Siehe! Es
geht umher und lacht — und lacht!"19 Das Gespenst der.„Selbstgötterei",
des Nihilismus. Jacobi also hat intellektuell den Begriff geliefert, erfahrungs-
mäßig steht er selbst schon im Umfeld Gleichgetroffener. Denn das war da-
mals nicht die erste Attacke gegen Fichtes chimärische Philosophie der totalen
Subjektivität. Schon Hölderlin und Tieck erhoben Klage wegen provokanter
Setzung des Nichts anstelle des Kosmos, der Götter, der Natur, der Welt ins-
gesamt. Das ist geisteshistorisch der eminent wichtige Wendepunkt, wo pure
Idealität umschlägt ins Nichts, wo der transzendentale Idealismus den Ideen-
kosmos Platons und des Christentums durch Extremismus liquidiert2^ Philo-
sophen wie Fichte produzierten im System des transzendentalen Idealismus
nicht nur das Modell des totalen Individuums, sie provozierten damit zugleich
auch das Vakuum einer totalen Weltlosigkeit. Ich und Nicht-Ich waren ausein-
anderdividiert, und es fällt, quasi als Abfallprodukt, jenes zukunftträchtige
Wort vom Baum der Erkenntnis, das der Fichteaner Novalis mit nullitas über-
18
Jacobi: III, 1990. . ·
19
Jacobi: III, 315.
20
Grundlegend beschäftigte sich mit dieser Frage Werner Kohlschmidt 1953. „Nihilismus der
Romantik". In: W. K. „Form und Innerlichkeit". Bern 1955. - Die wissenschaftliche Aufar-
beitung des Themas erfolgte 1972 durch Dieter Arendt: „Der poetische Nihilismus in der deut-
schen Romantik". Tübingen 1972. Drs. „Der Nihilismus als Phänomen der Geistesgeschichte
in der wissenschaftlichen Diskussion unseres Jahrhunderts". Darmstadt 1974i Beide Publika- "
tionen mit Bibliographie.
Literarische Aspekte des Nihilismus 93
setzte. Das Nichtsein. Bis heute hat es an Attraktivität nicht verloren, oder
sagen wir bis gestern, al$ es zum Markenzeichen einer Mode aus Frankreich
wurde, dieses Zauberwort aus dem Zylinder der Philosophie, mit dem sich so
faszinierend jonglieren läßt, weil es im Grunde nichts bedeutet und doch alles
sagen soll: das Nichts. Bevor es nach Frankreich wanderte, war es von Hei-
degger ins Zentrum seines metaphysischen Philosophierens gestellt worden,
wurde, zusammen mit dem Begriff der Angst, einziges Thema seiner Antritts-
vorlesung von 1929: Was ist Metaphysik. Bewundert und verlästert später von
den Literaten, steht das Won wie ein Monolith inmitten des Denkvorgangs.
„Das Nichts selbst nichtet." So weit also ist es gekommen nach über hundert
Jahren Umgang mit dem gespenstigen Wort, das zum Mißverständnis gerade-
zu herausfordert. Aber warum eigentlich mehr als die Vokabel Gott, die ein-
mal dort stand, wo jetzt das Nichts steht?
Es gehört zum Thema, den Panoramablick schweifend über die Vergan-
genheit zu lenken, denn nur aus dem Verlust erklärt sich das Entsetzen. Heu-
te, am 14. Juli,-ist ein Geburtstag zu feiern. Kein runder, das steht noch aus.
1789 löste die Revolution nicht nur politisch das Fundament der Gesellschaft
auf. Die alte normative Standeswelt war insgesamt in ihrer geistigen Grundbe-
dingung zerfallen, der wertlose Kopf des Königs war nur die Konsequenz der
allgemeinen Zerrüttung. Das war der ausgebrochene Nihilismus als Relativis-
mus aller Bezugsgrößen. Überflüssig zu sagen, daß es dabei nicht um den Ver-
lust absolutistischer Herrschaftsformen geht. Darüber konnten sich nur die
Herrschenden entsetzen. Geschichtsphilosophisch ist das Novum dieser Re-
volution der Relativismus. Aus ihm geht konsequent der Nihilismus hervor.
Ontologisch sind die Ordnungen zerstört, die einmal einen verbindlichen Be-
griff von Sein garantierten. An dessen Stelle tritt die Relation. Wo früher Of-
fenbarung Halt und Festigkeit garantierte, explodiert jetzt ein Beziehungssy-
stem. Alles tritt mit allem in Verbindung nach Maßgabe der Ursächlichkeit.
Das Kausalitätsprinzip wird zum Weltprinzip.
Eindeutige, objektive, verbindliche Wahrheit gebe es nur im Bereich der
Urteile, also innerhalb eines Bezugssystems, stellte Kant fest. Ein letztes Wah-
res kann es nicht geben - für den Verstand. Das ist einsichtig und geschichts-
konsequent. Aber genau an dieser Einsicht verzweifelten große Geister ihrer
Zeit. Kleist nahm sich das Leben, weil er den Relativismus nicht ertragen
konnte. Man spricht zurecht von seiner Kant-Krise, denn er selbst spricht in
seinen Briefen davon. „Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahr-
heit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint." 22. März
1801. „Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun kei-
nes mehr . . ." So wird der Nihilismus lebensmäßig erfahren. Die Grundstim-
mung aus Überdruß, Ekel und Langeweile ist das Resultat einer psychosoma-
tischen Zerrüttung vom innersten Kern her. Eine Krankheit zum Tode hatte
94 Bruno Hillebrand
Werther das Leiden schon genannt. Aus anderen Motiven noch, in der Erfah-
rung jedoch vorausweisend. Die Krankheit ist nicht mehr wegzuleugnen, wie
eine Schwindsucht grassierte der transzendentale Substanzverlust. Kant hatte
der Zeit die geniale Diagnose gestellt: wir leben in einer Beziehungswelt. Jetzt
ist alles beliebig geworden. Das relative Wissen hat den absoluten Glauben ab-
gelöst.
Die Erfahrung des Umsonst, diese kosmische Langeweile, diese schreckli-
che Öde, die wie ein Sog den Menschen ins Leere zieht, hatte Hölderlin schon
früh im Umkreis seiner Fichteanischen Freunde beobachtet und mit aller Bit-
ternis notiert. „Not und Angst und Nacht sind eure Herren." So schreibt er
um das Jahr 1794/95 am Ende des ersten Buchs im ersten Band des Hyperion,
diesem Gesang innigster Widersetzung. „Aber ich überwältige sie nicht, die
schreiende Wahrheit. Hab ich mich nicht zwiefach überzeugt? Wenn ich hin^
sehe ins Leben, was ist das Letzte von allem? Nichts. Wenn ich aufsteige im
Geiste, was ist das Höchste von allem? Nichts?" Gegen diese schreiende
Wahrheit also stimmt er den Gegengesang an. Das ist die lyrische Aufsässig-
keit, der man später soviel Trost nachgesagt hat. Hölderlin ist vierundzwanzig
Jahre alt. In diesem Alter mag man wohl den Zwiespalt noch austragen als
konvulsivisches Spannungserlebnis. Zehn Jahre später gewöhnen sich die Zeit-
genossen an die furchtbare Formel: der arme Hölderlin. Die zweite Hälfte sei-
nes Lebens lebte er, wie man so sagt, in geistiger Umnachtung. In der Tat war
ja, kontrastierend zu allen geistigen Aufschwüngen und Hoffnungen des Idea-
lismus, die Nacht um ihn angebrochen.
„O ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von
menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom
Nichts, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden für
Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an Nichts, uns abarbeiten für
Nichts, um mählich überzugehen ins Nichts — was kann ich dafür, daß euch
die Knie brechen, wenn ihrs ernstlich bedenkt?" Noch steht er selber aufrecht
und ruft sich tapfer zu, vielleicht auch ängstlich: „Aber stille, rnein Herz! Es
ist ja deine letzte Kraft, die du verschwendest!" Nicht ohne Bedeutung hat er
die Handlung nach Griechenland verlagert, während er selbst zu dieser Zeit
aus Jena flieht — wie er ja immer auf der Flucht war — und in Jena lebte da-
mals, neben anderen Größen, wie gesagt, auch Fichte, Nicht unbedingt floh er
vor ihm, aber er entzog sich doch der zersetzenden Deduktion dieses Den-
kens. Hölderlins Frömmigkeit hatte anderes im Sinn,'aber das war lebensmä-
ßig nicht mehr einzuholen in dieser Zeit. Die Abstraktion des Denkens hatte
schon gesiegt. Das Konkrete einer ganzheitlich empfundenen Welt war auf der
Strecke geblieben.
Unvergleichbar steht in diesem Jahrzehnt des Umbruchs Tiecks William
Lovell (1795) im literarischen Umfeld. Das Nichts hat seinen Autor gefunden.
Literarische Aspekte des Nihilismus 95
sigkeit, bleibt nichts als sinnloser Ablauf, Angst, daß alles umsonst ist, Eintö-
nigkeit des Lebens erzeugt Zeitangst, das öde Einerlei der Wiederholung
nimmt fürchterlich seinen Umlauf, das entsetzliche Dröhnen nimmt zu: „er
höre unaufhörlich in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen sausenden Um-
schwung nehmen", berichtet Wackenroder in dem Märchen von einem nack-
ten Heiligen. Der findet nicht Ruhe, Tag und Nacht sieht man, wie er mit
angestrengtesten, heftigsten Bewegungen sich bemüht, „ein ungeheures Rad
umzudrehen . , . damit die Zeit ja nicht in die Gefahr komme, nur einen Au-
genblick stillzustehen."
Tieck, das muß man sehen, war ein Pionier, weil er die Elitleerung der
Welt als ästhetische Innerlichkeit dingfest gemacht hat. Weil er diese Leere mit
realistischer Beobachtung absicherte. Mit Einsichten* die philosophisch durchs
griffen, weil sie den transzendentalen Idealismus ad absurdum führten. Indem
er das totale Subjekt in die Totalität seiner Selbstverwirklichung entläßt, zeigt
der Dichter nur auf, wohin es mit dem Menschen geht im Verlauf neuerer Ge-
schichte. Die ersten Opfer enden noch dramatisch unter Pistolenschüssen, so
Werther, so Lovell, so Roquairol — und Kleist. Später verkümmern sie ein-
fach.
„Alles unterwirft sich meiner Willkür, jede Erscheinung, jede Handlung
kann ich nennen, wie es mir gefällt; die lebendige und leblose Welt hängt an
den Ketten, die mein Geist regiert. . . Ich selbst bin das einzige Gesetz in der
ganzen Naturj diesem Gesetz gehorcht alles". (Lovell) Welch merkwürdige
Philosophie, die solches .dachte, oder der man solches Denken entnehmen
mußte. Der Satz klingt stolz, aber er sollte ohne den Zusatz nicht zitiert wer-
den, weil dieser in seiner Erschütterung weit vorausgreift. „Ich verliere mich
in eine weite, unendliche Wüste — ..." Mit kalter Langeweile sehen die Figu-
ren dieses Buches „der Leere jedes folgenden Tages entgegen" — das ist exi^
stentiell und literarisch ihr Vorgriff. „Der Begriff von Zeit ist mir jetzt fürch-
terlich. Wenn ich einen Tag vor mir habe, ohne zu wissen, was ich mit ihm
anfangen soll, — oh, und dann den Blick über die leere Wüste von langweiligen
Wochen hinaus! Und wieder eine Stunde nach der anderen von der Zeit zu
betteln, sich vor dem Gedanken des Todes zu entsetzen! Wie elend ist der
Mensch, daß er sterben muß, und wie höchst unglückselig müßte er sein, wenn
er ewig lebte! Wie toll und unsinnig ist unser Leben..."
Man bedenke, 1793 schon wurden diese Sätze zu Papier gebracht, ein Ge-
misch aus Alltagspoesie und Existenzphilosophie. Vieles wurde in der Tat vor-
weggenommen. Noch bevor der Poetische Idealismus zu seinen Höhenflügen
angesetzt hatte, ist ihm die Luft unter den Flügeln weggenommen. Später
nennt man das Realismus, der geniale Büchner setzte die Linie fort. Danton zu
Camille, während er sich ankleidet: „Das ist sehr langweilig immer das Hemd
zuerst und dann die Hosen darüber zu ziehen und des Abends iri's Bett und
Literarische Aspekte des Nihilismus 97
Morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den ändern
zu setzen, da ist gar keiti Absehens wie es anders gemacht werden soll. Das ist
sehr traurig und daß Millionen es schon so gemacht haben und daß Millionen
es wieder so machen werden und, daß wir noch obendrein aus zwei Hälften
bestehen, die beyde das Nämliche thun, so daß Alles doppelt geschieht. Das ist
sehr traurig." Das ist Büchners Einsicht in den Fundamentalnihilismus, vierzig
Jahre später. Und die Alltäglichkeit des Phänomens ist wiederum das Überra-
schende, moderner eigentlich als Dämons philosophische Pointen: „Die Welt
ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott."
Der freche Lovell hatte das vorausgenommen, er machte aus der Not eine
Tugend: weil alles verrinnt und verfliegt in diesem armseligen Leben, weil alles
wertlos ist, weil ohnehin alles wirkungslos vergeht, wird er zum Wüstling,
setzt auf den Genuß des Augenblicks. Wie einst Casanova wirft er selbstherr-
lich das Steuer um in die Immanenz. Er folgt damit nur der Zeitströmung einer
ebenso philosophischen wie abgefeimten Aufklärung. Der Atheismus ist ohne-
hin schon etabliert zu diesem Zeitpunkt, oder doch zumindest potentiell ak-
kreditiert, sagen wir in den Hinterköpfen der progressiven Literaten. Das ist
keineswegs der Atheismus des späteren Materialismus. Das ist der potentielle
Atheismus des Idealismus. Kulminierend in Jean Pauls ungeheuerlicher Vision
einer Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.
Das steht im humoristischen Roman Siebenkäs und ist kein Manifest, son-
dern ein Traum. Noch schläft der Mensch, noch kommt es nicht an den Tag,
was apokalyptisch in der Tiefe schon da ist an schaurigem Wissen. Jean Paul
spricht vom „Glauben an den Atheismus", ^das ist ein umgedrehter Hand-
schuh, er tut immer noch seinen Dienst. Ohnehin glaubt Jean Paul an den güti-
gen, milden Gott, wie viele andere möchte er ihn nicht aufgeben. Umsomehr
ängstigt ihn die Möglichkeit des Verlustes. „Niemand ist im All so sehr allein,
als ein Gottesläugner — er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den
größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den
kein Weltgeist regt und zusammenhält..." Das ist die klare Erkenntnis von
der vollständigen Heimatlosigkeit des Menschen in der geistlosen, das ist gott-
losen, mechanischen Natur. Es ist das·Jahr 1789, das Jahr der Revolution, als
Jean Paul diesen poetischen Angsttraum konzipierte. „Ich lag einmal an einem
Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief. Da träumte mir,
ich erwachte auf dem Gottesacker. Die abrollenden Räder der Thurmuhr, die
eilf Uhr schlug, hatten mich erweckt. Ich suchte im ausgeleerten Nachthimmel
die Sonne, weil ich glaubte, eine Sonnenfinsterniß verhülle sie mit dem Mond.
Alle Gräber waren aufgethan und die eisernen Thüren des Gebeirihauses gin-
gen unter unsichtbaren Händen auf und z u . . , Oben am Kirchengewölbe
stand das Zifferblatt der Ewigkeit, auf dem keine Zahl erschien, und das sein
eigner Zeiger war; nur ein schwarzer Finger zeigte darauf und die To.dten
98 Bruno Hillebrand
wollten die Zeit darauf sehen. Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem
unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder und alle
Todten riefen: ,Christus ist kein Gott?' Er antwortete: ,es ist keiner/
Der ganze Schatten jedes Todten erbebte, nicht blos die Brust allein, und
einer um den ändern wurde durch das Zittern zertrennt.
Christus fuhr fort: ,Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und
flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein
Gott. Ich stieg herab, soweit das Seyri seine Schatten wirft, und schauete in
den Abgrund und rief: Vater, wo bist du? aber ich hone nur den ewigen
Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen
stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinun-
ter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge,
starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit
lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. — Schreiet fort,
Mißtöne, zerschreit die Schatten, denn Er ist nicht! . . /
Und als Christus das reibende Gedränge der Welten, den Fackeltanz der
himmlischen Irrlichter und die Korallenbänke schlagender Herzen sah, und als
er sah, wie eine Weltkugel um die andere ihre glimmenden Seelen auf das
Todtenmeer ausschüttete, wie eine Wasserkugel schwimmende Lichter auf-die
Wellen streuet: so hob er groß wie der höchste Endliche die Augen empor
gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: ,starres,
stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt
ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich?"' -
Getarnt als Angsttraum bewahrt sich das Wissen des Unterbewußten vor
dem akuten Eingeständnis. Aber Jean Paul wußte, wovon er sprach> nämlich
gezielt und wörtlich vom Nihilismus. Die Vorschule der Ästhetik (1804) han-
delt unter dem Titel der poetischen Nihilisten vom literarischen Status quo der
Nichts-Thematik. Kritisch allerdings wird die Ichsucht als Thema abgewertet,
diese übersteigerte Subjektivität, die Welt und All vernichtet, um sich „im
Nichts auszuleeren". Das Spiel mit dem Nichts — welch vorausweisende Me-
tapher bis in unsere Tage. Den größten Spieler dieser Art schuf Jean Paul sel-
ber in seinem Roman Titan (1800—1803), den perfekten Nihilisten sozusagen,
Inkarnation der Willkür, Roquairol ist sein Name, Schauspieler des Lebens
sein Metier. Wollust und Verzweiflung werden ihm attestiert, Spiele, Schul-
den, insgesamt ein wilder Aufwand, das „fressende Gift der Viel-Liebhaberei"
laufe heiß durch seine Adern. Seine Parole lautet: '„im Leben wohnt Täu-
schung, nicht auf der Bühne." Und er handelt danach. Auf der Bühne spielt er
den Selbstmörder, um sich selbst umzubringen, eben auf der Bühne. Das Pu-
blikum amüsiert sich zunächst über soviel Lebensnähe. Ohne zu wissen, wie
nahe der Tod ist. Am Ende ahnt man wohl etwas, ist peinlich berührt, der
Graf meint noch, er stehe dafür, daß er sich nicht wirklich totschießt, dann
Literarische Aspekte des Nihilismus 99
geht der Schuß los: „einiges Blut floß aus dem zerspaltenen Kopfe." Und der
Graf, von dem es rollengerecht heißt, daß er mit anatomischer Kälte und Neu-
gier jede Verstümmelung ertrug, diagnostiziert scharf: er hatte Regiments-
schulden und fürchtete die Untersuchung bei einer neuen Regierung. „Jetzt
kann man doch Respekt vor ihm haben, er hat seinen Charakter wirklich
durchgeführt."
Romantische Ironie läßt theatralischen Schein in Realität umschlagen. Die
Welt ist eine Bühne und auf ihr wird erkannte Wahrheit in die Tat umgesetzt.
Es wird gespielt mit aller Konsequenz. Das Publikum wird genarrt, oder auch
nicht! Die verkehrte Welt ist perfekt. Nur Schoppe, der Künstler, den später
der Wahnsinn schlägt, schaut tiefer in die Sache hinein, er kennt die wahren
Gründe. „Herr, wer Fichten und seinen Generalvikar und Gehinidiener
Schelling so oft aus Spaß gelesen wie ich, der macht endlich Ernst genug dar-
aus. Das Ich setzt Sich und den Ich sammt jenem Rest, den mehrere die Welt
nennen." Das eben ist es, das Ich ist an die Stelle Gottes getreten.
Roquairol ist Opfer dieser kosmischen Einsamkeit, die eine totale Verlo-
renheit ist. Das unterscheidet ihn von Werther, der das irdische Leben nur auf-
gibt, um ein überirdisches zu erlangen. Der literarische Selbstmord endet ab
jetzt in der Sackgasse, in der finsteren Verzweiflung des Nichts. Wenn es noch
einen Lichtschimmer gibt, dann den der ästhetischen Gestaltung. In Schönheit
sterben. Schaurig in der Sache, aber von Humor umrankt. Roquairol ist ein
Einzelfall. Erst siebzig Jahre später wird der literarische Selbstmord noch ein-
mal diese Ranghöhe erhalten, kontrapunktisch gleichsam, untheatralisch, fern
jeder Romantik mit Sorgfalt geplant von dem sympathischen Nihilisten und
Ingenieur Kirilloff in Dostojewskis Dämonen.
Die Inszenierung des Nihilismus erreichte literarisch ihren Höhepunkt,
als 1805 ein Buch erschien, dessen Verfasser anonym blieb bis heute. Ein Jahr-
hundert lang hatte man Schelling in ehrendem Verdacht, dieses ebenso geniale
wie epigonale Prosastück geschrieben zu haben: Die Nachtwachen des Bona-
ventura. Mit einem Paukenschlag wird hier das Nichts verkündet, schon in<kr
ersten Nachtwache erscheint „das leere Nichts", und das letzte Won des ara-
beskenhaften Buches soll dem Leser unvergessen bleiben, es ist hervorgehoben
im Druck: „Nichts!". Die Szene spielt auf dem Kirchhof, dem nachtwächtern-
den Poeten wird seine Herkunft offenbart. Der steinerne Vater, der Alchimist,
und die braune Zigeunermutter hatten ihr Werk mit Zauber getrieben. Da war
nicht Liebe, da war der Teufel im Spiel, der Gegenspieler des entschwundenen
Gottes. Also die Hölle wird hier beschworen, und just beim Zeugungsakt er-
scheint Satan in Person. Da er bei guter Laune ist, erbietet er sich, die Paten-
stelle zu venreten. Damit ist Klarheit geschaffen, meint der Poet: „der Schlüs-
sel zu meinem Selbst war mir gereicht, und ich öffnete zum ersten Male mit
Erstaunen und heimlichem Schauder die lang verschlossene Tür..." Und die
100 Bruno Hillebrand