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sich nach einer Antwort aus der siebenten letzten Einsamkeit verzehrt?
Warum gilt der fragende Ruf, der Wurf der Angel, den unausgeforschten
Himmeln und unbekannten Meeren der Zukunft?
Das Gedicht gehört zu den „Dionysos-Dithyramben", deren Rein-
schrift für den Druck Nietzsche im Sommer 1888 abschloß. In dem halben
Jahr vor dem Zusammenbruch Anfang Januar 1889 verfaßte er zugleich
die Schriften „Der Fall Wagner", „Götzendämmerung", „Der Antichrist"
und „Ecce homo". Nietzsches Philosophie knüpft am Ausgang der abend-
ländischen Metaphysik an die Tradition des frühen griechischen Denkens
an, aus der die Metaphysik entsprungen ist: Denken und Dichten sind eine
Einheit. Wird das eine vom anderen durch die wissenschaftliche Analyse
getrennt, so wird zerrissen, was es zu verstehen gilt: die Einheit in der
Differenz von Gedanke, Sprache und Methode der Reflexion. Sie erreicht
in den „Dionysos-Dithyramben" eine Verdichtung, die an die hermeneu-
tisdie Entschlüsselung der einzelnen gedanklichen Motive und semantischen
Siglen, an die sprachlichen Bilder, Chiffren und Metaphern besondere An-
forderungen stellt und nur gelingen kann; wenn der Horizont von Nietz-
sches Denken zuvor erkannt worden ist. Erst dann wird das Geflecht der
philosophischen Ideogramme und ihrer sprachlichen Muster transparent;
denn die Frage nach dem Horizont enthält die transzendentale Frage nach
dem Licht, das ihn erhellt und die Transparenz von Nietzsches Denken in
seiner komplexen Einheit erst möglich macht. Die Frage nach dem trans-
zendentalen Ort als dem Grund der Ermöglidiung von Nietzsches Denken
zielt daher auch bei seinen Gedichten nicht „verzückt" und „verzaubert"'
in die Richtung irgendeiner „Offenbarung"2, sondern fragt nach der Wahr-
heit dessen, was Nietzsche in ihnen gedanklich zusammengedrängt und in
sprachlichen Verkürzungen von zum Teil unerhörter Paradoxie formuliert
hat. Wer in Nietzsches Dichtung bloß literarische Nebenprodukte sieht3,
ist in die Dimension seiner Philosophie noch nicht eingedrungen. Auch in
den späten „Dionysos-Dithyramben" hat nicht etwa Nietzsches Denken sich
bereits von seiner Philosophie verabschiedet, sondern umgekehrt: Im Schütze
solcher Behauptungen verabschiedet sich das Denken zu früh von Nietzsches
Philosophie. ·
„Der Philosoph soll e r k e n n e n , was n o t t u t , und der Künst-
ler soll es s c h a f f e n " , lautet eine Nachlaß-Notiz des 28jährigen
Nietzsche. „Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nach-
empfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Not ausdrückt:.
2
I. Frenzel, Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei
Hamburg 1966, S. 128 f. . . '
3
Vgl. E. F. Podadi, Ein Blick in die Notizbücher Nietzsdies, Eine schaffensanalytische
Studie, Heidelberg 1963.
Fragezeichen für solche» die Antwort haben 77
dort> in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese
Lücke hinein*4. In welche geschichtliche Lücke stellt Nietzsche die Welt sei-
ner Philosophie, die Erkennen und Schaffen, Philosoph und Künstler als
eine ursprüngliche Einheit denkt? „Es sind die Zeiten großer Gefahr, in de-
nen die Philosophen erscheinen*, heißt es in einer Notiz aus demselben Jahr
1872, w — dann, wenn das Rad immer schneller rollt — sie und die Kunst
treten an Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit vor-
ausgeworfen, weil die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erst langsam ihnen
sich zuwendet*4.
Wie steht es mit der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen gegenüber
Nietzsche heute, hundert Jahre später? Die Frage ist weder mit dem Hin-
weis auf die Fülle internationaler Sekundärliteratur oder periodisch wieder-
kehrender Nietzsche-Renaissancen noch auch der Vielfalt neuer wissen-
schaftlicher Ansätze und Ergebnisse der Detailforschung beantwortet, denn
sie fragt in ihrem Grunde danach, ob die Wahrheit, der Horizont von
Nietzsches Denken, der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen bis heute ent-
gangen ist oder nicht. Denn die Frage nach der Wahrheit ist das eigentliche
und einzige Thema der abendländischen Philosophie, das sich Nietzsche am
Ausgang ihrer metaphysischen Epoche in einer neuen Form stellt: Als die
zu entwerfende Einheit von Erkennen und Schaffen, die mit einer „ästheti-
schen Weltanschauung" aber nichts zu tun hat. Am Ende seines Denkweges
spricht Nietzsche in „Ecce homo" von der „Offenbarung der Wahrheit"
in »Also sprach Zarathustra"; bis zu dieser Schrift habe niemand gewußt,
was Wahrheit eigentlich sei. In seinem „Begriff ^dionysisch*", der in Zara-
thustra Gestalt erhalten habe, sei sie jedoch „ h ö c h s t e T h a t " gewor-
den, denn Zarathustra sei nicht bloß irgendein „Gläubiger", sondern
„Einer, der die Wahrheit erst s c h a f f t , ein w e l t r e g i e r e n d e r
Geist, ein Schicksal — *. .***.
II
Eine der beiden zeitgenössischen Formen, sich der Wahrheit eines
Denkers zu entziehen — die Verlegenheit des Schweigens — hat Nietzsche
in einer Weise erfahren, die seine Kräfte in sechs Einsamkeiten vorzeitig
aufzehrte und zum Zusammenbrach führte. Die andere — den Lärm der
Weltanschauungen — hat er, wie nahezu alle Varianten der späteren Miß-
verständnisse, mit einer reflexiven Helligkeit des Bewußtseins vorwegge-
nommen, die ohne Beispiel ist. Mit derselben Bewußtheit hat er sie aber
zugleich auch provoziert: „— er w o l l t e nicht von ^irgend Jemand* ver-
« , , .92.
2
£bda^a.90.
• KGW Vl/3, S. 541,
78 Friedrich Kabermann
standen werden", sondern allein „Denen die Ohren aufmachen, die uns mit
den Ohren verwandt sind"7. Nietzsche weist mit dieser Bemerkung auf
einen Sachverhalt hin, der zur gleichen Zeit von Dilthey als hermeneutisdie
Struktur jeden geistigen Verständnisses, nämlich als die Einheit von Er-
lebnis, Ausdruck und Verstehen, erkannt und zum Prinzip der Wissen-
schaft gemacht wurde, heute jedoch wieder in Vergessenheit geraten
ist. Hier liegt der methodische Grund dafür, daß es für die Wissen-
schaft zunehmend schwieriger geworden ist, die von Nietzsche bewußt ge-
stellten Fallen im verwirrenden Rollen- und Maskenspiel ständiger Posi-
tions- und Perspektivenwechsel überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn
in die Analyse seines Denkens mit einzubeziehen. Dies kann so weit füh-
ren, daß sogar Ansätze und Entwicklungen ^jatsdieidender Gedanken nicht
erkannt oder auf der Suche nach einprägsamen Formeln unterschlagen
werden: Im Anschluß an Aristoteles haben sich in der philosophischen Tra-
dition zwei Formen, die Wahrheit zu fassen, herausgebildet: die der rei-
nen Wissenschaft, der Theorie, deren Gesetze die „Logik" formuliert, und
die der praktischen Wissenschaft, der „Politik", deren Normen die „Ethik"
entwickelt. Diese Unterscheidung wird auch noch von Kant unter den Titeln
der j,reinen" und der „praktischen" Vernunft beibehalten, denn die Ver-
nunft bedeutet das Vermögen, Wahrheit erkennen zu können. Audi die
dialektischen Vermittlungen von Theorie und Praxis in der Nachfolge He^
gels und Marx' behalten den Dualismus von theoretischer und praktischer
Vernunft, reinem Erkerinen und normativem Handeln, bis heute bei8. Eine
dritte Gestalt der Vernunft, deren weltregierender Geist die Wahrheit als
höchste Tat erst s c h a f f t und damit am Epochen-Übergang von der
europazentrischen zur einen, globalen Weltgeschichte die neue „Welt-Per-
spective" für die „große Politik" der Zukunft umreißt ^- eine solche „pro-
duktive" Gestalt der Vernunft taucht allein bei Nietzsche auf9.
Der Grund für die Tatsache, daß die Wissenschaft diese neuen Ansätze
bei Nietzsche nicht erkannt oder nicht ernst genommen hat, liegt darin, daß
sie sich trotz der Verfeinerung ihrer Methoden und der Differenzierung
ihrer Begriffssysteme noch in jenem metaphysischen Denkbereich bewegt,
den Nietzsche bereits verlassen hat, weil er einer unwiederbringlich versun-
kenen Geschichtsepoche angehört. Dies wird daran deutlich, daß, außer bei
Heidegger, die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrheit, Kunst und
Technik, in den die dritte Gestalt der neuen produktiven Vernunft syste-
matisch gehört, in der Nietzsches-Forschung nicht gestellt worden ist, weil
7
KGW V/2, S. 315 f.
8
Vgl. G. Picht, Die Kunst des Denkens, in: ders., Wahrheit,, Vernunft, Verantwortung.
Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 427 ff.
• Nachlaß 1886/87, KGW VIII/1,5 [84], S, 28.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 79
Wiederkehr des Gleichen" verkündet* Was in den ersten drei Stücken des
IV, Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft" mit den Titeln „Zum neuen Jahre",
„Persönliche Providenx" und „Der Gedanke an den Tod" vorgezeichnet ist,
wird im „Zarathustra" im einzelnen ausgeführt und dichterisch gestaltet:
der Wunsch, „irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein" zu können,
um „die wunderbare Harmonie" der neuen „Weisheit" den Menschen wei-
tergeben und „den Gedanken an das Leben noch hundertmal d e n k e n s -
w e r t h e r " machen zu können13. . · .
Nietzsche hat das starke Erlebnis des amor fati als den „neuen Blick",
den er „vor allen Menschen voraus" habe, in einem Brief an Peter Gast vom
14. August 1881 beschrieben, dabei jedoch weder von dem amor fati selbst
noch von dem Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" gespro-
chen, den Heidegger dem Brief entnimmt und dann als die formale Struk-
tur von Nietzsches angeblicher „Metaphysik des ,Willens zur Macht'" inter-
pretiert14. Aber der G e d a n k e der ewigen Wiederkehr gibt dem E r -
l e b n i s lediglich die begriff liehe Form; seinen inhaltlichen Kern, der nicht
bloß eine neue Erkenntnis, sondern eine neue L e b e n s h a l t u n g ver-
mitteln will, umschreibt dagegen der amor fati, der deshalb in der „Fröh-
lichen Wissenschaft" auch schon am Anfang und nicht, wie der Gedanke
der ewigen Wiederkehr, erst am Schluß des IV. Buches zum ersten Male
genannt wird15.
An diesem Sachverhalt entscheiden sich nicht nur Akzente einer Inter-
pretation, sondern, wie Heideggers Auslegung zeigt, die Frage, ob die mo-
ralische Grundverfassung von Nietzsches Philosophie analytisch freigelegt
oder verschüttet wird, weil selbst noch der amor fati von einem metaphysi-
schen „Willen zur Macht" her ausgelegt wird16. Dann aber geht der Zu-
sammenhang von Moral- und Wissenschaftskritik ebenso verloren wie der
dazugehörige Gegenwurf der Dionysos-Moral im Einklang mit einer „Fröh-
lichen Wissenschaft", die gemeinsam die neue geschichtliche Gestalt der Ver-
nunft ermöglichen sollen. Im mittleren der drei genannten Stücke mit dem
Titel „Persönliche Providenz" wird deutlich, daß Nietzsche den Entwurf
einer neuen Einheit von Moral und Wissenschaft, die die Wahrheit der
höchsten Tat schaffen soll, als die Aufhebung der klassischen Differenz zwi-
schen praktischer und theoretischer Wissenschaft aufgefaßt hat. Denn dies
ist der Sinn der Bemerkung, daß die neu gewonnene „Weisheit" der amor
fati-Erfahrung nicht wie ein Geschenk den Göttern oder irgendwelchen
13
KGW V/2, S. 201 ff.
14
M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961.
15
Vgl. R. Okochi, Nietzsches Amor fati im Lichte von Kgrma des Buddhismus, in:
Nietzsche-Studien, Bd. l, 1972, S. 36 ff,
10
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 470 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 81
:T
M. Heidegger, Identität tmd Differenz, PfolÜngcfi 1957, S. 42.
'·» KGWVI/1, S. 105 ff*
82 Friedrich Kabcrmann
daß er die Erfahrung auf seiner Seite hat: Nicht die wirkliche Welt der Ge-
schichte, sondern die hinzuspekulierte Hinter-Welt der Metaphysik ist ein
bloßer Schein, ein Nichts. Die dogmatische Synthese aus griechischer Wis-
senschaft und christlichem Glauben, philosophischer Kosmologie und bibli-
scher Theologie, ist mitsamt der aus ihr entspringenden modernen Wissen-
schaft, Technik und Ökonomie in sich strukturell nihilistisch. Denn die
philosophische Theologie der christlichen Überlieferung ruht auf der grie-
chischen Ontologie, der Lehre vom zeitlosen, ewig mit sich selber identi-
schen Sein; die gesamte Wissenschaft aber auf der aus diesem ontologi-
sdien Entwurf abgeleiteten Logik, der Lehre von den zeitlos gültigen, ewig
mit sich selber identischen Gesetzen des Denkens19.
Nietzsche ist der einzige Denker, der yor Heidegger gesehen hat, daß
die permanente Krise des neuzeitlichen Europa im selben Maße, in dem
sich seine Wissenschaft und Technik global ausbreiteten, die gesamte Erde
erfassen mußte — „einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht
mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen"20. — Wovor hat die
wissenschaftlidi-tedmische Weltzivilisation Furcht sich zu besinnen? Davor,
sich eingestehen zu müssen, daß ihre Krise in erster Linie nicht politische
und sozialökonomische Gründe hat, sondern moralischer Natur ist und
durch pragmatisches Management allein nicht gelöst werden kann. Um dies
zu erkennen, darf im Horizont der Metaphysik nicht mehr nach der Wahr-
heit dessen gefragt werden, was i s t , sondern nach dem, was geschichtlich
n o t tut. „Aber diess bedeute euch Wille zur Wahrheit, dass Alles ver-
wandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-
Fühlbares! eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken!", sagt Zarathustra
zu Beginn des erwähnten Kapitels, wo er der bloßen Mutmaßung Gottes
die reale Möglichkeit des „Übermenschen" entgegenstellt. Denn der Über-
mensch ist jene Gestalt zukünftigen Menschentums, die sich vom toten Gott
der christlichen Metaphysik und ihrer lebensverneinenden Moral emanzi-
piert und die Angst- und Rachegefühle gegenüber der Zeit und ihrem „,Es
war'" durch den amor fati überwunden hat. Erst dieser kommende Mensch
wird im Lichte der neuen produktiven Moral die Wahrheit als höchste Tat
s c h a f f e n und Geschick, Schicksal und Geschichte als selbst zu verant-
wortende Praxis übernehmen können.
Mit dem „Willen zur Macht" will Nietzsche dem geschichtlich notwen-
digen Kampf um die Emanzipation vom Nihilismus der abendländischen
Metaphysik das gute Gewissen verschaffen, damit der Mensch endlich das
werden kann, was er eigentlich ist. Obwohl Nietzsche in der Vorrede zum
19
Vgl. G. Pidit, Bildung und Naturwissenschaft, in: C. Münster, G. Picht, Naturwissen-
schaft und Bildung, Würzburg o. J., S. 33 ff.
20
Vorrede (WzM), KTA, IX, S, 3,
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 83
der Wahrheit der Philosophie zu entziehen, darin besteht, ihre Aussagen bio-
graphisch zu relativieren; aus diesem Grunde fügt er hinzu: „Die Frage
nadi der Herkunft der moralischen Werthe ist deshalb für midi eine Frage
e r s t e n R a n g e s , weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt/23 Weil
er sich selber aber als der erste „freie Geist", der „die Geschichte der Men-
schen insgesamt als e i g e n e G e s c h i c h t e zu fühlen weiß", von der
Metaphysik überzeitlicher Werte frei wußte, trennte er nicht nur nicht zwi-
schen den persönlichen Erfahrungen und den Gedanken-Erlebnissen seiner
Philosophie, — „wenn ich das Recht habe, das, was midi bis in die Wurzeln
meines Wesens hinein malträtiert, so zu nennen"24, sondern legte umgekehrt
ihren Maßstab audi an die Zeitgenossen an, obwohl er selbst durdi die
Freunde ständig über die ungeheure Distanz belehrt wurde.
„Wenn idi mit den Augen eines fernen Zeitalters nadi diesem hinsehe",
so beginnt in der „Fröhlichen Wissensdiaft" der Abschnitt 337 mit dem
Titel „Die zukünftige ,Menschlichkeitc", so erkenne ich einen „Ansatz zu
etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem
Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wun-
dervolles Gewächs mit einem ebenso wundervollen Gerüche werden, um
dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher"25.
Nietzsdie zieht also zeitliche Räume in Betradit, die selbst die heute gegen-
wärtige Zukunft noch weit übergreifen. Audi, den technokratischen Szien-
tismus des 20. Jahrhunderts hätte er als eine der prognostizierten Gestalten
des unvollständigen Nihilismus analysiert, weil dieser inzwisdien den Pla-
neten in der Tat zu einem „sdiwermüthigen Kranken" gemadit hat, wenn
auch in einem anderen Sinn, als Nietzsdie dies in der „Fröhlidien Wissen-
schaft" meint. Als eine solche Gestalt des unvollständigen Nihilismus wäre
ihm die moderne Wissenschaft schon aus dem Gründe erschienen, weil sie
von ihrer nihilistischen Grundverfassung nichts wissen will und sidi deshalb
weder von der Metaphysik emanzipieren noch auf das „hohe Redit" der
Menschheit „auf Zukunft" besinnen kann. Diese Formulierung findet sidi
im Vorwort der Schrift „Ecce homo", die den Untertitel „Wie man wird,
was man ist" trägt26. Nietzsche prägt mit diesem Untertitel eine Formel,
die das Fazit seiner philosophischen Pathologie der geschichtlichen Emanzi-
pation darstellt, jedodi bereits Jahre zuvor auch in privaten Äußerungen
auftaucht. „Zuletzt, meine liebe Lou", heißt es Anfang September 1882
vier Wochen nadi Erscheinen der „Fröhlidien Wissensdiaft", „die alte tiefe
herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind. Erst hat man Noth, sidi von seinen
28
Ebda.
24
Briefe, a.a.O., S. 367.
25
KGW V/2, S. 244.
26
KGW VI/3, S. 255 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 85
III
„Der Philosoph soll erkennen, was not tut, und , . . am stärksten das
allgemeine Leid nachempfinden: ... dort in die Lücke stellt er sein System.
Er baut seine Welt in diese Lücke hinein." — Nietzsche hat früh erkannt,
daß das allgemeine Leid der Zeit, das seine Philosophie reflektiert, weder
von den Zeitgenossen noch auch von den Freunden oder ehemaligen Basler
Kollegen wie Jacob Burckhardt verstanden wurde28. Zwei Jahre nach dieser
Notiz schreibt er in einem Brief an Carl von Gersdorf f vom 1. April 1874:
„Meine Schriften sollen so dunkel und unverständlich sein! Ich dachte, wenn
man von der Not redet, daß solche, die in der Not sind, einen verstehen
werden. Das ist auch gewiß wahr: aber wo sind die, welche ,in der Not*
sind?a — Elf Jahre später heißt es am 2. Juli 1885 an O verbeck: „Mitunter
sehne ich midi darnach, mit Dir und Jacob Burckhardt eine heimliche Kon-
ferenz zu haben, m e h r um zu fragen, wie Ihr um diese Not herum-
kommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen.*s0 Weitere drei Jahre später
schreibt Nietzsche am 3. September 1888 im Vorwort zu „Der Antichrist":
»Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch Keiner von
ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie d ü r f -
t e ich midi mit denen verwechseln, für weldie heute schon Ohren wach-
sen? —«*>
Es scheint, als habe sich Nietzsche in der Prognose mangelhafter Wir-
kung gründlich getäuscht. Bereits nadi dem Zusammenbrudi und verstärkt
ein Jahrzehnt später nadi dem Tod setzte sein Ruhm, der größte Diagnosti-
ker des europäischen Nihilismus gewesen zu sein, fast schlagartig ein und
ließ bis heute im Für und Wider politisdier, publizistischer und gelehrter
Auseinandersetzungen aller Schattierungen nicht nadi, sondern nimmt im
Gegenteil weiter zu. Aber das bedeutet nicht notwendig, daß zugleich audi
die Wahrheit seines Denkens verstanden worden wäre. Allein die besondere
Hervorhebung des »Zarathustra*1 im Vorwort des „Antichristen** und der
entsprechende Raum, den Nietzsche dem Verkünder der neuen Dionysos-
** An Lou von Salom£, zit. aadh: Friedrich Nietzsche, Paul lUe, Leu von Salome*, Die
Dokumente ihrer Begegnung» hr*g* von E. Pfeiffer, Frankfurt 1971, S* 224
~* VgL E. Saun, Vom detradben Verhängnis, Gespradi an der Zeitenwende: Burckhardt
— Niemdie» Homburg 1959.
** Briefe a,su<X S. 45 u. S. 567.
** KG W VI.Ot S. 165,
86 Friedrich Kabcrmann
Moral in „Ecce homo* einräumt, zeigen angesidits der immer wieder auf-
taudienden Versuche, sich einen „Nietzsche ohne Zarathustra" als eine Art
„kritischen Aufklärer und Moralisten zurechtzulegen, wie groß bis heute
die Diskrepanz zwischen Nietzsches eigenen philosophischen Intentionen
und den Verständnismöglichkeiten der Zeitgenossen geblieben ist31.
„Nietzsche, in dessen Licht und Schatten jeder Heutige mit seinem ,für
ihn* und ,wider ihnc denkt und dichtet", schreibt Heidegger in einem Brief
an Ernst Jünger, „hörte ein Geheiß, das eine Vorbereitung des Menschen für
die Übernahme einer Erdherrschaft verlangt ... Nietzsche hörte jenes
Geheiß zur Besinnung auf das Wesen einer planetarischen Herrschaft. Er
folgte dem Ruf auf dem Weg des ihm beschiedenen metaphysischen Den-
kens und stürzte unterwegs. So erscheint es/wenigstens der historischen Be-
trachtung. Vielleicht aber stürzte er nicht, sondern gelangte so weit, wie
sein Denken es konnte. "S2 Der letzte Satz enthält unausgesprochen die
Mahnung, das gegenwärtige Denken müsse Nietzsche einholen und über-
holen, während es doch die Frage ist, ob es seinen Horizont bisher über-
haupt zu Gesicht bekommen hat. Die Antwort läßt sich allerdings ohne ein
kritisches Eingehen auf die weitgreifenden Erörterungen Heideggers nicht
finden, denn diese Nietzsche-Auslegung, in deren „Schatten" sich, wie zu
Recht gesagt worden ist, die Forschung seit eineinhalb Jahrzehnten bewegt,
ohne sich mit diesem „,Monument*" wirklich auseinandergesetzt zu haben,
bedeutet den bisher einzigen groß angelegten Versuch, Nietzsche in jene
„Welt-Perspective" zu rücken, die er selber vorbereitet und auch für das
Verständnis des eigenen Denkens als unerläßlich bezeichnet hat und die
Heidegger mit Jünger das „planetarische Denken" nennt33.
Daß Nietzsche „Schweres und Schwieriges zurückließ", schreibt Hei-
degger an der angeführten Stelle weiter, „sollte uns strenger und anders
noch als bisher daran erinnern, aus welch langer Herkunft die in ihm er-
wachte Frage nach dem Wesen des Nihilismus stammt". Strenger und anders
noch als bisher? Mit dem Hinweis auf die Frage nach dem Wesen des Nihi-
lismus umreißt Heidegger den Horizont seiner Interpretation: die Ge-
schichte der abendländischen Metaphysik, die auch für ihn strukturell nihi-
listisch ist. Aber anders als Nietzsche versteht Heidegger unter Nihilismus
nicht die Entwertung aller bisherigen moralischen Werte, sondern die je-
31
H. Wein, Nietzsche ohne Zarathustra, in: Nietzsche-Studien, Bd. l, 1972, S. 359 ff.
32
M. Heidegger, Zur Seinsfrage, in: ders., Wegmarken, Frankfurt 1967, zit. S. 252 f.
38
Vgl. P. Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, in:
Nietzsche-Studien, Bd. 2, 1973, S. 31 ff. Rösters eigener Beitrag zu der vermißten
Auseinandersetzung ist eher einer Polemik gegen den ,Häretiker' Heidegger als einer
wissenschaftlichen Kritik vergleichbar; vgl. P. Köster, Das Fest des Denkens, Ein
polemisches Motto Heideggers und seine ursprüngliche Bedeutung in Nietzsches Philo-
sophie, in: Nietzsche-Studien, Bd. 4, 1975, S. 227 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 87
Leidenschaft für die Schaffenden, daß er nur neuzeitlich vom Genius und
vom Genialen und zugleich technisch vom Leistungshaften her denkt. Im
Begriff des Willens zur Macht sind die beiden konstitutiven ,Werte* (die
Wahrheit und die Kunst) nur Umschreibungen für die jTechnik* im wesent-
lichen Sinne der planend-rechnenden Beständigung als Leistung und für
das Schaffen der ,Sdiöpferisdienc, die über das jeweilige Leben hinaus ein
neues Stimulans dem Leben zubringen und den Betrieb der Kultur sicher-
stellen."37 Möglicherweise aber verrät Nietzsches Leidenschaft mehr und
anderes noch. Denn Heidegger interpretiert den „Willen zur Macht" aus-
schließlich über den technokratischen „Willen zum Willen" und muß daher
notwendig zu der scharfen Fixierung des Übermenschen als der „äußersten
rationalitas in der Ermächtigung der animalitas" gelangen: dem „animal
rationale, das sich in der b r u t a l i t a s vollendet"38. Dieser Übermensch
hat aber mit demjenigen, den Zarathustra lehrt, nichts mehr gemeinsam,
sondern trägt die Züge von Spenglers Technokraten und Jüngers „Arbei-
ter", die Heidegger eigentlich im Visier hat89. Vielmehr stellt er das genaue
Gegenteil jenes Übermenschen dar, dessen Schönheit Zarathustra als
„Schatten" und als „aller Dinge Stillstes und Leichtestes", als ein im Stein
schlafendes Bild beschreibt, und von dem er in der Vorrede sagt: „Ich liebe
Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst:
denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen."40
Heideggers große und in sich zwingende Nietzsche-Auslegung, die
selbst noch die Dionysos-Moral entgegen Nietzsches eigener Erfahrung des
amor fati in eine Willensmetaphysik auflöst, läßt sich nicht durch Korrek-
turen in den Einzelheiten, sondern allein durch einen anderen analytischen
Gesamtentwurf widerlegen41. Denn für Heidegger ist die Geschichte nicht in
erster Linie eine Geschichte des Menschen, sondern eine „Geschichte des
S e i n s " . Zu Beginn seiner Nietzsche-Untersuchungen nennt er daher auch
nicht die Wahrheit der Zeit, sondern „die Wahrheit des Seins" als die Be-
dingung dafür, daß das „Eigentliche" in der Nietzsche-Forschung „niemals"
zu leisten sei, „wenn wir nicht im Fragen Nietzsche als das Ende der abend-
ländischen Metaphysik begriffen haben und zu der ganz anderen Frage nach
der Wahrheit des Seins übergegangen sind"42. Der Übergang zur Wahrheit
des Seins aber bedeutet „die Inständigkeit in ihr, aus der sich allein Welt
37
M. Heidegger, Aufsätze, a.a.O., S. 74.
88
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, a.a.O., S. 23; Hervorhebung von Heidegger.
80
O. Spengler, Der Mensch und die Technik, Beitrag zu einer Philosophie des Lebens
(1931); E. Jünger, Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt (1932).
40
KGW VI/ , S. 107 f. u. S.. 12.
41
Vgl R. Okochi, Nietzsches Amor fati..., a.a.O.
42
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 18 f.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 89
und Erde für den Menschen ihr Wesen erstreiten und dieser in solchem
Streit die Entgegnung seines Wesens zum Gott des Seins erfährt"48.
Für Nietzsche allerdings erfährt der Mensch nicht mehr die „Entgeg-
nung" seines Wesens zu einem Gott, sei dies der Gott eines sich lichtend-ver-
bergenden Seins oder auch jener Gott, den die christliche Tradition der phi-
losophischen Theologie zum Objekt ihrer Spekulationen gemacht hat. Alle
diese Götter sind nach seiner Erfahrung tot und in der „Götzendämme-
rung0 der ausgehenden abendländischen Metaphysik hinter dem „Horizont
des Unendlichen* endgültig versunken. „Im Horizont des Unendlichen"
lautet der Titel des Stücks, das Nietzsche im III. Buch der „Fröhlichen
Wissenschaft* der Erzählung vom „tollen Menschen" vorangestellt hat:
„Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! ... Nun,
Schifflein! sieh* dich vor!*44 — Welches Land hat Nietzsche hinter sich
„abgebrochen* ? Jenes, das die Philosophie der Neuzeit aus dem unendlichen
Meer des Seins als die Ego-cogito-Gewißheit des Selbst-Bewußt-Seins aus-
gegrenzt hatte und das noch Hegel mit dem Blick auf Descartes' „selbstän-
dige Philosophie" mit den Worten rühmt: „Hier, können wir sagen, sind
wir zu Hause, und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf
der ungestümen See ,Land€ rufen; ., .**4 . — Nicht Nietzsches Pathologie
der geschichtlichen Emanzipation, sondern Hegels Phänomenologie des ab-
soluten Geistes stellt die Vollendung der Metapyhsik in ihre äußerste Mög-
lichkeit dar. Nietzsche dagegen hat das Land der neuzeitlichen Philosophie
längst verlassen und sich auf das offene Meer des unendlichen Seins hinaus-
gewagt, obwohl die Sonne, die schon Platon als ein Bild für Gott, für die
* gebraucht, samt den metaphysischen Trümmern der einst ihr
zugeordneten Sternbilder längst untergegangen ist. Zwar erscheint nun die
Welt täglich »abendlicher*, doch zugleich audi von der Ahnung einer neuen
Morgenröte angestrahlt: Endlich darf das Schiff des Geistes, vom ,>Willen
zur Wahrheit* als der höchsten Tat der schaffenden Vernunft getrieben,
wieder auslaufen, „auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Er-
kennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen
da, vielleicht gab es noA niemals ein so ,offnes Meer*. — "4* Aber mit der
Freiheit ist die Gefahr gewachsen: »Wehe, wenn das Land-Heimweh dich
befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, — und es giebt kein
47
fLand' mehr!"
Nietzsche hat wie kein anderer Denker nidit nur über die transzenden-
talen Bedingungen seiner Philosophie, sondern auch über die methodischen
Voraussetzungen, die sprachlichen Stilmittel und Ausdrucksformen ständig
reflektiert und dabei die einzelnen Bildmotive hinsichtlich ihres sachlichen
Aussagegehalts genau ausgewählt und ineinanderkomponiert. Ihm vom
Standort der abstrakten Begrifflichkeit moderner Wissenschaft die Ver-
wendung sprachlich „unangemessener Bilder * vorzuwerfen48, zeugt von der
schwindenden hermeneutischen Reflexionskraft heutigen Denkens. Da
Nietzsche die Metaphysik hinter sich gelassen hat, vermag er auch nicht
mehr ihre Sprache zu sprechen, die heute noch in der starren Terminologie
der Wissenschaft und ihren akkumulierenden Blindbegriffen fortlebt49.
„Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer?" heißt
es am Schluß der „Morgenröthe", dem einzigen Buche, das, wie Nietzsche in
„Ecce homo" sagt, mit einem „Oder?" endet50. „Warum doch gerade in
dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r -
g e g a n g e n sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass
auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , e i n I n d i e n z u e r r e i -
c h e n h o f f t e n , — dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit
zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? — "5* Die Fahrt nach den neuen
Meeren des Übermenschen kann* weder rückgängig gemacht noch abgebro-
chen werden, denn die Geschichte ist irreversibel. Nietzsche vermag kein
neues transzendentes Ziel zu nennen, das h i n t e r dem Horizont der un-
endlichen Möglichkeiten „ u n s e r e s Meeres" läge, und er will es auch
nicht. Was er allein will, ist, daß die Überfahrt zu den fernen Meeren der
Zukunft trotzdem gewagt wird — das Land der versunkenen Metaphysik
im Rücken und vorbei auch an jenem Ort, „wo zwischen Meeren die Insel
wuchs" und Zarathustra sich unter schwarzem Himmel, seine Höhenfeuer
anzündet —: „Feuerzeichen für verschlagne Schiffer ..."
Für Nietzsche ist der „alte Gott" unwiderruflich tot und kann durch
keine Reflexion auf eine „metaphysische Kausalität", die über die Resti-
tuierung der „Analogie des Seinsbegriffs" hinter Kant zurückfällt, wieder-
belebt werden52. Auf diesen geschichtlichen Sachverhalt zielt Karl Löwiths
Kritik, wenn er zu Heidegger anmerkt, von Nietzsche aus gesehen sei au.ch
der „Gott des Seins" samt seiner sich geschickhaft lichtenden und verber-
48
P. Köster, Der sterbliche Gott, Nietzsches Entwurf übermenschlicher Größe, Meisen-
heim am Glan 1972, S. 126.
49
Vgl. H. Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Untersuchungen zum
Problem einer humanistischen Ethik, Berlin 1972.
50
KGW VI/3, S. 328.
51
KGW V/l, S. 335. . - ·
52
Q. Huonder, Die Gottesbeweise, Geschichte und Schicksal, Stuttgart 1968, S. 175. Zur
Sache selbst vgl. P. Köster, Der sterbliche Gott, a.a.O., S. 69 ff.
Fragezeichen für solche» die Antwort haben 91
genden Wahrheit noch immer eine „,Hinter - Welt"* oder „Meta - Physik",
weil es ihm nicht um »Sein und Zeit*, sondern um Leben und Ewigkeit
gegangen sei58. Aber auch Löwith, der einer der wenigen ist, die sich mit
der Deutung von Heidegger kritisch auseinandergesetzt haben, stellt den
„philosophischen Schriftsteller Nietzsche" nicht in den Dimensionen seines
eigenen Denkens dar, sondern legt ihn im Horizont einer immer seienden
und ewig mit sich selber identischen im Sinne der hellenistischen Stoa
aus, die von der geschichtlichen Evolution der Welt nichts weiß. Unter die-
ser onto-kosmologisdien Perspektive erscheint Nietzsche als ein „Liebhaber
der ,Weisheitc*, der „seine und unsere Zeit in einem weitesten Horizont sah
und auf ein Immerseiendes oder Ewiges aus war"54. Die moralische Struk-
tur von Nietzsches Denken verschwindet bei Löwith zwar nicht in einer
ontologischen Differenz — der „Zwiefalt* von Sein und Seiendem —, da-
für aber im Zwiespalt von Weltgeschichte und Heilsgeschehen, so daß der
Dreh- und Angelpunkt von Nietzsches Moralkritik, die Erzählung vom
»tollen Menschen", als bloße „grotesk-pathetische Parabel", und das aus ihr
resultierende „Zukunfts-Evangelium" des Zarathustra lediglich als „anti-
christliche Bergpredigt" erscheint55. Durch die Apostrophierung Nietzsches
als eines „Liebhabers der Ewigkeit" und der „,Weisheit*" vermag Löwith
aber nicht die zugleich hervorgehobene „Sucht nach der Z u k u n f t und
de(n) W i 11 e (n), sie zu schaffen", widerspruchsfrei zu erklären, so daß
das „paradoxe Doppelgesicht" seiner Philosophie weniger auf eine „Zwei-
deutigkeit" in Nietzsches Denken als in Löwiths Interpretation hinweist56.
„Kein Grieche dachte so ausschließlich im Horizont der Zukunft oder wollte
sie gar herbeiführen . * . All dies Wollen (und) Zukunft-Schaffen", schreibt
Löwith, „stammt aus der jüdisch-christlichen Tradition, aus dem Glauben,
daß Mensch und Welt um Gottes Willen geschaffen sind, daß überhaupt
Gott und Mensch wesentlich Wille sind. Nichts ist in Nietzsches Philoso-
phie so aufdringlich wie die ständige Betonung unseres schöpferischen We-
sens, schöpferisch durch den Willensakt, wie bei dem Gott des Alten Testa-
ments"57
Löwith stößt mit diesen Bemerkungen ebenso wie Heidegger auf den
thematischen Zusammenhang von Wille und Schaffen, Technik und Kunst»
Wahrheit und Kritik, Erkenntnis und Moral, der den Horizont von Nietz-
w
K. Lowhfa, Aufsitze und Vortrage, 1950—1970t Stuttgart 19711 S* 99.
M
K, Lowhh, Gctaftunelte Abhandlungen, Zur Kritik der gcsdiiditlichcn Existenz, Stutt-
gart 1963, S, 127—151.
u
K. Lo?ritht Gort, McnsA und Welt in der Metaphysik von Dcscaru* bis; zu Nicrzsdic,
Göttingcn 1967, S. 156 ff.
84
IC Löwith, Gesammelte Abhandlungen, a-a.O.; Hervorhebungen von Löwith,
» Ebda., S. 138 f.
92 Friedrich Kabcrmann
58
KGW IV/2, S. 19 ff.
69
Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen
Welt, Frankfurt 1973 (Neuauflage von 1959). Koselleck analysiert die Dialektik von
politischer Aufklärung und moralischer Geschichtsphilosophie bis an die Sdiwelle der
Französischen Revolution und stellt damit den historischen Hintergrund dar für den
Ausklang der 'Metaphysik in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie.
60
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 18. Zur Reaktion der Freunde auf MA
vgl. KGW, IV/4, S. 44 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 93
verfügen muß: »Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des
nächsten Jahrhunderts. *ei
Heidegger versperrt sich dadurch, daß er als einzige „Leitfrage" der
Philosophie allein die Frage: „Was ist das Seiende?" zuläßt, selber den Zu-
gang zu Nietzsches historischer Philosophie der „unabgeschlossenen Hori-
zonte"62. Denn für Nietzsches Denken ist nicht das Verhältnis von Sein
und Seiendem, sondern die Frage: was ist Wahrheit? entscheidend, die die
transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Er-
kenntnis und damit nach der Konstitution der Vernunft einschließt. Er steht
damit zwar in der Tradition der neuzeitlichen Philosophie, doch radikali-
siert er die transzendentale Frage Kants nicht nur, sondern sprengt ihren
kritischen Rahmen, weil er sie nicht mehr erkenntnis t h e o r e t i s c h ,
d. h. metaphysisch, sondern praktisch-politisch, im Umkreis der wirklichen
Geschichte stellt. Der Horizont seines Denkens kann daher nidit mehr
durch den platonisch-christlichen Gott der Metaphysik determiniert sein,
den noch Kant in der berühmten Formulierung vom „bestirnten Himmel
über mir" und dem „moralischen Gesetz in mir" zitiert (KdpV, A289),
sondern muß von der „großen Politik" bestimmt werden, die sich aus dem
„hohen Recht" der Menschheit „auf Zukunft" legitimiert und eine Gestalt
der Vernunft notwendig macht, die die Wahrheit als höchste Tat geschicht-
lich erst schafft. Audi für Nietzsdie ist die Freiheit die Bedingung dafür,
daß die Vernunft wissen kann, was Wahrheit ist. Die Frage, woher diese
Freiheit stammt, weist in die R i c h t u n g des transzendentalen Ortes,
ohne ihn selber zu fixieren. Am 2. Mai 1884 schreibt Nietzsdie aus Venedig
an Overbeck, er wolle seine neu »eroberte Situation gut nutzen und aus-
nutzen: ich bin jetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit, der u n a b h ä n g i g -
ste M a n n in E u r o p a , Meine Ziele und Aufgaben sind umfäng-
licher als die irgendeines ändern — und das, was idi große Politik nenne,
gibt zum mindesten einen g u t e n Standort und Vogelschaublick ab für
die gegenwärtigen Dinge4*w.
Wie aber steht es mit der Wahrheit der gegenwärtigen Dinge? „Das
Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosphie ist", so lautet eine Notiz
aus dem Frühjahr 1880, „eine Oberzeugung, die nodi kein Zeitalter hatte:
d a ß w i r d i e W a h r h e i t n i c h t h a b e n . Alle früheren Menschen
»hatten die Wahrheit*: selbst die Skeptiker***. Mit der Wahrheit steht es
also von nun an so, daß sie gerade nidit steht, sondern geht; denn aus der
ewigen Wahrheit der Metaphysik ist die vergängliche Wahrheit der Ge-
i:
KGW l V/2, S- 40 ff.
c
* KGW VHI/i. 2 [162] S, 142.
u
Briefe, iua.CX, S. 539.
M KG W V/I. 3 [19Jf S,
94 Friedrich Kabermann
von Grund auf verwandelt. Das Resultat dieser Verwandlung, die neue
Lebenshaltung des amor fati, versucht Nietzsche mit dem Begriff der Dio-
nysos-Moral zu fassen, die den Wesenskern des Übermenschen ausmacht.
Das E r l e b n i s der Transzendenz, das in einer gesduchtlich-evolutiv
strukturierten Welt nicht mehr auf die Vergangenheit bezogen, sondern nur
aus der Zukunft erfahren werden kann, bewirkt die Offenheit für die
Zukunft; denn es verändert den Menschen nicht nur in seiner moralischen
Haltung, sondern auch in seinem Denken und Schaffen* Sofern es das Den-
ken verwandelt, entsteht eine „Fröhliche Wissenschaft"; sofern es die Fähig-
keit des Schaffens verändert, die Praxis der „großen Politik". Das Krite-
rium, an dem die Verwandlung insgesamt erkannt werden kann, ist die
Stärke des „Willens zur Macht*, mit dem die geschichtliche Emanzipation
von der Metaphysik vollzogen wird. Dieser Wille legitimiert sich weder aus
sich selbst noch will er sich selbst nur um seiner selbst willen. Er legitimiert
sich vielmehr transzendental aus dem „hohen Recht" des Menschen „auf
Zukunft". Denn von dort leuchtet das Licht, das den Horizont der Ge-
schichte erhellt und der Vernunft es ermöglicht, die Wahrheit zu erkennen.
Worin aber zeigt sich die Wahrheit selbst, die bereits den Horizont der
Geschichte umreißt? Darin, daß sie die O f f e n h e i t des Horizonts er-
hellt, so daß die asymmetrische Gestalt der Zeit, die der Evolution zu-
grunde liegt und von der Metaphysik verdeckt wurde, endlich sichtbar wird.
Die Wahrheit der höchsten Tat gründet in der Übernahme der Verantwor-
tung für die vom Menschen selber zu entwerfende geschichtliche Zukunft.
Im Horizont dieser Verantwortlichkeit öffnet sich der Mensch der Offen-
heit der Zukunft.
kritisiert an der Wissenschaft nicht nur, daß sie ihren instrumentalen Cha-
rakter nicht wahrhaben will, sondern auch, daß sie ihre metaphysischen
Voraussetzungen nicht zu erkennen vermag. „Ich habe den Verdacht*,
schreibt der 26jährige Nietzsche, „daß die Dinge und das Denken miteinan-
der nidit adäquat sind. In der Logik nämlich herrscht der Satz des Wider-
spruchs, der v i e l l e i c h t nicht bei den Dingen gilt, die Verschiedenes,
Entgegengesetzes s i n d."95 Mit diesem „Verdacht", der sich für Nietzsche
in den späteren Jahren zur Gewißheit Verdichtet, ist der Boden der neuzeit-
lichen Wissenschaft verlassen, weil in ihrem metaphysischen Reflexionsrah-
men die Frage nach der Gültigkeit der Logik nicht gestellt werden kann. Der
Satz vom Widerspruch gilt seit Aristoteles als das oberste Prinzip des Den-
kens überhaupt, dem aber seinerseits der ontölogisdie Grundsatz der Identi-
tät des Parmenides zugrunde liegt: „denn das Selbe ist: zu schauen (zu den-
ken) und zu sein"96. Er wird von Nietzsche in seiner überlieferten Form
ebenfalls in Frage gestellt, weil Nietzsche noch wußte, daß eine Wissen-
schaft nur dann kritisch ist, wenn sie sich auch über ihre ontologisdien
Voraussetzungen Rechenschaft gibt, anstatt sie zu verdrängen und sich als
„voraussetzungslos" auszugeben. Er hat damit eine Entwicklung vorwegge-
nommen, die erst durch die Grundlagenkrise der Physik, die der Krise der
Metaphysik in einer historischen Phasenverschiebung von nahezu hundert
Jahren folgte, ins wissenschaftliche Bewußtsein drang. Durch sie wurde es
möglich, die Frage nach einer den starren binären Schematismus der klas-
sischen Raum-Logik erweiternden mehrwertigen Logik zeitlicher Aussagen
zu stellen, die den komplexen Strukturen moderner Sozial- und Kommuni-
kationssysteme besser genügen konnte als die Aristotelische Logik97. Da aber
die Wissenschaft insgesamt den schwankend gewordenen Boden der Meta-
physik nicht verließ, sondern wieder stabilisierte, konnte eine fruchtbare
und umfassende Krise, die neue Ansätze ermöglicht hätte, nicht entstehen.
Jene Gestalt der „historischen Vernunft", die sidi heute im Rückgriff
auf Neukantianismus, logischen Positivismus und analytische Sprachtheorie
im wissenschaftlichen Rahmen einer „transzendentalen Historik" wieder
nach Prinzipien konstituiert, die „nie selber geschichtlich" sind, stellt daher
einen Rückfall auf theoretische Positionen vor Nietzsche und Marx dar.
Die „transzendentale Anthropologie", die sich diese „historische Vernunft"
— erneut mit dem traditonellen „Problem einer objektive Gültigkeit be-
anspruchenden Wertung und Beurteilung" konfrontiert — aufgrund einer
überzeitlichen „anthropologischen Fundamentalnorm" zugrunde legt, stellt
95
KTA, X, n. 89. '
96
Zit. G. Picht, Theorie und Meditation, in: Merkur, Nr. 311, April 1974, S. 306.
97
Vgl. G. Günther, Logik, Zeit, Emanation und Evolution, Köln/Opladen 1967.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 103
jedoch bloß ein fernes Abbild des dar08. Nietzsche hatte diese
wissenschaftliche Rekonstruktion der Metaphysik im Horizont einer „Theo-
rie der Geschichte** schon deshalb als nihilistisch interpretiert, weil der mo-
derne Begriff der „Theorie" eine Projektion des zeitlosen Aristotelischen
auf die Ebene der technologisch angewandten Metaphysik unserer Zeit
darstellt. Aristoteles selber wußte, daß der systematischen Darstellung
einer Lehre vom Wissen der ursprüngliche Entwurf der Ontologie voraus-
gehen muß, damit aus diesem ontologischen Entwurf die „episteme", die
Aristoteles deshalb in den „Analytica Posteriora* darstellt, als a b g e l e i -
t e t e s Wissen gewonnen werden kann". Im Horizont der neuzeitlichen
Willensmetaphysik wird jedoch die notwendig aporetische Struktur eines
jeden ursprünglichen onto-theo-logischen Entwurfs, an der Aristoteles noch
festgehalten hat, durch die Gleichung von Wissen und Macht (Francis
Bacon) verdeckt. Denn der Wissenschaft der Neuzeit geht es um die Wahr-
heit der Erkenntnis nur deshalb, weil es ihr um die Beherrsdibarkeit und
Machbarkeit der Dinge geht100. Dieser Sachverhalt, der sich bereits in Vicos
Formel „verum et factum convertuntur" ausdrückt101, wird heute an der
Theorie einer „Legitimität der Neuzeit" deutlich, die eine technokratisch
fundierte „Selbstbehauptung der Vernunft" gegenüber „allen Transzen-
denzen" philosophisch ermöglichen will102. Auch sie stellt die Geschichte
aufgrund überzeitlicher theoretischer Prämissen so dar, wie sie von sich aus
nicht ist und gehört daher ebenfalls in den Gesamtbereich des neuzeitlichen
„Willens zum Willena, der nach Heidegger die Geschichte an eine „Histo-
riea ausliefert, „die mit der Technik desselben Wesens ist"103.
Daß Nietzsches Denken in Wahrheit nicht, wie Heidegger es auslegt,
dem modernen „Willen zum Willen* philosophisch das gute Gewissen ge-
ben will, wird deutlich, wenn es mit dem „Universaütätsanspruch* einer
funktionalisrischen Systemtheorie konfrontiert wird, die sich heute als glo-
bale Sozialtechnologie zu etablieren beginnt104» Diese Theorie, die sich selber
„gleichsam als Nachfolgerin der alten, mit allen Zeiten simultanen omni-
scientia Deia als „System g e s c h i c k t e " versteht, hat mit der wirklichen
105
H. Blumenberg, a.a.O., S. 266.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 105
VI
Nietzsche bezeichnet sich in „Ecce horno" als den ersten „rechtschaff-
nen Geist* der Geschichte, „in dem die Wahrheit zu Gericht kommt"107.
Damit reflektiert er auf die geschichtliche Tatsache, daß er als erster Den-
ker innerhalb der abendländischen Tradition die ungeheure Frage nach dem
Verhältnis von Wahrheit und Geschichte gestellt hat und die Wahrheit des
göttlichen Seins dadurch so in die Horizontale der geschichtlichen Wahrheit
der Zeit umgedreht worden ist, daß die Achse der Transzendenz von nun
an in die unerschlossenen Möglichkeiten der Zukunft des Menschen weist.
In Platons Höhlengleichnis wird die Befreiung zur Erkenntnis der Wahr-
heit Gottes als eine Umkehrung vom Dunklen zum Hellen dargestellt, die
„mitsamt dem ganzen Leibe* und „der ganzen Seele aus dem Bereich des
Werdenden nach der anderen Seite" des Seins erfolgt. Die Umdrehung, die
Nietzsches Philosophie am Ausgang der Metaphysik vollzieht, kehrt den
seit Platon dem ewigen Sein zugewendeten Blick erneut um und richtet ihn
ausschließlich auf die geschichtliche Welt des Werdens, Aber auch moralisch
stellt Nietzsches Denken eine Umdrehung Platons dar: Der im Höhlen-
gleichnis von seinen Ketten Befreite verspürt, einmal ans Licht der gött-
lichen Wahrheit gelangt, „keine Neigung", zu seinen ehemaligen Mitgefan-
genen in der Höhle zurückzukehren und sie über den Trug ihrer Existenz
aufzuklären und von ihrer „Ketten-Krankheit" zu befreien. Die Überle-
gung, daß er für verrüdkt gehalten und sogar Gefahr laufen würde, selber
wieder gefangen gesetzt oder auch getötet zu werden, genügt, um ihn von
der Rückkehr abzuhalten und sich „vielmehr immer getrieben" zu fühlen,
von nun an „dort oben*, außerhalb der Höhle, im Lichte der göttlichen
Sonne ständig zu verweilen. „Und so ist es doch wohl auch ganz in der
Ordnung*, schließt Platon den Gedankengang ab, weil er das Schicksal des
Sokrates vor Augen hatte und wußtef wie es demjenigen ergeht, der seine
Mitmenschen über die Wahrheit aufklären will108.
109
Vgl. zum Zusammenhang H. G. Ulrich, Anthropologie und Ethik bei Friedrich
Nietzsche, Interpretationen zu Grundproblemen theologischer Ethik, München 1975.
110
Brief vom 1.2.1883 an P. Gast, zit. nach: Friedrich Nietzsche, Paul Re*e, Lou von
Salom^ a.a.O., S. 479.
111
KGW VIII/1, 5 [29], S. 199; das Briefzitat: KGW IV/4, S. 26.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 107
nt
KGW Vl/l, S. 5 ff.
*** KGW VI/3, S. 346,
VI/f,S. 175.
108 Friedrich Kabcrmann
entschieden ab: „Denn bei der Wissenschaft des Hervorbringens ist das
Prinzip der Bewegung in dem Hervorbringenden, nicht in dem Hervorge-
brachten, und dieses Prinzip ist entweder eine Kunst oder sonst ein Vermö-
gen. Ebenso ist bei der Wissenschaft des Handelns die Bewegung nicht in der
zu verrichtenden Handlung, sondern vielmehr in dem Handelnden/115 Er
hat aber dieses produktive Vermögen einer „poietischen Vernunft" im Ge-
gensatz zu den beiden anderen Formen der Wissenschaft nicht systematisch
ausgeführt, so daß es in seiner Eigenständigkeit unterging und sich in der
europäischen Tradition die Zweiteilung von theoretischer und praktischer
Wissenschaft durchsetzte, die Kant das Vermögen der „reinen" und der
„praktischen Vernunft" nennt. Das Vermögen des Hervorbringens wurde
lediglich unter der Theorie der Kunst, in dpr „Ästhetik", abgehandelt, die
aber im Gang der Geschichte die neu aufbrechenden weiten Bereiche der
wissensdiaftlich-technisdien Produktion theoretisch nicht zu fassen ver-
mochte.
Bevor allerdings das schaffende Vernunftvermögen bei Nietzsche als
die eigentlich künftige Gestalt der ökologischen Universalwissenschaft in
Erscheinung tritt, taucht sie umrißhaft im dritten kritischen Hauptwerk von
Kant, in der „Kritik der Urteilskraft" auf, die in der Literatur bisher im
Schatten der beiden anderen Kritiken stand116. Hier wird bereits eine Ver-
bindung von Kunst und Technik hergestellt, die dann bei Nietzsche unter
die moralische Perspektive der geschichtlichen Emanzipation gerät. Aber
erst in Georg Pichts Philosophie der geschichtlichen Zeit wird dieser Zur
sammenhang überhaupt transparent, weil die von Nietzsche prognostizierte
Krise der wissenschaftlich-technischen Zivilisation inzwischen ihrem Höhe-
punkt zutreibt. Dadurch aber wird endgültig deutlich, daß die überlieferten
Formen der Wissenschaft zur Lösung der globalen Probleme nicht mehr
genügen, weil es weder eine umfassende Theorie der Technik oder der Ar-
beit noch eine „an den Produkten orientierte Theorie der Produktion", eine
„Theorie von allen überhaupt möglichen Formen der Produktion" gibt117 —
von einer Ethik der technischen Welt, deren Notwendigkeit Nietzsche
erkannte, ganz zu schweigen.
Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang Nietzsches Philosophie
zukommt, läßt sich nur erkennen, wenn die moralische Einheit von Wissen,
Handeln und Schaffen im Horizont der geschichtlichen Emanzipation inter-
115
Zit. K. Vorländer, a.a.O., S. 243.
116
Vgl. G. Picht, Die Kunst des Denkens, a.a.O. und ebenfalls: Philosophie und Völ-
kerrecht, in: Frieden und Völkerrecht, hrsg. von G. Picht u. C. Eisenbarth, Stuttgart
1973, S. 170 ff.
117
G. Picht, Die Kunst des Denkens, a.a.O., S. 429.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 109
pretiert wircL Daß dies bisher nicht geschehen ist, bestätigt den Satz von
Picht: Nietzsches Philosophie ist unbekannt- — Den drei Stnikturelemen-
ten der Metaphysik, die in Heideggers Analyse der abendländischen Phi-
losophie als Onto-theo-logie bezeichnet werden118, entsprechen bei Nietz-
sche sprachlich die Metaphern Meer, Sonne und Horizont und inhaltlich die
„historische Philosophie", der Entwurf des „Übermenschen", sowie die
Lehre von der Wahrheit als der „höchsten That". In ihnen spiegelt sich die
dreifache aristotelische Differenzierung zwischen der „Wissenschaft der Na-
tur", die für Nietzsche die Wissenschaft von der Geschichte ist, der „Wissen-
schaft des Handelns", für die Nietzsches Dionysos-Moral steht und der
„Wissenschaft des Hervorbringens", die Nietzsche mit dem Titel „große
Politik" bezeichnet- Die neue „Fröhliche Wissenschaft" von der Geschichte,
die „historische Philosophie", analysiert die Metaphysik am kritischen
Leitfaden einer „Genealogie der Moral" — ermöglicht durch den „Willen
zur Macht", d. h, zur Emanzipation von der Metaphysik. Die neue Ethik
des Obermenschen, die Dionysos-Moral, bejaht die Endlichkeit alles Seien-
den — ermöglicht durch das Erlebnis des amor fati. Die neue Vernunft
schließlich schafft die Wahrheit als höchste Tat durch den Entwurf der
„Umwerthung aller Werthe" — ermöglicht durch das „ungeheure Schwer-
gewicht der Verantwortlichkeit" angesichts des „hohen Rechts" der Mensch-
heit „auf Zukunft". Denn: „ S c h a f f e n s t e h t h ö h e r als Er-
kennen," 1 1 0 — „Wie lange wird es dauern", fragt Nietzsche in einem
Brief an Reinhard von Seydlitz vom 13. Mai 1888 aus Turin, „ehe meine
p e r i p h e r i s c h e n Wirkungen (— denn ich habe Anhänger in Nord-
amerika und sogar in Italien) zurückwirken auf das geliebte Vaterland?
— wo man mit einem tückischen Ernste mich seit Jahren gewähren läßt,
ohne auch nur zu mucksen ... Das ist sehr philosophisch — und klug!"120
VII
Nietzsche hat viereinhalb Monate später im Vorwort zum „Anti-
christ" die Bedingungen angegeben, unter denen man ihn versteht „und
dann mit N o t w e n d i g k e i t versteht —*t ohne dabei sein Vaterland
noch besonders zu erwähnen, das wenig später als „Europas Flachland" be-
zeichnet wird121, „Man muss gleichgültig geworden sein, man muss nie fra-
gen* ob die Wahrheit nutzt, ob sie Einern zum Verhängniss wird ..." Diese
„Rechtssdhaffenheit" in geistigen Dingen, die bis zur „Härte" geht, ist die
grundsätzliche Bedingung, die Nietzsche zu allererst voraussetzen muß,
wenn auch nur der „Ernst" und die „Leidenschaft" seines Denkens ver-
standen und ausgehalten werden soll. Dann nennt er die Bedingungen im
einzelnen: „... Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand
heute den Muth hat; der Muth zum V e r b o t e n e n ; die Vorherbestim-
mung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue
Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für
bisher stumm gebliebene Wahrheiten. U n d der Wille zur Ökonomie gros-
sen Stils: seine Kraft, seine B e g e i s t e r u n g beisammen behalten ...
Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen
sich..."— /
Im ersten Teil dieser äußerst gedrängten und verschlüsselten Aussage
umreißt Nietzsche noch einmal den Horizont, die transzendentale Vor-
aussetzung und die Methode seiner „historischen Philosophie" im ganzen:
Der Mut zum Verbotenen nennt den Mut, sich durch die Umdrehung der
platonisch-christlichen Metaphysik auf die Wahrheit der Geschichte einzu-
lassen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth metaphorisch den transzen-
dentalen Ort, von dem aus sie überhaupt erkannt werden kann; die Stärke
des Fragens schließlich die offene Methode der „unabgeschlossenen Hori-
zonte", die sich von den dogmatischen Denkstrukturen der Metaphysik und
der positiven Wissenschaft verabschiedet hat, weil allein sie dem Horizont
und der transzendentalen Voraussetzung des neuen Denkens gerecht zji
werden vermag. — Im zweiten Teil gibt er die Fähigkeiten der neuen
poietisdien Vernunft an, ohne die, wie sich in der Tat gezeigt hat, nicht
einmal das „Vorspiel" seiner „Philosophie der Zukunft" verstanden werden
kann: Ein neues Hören und Sehen, ein neues Gewissen und einen neuen
Willen, der die Kraft zum Schaffen und die dazu notwendige Begeisterung
in sich vereint, um so den weltgeschichtlichen Aufgaben, die ihn erwarten,
gewachsen zu sein. — Der letzte Teil schließt mit den drei Elementen, aus
denen die neue dionysische „Welt-Moral" bestehen muß, wenn das Leben
auf dem Planeten nicht vollends zugrunde gerichtet werden spll: der Ehr-
furcht v o r sich, der Liebe z u sich und der unbedingten Freiheit g e g e n
sich. Diese drei Elemente werden deshalb erst am Schluß genannt, weil sie
das Resultat von Nietzsches gesamtem Leben und Denken darstellen und
unter drei verschiedenen Perspektiven in dieselbe Dimension weisen, in der
die klassische Unterscheidung von Individual- und Sozialethik zurückgelas-
sen ist. Denn Ehrfurcht vor dem Leben hat nur der, der vor sich selber Ehr-
furcht hat; lieben kanni nur der, der sich selber lieben kann; und Freiheit
zu schaffen vermag nur der, der sich selber frei gegenüberzutreten vermag.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 111
£* Jüngel, deus qualexn Paulus creavit, dei negatto, in: Nkmdie-Studien, Bd. l, 1972,
S. 286 ff,, . 295.
Audi in H. G. Ulridfis theologischer Untersuchung findet sidi über diese Zusammen-
hange nichts {^Anthropologie und Ethik bei Fricdndb Nietzsche", a.a.O.)»
De cm Dei, VIII u. XL
KGW IV/3, S. 178.
. 361 £
112 Friedrich Kabcrmann
127
KGW V/2, S. 204.
128
KTA, X, n. 104.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 113
wir erst alle Dinge, »die wir jetzt lieben, l i e b e n g e l e r n t . Wir wer-
den schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit,
Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam sei-
nen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: —
es ist sein D a n k für unsere Gastfreundschaf t, Audi wer sich selber liebt,
wird es auf diesem Wege gelernt haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch
die Liebe muss man lernen."1*9
So wie die Liebe die Bedingung für die Ehrfurcht vor dem Leben ist,
ist die Freiheit die Bedingung für die das gesamte Leben umfassende Liebe.
Daß Nietzsche nicht allein eine allgemeine politisch, sozialökonomisch oder
auch individuell psychosomatisch bedingte Freiheit meint, zeigt ihre Kenn-
zeichnung als u n b e d i n g t e Freiheit. Um eine Freiheit zu verstehen,
die die Bedingung aller Bedingungen ist, ohne doch selber eine Bedingung
zu haben, muß der sachliche Zusammenhang zu der bisher unerwähnt ge-
bliebenen Formulierung: „Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten" ange-
deutet werden, der die Bemerkung über die »Vorherbestimmung zum La-
byrinth* der Zukunft vorausgeht. In dem Gedicht „Das Feuerzeichen" ist
davon die Rede, daß Zarathustra sechs Einsamkeiten bereits kenne und als
Fischer auf hohen Bergen nun nach der siebenten l e t z t e n Einsamkeit
suchend die Angel auswerfe, nachdem er zuvor seine Höhenfeuer angezün-
det habe: »— Meine Seele selber ist diese Flamme, / unersättlich nach neuen
Fernen — — Das nadifolgende Gedicht enthüllt, was Nietzsche mit der
Chiffre der siebenten Einsamkeit sagen will:
»Heiterkeit, güldene, komm!
du des Todes
heimlichster süssester Vorgemiss!
— Lief ich zu rasch meines Wegs?"
Die unbedingte Freiheit, die die Liebe und die Ehrfurcht gegenüber
allem Lebendingen ermöglicht, gründet für Nietzsche in der Vergegenwär-
tigung des Todes. Worin aber besteht diese ständige Vergegenwärtigung des
Todes, dessen unmittelbare Nähe Nietzsche mehrfach erfahren und durch-
lebt hat? Darin, daß das Leben den Tod als notwendig bejaht — so wie
sich Licht und Schatten „liebevoll* an den Händen halten**0. — »Der Ge-
danke an den Toda lautet auch der Titel des Stücks, das vor dem Abschnitt
über die „Steraen-Freundschaft* steht. Es ist das dritte Stück des IV. Bu-
ches der „Fröhlichen Wissenschaft*f das von der erstmaligen Erwähnung
des amor fatt am Beginn allein schon in der Anordnung der einzelnen
Stücke den intendierten sachlichen Zusammenhang genau aufweist. Audi
hier wird der Tod als Schatten, als der „dunkle Weggefährte" bezeichnet,
der alles lärmende Auf und Ab des Lebens schweigend in die Zukunft be-
gleitet, ohne daß sich das Leben dessen bewußt wäre; „... und doch ist Tod
und Todtenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zu-
kunft! Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast
gar Nichts über die Menschen vermag und dass sie am W e i t e s t e n da-
von entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen."131
Wenn der Tod als das Sicherste der Zukunft wie ein Bruder angenom-
men werden kann, dann ist die Angst vor der Zeit und ihrem ,„Es war*"
überwunden und jene unbedingte Freiheit gegen sich selbst erreicht, die die
Bedingung dafür ist, daß das Leben in der Fülle seiner Erscheinungen und
der Ehrfurcht vor dem undurchsdhaubaren'Gesetz der Notwendigkeit um-
fassend geliebt werden kann. Für Nietzsche liegt darin die einzige Mög-
lichkeit, wie der circulus vitiosus aus Frusträtion und Aggressivität, Selbst-
verneinung und „Selbstbehauptung", metaphysischem Nihilismus und om-
nipotenter Wissenschaft aufgesprengt werden kann. In der naiven Meinung
des dogmatischen Pragmatismus unserer Tage, es müsse bei einer morali-
schen „,Revolution*" allein darum gehen, „ n e u e R e g e l n " zu ent-
wickeln, „die der Realität und unseren Vorstellungen besser angepaßt" und
zugleich von „objektiver Begründbarkeit" seien, hätte Nietzsche bei wei-
tem noch keine neue „Ethik ohne Metaphysik", sondern lediglich eine alte
Metaphysik ohne Ethik gesehen132.
Am Schluß des zweiten Teils von „Menschliches, Allzumenschliches"
fragt der Wanderer seinen Schatten beim Abschied: ,*Und könnte ich dir
nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun? Hast du keinen
Wunsch?", und der Schatten, der Tod, antwortet: „Tritt unter diese Fichten
und schau dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt."133 Audi das er-
wähnte Gedicht, in dem Nietzsche den eigenen Tod antizipiert und die
Chiffre der siebenten letzten Einsamkeit transparent wird, trägt als Titel
diesen Satz: „Die Sonne sinkt." Die letzte Strophe lautet:
„Siebente Einsamkeit!
Nie empfand ich
näher mir süsse Sicherheit,
warmer der Sonne Blick.
— Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?
Silbern, leicht, ein Fisch
schwimmt nun mein Nachen hinaus.. ."134
131
KGWV/2,.S. 203.
132
G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, S. 99 f.
133 KGW IV/3, S. 342.
134
KGW VI/3, S. 395.
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