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FRIEDRICH KABERMANN

FRAGEZEICHEN FÜR SOLCHE, DIE ANTWORT HABEN


Zu Nietzsches »historischer Philosophie*
und der historischen Philosophie über Nietzsche
Für
Reinhard Wittram
* 9. 8.1902
t 16. 4.1973

»Verschlagne Schiffer! Trümmer alter-Sterne!*, so beginnt der letzte


Teil von Nietzsches Gedicht »Das Feuerzeichen**:
»Ihr Meere der Zukunft! Unausgeforschte Himmel!
nach allem Einsamen werfe ich jetzt die Angel:
gebt Antwort auf die Ungeduld der Flamme,
fangt mir, dem Fischer auf hohen Bergen,
ÄI
meine siebente l e t z t e Einsamkeit!
Zu Beginn des Gedichts spricht Nietzsche nicht von einem Fischer, son-
dern von Zarathustra, der sich »unter schwarzem Himmel" seine „Höhen-
feuera anzündet —: „Feuerzeichen für verschlagne Schiffer — —* Im Mit-
telteil wird Zarathustra erneut erwähnt:
»Was entlief er jäh allem festen Lande?
S e c h s Einsamkeiten kennt er schon —,
aber das Meer selbst war nicht genug ihm einsam,
die Insel liess ihn steigen, auf dem Berg wurde er zur Flamme,
nach einer s i e b e n t e n Einsamkeit
wirft er suchend jetzt die Angel über sein Haupt,*
Was ist unter den sechs Einsamkeiten zu verstehen, die der siebenten
vorausgehen, und was bedeutet diese letzte aller Einsamkeiten selber? Wer
ist mit den verschlagenen Schiffern gemeint, die auf dem Meer in schwarzer
Nacht umherirren, weil die Sternbilder, nach denen sie ihren Kurs geriditct
hatten» zertrümmert und untergegangen sind? Wer ist der Fischer auf hohen
Bergen, mit dem sich Nietzsche in der Ich-Form identifiziert, und was be-
deuten die Höhenfeuer Zarathustras und die Ungeduld der Flamme, die
1
KGW Vl/3, S. 391 f. Üb zitiere den NaAlaß trilwcuc aucii nach der Dünndrudk-
ausgabt von Kroner (KTA), Bd, IX—XI. Hervorhebungen von Nietzsche,
76 Friedrich Kabermann

sich nach einer Antwort aus der siebenten letzten Einsamkeit verzehrt?
Warum gilt der fragende Ruf, der Wurf der Angel, den unausgeforschten
Himmeln und unbekannten Meeren der Zukunft?
Das Gedicht gehört zu den „Dionysos-Dithyramben", deren Rein-
schrift für den Druck Nietzsche im Sommer 1888 abschloß. In dem halben
Jahr vor dem Zusammenbruch Anfang Januar 1889 verfaßte er zugleich
die Schriften „Der Fall Wagner", „Götzendämmerung", „Der Antichrist"
und „Ecce homo". Nietzsches Philosophie knüpft am Ausgang der abend-
ländischen Metaphysik an die Tradition des frühen griechischen Denkens
an, aus der die Metaphysik entsprungen ist: Denken und Dichten sind eine
Einheit. Wird das eine vom anderen durch die wissenschaftliche Analyse
getrennt, so wird zerrissen, was es zu verstehen gilt: die Einheit in der
Differenz von Gedanke, Sprache und Methode der Reflexion. Sie erreicht
in den „Dionysos-Dithyramben" eine Verdichtung, die an die hermeneu-
tisdie Entschlüsselung der einzelnen gedanklichen Motive und semantischen
Siglen, an die sprachlichen Bilder, Chiffren und Metaphern besondere An-
forderungen stellt und nur gelingen kann; wenn der Horizont von Nietz-
sches Denken zuvor erkannt worden ist. Erst dann wird das Geflecht der
philosophischen Ideogramme und ihrer sprachlichen Muster transparent;
denn die Frage nach dem Horizont enthält die transzendentale Frage nach
dem Licht, das ihn erhellt und die Transparenz von Nietzsches Denken in
seiner komplexen Einheit erst möglich macht. Die Frage nach dem trans-
zendentalen Ort als dem Grund der Ermöglidiung von Nietzsches Denken
zielt daher auch bei seinen Gedichten nicht „verzückt" und „verzaubert"'
in die Richtung irgendeiner „Offenbarung"2, sondern fragt nach der Wahr-
heit dessen, was Nietzsche in ihnen gedanklich zusammengedrängt und in
sprachlichen Verkürzungen von zum Teil unerhörter Paradoxie formuliert
hat. Wer in Nietzsches Dichtung bloß literarische Nebenprodukte sieht3,
ist in die Dimension seiner Philosophie noch nicht eingedrungen. Auch in
den späten „Dionysos-Dithyramben" hat nicht etwa Nietzsches Denken sich
bereits von seiner Philosophie verabschiedet, sondern umgekehrt: Im Schütze
solcher Behauptungen verabschiedet sich das Denken zu früh von Nietzsches
Philosophie. ·
„Der Philosoph soll e r k e n n e n , was n o t t u t , und der Künst-
ler soll es s c h a f f e n " , lautet eine Nachlaß-Notiz des 28jährigen
Nietzsche. „Der Philosoph soll am stärksten das allgemeine Leid nach-
empfinden: wie die alten griechischen Philosophen jeder eine Not ausdrückt:.
2
I. Frenzel, Friedrich Nietzsche in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei
Hamburg 1966, S. 128 f. . . '
3
Vgl. E. F. Podadi, Ein Blick in die Notizbücher Nietzsdies, Eine schaffensanalytische
Studie, Heidelberg 1963.
Fragezeichen für solche» die Antwort haben 77

dort> in die Lücke hinein stellt er sein System. Er baut seine Welt in diese
Lücke hinein*4. In welche geschichtliche Lücke stellt Nietzsche die Welt sei-
ner Philosophie, die Erkennen und Schaffen, Philosoph und Künstler als
eine ursprüngliche Einheit denkt? „Es sind die Zeiten großer Gefahr, in de-
nen die Philosophen erscheinen*, heißt es in einer Notiz aus demselben Jahr
1872, w — dann, wenn das Rad immer schneller rollt — sie und die Kunst
treten an Stelle des verschwindenden Mythus. Sie werden aber weit vor-
ausgeworfen, weil die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen erst langsam ihnen
sich zuwendet*4.
Wie steht es mit der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen gegenüber
Nietzsche heute, hundert Jahre später? Die Frage ist weder mit dem Hin-
weis auf die Fülle internationaler Sekundärliteratur oder periodisch wieder-
kehrender Nietzsche-Renaissancen noch auch der Vielfalt neuer wissen-
schaftlicher Ansätze und Ergebnisse der Detailforschung beantwortet, denn
sie fragt in ihrem Grunde danach, ob die Wahrheit, der Horizont von
Nietzsches Denken, der Aufmerksamkeit der Zeitgenossen bis heute ent-
gangen ist oder nicht. Denn die Frage nach der Wahrheit ist das eigentliche
und einzige Thema der abendländischen Philosophie, das sich Nietzsche am
Ausgang ihrer metaphysischen Epoche in einer neuen Form stellt: Als die
zu entwerfende Einheit von Erkennen und Schaffen, die mit einer „ästheti-
schen Weltanschauung" aber nichts zu tun hat. Am Ende seines Denkweges
spricht Nietzsche in „Ecce homo" von der „Offenbarung der Wahrheit"
in »Also sprach Zarathustra"; bis zu dieser Schrift habe niemand gewußt,
was Wahrheit eigentlich sei. In seinem „Begriff ^dionysisch*", der in Zara-
thustra Gestalt erhalten habe, sei sie jedoch „ h ö c h s t e T h a t " gewor-
den, denn Zarathustra sei nicht bloß irgendein „Gläubiger", sondern
„Einer, der die Wahrheit erst s c h a f f t , ein w e l t r e g i e r e n d e r
Geist, ein Schicksal — *. .***.
II
Eine der beiden zeitgenössischen Formen, sich der Wahrheit eines
Denkers zu entziehen — die Verlegenheit des Schweigens — hat Nietzsche
in einer Weise erfahren, die seine Kräfte in sechs Einsamkeiten vorzeitig
aufzehrte und zum Zusammenbrach führte. Die andere — den Lärm der
Weltanschauungen — hat er, wie nahezu alle Varianten der späteren Miß-
verständnisse, mit einer reflexiven Helligkeit des Bewußtseins vorwegge-
nommen, die ohne Beispiel ist. Mit derselben Bewußtheit hat er sie aber
zugleich auch provoziert: „— er w o l l t e nicht von ^irgend Jemand* ver-

« , , .92.
2
£bda^a.90.
• KGW Vl/3, S. 541,
78 Friedrich Kabermann

standen werden", sondern allein „Denen die Ohren aufmachen, die uns mit
den Ohren verwandt sind"7. Nietzsche weist mit dieser Bemerkung auf
einen Sachverhalt hin, der zur gleichen Zeit von Dilthey als hermeneutisdie
Struktur jeden geistigen Verständnisses, nämlich als die Einheit von Er-
lebnis, Ausdruck und Verstehen, erkannt und zum Prinzip der Wissen-
schaft gemacht wurde, heute jedoch wieder in Vergessenheit geraten
ist. Hier liegt der methodische Grund dafür, daß es für die Wissen-
schaft zunehmend schwieriger geworden ist, die von Nietzsche bewußt ge-
stellten Fallen im verwirrenden Rollen- und Maskenspiel ständiger Posi-
tions- und Perspektivenwechsel überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn
in die Analyse seines Denkens mit einzubeziehen. Dies kann so weit füh-
ren, daß sogar Ansätze und Entwicklungen ^jatsdieidender Gedanken nicht
erkannt oder auf der Suche nach einprägsamen Formeln unterschlagen
werden: Im Anschluß an Aristoteles haben sich in der philosophischen Tra-
dition zwei Formen, die Wahrheit zu fassen, herausgebildet: die der rei-
nen Wissenschaft, der Theorie, deren Gesetze die „Logik" formuliert, und
die der praktischen Wissenschaft, der „Politik", deren Normen die „Ethik"
entwickelt. Diese Unterscheidung wird auch noch von Kant unter den Titeln
der j,reinen" und der „praktischen" Vernunft beibehalten, denn die Ver-
nunft bedeutet das Vermögen, Wahrheit erkennen zu können. Audi die
dialektischen Vermittlungen von Theorie und Praxis in der Nachfolge He^
gels und Marx' behalten den Dualismus von theoretischer und praktischer
Vernunft, reinem Erkerinen und normativem Handeln, bis heute bei8. Eine
dritte Gestalt der Vernunft, deren weltregierender Geist die Wahrheit als
höchste Tat erst s c h a f f t und damit am Epochen-Übergang von der
europazentrischen zur einen, globalen Weltgeschichte die neue „Welt-Per-
spective" für die „große Politik" der Zukunft umreißt ^- eine solche „pro-
duktive" Gestalt der Vernunft taucht allein bei Nietzsche auf9.
Der Grund für die Tatsache, daß die Wissenschaft diese neuen Ansätze
bei Nietzsche nicht erkannt oder nicht ernst genommen hat, liegt darin, daß
sie sich trotz der Verfeinerung ihrer Methoden und der Differenzierung
ihrer Begriffssysteme noch in jenem metaphysischen Denkbereich bewegt,
den Nietzsche bereits verlassen hat, weil er einer unwiederbringlich versun-
kenen Geschichtsepoche angehört. Dies wird daran deutlich, daß, außer bei
Heidegger, die Frage nach dem Zusammenhang von Wahrheit, Kunst und
Technik, in den die dritte Gestalt der neuen produktiven Vernunft syste-
matisch gehört, in der Nietzsches-Forschung nicht gestellt worden ist, weil
7
KGW V/2, S. 315 f.
8
Vgl. G. Picht, Die Kunst des Denkens, in: ders., Wahrheit,, Vernunft, Verantwortung.
Philosophische Studien, Stuttgart 1969, S. 427 ff.
• Nachlaß 1886/87, KGW VIII/1,5 [84], S, 28.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 79

die Wissenschaft Wahrheit, Kunst und Moral noch im Horizont eines


„ästhetischen Immoralismus* interpretiert, der Nietzsche mit Wagner und
Schopenhauer verwechselt10. Das Verhältnis von Wahrheit, Kunst und Tech-
nik kann aber erst dann geklärt werden, wenn erkannt worden ist, warum
Nietzsche die beiden anderen aus der Metaphysik überlieferten Gestalten,
die „reine", theoretische und die „praktische", moralische Vernunft erst de-
struieren mußte, um freien Raum für die Wahrheit der „höchsten That" zu
schaffen. Dies aber wiederum setzt das Verständnis der Frage nach dem
Wesen der Metaphysik voraus, weil anders nicht erkannt werden kann, daß
Nietzsches Kritik der Wissenschaft von seiner Kritik der Moral nicht ge-
trennt werden darf und beide Angriffe lediglich den zwei Seiten derselben
Metaphysik gelten. Denn der gemeinsame metaphysische Grund von „Lo-
gika und „Ethik", Theorie und Praxis, wissenschaftlichem Erkennen und
moralischem Handeln liegt in der aristotelischen Anthropologie, die den
Menschen als definiert und ihrerseits die gesamte griechische
Ontologie voraussetzt. Wer in Nietzsches Kritik der überlieferten Moral,
der Religion, der Wissenschaft, der Logik und politischen Praxis bloß ver-
einzelte und zudem noch „aphoristische* Unternehmungen vermutet, kann
weder den Tiefblick erkennen, mit dem Nietzsche die geschichtliche Überlie-
ferung durchdringt, noch auch den Weitblick, mit dem er künftige Entwick-
lungen antizipiert11.
Aus der Kritik an der reinen Wissenschaft der theoretischen Vernunft
geht Nietzsches Entwurf einer „Fröhlichen Wissenschaft" hervor, aus der
Kritik an der praktischen Wissenschaft der moralischen Vernunft der Ge-
genwurf der „Dionysos-Moral4*18. Den Kern dieser neuen Moral umschreibt
Nietzsche mit der Formel „amor fati", die aufgrund des Einklangs von
Wissenschafts- und Moralkritik als die neue Lebens h a 11 u n g zum ersten
Male in der „Fröhlichen Wissenschaft* beschrieben wird, und zwar an der
exponiertesten Stelle der gesamten Schrift: im ersten Stück des IV. Buches
„Sanctus Januarius", das Nietzsche, an Mißverständnisse gewöhnt, sogar
den Freunden als einführende Lektüre empfahl* Der Schluß dieses IV* Bu-
ches bildet zugleich den Anfang der nächsten Schrift „Also sprach Zara-
thustra*, die den neuen und „liebsten Gedanken*1 Nietzsches als „Grund,
Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens* in der Form der „ewigen
19
H- Heixmoeth, Metaphysisdbe Voraussetzungen und Antriebe in Nieta^dbcs Immoralis-
mus, in: Akademie der Wissenschaft und der Literatur, Abk. d. Geistes* und Sozial·
wi«. Ki, Jg. 1955, Nr. 6.
11
VgL Podadb, Ein Blick.. ^ a.a.O. Auch für Podadi gibt es einen „eigentlichen"
NieULsdbc mit einem „Hauptwerk** Es besteht aus d^n drei Sdmften von 1876 bis
18S2: MA, M u. FW.
11
Nietzsdie in seinen Briefen und Berichten der Zeitgenossen, hrsg. von A. Baeumler,
Stuttgart 1941, S.
80 Friedrich Kabermann

Wiederkehr des Gleichen" verkündet* Was in den ersten drei Stücken des
IV, Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft" mit den Titeln „Zum neuen Jahre",
„Persönliche Providenx" und „Der Gedanke an den Tod" vorgezeichnet ist,
wird im „Zarathustra" im einzelnen ausgeführt und dichterisch gestaltet:
der Wunsch, „irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein" zu können,
um „die wunderbare Harmonie" der neuen „Weisheit" den Menschen wei-
tergeben und „den Gedanken an das Leben noch hundertmal d e n k e n s -
w e r t h e r " machen zu können13. . · .
Nietzsche hat das starke Erlebnis des amor fati als den „neuen Blick",
den er „vor allen Menschen voraus" habe, in einem Brief an Peter Gast vom
14. August 1881 beschrieben, dabei jedoch weder von dem amor fati selbst
noch von dem Gedanken der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" gespro-
chen, den Heidegger dem Brief entnimmt und dann als die formale Struk-
tur von Nietzsches angeblicher „Metaphysik des ,Willens zur Macht'" inter-
pretiert14. Aber der G e d a n k e der ewigen Wiederkehr gibt dem E r -
l e b n i s lediglich die begriff liehe Form; seinen inhaltlichen Kern, der nicht
bloß eine neue Erkenntnis, sondern eine neue L e b e n s h a l t u n g ver-
mitteln will, umschreibt dagegen der amor fati, der deshalb in der „Fröh-
lichen Wissenschaft" auch schon am Anfang und nicht, wie der Gedanke
der ewigen Wiederkehr, erst am Schluß des IV. Buches zum ersten Male
genannt wird15.
An diesem Sachverhalt entscheiden sich nicht nur Akzente einer Inter-
pretation, sondern, wie Heideggers Auslegung zeigt, die Frage, ob die mo-
ralische Grundverfassung von Nietzsches Philosophie analytisch freigelegt
oder verschüttet wird, weil selbst noch der amor fati von einem metaphysi-
schen „Willen zur Macht" her ausgelegt wird16. Dann aber geht der Zu-
sammenhang von Moral- und Wissenschaftskritik ebenso verloren wie der
dazugehörige Gegenwurf der Dionysos-Moral im Einklang mit einer „Fröh-
lichen Wissenschaft", die gemeinsam die neue geschichtliche Gestalt der Ver-
nunft ermöglichen sollen. Im mittleren der drei genannten Stücke mit dem
Titel „Persönliche Providenz" wird deutlich, daß Nietzsche den Entwurf
einer neuen Einheit von Moral und Wissenschaft, die die Wahrheit der
höchsten Tat schaffen soll, als die Aufhebung der klassischen Differenz zwi-
schen praktischer und theoretischer Wissenschaft aufgefaßt hat. Denn dies
ist der Sinn der Bemerkung, daß die neu gewonnene „Weisheit" der amor
fati-Erfahrung nicht wie ein Geschenk den Göttern oder irgendwelchen

13
KGW V/2, S. 201 ff.
14
M. Heidegger, Nietzsche, 2 Bde., Pfullingen 1961.
15
Vgl. R. Okochi, Nietzsches Amor fati im Lichte von Kgrma des Buddhismus, in:
Nietzsche-Studien, Bd. l, 1972, S. 36 ff,
10
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 470 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 81

„dienstfertigen Genien" zu verdanken sei, sondern daß durdhi sie allein


„unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und
Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunkt gelangt sei".
Die an die „Fröhliche Wissenschaft" anschließende Verkündigung des
amor fati in der Form des ewigen Wiederkunftgedankens durch Zarathu-
stra ist allerdings erst möglich, nachdem im III. Buch der „Fröhlichen Wis-
senschaft" in der Erzählung vom „tollen Menschen" die Erfahrung vom
Tode Gottes ausgesprochen und damit das letzte Hindernis beseitigt worden
ist, das der Möglichkeit des Ja-sagens zur Welt, wie sie wirklich ist und nicht
wie sie sein s o l l , bisher im Wege gestanden hatte. Denn die Bedeutung
der Dionysos-Moral liegt nicht allein in der Ablösung, sondern in der
Ü b e r w i n d u n g der metaphysischen Moral, deren fixe Normen aus
dem Geist der „Rache" am Leben bestehen: Im Zeitalter der Metaphysik
rächte sich der Geist im Namen eines ewigen göttlichen Seins deshalb am
Leben, weil er seine Vergänglichkeit, die Endlichkeit alles Seienden, nicht zu
bejahen vermochte. Er ersann zur wirklichen physischen Welt eine unver-
gängliche metaphysische „Hinter-Welt" hinzu, die er im Laufe der Ge-
schichte erst ästhetisch, sodann philosophisch, schließlich theologisch und
endlich noch wissenschaftlich abstützte. Die „Umwerthung aller Werthe"
besteht für Nietzsche darin, diesem ewigen Nein der Metaphysik zur Welt
der Geschichte das neue Ja zur Notwendigkeit der vergänglichen Welt ent-
gegenzusetzen, weil sonst im Zeitalter der wissenschaftlich angewandten
Metaphysik, dem Zeitalter der Technologie17, das Leben zugrunde geriditet
wird. Der lügenhafte Charakter der Metaphysik zeigt sich vor allem in der
Tatsache, daß sie im Namen der Wahrheit eines ewigen, omnipotenten
Gottes eine Moral propagiert, vor der die zeitliche Wahrheit des Menschen,
die Endlichkeit seines Lebens, wie ein bloßes Nichts erscheint. „Wie? Die
Zeit wäre hinweg, und alles Vergängliche nur Lüge? — Diess zu denken ist
Wirbel und Schwindel*, sagt Zarathustra im Kapitel „Auf den glückseligen
Inseln*4: „Böse heisse ich's und menschenfeindlich: all diess Lehren vom
Einen und Vollen und Unbewegten und Satten und Unvergänglichen! —
Alles Unvergängliche — das ist nur ein Gleidiniss! Und die Dichter lügen
zuviel. — Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden:
ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!"18
Doch nicht nur die Denker und Dichter lugen im Namen einer meta-
physischen „Muthrnaassung* Gottes zu viel, sondern auch die Theologen
und Wissensdhaftler. Nietzsches normative Umwertung kehrt deshalb die
moralische Perspektive um, und zwar mit dem wissenschaftlichem Vorteil,

:T
M. Heidegger, Identität tmd Differenz, PfolÜngcfi 1957, S. 42.
'·» KGWVI/1, S. 105 ff*
82 Friedrich Kabcrmann

daß er die Erfahrung auf seiner Seite hat: Nicht die wirkliche Welt der Ge-
schichte, sondern die hinzuspekulierte Hinter-Welt der Metaphysik ist ein
bloßer Schein, ein Nichts. Die dogmatische Synthese aus griechischer Wis-
senschaft und christlichem Glauben, philosophischer Kosmologie und bibli-
scher Theologie, ist mitsamt der aus ihr entspringenden modernen Wissen-
schaft, Technik und Ökonomie in sich strukturell nihilistisch. Denn die
philosophische Theologie der christlichen Überlieferung ruht auf der grie-
chischen Ontologie, der Lehre vom zeitlosen, ewig mit sich selber identi-
schen Sein; die gesamte Wissenschaft aber auf der aus diesem ontologi-
sdien Entwurf abgeleiteten Logik, der Lehre von den zeitlos gültigen, ewig
mit sich selber identischen Gesetzen des Denkens19.
Nietzsche ist der einzige Denker, der yor Heidegger gesehen hat, daß
die permanente Krise des neuzeitlichen Europa im selben Maße, in dem
sich seine Wissenschaft und Technik global ausbreiteten, die gesamte Erde
erfassen mußte — „einem Strom ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht
mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen"20. — Wovor hat die
wissenschaftlidi-tedmische Weltzivilisation Furcht sich zu besinnen? Davor,
sich eingestehen zu müssen, daß ihre Krise in erster Linie nicht politische
und sozialökonomische Gründe hat, sondern moralischer Natur ist und
durch pragmatisches Management allein nicht gelöst werden kann. Um dies
zu erkennen, darf im Horizont der Metaphysik nicht mehr nach der Wahr-
heit dessen gefragt werden, was i s t , sondern nach dem, was geschichtlich
n o t tut. „Aber diess bedeute euch Wille zur Wahrheit, dass Alles ver-
wandelt werde in Menschen-Denkbares, Menschen-Sichtbares, Menschen-
Fühlbares! eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken!", sagt Zarathustra
zu Beginn des erwähnten Kapitels, wo er der bloßen Mutmaßung Gottes
die reale Möglichkeit des „Übermenschen" entgegenstellt. Denn der Über-
mensch ist jene Gestalt zukünftigen Menschentums, die sich vom toten Gott
der christlichen Metaphysik und ihrer lebensverneinenden Moral emanzi-
piert und die Angst- und Rachegefühle gegenüber der Zeit und ihrem „,Es
war'" durch den amor fati überwunden hat. Erst dieser kommende Mensch
wird im Lichte der neuen produktiven Moral die Wahrheit als höchste Tat
s c h a f f e n und Geschick, Schicksal und Geschichte als selbst zu verant-
wortende Praxis übernehmen können.
Mit dem „Willen zur Macht" will Nietzsche dem geschichtlich notwen-
digen Kampf um die Emanzipation vom Nihilismus der abendländischen
Metaphysik das gute Gewissen verschaffen, damit der Mensch endlich das
werden kann, was er eigentlich ist. Obwohl Nietzsche in der Vorrede zum
19
Vgl. G. Pidit, Bildung und Naturwissenschaft, in: C. Münster, G. Picht, Naturwissen-
schaft und Bildung, Würzburg o. J., S. 33 ff.
20
Vorrede (WzM), KTA, IX, S, 3,
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 83

„WiUen zur Macht*, die die Herausgeber dieser Nachlaß-Kompilation vor-


angestellt haben, unmißverständlich sagt, was er unter diesem Titel ver-
steht, ist gerade der »Wille zur Macht" wie kein anderer Leitgedanke seiner
Philosophie zum bloßen Schlagwon geworden, das die jeweiligen zeitge-
nössischen Weltanschauungen reflektiert, nicht aber das, was Nietzsche sel-
ber mit ihm gemeint hat. „Denn man vergreife sich nicht über den Sinn des
Titels", heißt es gegen den Schluß der Vorrede, „mit dem dies Zukunfts-
Evangelium benannt sein will* ,Der Wille zur Macht, Versuch einer Um-
wertung aller Wertec — mit dieser Formel ist eine G e g e n b e w e g u n g
zum Ausdruck gebracht, in Absicht auf Prinzip und Aufgabe; eine Bewe-
gung, welche in irgend einer Zukunft jenen vollkommenen Nihilismus ablö-
sen wird;.. .*21.
Wie kann der Mensch w e r d e n , was er eigentlich schon ist? Nietz-
sche hat nach dem Bruch mit Wagner immer wieder darauf hingewiesen,
daß er das, was er vom Menschen der Zukunft an geschichtlicher Emanzipa-
tion erwartet, an sich selber bereits als die große Genesung und Gesundheit
erfahren hat, Daß er mit derartigen Äußerungen nicht auf bloße subjektive
Befindlichkeiten, sondern objektive Notwendigkeiten hinweisen wollte,
zeigt bereits der Titel „Morgenröthe", den die erste Schrift trägt, die er
nach der Trennung von Wagners romantischem Nihilismus im Anschluß
an die beiden Teile von „Menschliches, Allzumenschliches" veröffentlichte.
Im Vorwort zur zweiten Ausgabe von 1886 und dem entsprechenden
Abschnitt in „Ecce homo* macht Nietzsche deutlich, daß für ihn die Krise
der Metaphysik in Wagners ästhetischem Nihilismus kulminiert, aber die
unmittelbare Erfahrung dieser Krise zu ihrer Überwindung notwendig da-
zugehört, Nietzsche findet daher auch erst nach dem Bruch mit der zeit-
gemäßen Welt der Bayreuther „Götterdämmerungen**, wie der Untertitel
zur „Morgenröthe — Gedanken über die moralischen Vorurtheile" zeigt,
zum eigentlichen Thema seiner Philosophie: der kritischen Analyse der ge-
samten abendländischen „Wertschätzungen* am Leitfaden einer „Genealo-
gie der Moral*8 und ihrer gleichzeitigen Umwertung in eine lebensbejahende
Dionysos-Moral.
„Mit der ,Morgenröthe* nahm ich zuerst den Kampf gegen die Ent-
selbstungs-Moral auf*, heißt es in „Ecce homo*: „Meine Aufgabe, einen
Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten, einen
g r o s s e n M i t t a g , wo sie zunickschaut und hinausschaut, **** ~
zurück in die Tiefe der Geschichte, hinaus Ln die „ungeheuere freie Bahn*
der Zukunft* Nietzsdie wußte, daß eine der gebräuchlichen Formen» sich
21
Ebda.
« KGW VI/3, S. 327 (L
84 Friedrich Kabermann

der Wahrheit der Philosophie zu entziehen, darin besteht, ihre Aussagen bio-
graphisch zu relativieren; aus diesem Grunde fügt er hinzu: „Die Frage
nadi der Herkunft der moralischen Werthe ist deshalb für midi eine Frage
e r s t e n R a n g e s , weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt/23 Weil
er sich selber aber als der erste „freie Geist", der „die Geschichte der Men-
schen insgesamt als e i g e n e G e s c h i c h t e zu fühlen weiß", von der
Metaphysik überzeitlicher Werte frei wußte, trennte er nicht nur nicht zwi-
schen den persönlichen Erfahrungen und den Gedanken-Erlebnissen seiner
Philosophie, — „wenn ich das Recht habe, das, was midi bis in die Wurzeln
meines Wesens hinein malträtiert, so zu nennen"24, sondern legte umgekehrt
ihren Maßstab audi an die Zeitgenossen an, obwohl er selbst durdi die
Freunde ständig über die ungeheure Distanz belehrt wurde.
„Wenn idi mit den Augen eines fernen Zeitalters nadi diesem hinsehe",
so beginnt in der „Fröhlichen Wissensdiaft" der Abschnitt 337 mit dem
Titel „Die zukünftige ,Menschlichkeitc", so erkenne ich einen „Ansatz zu
etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem
Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wun-
dervolles Gewächs mit einem ebenso wundervollen Gerüche werden, um
dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher"25.
Nietzsdie zieht also zeitliche Räume in Betradit, die selbst die heute gegen-
wärtige Zukunft noch weit übergreifen. Audi, den technokratischen Szien-
tismus des 20. Jahrhunderts hätte er als eine der prognostizierten Gestalten
des unvollständigen Nihilismus analysiert, weil dieser inzwisdien den Pla-
neten in der Tat zu einem „sdiwermüthigen Kranken" gemadit hat, wenn
auch in einem anderen Sinn, als Nietzsdie dies in der „Fröhlidien Wissen-
schaft" meint. Als eine solche Gestalt des unvollständigen Nihilismus wäre
ihm die moderne Wissenschaft schon aus dem Gründe erschienen, weil sie
von ihrer nihilistischen Grundverfassung nichts wissen will und sidi deshalb
weder von der Metaphysik emanzipieren noch auf das „hohe Redit" der
Menschheit „auf Zukunft" besinnen kann. Diese Formulierung findet sidi
im Vorwort der Schrift „Ecce homo", die den Untertitel „Wie man wird,
was man ist" trägt26. Nietzsche prägt mit diesem Untertitel eine Formel,
die das Fazit seiner philosophischen Pathologie der geschichtlichen Emanzi-
pation darstellt, jedodi bereits Jahre zuvor auch in privaten Äußerungen
auftaucht. „Zuletzt, meine liebe Lou", heißt es Anfang September 1882
vier Wochen nadi Erscheinen der „Fröhlidien Wissensdiaft", „die alte tiefe
herzliche Bitte: werden Sie, die Sie sind. Erst hat man Noth, sidi von seinen
28
Ebda.
24
Briefe, a.a.O., S. 367.
25
KGW V/2, S. 244.
26
KGW VI/3, S. 255 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 85

K e t t e n zu emancipieren und schließlich muß man sich noch von dieser


Emancipation e m a n c i p i e r e n ! Es hat jeder von uns, wenn auch in
sehr verschiedener Weise an der K e t t e n - K r a n k h e i t zu laborieren,
auch nachdem er die Ketten zerbrochen hat"27.

III
„Der Philosoph soll erkennen, was not tut, und , . . am stärksten das
allgemeine Leid nachempfinden: ... dort in die Lücke stellt er sein System.
Er baut seine Welt in diese Lücke hinein." — Nietzsche hat früh erkannt,
daß das allgemeine Leid der Zeit, das seine Philosophie reflektiert, weder
von den Zeitgenossen noch auch von den Freunden oder ehemaligen Basler
Kollegen wie Jacob Burckhardt verstanden wurde28. Zwei Jahre nach dieser
Notiz schreibt er in einem Brief an Carl von Gersdorf f vom 1. April 1874:
„Meine Schriften sollen so dunkel und unverständlich sein! Ich dachte, wenn
man von der Not redet, daß solche, die in der Not sind, einen verstehen
werden. Das ist auch gewiß wahr: aber wo sind die, welche ,in der Not*
sind?a — Elf Jahre später heißt es am 2. Juli 1885 an O verbeck: „Mitunter
sehne ich midi darnach, mit Dir und Jacob Burckhardt eine heimliche Kon-
ferenz zu haben, m e h r um zu fragen, wie Ihr um diese Not herum-
kommt als um Euch Neuigkeiten zu erzählen.*s0 Weitere drei Jahre später
schreibt Nietzsche am 3. September 1888 im Vorwort zu „Der Antichrist":
»Dies Buch gehört den Wenigsten. Vielleicht lebt selbst noch Keiner von
ihnen. Es mögen die sein, welche meinen Zarathustra verstehn: wie d ü r f -
t e ich midi mit denen verwechseln, für weldie heute schon Ohren wach-
sen? —«*>
Es scheint, als habe sich Nietzsche in der Prognose mangelhafter Wir-
kung gründlich getäuscht. Bereits nadi dem Zusammenbrudi und verstärkt
ein Jahrzehnt später nadi dem Tod setzte sein Ruhm, der größte Diagnosti-
ker des europäischen Nihilismus gewesen zu sein, fast schlagartig ein und
ließ bis heute im Für und Wider politisdier, publizistischer und gelehrter
Auseinandersetzungen aller Schattierungen nicht nadi, sondern nimmt im
Gegenteil weiter zu. Aber das bedeutet nicht notwendig, daß zugleich audi
die Wahrheit seines Denkens verstanden worden wäre. Allein die besondere
Hervorhebung des »Zarathustra*1 im Vorwort des „Antichristen** und der
entsprechende Raum, den Nietzsche dem Verkünder der neuen Dionysos-

** An Lou von Salom£, zit. aadh: Friedrich Nietzsche, Paul lUe, Leu von Salome*, Die
Dokumente ihrer Begegnung» hr*g* von E. Pfeiffer, Frankfurt 1971, S* 224
~* VgL E. Saun, Vom detradben Verhängnis, Gespradi an der Zeitenwende: Burckhardt
— Niemdie» Homburg 1959.
** Briefe a,su<X S. 45 u. S. 567.
** KG W VI.Ot S. 165,
86 Friedrich Kabcrmann

Moral in „Ecce homo* einräumt, zeigen angesidits der immer wieder auf-
taudienden Versuche, sich einen „Nietzsche ohne Zarathustra" als eine Art
„kritischen Aufklärer und Moralisten zurechtzulegen, wie groß bis heute
die Diskrepanz zwischen Nietzsches eigenen philosophischen Intentionen
und den Verständnismöglichkeiten der Zeitgenossen geblieben ist31.
„Nietzsche, in dessen Licht und Schatten jeder Heutige mit seinem ,für
ihn* und ,wider ihnc denkt und dichtet", schreibt Heidegger in einem Brief
an Ernst Jünger, „hörte ein Geheiß, das eine Vorbereitung des Menschen für
die Übernahme einer Erdherrschaft verlangt ... Nietzsche hörte jenes
Geheiß zur Besinnung auf das Wesen einer planetarischen Herrschaft. Er
folgte dem Ruf auf dem Weg des ihm beschiedenen metaphysischen Den-
kens und stürzte unterwegs. So erscheint es/wenigstens der historischen Be-
trachtung. Vielleicht aber stürzte er nicht, sondern gelangte so weit, wie
sein Denken es konnte. "S2 Der letzte Satz enthält unausgesprochen die
Mahnung, das gegenwärtige Denken müsse Nietzsche einholen und über-
holen, während es doch die Frage ist, ob es seinen Horizont bisher über-
haupt zu Gesicht bekommen hat. Die Antwort läßt sich allerdings ohne ein
kritisches Eingehen auf die weitgreifenden Erörterungen Heideggers nicht
finden, denn diese Nietzsche-Auslegung, in deren „Schatten" sich, wie zu
Recht gesagt worden ist, die Forschung seit eineinhalb Jahrzehnten bewegt,
ohne sich mit diesem „,Monument*" wirklich auseinandergesetzt zu haben,
bedeutet den bisher einzigen groß angelegten Versuch, Nietzsche in jene
„Welt-Perspective" zu rücken, die er selber vorbereitet und auch für das
Verständnis des eigenen Denkens als unerläßlich bezeichnet hat und die
Heidegger mit Jünger das „planetarische Denken" nennt33.
Daß Nietzsche „Schweres und Schwieriges zurückließ", schreibt Hei-
degger an der angeführten Stelle weiter, „sollte uns strenger und anders
noch als bisher daran erinnern, aus welch langer Herkunft die in ihm er-
wachte Frage nach dem Wesen des Nihilismus stammt". Strenger und anders
noch als bisher? Mit dem Hinweis auf die Frage nach dem Wesen des Nihi-
lismus umreißt Heidegger den Horizont seiner Interpretation: die Ge-
schichte der abendländischen Metaphysik, die auch für ihn strukturell nihi-
listisch ist. Aber anders als Nietzsche versteht Heidegger unter Nihilismus
nicht die Entwertung aller bisherigen moralischen Werte, sondern die je-
31
H. Wein, Nietzsche ohne Zarathustra, in: Nietzsche-Studien, Bd. l, 1972, S. 359 ff.
32
M. Heidegger, Zur Seinsfrage, in: ders., Wegmarken, Frankfurt 1967, zit. S. 252 f.
38
Vgl. P. Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, in:
Nietzsche-Studien, Bd. 2, 1973, S. 31 ff. Rösters eigener Beitrag zu der vermißten
Auseinandersetzung ist eher einer Polemik gegen den ,Häretiker' Heidegger als einer
wissenschaftlichen Kritik vergleichbar; vgl. P. Köster, Das Fest des Denkens, Ein
polemisches Motto Heideggers und seine ursprüngliche Bedeutung in Nietzsches Philo-
sophie, in: Nietzsche-Studien, Bd. 4, 1975, S. 227 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 87

weilige metaphysische Auslegung des Seins als eines höchsten Seienden,


durch die aber das Sein selbst „vergessen* und damit gezeigt wurde, daß
die Wahrheit des Seins für die Metaphysik stets ein bloßes Nichts war. Die
Moral, die nach Nietzsches Analyse das Fundament der gesamten abend-
ländischen Philosophie bildet und in ihrer Umkehrung zur Dionysos-Moral
auch sein eigenes Denken trägt, kommt als solche bei Heidegger nicht vor.
Die „Umwerthung* erscheint in der ontologischen Differenz von Sein und
Seiendem lediglich als die letzte und höchste metaphysische Auslegung des
Seienden, die das Sein selbst in der Konvertibilität aller Werte vollends
vernichtet. Der in der abendländischen Tradition bisher als der höchste
Wert alles Seienden ausgegebene „Wert", der platonisch-christliche Gott,
das summum bonum der Metaphysik, wurde nach Heidegger von Nietzsche
zwar für tot erklärt, aber doch nur deshalb, um auf dem Gipfel der absolu-
ten Seinsvergessenheit an seine Stelle den alles bewertenden und tedinisdi-
wissenschaftlich verwertenden »Willen zur Macht" des „Übermenschen" zu
setzen54, Nietzsche erscheint daher bei Heidegger als der V o l l e n d e r
der Metaphysik, nicht aber als der Überwinder ihres Nihilismus, im Gegen-
teil: Seine moralische Metaphysik der Lebenswerte bereitet durch ihr Grund-
prinzip des „Willens zur Macht" die absolute Herrschaft des szientistisdi-
tedinokratisdben Nihilismus überhaupt erst vor, und zwar so, daß dieser
nun seine Maat in der Form der „ewigen Wiederkehr des Gleichen" be-
ständig selber will und in diesem seinen „Willen zum Willen" das „Ge-stell"
der tedinisdb-wissenschaftlidien Weltzivilisation errichtet85: „Die vollendete
Metaphysik, die der Grund der planetarischen Denkweise ist, gibt das
Gerüst für eine vermutlich lange dauernde Ordnung der Erde. Die Ordnung
bedarf der Philosophie nicht mehr, weil sie ihr schon zugrunde liegt."86 Der
Menschentyp, der ihr entspricht, ist der von Nietzsche entworfene „Über-
mensch", der von Heidegger ebenfalls als Vollendung, und nicht wie bei
Nietzsche selber, als die Überwindung des bisherigen Menschen verstanden
wird.
Der Absicherung dieser hermeneutischen Grundkonzeption dienen vor
allem Heideggers eindringliche Erörterungen der Fragen nach Wahrheit und
Kunst, Schönheit und Erkenntnis, die von der Nietzsche-Forschung bis da-
hin weder erkannt worden waren, nodk seitdem kritisch aufgenommen wor-
den sind. Aber auch diese Analysen bewegen sich stets im Horizont einer
Metaphysik der Werte, der ein übermenschlicher Bemadbtigungswille zur
Berechnung alles Seienden zugrunde Hegt: „Schließlich verrät Nietzsches

* Vgl M, Heidegger, Vortrage und Aufsätze, Teil , Pfullingcn 1954, S. 63 ff.


** VgL M, Heidegger, Die Technik und die Kcbrc, Pfullingen 1962,
"ö M. Heidegger, Aufsätze, a~a*O„ S. 75,
88 Friedrich Kabermann

Leidenschaft für die Schaffenden, daß er nur neuzeitlich vom Genius und
vom Genialen und zugleich technisch vom Leistungshaften her denkt. Im
Begriff des Willens zur Macht sind die beiden konstitutiven ,Werte* (die
Wahrheit und die Kunst) nur Umschreibungen für die jTechnik* im wesent-
lichen Sinne der planend-rechnenden Beständigung als Leistung und für
das Schaffen der ,Sdiöpferisdienc, die über das jeweilige Leben hinaus ein
neues Stimulans dem Leben zubringen und den Betrieb der Kultur sicher-
stellen."37 Möglicherweise aber verrät Nietzsches Leidenschaft mehr und
anderes noch. Denn Heidegger interpretiert den „Willen zur Macht" aus-
schließlich über den technokratischen „Willen zum Willen" und muß daher
notwendig zu der scharfen Fixierung des Übermenschen als der „äußersten
rationalitas in der Ermächtigung der animalitas" gelangen: dem „animal
rationale, das sich in der b r u t a l i t a s vollendet"38. Dieser Übermensch
hat aber mit demjenigen, den Zarathustra lehrt, nichts mehr gemeinsam,
sondern trägt die Züge von Spenglers Technokraten und Jüngers „Arbei-
ter", die Heidegger eigentlich im Visier hat89. Vielmehr stellt er das genaue
Gegenteil jenes Übermenschen dar, dessen Schönheit Zarathustra als
„Schatten" und als „aller Dinge Stillstes und Leichtestes", als ein im Stein
schlafendes Bild beschreibt, und von dem er in der Vorrede sagt: „Ich liebe
Den, welcher die Zukünftigen rechtfertigt und die Vergangenen erlöst:
denn er will an den Gegenwärtigen zu Grunde gehen."40
Heideggers große und in sich zwingende Nietzsche-Auslegung, die
selbst noch die Dionysos-Moral entgegen Nietzsches eigener Erfahrung des
amor fati in eine Willensmetaphysik auflöst, läßt sich nicht durch Korrek-
turen in den Einzelheiten, sondern allein durch einen anderen analytischen
Gesamtentwurf widerlegen41. Denn für Heidegger ist die Geschichte nicht in
erster Linie eine Geschichte des Menschen, sondern eine „Geschichte des
S e i n s " . Zu Beginn seiner Nietzsche-Untersuchungen nennt er daher auch
nicht die Wahrheit der Zeit, sondern „die Wahrheit des Seins" als die Be-
dingung dafür, daß das „Eigentliche" in der Nietzsche-Forschung „niemals"
zu leisten sei, „wenn wir nicht im Fragen Nietzsche als das Ende der abend-
ländischen Metaphysik begriffen haben und zu der ganz anderen Frage nach
der Wahrheit des Seins übergegangen sind"42. Der Übergang zur Wahrheit
des Seins aber bedeutet „die Inständigkeit in ihr, aus der sich allein Welt

37
M. Heidegger, Aufsätze, a.a.O., S. 74.
88
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, a.a.O., S. 23; Hervorhebung von Heidegger.
80
O. Spengler, Der Mensch und die Technik, Beitrag zu einer Philosophie des Lebens
(1931); E. Jünger, Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt (1932).
40
KGW VI/ , S. 107 f. u. S.. 12.
41
Vgl R. Okochi, Nietzsches Amor fati..., a.a.O.
42
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 18 f.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 89

und Erde für den Menschen ihr Wesen erstreiten und dieser in solchem
Streit die Entgegnung seines Wesens zum Gott des Seins erfährt"48.
Für Nietzsche allerdings erfährt der Mensch nicht mehr die „Entgeg-
nung" seines Wesens zu einem Gott, sei dies der Gott eines sich lichtend-ver-
bergenden Seins oder auch jener Gott, den die christliche Tradition der phi-
losophischen Theologie zum Objekt ihrer Spekulationen gemacht hat. Alle
diese Götter sind nach seiner Erfahrung tot und in der „Götzendämme-
rung0 der ausgehenden abendländischen Metaphysik hinter dem „Horizont
des Unendlichen* endgültig versunken. „Im Horizont des Unendlichen"
lautet der Titel des Stücks, das Nietzsche im III. Buch der „Fröhlichen
Wissenschaft* der Erzählung vom „tollen Menschen" vorangestellt hat:
„Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! ... Nun,
Schifflein! sieh* dich vor!*44 — Welches Land hat Nietzsche hinter sich
„abgebrochen* ? Jenes, das die Philosophie der Neuzeit aus dem unendlichen
Meer des Seins als die Ego-cogito-Gewißheit des Selbst-Bewußt-Seins aus-
gegrenzt hatte und das noch Hegel mit dem Blick auf Descartes' „selbstän-
dige Philosophie" mit den Worten rühmt: „Hier, können wir sagen, sind
wir zu Hause, und können wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf
der ungestümen See ,Land€ rufen; ., .**4 . — Nicht Nietzsches Pathologie
der geschichtlichen Emanzipation, sondern Hegels Phänomenologie des ab-
soluten Geistes stellt die Vollendung der Metapyhsik in ihre äußerste Mög-
lichkeit dar. Nietzsche dagegen hat das Land der neuzeitlichen Philosophie
längst verlassen und sich auf das offene Meer des unendlichen Seins hinaus-
gewagt, obwohl die Sonne, die schon Platon als ein Bild für Gott, für die
* gebraucht, samt den metaphysischen Trümmern der einst ihr
zugeordneten Sternbilder längst untergegangen ist. Zwar erscheint nun die
Welt täglich »abendlicher*, doch zugleich audi von der Ahnung einer neuen
Morgenröte angestrahlt: Endlich darf das Schiff des Geistes, vom ,>Willen
zur Wahrheit* als der höchsten Tat der schaffenden Vernunft getrieben,
wieder auslaufen, „auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Er-
kennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen
da, vielleicht gab es noA niemals ein so ,offnes Meer*. — "4* Aber mit der
Freiheit ist die Gefahr gewachsen: »Wehe, wenn das Land-Heimweh dich
befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, — und es giebt kein
47
fLand' mehr!"

«* Ebda., Bd, 2, S. 29.


" KGW V/2, S. 158.
45
WWt XVt S. 328. Den Hinweis auf diese Stelle entnehme idb M Heidegger» Hegel
und die Griechen, in: der*-, Wegmarken, *.* , S. 255—273.
« KGW V/2f S, 256.
« Ebda., S, 15$.
90 Friedrich K aber mann

Nietzsche hat wie kein anderer Denker nidit nur über die transzenden-
talen Bedingungen seiner Philosophie, sondern auch über die methodischen
Voraussetzungen, die sprachlichen Stilmittel und Ausdrucksformen ständig
reflektiert und dabei die einzelnen Bildmotive hinsichtlich ihres sachlichen
Aussagegehalts genau ausgewählt und ineinanderkomponiert. Ihm vom
Standort der abstrakten Begrifflichkeit moderner Wissenschaft die Ver-
wendung sprachlich „unangemessener Bilder * vorzuwerfen48, zeugt von der
schwindenden hermeneutischen Reflexionskraft heutigen Denkens. Da
Nietzsche die Metaphysik hinter sich gelassen hat, vermag er auch nicht
mehr ihre Sprache zu sprechen, die heute noch in der starren Terminologie
der Wissenschaft und ihren akkumulierenden Blindbegriffen fortlebt49.
„Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer?" heißt
es am Schluß der „Morgenröthe", dem einzigen Buche, das, wie Nietzsche in
„Ecce homo" sagt, mit einem „Oder?" endet50. „Warum doch gerade in
dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r -
g e g a n g e n sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass
auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , e i n I n d i e n z u e r r e i -
c h e n h o f f t e n , — dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit
zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? — "5* Die Fahrt nach den neuen
Meeren des Übermenschen kann* weder rückgängig gemacht noch abgebro-
chen werden, denn die Geschichte ist irreversibel. Nietzsche vermag kein
neues transzendentes Ziel zu nennen, das h i n t e r dem Horizont der un-
endlichen Möglichkeiten „ u n s e r e s Meeres" läge, und er will es auch
nicht. Was er allein will, ist, daß die Überfahrt zu den fernen Meeren der
Zukunft trotzdem gewagt wird — das Land der versunkenen Metaphysik
im Rücken und vorbei auch an jenem Ort, „wo zwischen Meeren die Insel
wuchs" und Zarathustra sich unter schwarzem Himmel, seine Höhenfeuer
anzündet —: „Feuerzeichen für verschlagne Schiffer ..."
Für Nietzsche ist der „alte Gott" unwiderruflich tot und kann durch
keine Reflexion auf eine „metaphysische Kausalität", die über die Resti-
tuierung der „Analogie des Seinsbegriffs" hinter Kant zurückfällt, wieder-
belebt werden52. Auf diesen geschichtlichen Sachverhalt zielt Karl Löwiths
Kritik, wenn er zu Heidegger anmerkt, von Nietzsche aus gesehen sei au.ch
der „Gott des Seins" samt seiner sich geschickhaft lichtenden und verber-
48
P. Köster, Der sterbliche Gott, Nietzsches Entwurf übermenschlicher Größe, Meisen-
heim am Glan 1972, S. 126.
49
Vgl. H. Röttges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, Untersuchungen zum
Problem einer humanistischen Ethik, Berlin 1972.
50
KGW VI/3, S. 328.
51
KGW V/l, S. 335. . - ·
52
Q. Huonder, Die Gottesbeweise, Geschichte und Schicksal, Stuttgart 1968, S. 175. Zur
Sache selbst vgl. P. Köster, Der sterbliche Gott, a.a.O., S. 69 ff.
Fragezeichen für solche» die Antwort haben 91

genden Wahrheit noch immer eine „,Hinter - Welt"* oder „Meta - Physik",
weil es ihm nicht um »Sein und Zeit*, sondern um Leben und Ewigkeit
gegangen sei58. Aber auch Löwith, der einer der wenigen ist, die sich mit
der Deutung von Heidegger kritisch auseinandergesetzt haben, stellt den
„philosophischen Schriftsteller Nietzsche" nicht in den Dimensionen seines
eigenen Denkens dar, sondern legt ihn im Horizont einer immer seienden
und ewig mit sich selber identischen im Sinne der hellenistischen Stoa
aus, die von der geschichtlichen Evolution der Welt nichts weiß. Unter die-
ser onto-kosmologisdien Perspektive erscheint Nietzsche als ein „Liebhaber
der ,Weisheitc*, der „seine und unsere Zeit in einem weitesten Horizont sah
und auf ein Immerseiendes oder Ewiges aus war"54. Die moralische Struk-
tur von Nietzsches Denken verschwindet bei Löwith zwar nicht in einer
ontologischen Differenz — der „Zwiefalt* von Sein und Seiendem —, da-
für aber im Zwiespalt von Weltgeschichte und Heilsgeschehen, so daß der
Dreh- und Angelpunkt von Nietzsches Moralkritik, die Erzählung vom
»tollen Menschen", als bloße „grotesk-pathetische Parabel", und das aus ihr
resultierende „Zukunfts-Evangelium" des Zarathustra lediglich als „anti-
christliche Bergpredigt" erscheint55. Durch die Apostrophierung Nietzsches
als eines „Liebhabers der Ewigkeit" und der „,Weisheit*" vermag Löwith
aber nicht die zugleich hervorgehobene „Sucht nach der Z u k u n f t und
de(n) W i 11 e (n), sie zu schaffen", widerspruchsfrei zu erklären, so daß
das „paradoxe Doppelgesicht" seiner Philosophie weniger auf eine „Zwei-
deutigkeit" in Nietzsches Denken als in Löwiths Interpretation hinweist56.
„Kein Grieche dachte so ausschließlich im Horizont der Zukunft oder wollte
sie gar herbeiführen . * . All dies Wollen (und) Zukunft-Schaffen", schreibt
Löwith, „stammt aus der jüdisch-christlichen Tradition, aus dem Glauben,
daß Mensch und Welt um Gottes Willen geschaffen sind, daß überhaupt
Gott und Mensch wesentlich Wille sind. Nichts ist in Nietzsches Philoso-
phie so aufdringlich wie die ständige Betonung unseres schöpferischen We-
sens, schöpferisch durch den Willensakt, wie bei dem Gott des Alten Testa-
ments"57
Löwith stößt mit diesen Bemerkungen ebenso wie Heidegger auf den
thematischen Zusammenhang von Wille und Schaffen, Technik und Kunst»
Wahrheit und Kritik, Erkenntnis und Moral, der den Horizont von Nietz-

w
K. Lowhfa, Aufsitze und Vortrage, 1950—1970t Stuttgart 19711 S* 99.
M
K, Lowhh, Gctaftunelte Abhandlungen, Zur Kritik der gcsdiiditlichcn Existenz, Stutt-
gart 1963, S, 127—151.
u
K. Lo?ritht Gort, McnsA und Welt in der Metaphysik von Dcscaru* bis; zu Nicrzsdic,
Göttingcn 1967, S. 156 ff.
84
IC Löwith, Gesammelte Abhandlungen, a-a.O.; Hervorhebungen von Löwith,
» Ebda., S. 138 f.
92 Friedrich Kabcrmann

sches „historischer Philosophie" umreißt, jedoch in der historischen Philo-


sophie über Nietzsche sonst nicht entdeckt worden ist. Während Löwith mit
dem Hinweis, daß sich Nietzsches Denken als »durch und durch christlich
und antichristlich, protestierend und protestantisch, wollend und modern"
erweise, über die gegebenen Andeutungen nicht hinausgeht, analysiert
Heidegger den Sachverhalt ausführlich, aber so, daß Nietzsches eigentlicher
und einziger Denkbereich, die menschlich - allzumenschliche Geschichte, mit
ihren wirklichen Zusammenhängen von Kritik und Krise, Moral und Eman-
zipation58 in den Lichtungen des Seins im Dunkeln bleibt50. Deshalb gehört
für Heidegger die umfangreiche, Voltaire gewidmete Schrift „Menschliches,
Allzumenschliches", mit der Nietzsche nicht nur die Trennung von Wag-
ner, sondern auch von den meisten anderen'Freunden vollzieht, nicht zu
dessen „eigentlichem ,Werkc", das er gewaltsam auf die Jahre 1881 bis
1889 eingrenzt60. In den 34 Stücken des ersten Hauptstücks mit dem Titel
„Von den ersten und letzten Dingen" dieses Buches „für freie Geister" ent-
wickelt Nietzsche aber gerade die Grundzüge seiner „historischen Philoso-
phie": die Kritik der Metaphysik, der Wissenschaft, der Moral und der
Politik, und zwar am Leitband der alles tragenden Grundfrage: Wie kann
„die Erde als Ganzes ökonomisch" verwaltet werden? Angesichts der Tat-
sache, daß noch hundert Jahre nach Nietzsche kaum diese Frage verstanden,
geschweige denn eine Antwort gefunden worden ist, zeigt Nietzsches Hin-
weis, daß „die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspan-
nende Ziele stellen" müßten, bereits die Dimension, in der sie gestellt und.
beantwortet werden muß. Deshalb stellt er nicht nur die Forderung nach
einer alle wichtigen politischen Institutionen der Erde umfassenden „Ge-
samtregierung" auf, sondern nennt mit erstaunlichem Scharfblick zugleich
auch die beiden Grundbedingungen ihrer Möglichkeit: die notwendige Kon-
stituierung einer umfassenden pluralistischen Ethik und pluriversalen
„Welt - Moral", die der „Polyphonie der Bestrebungen", der gesteigerten
psychischen und sozialen Mobilität gerecht wird, und zum anderen die Ent-
wicklung einer globalen ökologischen Wissenschaft, die „als wissenschaft-
licher Maasstab für ökumenische Ziele" über „eine alle bisherigen Grade
übersteigende K e n n t n i s s d e r B e d i n g u n g e n d e r C u l t u r " "

58
KGW IV/2, S. 19 ff.
69
Vgl. R. Koselleck, Kritik und Krise, Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen
Welt, Frankfurt 1973 (Neuauflage von 1959). Koselleck analysiert die Dialektik von
politischer Aufklärung und moralischer Geschichtsphilosophie bis an die Sdiwelle der
Französischen Revolution und stellt damit den historischen Hintergrund dar für den
Ausklang der 'Metaphysik in der bürgerlichen Geschichtsphilosophie.
60
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. l, a.a.O., S. 18. Zur Reaktion der Freunde auf MA
vgl. KGW, IV/4, S. 44 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 93

verfügen muß: »Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des
nächsten Jahrhunderts. *ei
Heidegger versperrt sich dadurch, daß er als einzige „Leitfrage" der
Philosophie allein die Frage: „Was ist das Seiende?" zuläßt, selber den Zu-
gang zu Nietzsches historischer Philosophie der „unabgeschlossenen Hori-
zonte"62. Denn für Nietzsches Denken ist nicht das Verhältnis von Sein
und Seiendem, sondern die Frage: was ist Wahrheit? entscheidend, die die
transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Er-
kenntnis und damit nach der Konstitution der Vernunft einschließt. Er steht
damit zwar in der Tradition der neuzeitlichen Philosophie, doch radikali-
siert er die transzendentale Frage Kants nicht nur, sondern sprengt ihren
kritischen Rahmen, weil er sie nicht mehr erkenntnis t h e o r e t i s c h ,
d. h. metaphysisch, sondern praktisch-politisch, im Umkreis der wirklichen
Geschichte stellt. Der Horizont seines Denkens kann daher nidit mehr
durch den platonisch-christlichen Gott der Metaphysik determiniert sein,
den noch Kant in der berühmten Formulierung vom „bestirnten Himmel
über mir" und dem „moralischen Gesetz in mir" zitiert (KdpV, A289),
sondern muß von der „großen Politik" bestimmt werden, die sich aus dem
„hohen Recht" der Menschheit „auf Zukunft" legitimiert und eine Gestalt
der Vernunft notwendig macht, die die Wahrheit als höchste Tat geschicht-
lich erst schafft. Audi für Nietzsdie ist die Freiheit die Bedingung dafür,
daß die Vernunft wissen kann, was Wahrheit ist. Die Frage, woher diese
Freiheit stammt, weist in die R i c h t u n g des transzendentalen Ortes,
ohne ihn selber zu fixieren. Am 2. Mai 1884 schreibt Nietzsdie aus Venedig
an Overbeck, er wolle seine neu »eroberte Situation gut nutzen und aus-
nutzen: ich bin jetzt, mit großer Wahrscheinlichkeit, der u n a b h ä n g i g -
ste M a n n in E u r o p a , Meine Ziele und Aufgaben sind umfäng-
licher als die irgendeines ändern — und das, was idi große Politik nenne,
gibt zum mindesten einen g u t e n Standort und Vogelschaublick ab für
die gegenwärtigen Dinge4*w.
Wie aber steht es mit der Wahrheit der gegenwärtigen Dinge? „Das
Neue an unserer jetzigen Stellung zur Philosphie ist", so lautet eine Notiz
aus dem Frühjahr 1880, „eine Oberzeugung, die nodi kein Zeitalter hatte:
d a ß w i r d i e W a h r h e i t n i c h t h a b e n . Alle früheren Menschen
»hatten die Wahrheit*: selbst die Skeptiker***. Mit der Wahrheit steht es
also von nun an so, daß sie gerade nidit steht, sondern geht; denn aus der
ewigen Wahrheit der Metaphysik ist die vergängliche Wahrheit der Ge-
i:
KGW l V/2, S- 40 ff.
c
* KGW VHI/i. 2 [162] S, 142.
u
Briefe, iua.CX, S. 539.
M KG W V/I. 3 [19Jf S,
94 Friedrich Kabermann

schichte geworden. Die Wahrheit nicht mehr zu ,haben* bedeutet demnach,


daß sie künftig weder als Subjekt philosophisch-theologischer Spekulation,
noch auch als zum „Kommunikationsmedium" mediatisiertes Objekt einer
pragmatisch-operativen Wissenschaft gelten kann65. Weil die neue ge-
schichtliche Vernunft die metaphysische Unschuld der Vorstellungen von an
sich seienden Strukturen und ewig gültigen Gesetzen der Logik verloren
hat, muß sie künftig in permanenter Selbstreflexion ihre eigenen perspek-
tivischen Bedingungen stets mitreflektieren, wenn sie nicht in frühere Zu-
stände der Unaufgeklärtheit zurückfallen will. Für Nietzsches „Wahrhaf-
tigkeit" und „Rechtschaffenheit", die, wie es im Vorwort zum „Antichri-
sten" heißt, „in geistigen Dingen bis zur Härte" geht, stellt daher die Pole-
mik gegen den Apostel Paulus in dieser letzten Schrift weniger eine theolo-
gische als vielmehr eine moralische Angelegenheit dar. Der Satz: „deus
qualem Paulus creavit, dei negatio" bedeutet in erster Linie nicht eine
„antichristliche" Glaubensformel, sondern den kritischen Angriff eines
Philosophen, der die überlieferte Vorstellung in Frage stellt, es könne eine
Theo-1 o g i e, eine W i s s e n s c h a f t von Gott geben, die in denselben
logischen Denk- und Aussageformen von Gott redet wie über die Gegen-
stände der Physik und der alltäglichen Empirie überhaupt. Deshalb geht
Nietzsches lateinischer Formel der zumeist unbedachte Satz voraus: „Wenn
man uns diesen Gott der Christen b e w i e s e , wir würden ihn noch we-
niger zu glauben wissen." Denn: Wie kann man etwas davon w i s s e n ,
woran man glaubt, ohne daran zu g l a u b e n , was man weiß?
Da für Nietzsche bei Paulus die Verschmelzung von Glauben und
Wissen, der „Weisheit Gottes" mit der „Weisheit der Welt", beginnt, kann
die Wissenschaft nach dem Tode dieses Gottes „billiger Weise" n u r noch
als „,Weisheit der Welt'" definiert werden; denn „der ,Glaubec als Impera-
tiv ist das V e t o gegen die Wissenschaft, — .. ,"66 — Die Wahrheit der
„gegenwärtigen Dinge" besteht für Nietzsche mithin in der Erkenntnis,
daß die Entwicklung der Geschichte an einen Punkt gelangt ist, an dem sich
die Wahrheit des Wissens mit der Wahrheit des Glaubens nicht mehr ver-
einen läßt, weil die Wissenschaft angesichts der w e i t geschichtlichen Auf-
gaben der Zukunft ihre e i g e n e moralische Legitimation suchen muß. Die
Frage, ob Nietzsche dadurch, daß er die metaphysische Synthese von Wis-
sen und Glauben endgültig zerbrochen hat, möglicherweise nicht nur der
Wahrheit des Wissens, sondern auch der Wahrheit des Glaubens einen
neuen Freiheitsraum eröffnet hat, bewegt sich bereits selber nicht mehr im
65
J. Habermas 7 N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft odep Sozialtechnologie -^ Was
leistet die Systemforschung?, Frankfurt 1971, S. 342 ff.
68
KGW VI/3, S. 223.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 95

Denkbereich der Metaphysik, sondern im Horizont der Wahrheit der Ge-


schichte. Nietzsche deutet in »Jenseits von Gut und Böse" die antichristliche
Struktur der metaphysischen Moral im Aphorismus 164 an: „Jesus sagte zu
seinen Juden: ,das Gesetz war für Knechte, — liebt Gott, wie ich ihn liebe,
als sein Sohn! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an!c — Und zuvor im
Aphorismus 153 heißt es: „Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer
jenseits von Gut und Böse."*7
IV
„Wer vom ,Tode Gottes* spricht", schreibt Georg Picht in seiner Inter-
pretation der Erzählung vom „tollen Menschen", „ohne die ungeheure Fra-
ge nach dem Verhältnis von Geschichte und Wahrheit vor Augen zu haben,
darf sich auf Nietzsche nicht berufen"08. Was ist das Ungeheure an dieser
Frage? Zunächst dies, daß Nietzsche der erste ist, der sie nach zweieinhalb-
tausend Jahren abendländischen Denkens überhaupt zu stellen wagt, und
zwar so radikal, daß er an ihr zerbricht; und sodann, daß sie nach Nietzsche
wieder vergessen und über Nietzsche selber sogar in einer Weise geschrieben
und gesprochen wird, als sei sie nie von ihm als die entscheidende Frage sei-
nes Denkens gestellt worden. Zur Ungeheuerlichkeit dieser Frage gehört
deshalb also auch, daß sie nach Nietzsche von einer Wissenschaft, die Auf-
klärung im geschichtlichen Regreß betreibt, nicht wieder gestellt worden ist,
so daß gerade durch diese Tatsache Nietzsches pathologische Analyse des
wissenschaftlichen Zeitgeistes als der „Atavismus eines älteren Ideals" seine
präzise Bestätigung findet0*. Denn von den sich häufig gegenseitig paraly-
sierenden Ergebnissen der Detailforschung abgesehen ist sich die wissen-
sdhaftlidie und publizistische Nietzsche-Literatur darüber einig, daß dieser
„Verkünder des kommenden Menschen" selber noch „in der Vergangenheit
lebte" und dachte, und es lediglich verstand, „sich als einen Propheten aus-
zugeben, in dessen Händen das Schicksal kommender Jahrhunderte läge
— —"70 — sei dies nun nach Heidegger im Sinne einer „Vollendung der
Metaphysik" oder einer „Dialektik der Aufklärung"71, sei es im Verständ-
nis des geschichtlichen „Endes der Emanzipation" überhaupt72 oder als je-
nes „Nachspiel" der neuzeitlichen Metaphysik, das Lowith unter Nietzsches
c7
KGW VI/2, S. 99 u. S- 101. Zum sachlichen Zusammenhang vgL G. Pidjt, Der Gott
der PbUo:opben* m ders*, Wahrheit.*,, a^uOM S. 229 ff.
** G. Pidht, Der Tod Goues, in: Naturwissenschaft und Theologie, Texte und Kommen-
tare, hrsg. von H. ÄidicHn u. G. Liedke, Neukirthen-Vtyn 1974, S. 145 ff.
c
* KGW VT/2, S. 99.
. Jen*, FfiedriJb Nictfcsdbiir, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 58 vom 9. März
1974,
?l
HL Rattges, juaXX
** G. Robrznoter, Nicmdbe und das Ende der Emanzipation, Frciburg 1971«
96 Friedrich Kabermann

„Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" versteht. Stets herrscht grund-


sätzliche Einigkeit über den Endcharakter seines Denkens, dessen Intentio-
nen demnach nur in vorsichtiger Revision für die Philosophie fruchtbar ge-
macht werden können — sei es, daß eine derartig revisionistische Vorsicht
in der Rücksicht auf die metaphysischen Positionen einer Hegeischen Dialek-
tik der Identität der Identität (H. RÖttges), oder eines neuscholastisch ge-
ordneten Kosmos des Mittelalters (P. Köster) besteht, sei es, daß sie sich
auf eine immer seiende der Stoa (Löwith) oder eine sich lichtend-ver-
bergende aus der Frühe des griechischen Denkens (Heidegger) beruft.
Die wissenschaftliche Struktur dieser verschiedenen an und durch
Nietzsche vollzogenen Umkehrungen und Rüdkwendungen ist stets die
gleiche und offenbart einen merkwürdigen Sachverhalt, der sich in dieser
Weise bei der Rezeption anderer Denker nicht findet: Mit Hilfe variieren-
der „einheitsstiftender Grundgedanken"7.3, die Nietzsches eigene Leitper-
spektiven, Denkmotive und Grundbegriffe jeweils unterschiedlich kombi-
nieren, zeichnet die Wissenschaft ein Bild, welches nicht Nietzsche, sondern
sie selbst zeigt — ein Tatbestand, der mit Hinweisen auf den „hermeneu-
tischen Zirkel" nicht erklärt werden kann. Vielmehr fungiert Nietzsches
Philosophie als Spiegel, der das jeweilige Selbstverständnis der Forschung
reflektiert und die Reflexe als die wissenschaftlichen Resultate aufweist.
Aber damit ist der komplexe Sachverhalt der Spiegelungen und Rückspie-
gelungen nicht erschöpft. Denn die Wissenschaft erblickt im Spiegel von
Nietzsches Philosophie nicht nur ihr eigenes Spiegelbild, sondern auch den.
theoretischen Hintergrund, vor dem es sich abhebt und dem es zugleich
zugeordnet bleibt: die versunkene Epoche der abendländischen Metaphysik.
Ihr geschichtlicher Fluchtpunkt liegt zwar in Wirklichkeit im Rücken des
wissenschaftlichen Selbstbewußtseins, doch scheint er im Spiegelbild vor ihm
in der Zukunft zu liegen. An ihr Spiegelbild fixiert hält die Wissenschaft
die nach vorn gespiegelte Vergangenheit für die Wahrheit der Geschichte,
weil sie weder die psychischen Medianismen erkennt, die die Spiegelper-
spektiven produzieren, noch überhaupt von dem Vorgang der mehrfachen
Pro- und Rejektionen etwas weiß, innerhalb dessen sie Subjekt und Objekt
zugleich ist. Denn anders könnte sich Nietzsches Philosophie unter ihren
Händen nicht zu einem bloßen Spiegel verwandeln. Zum wissenschaftlichen
Reflektor umfunktioniert, verliert sie aber die Transparenz und wird auf
ihrer der Zukunft zugekehrten Seite blind, weil sie verdecken s o l l , was
sie gerade zeigen will: den offenen Ausblick auf die Wahrheit der Ge-
schichte.
73
K. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleidien, Stuttgart
1956, S. 31 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 97

Die fcahlreichen Stellen, an denen Nietzsche klagt, daß er nicht ver-


standen würde, lesen sich vor dem Hintergrund seiner Kritik an der neu-
rotischen Struktur der modernen Wissenschaft wie eine Vorwegnahme
dessen, was später die Nietzsche-Rezeption in ihrer Gesamttendenz bestä-
tigte und selber repräsentierte: die Restaurierung der Metaphysik, die
Nietzsche um der Wahrheit der Geschichte willen destruiert hatte. Jener
Zustand, den Nietzsches Pathologie geschichtlicher Emanzipation als neuro-
tische Grund Verfassung der Wissenschaft analysiert und der auf der Ebene
der Nietzsche-Literatur als Selbstverblendung der Wissensdiaft durch die
Fixierung auf das eigene metaphysische Spiegelbild erscheint, ist heute an-
gesichts der globalen Kette ökologischer Krisen noch schärfer als die Folge
des circulus vitiosus aus allgemeiner Frustration und Aggressivität erkenn-
bar, den die technisch-wissenschaftliche Zivilisation selber reproduziert74.
Nietzsche hat den Zusammenhang von Angst, Frustration und Aggressivi-
tät, dem die europäische Zivilisation ihre geschichtliche Dynamik und zu-
gleich ihre Instabilität verdankt, nicht nur erkannt, sondern zur psycholo-
gischen Grundlage seiner gesamten Kritik an der Metaphysik gemacht.
„Furcht nämlich", heißt es im „Zarathustra", »— das ist des Menschen Erb-
und Grundgefühl; aus der Furcht erklärt sich Jegliches, Erbsünde und Erb-
tugend . . „ Solche lange alte Furcht, endlich fein geworden, geistlich, geistig
— heute, dünkt mich, heisst sie: W i s s e n s c h a f t . —"75 Worin besteht
jene Furcht, die heute Wissenschaft heißt? In der Angst vor der Wahrheit
der Zeit und ihrem „»Es war**, aus der der „Geist der Rache" entspringt.
Denn daß der Wille »die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde*,
das ist des „Willens Widerwille gegen die Zeit*70.
Wie sieht Nietzsches Bild — sofern erkennbar — im Spiegel jener
Wissensdiaft aus, die den Geist der Rache noch nicht „verlernt* hat? Daß
sie den Entwurf einer Vernunft, die die Wahrheit s c h a f f e n will und
deshalb die „Versöhnung mit der Zeit* lehrt77, nicht verstehen kann, liegt
in ihr selbst begründet. Nietzsches Philosophie erscheint ihr daher als bloße
„Reduktion der geistigen Gebilde auf den Willen zur Macht", der sich als
purer «Lebenswille* lediglich selber will78; oder aber als ominöser „Abso-
lutismus der Kunst*7*, auch als philosophische Schriftstellerei, deren „Mu-
T4
VgL Zum Problem A. M. K. Müller, Die präparierte Zeh, Der Mcmdi in der Krise
seiner eigenen Zielsetzungen, Stuttgart 1972,
~ KGWVI/l,S,372f,
Ebd-,S. 176 f.
Ebda.
« H, BartH, Wahrheit und Ideologie. Frankfurt 1974 (Neuauflage von 1961), S- 267 ff.
H- Blumenberg» Säkularisierung und Selbstbehauptung (Erweiterte und überarbeitete
Neuausgdbc von »Di«? Legitimität der Neur,ejt*f erster und zweiter Teil), Frankfurt
1974,5. ISSif.
98 Friedrich Kaberraann

sikverfallenheit" den Mangel an Psychologie und die „Verachtung der ge-


samten Geschichte der Philosophie" erklären hilft80; aber ebenso auch als
dessen Gegenteil: als ein Denken, das „die Geschichte noch hypostasiert, als
wäre sie der liebe Gott"81, bzw. das in seiner undialektischen Struktur den
modernen Evolutionsgedanken nicht begreift82 — und schließlich, in summa,
„als das Fazit eines verfehlten, in seiner — man darf das Wort hier benut-
zen — metaphysischen Achse verrückten Lebens, trostlos und traurig"83.
Nietzsche schreibt im Anschluß an die bereits erwähnten Sätze aus
dem Vorwort zum „Antichrist": „Erst das Übermorgen gehört mir.
Einige werden posthum geboren." Georg Picht, der die beiden Satze zu
Beginn seiner 1968 erschienenen Abhandlung zum „Problem der ,Genealo-
gie der Moral* bei Nietzsche"84 zitiert, fügt 'mit dem Hinweis auf die uner-
meßliche und vielfältige Wirkung Nietzsches hinzu: „Aber seine Philoso-
phie ist unbekannt." Der einzige große Versuch, sein Denken in den eigenen
Dimensionen darzustellen, das Werk von Heidegger, habe, so heißt es zur
Erläuterung des Satzes, die von ihm freigelegte Bahn wieder vermauert,
weil es die Umkehr der Metaphysik als ihre Vollendung interpretiere.
Nietzsche selbst hat seine Philosophie bereits in einer frühen Nachlaß-
Notiz aus dem Jahre 1870/71 als „umgedrehten", nicht aber als v o l l -
e n d e t e n Platonismus bezeichnet85, der in seiner metaphysischen Achse
irgendwie „verrückt" sei — ein Gedanke, der in Annäherung auch bei Hei-
degger und Löwith auftaucht86. Daß es sich bei dieser Frage nicht um einen
Streit um Worte, sondern um den sachlichen Kern des Verständnisses von
Nietzsche handelt, zeigen Pichts Bemerkungen zum „Übermenschen". Picht
ist der einzige, der den emanzipatorischen Grundzug in Nietzsches Denken
erkannt hat, weil er die bereits wieder vergessene Frage nach dem Ver-
hältnis von Wahrheit und Geschichte erneut aufgegriffen und in Richtung
auf die Analyse der asymmetrischen Struktur der Zeit weitergeführt hat87.
„Der Begriff ,Ubermensdi"c, schreibt Picht, „wird erst verständlich, wenn
80
E. F. Podadi, Ein Blick..., a.a.O., S. 10 ff.
81
A. Bost, Das historische Ereignis, in: Geschichte — Ereignis und Erzählung, hrsg. von
R. Koselleck u. W.-D. Stempel, München 1973, S. 536 ff.
82
H. Röttges, a.a.O., S. 77, Anm. 6.
83
E. F. Podadi, Ein Blick..., a.a.O., S. 173.
84
G. Picht, Wahrheit..., a.a.O., S. 252 ff.
85
KTA, X, n. 79.
86
M. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot" in: ders., Holzwege, Frankfurt 41963,
S. 193 ff., Zit. S. 246, K. Löwith, Gesammelte Abhandlungen, a.a.O., S. 142.
87
Vgl. bes.:. Die Erfahrung der Geschichte, Frankfurt 1958 und: Die Zeit und die
Modalitäten, in: Quanten und Felder, Physikalische und philosophische Betrachtungen
zum 70. Geburtstag von W. Heisenberg, hrsg. von H. P. Dürr, Braunschweig 1971,
S. 67 ff.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 99

man begreift, daß er den Begriff der ,Trans-szendenzc paraphrasiert und in


den Denkbereich der Historie transponiert. Dabei wird die Transzendenz
um ihre im Menschen liegende Achse gedreht. Der Überstieg erfolgt nun
nicht in die Ewigkeit, sondern in die Zukunft/*88
Nicht also eine „metaphysische Achse" wird in und durch Nietzsches
Denken „verrückt*, sondern die Achse der Transzendenz selbst wird von
Nietzsche so „umgedreht*, daß sie nicht mehr nach „oben" auf ein zeitlos
göttliches Sein, sondern nach „vorne" in die geschichtliche Zukunft des
Menschen weist. Die vertikale Transzendenz der Metaphysik ist damit
zur horizontalen Transzendenz der Geschichte geworden, deren „unabge-
schlossene Horizonte" zur Zukunft hin offen sincL Daher kann sich auch das
Denken, das diese ungeheure Erfahrung zur Sprache zu bringen versucht,
nicht mehr in den Begriffssystemen der Metaphysik bewegen und muß neue
methodische Perspektiven und sprachliche Ausdrucksformen entwickeln.
„Ich bin nicht bornirt genug zu einem System — und nicht einmal zu
m e i n e m System ...", lautet eine Nachlaß-Notiz vom Herbst 188780. —
Was ist unter der Wahrheit der Geschichte selber zu verstehen? Da sie für
Nietzsche weder Subjekt noch Objekt ist, aber auch nicht ein Subjekt h a t ,
erscheint sie der neuen produktiven Vernunft als der H o r i z o n t , der
den gesamten Bereich umgrenzt, in welchem menschliches Wissen und Han-
deln möglich sind. Dieser Bereich ist die Geschichte, die durch die Zeit, nicht
aber durch eine metaphysisch vorgestellte Ewigkeit umgrenzt ist.
Das, was Nietzsche unter Ewigkeit versteht, ist das Resultat des
schwierigen Unterfangens, Zeit und Ewigkeit nicht mehr aus dem „Geist
der Rache", sondern dem „Geist der Versöhnung" zu denken. Dies aber be-
deutet, daß der Wille, der die Wahrheit schafft, indem er den Horizont sei-
ner geschichtlichen Praxis selber entwirft, sich mit der Zeit und ihrem „,Es
war** selber aussöhnen muß* „Alles ,Es warc ist ein Bruchstück, ein Räthsel,
ein grauser Zufall", heißt es im „Zarathustra", „— bis der schaffende
Wille dazu sagt: ,aber so wollte ich es!* — Bis der schaffende Wille dazu
sagt: ,Aber so will ich es! So werde icb's wollen!*"*0 Er kann also die Ver-
gänglichkeit der Zeit nur bejahen, wenn er sich mit der Differenz ihrer
Modi versöhnt. Den höchsten Augenblick der Bejahung nennt Nietzsche den
„Mitiags-Abgrund* — Abgrund deshalb, weil sich dieser Augenblick, in
dem die Schatten am kürzesten sind und die Welt „vollkommen ward", we-
der denken noch dichten, sondern allein erleben laßt. Das Erlebnis selbst
aber läßt unauslöschlich die Sehnsucht nach der siebenten letzten Einsam-

** G. Fiat, Wahrheit.. ^ a^XX, S. 261.


** KGW VHI/2,10 {146], S- 204.
*> KGWVI/1,5. 177.
100 Friedrich Kabermann

keit zurück; „— wann, Brunnen der Ewigkeit! du heiterer schauerlicher


Mittags-Abrund! wann trinkst du meine Seele in dich zurück?"01
Diese Erfahrung der vollkommenen Einheit mit der Welt gehört nicht
in den Bereich irrationaler Emotionen oder an die Peripherie von Nietzsches
Philosophie, sondern bedeutet ihr innerstes Zentrum, nämlich den Versuch,
die Transzendenz als E r l e b n i s zur Sprache zu bringen und nicht nur
als den transzendentalen Ort des Denkens zu beschreiben. Daß bei diesem
Versuch die Sonne als das Symbol der Transzendenz erscheint, ist kein Zu-
fall. Picht sagt am Schluß seiner Abhandlung, der oft erwähnte Dreistufen-
gang von Nietzsches Philosophie sei offensichtlich, wenn auch wohl unbe-
wußt, nach dem Vorbild von Platons Höhlengleichnis entworfen. Die For-
schung habe dies allerdings nicht bemerkt/ obwohl die Bedeutung dieser
Tatsache „für die Ortsbestimmung von Nietzsches Philosophie und für das
gesamte Verständnis seines Werkes schwer abzuschätzende Konsequenzen"
habe92. Der „tolle Mensch" verkündet nämlich nicht, daß es keine Trans-
zendenz gibt, sondern daß sie sich b e w e g t ; im Bilde Platons und Nietz-
sches gesprochen: daß die Sonne nicht als Fix-Stern feststeht, sondern am
Ende der europäisch-metaphysischen Geschichtsepoche hinter dem Horizont
des unendlichen Seins untergegangen ist. Ebenso wenig wie der Untergang
die Sonne selbst widerlegt, widerlegt die Erfahrung der Geschichtlichkeit
die Transzendenz, sondern nur die fixe Idee, die die platonisdi-diristliche
Metaphysik von ihr hätte. Da Nietzsche den Platonismus aber umdreht,
bedeutet das Erlebnis des „Mittags" einen Augen-blidk, der zwar nidit aus
der Zeit herausfällt, jedoch in der Zeit nicht g e m e s s e n werden kann.
Die kürzesten Schatten, die die Sonne mittags wirft, sind daher bei Nietz-
sche nicht wie bei Platon als die wirklichen Dinge der empirischen Welt,
sondern umgekehrt als die platonischen Ideen der metaphysischen Hinter-
und Über-Welt zu verstehen. — Erst der Untergang der Sonne ermöglicht
eine neue „Morgenröthe", der „Tod" der theistisdien Gpttesvorstellungen
neue Glaubensformen und die Wiederentdeckung ihrer alten, metaphysisch
verdeckten eschatologischen Inhalte. Die Zeiten des geschichtlichen Über-
gangs nennt Nietzsche „Dunkel-Zeiten": „— ,Dunkel-Zeiten* nennt man
solche in Norwegen, da die Sonrie den ganzen Tag unter dem Horizonte
bleibt: die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. — Ein schönes
Gleidmiss für alle Denker, welchen die Sonne der Mensdiheits-Zukunft
zeitweilig verschwunden ist."93
„Mittags-Abgrund" ist Nietzsches Chiffre für das ekstatische Erlebnis
des Einbruchs der Transzendenz in die empirische Welt, das den Menschen
91
Ebda., S. 341. '
92
A.a.O., S. 275 f.
93
KGW IV/3, S. 276.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 101

von Grund auf verwandelt. Das Resultat dieser Verwandlung, die neue
Lebenshaltung des amor fati, versucht Nietzsche mit dem Begriff der Dio-
nysos-Moral zu fassen, die den Wesenskern des Übermenschen ausmacht.
Das E r l e b n i s der Transzendenz, das in einer gesduchtlich-evolutiv
strukturierten Welt nicht mehr auf die Vergangenheit bezogen, sondern nur
aus der Zukunft erfahren werden kann, bewirkt die Offenheit für die
Zukunft; denn es verändert den Menschen nicht nur in seiner moralischen
Haltung, sondern auch in seinem Denken und Schaffen* Sofern es das Den-
ken verwandelt, entsteht eine „Fröhliche Wissenschaft"; sofern es die Fähig-
keit des Schaffens verändert, die Praxis der „großen Politik". Das Krite-
rium, an dem die Verwandlung insgesamt erkannt werden kann, ist die
Stärke des „Willens zur Macht*, mit dem die geschichtliche Emanzipation
von der Metaphysik vollzogen wird. Dieser Wille legitimiert sich weder aus
sich selbst noch will er sich selbst nur um seiner selbst willen. Er legitimiert
sich vielmehr transzendental aus dem „hohen Recht" des Menschen „auf
Zukunft". Denn von dort leuchtet das Licht, das den Horizont der Ge-
schichte erhellt und der Vernunft es ermöglicht, die Wahrheit zu erkennen.
Worin aber zeigt sich die Wahrheit selbst, die bereits den Horizont der
Geschichte umreißt? Darin, daß sie die O f f e n h e i t des Horizonts er-
hellt, so daß die asymmetrische Gestalt der Zeit, die der Evolution zu-
grunde liegt und von der Metaphysik verdeckt wurde, endlich sichtbar wird.
Die Wahrheit der höchsten Tat gründet in der Übernahme der Verantwor-
tung für die vom Menschen selber zu entwerfende geschichtliche Zukunft.
Im Horizont dieser Verantwortlichkeit öffnet sich der Mensch der Offen-
heit der Zukunft.

Nietzsche hat den inneren Zusammenhang seiner Wissenschafts- und


Moralkritik mit der Umdrehung der platonisch-christlichen Wahrheit der
Metaphysik zur Wahrheit der Geschichte in einer Nachlaß-Notiz aus dem
Frühsommer 1885 formuliert: „Es giebt eine Arglosigkeit der wissenschaft-
liehen Menschen, welche an Blödsinn grenzt; sie haben keinen Geruch davon,
wie gefährlich ihr Handwerk ist, sie glauben im Grunde ihres Herzens, daß
,Liebe zur Wahrheit* und ,das Gute, Schöne und Wahre* ihre eigentliche
Angelegenheit sei. Ich meine nicht gefährlich* in Hinsicht auf die auflösen-
den Wirkungen, sondern in Hinsicht auf das ungeheure Schwergewicht der
Verantwordidhtkeit, welches Einer auf sich fühlt, welcher zu merken be-
ginnt, daß alle Werthsdiätzungen, nach denen die Menschen leben, auf die
Dauer d e n M e n s c h e n zu G r u n d e r i c h t e n . a w — Nietzsche

*< K<3W Vll/3, 34 (140), S, J87.


102 Friedrich Kabermänn

kritisiert an der Wissenschaft nicht nur, daß sie ihren instrumentalen Cha-
rakter nicht wahrhaben will, sondern auch, daß sie ihre metaphysischen
Voraussetzungen nicht zu erkennen vermag. „Ich habe den Verdacht*,
schreibt der 26jährige Nietzsche, „daß die Dinge und das Denken miteinan-
der nidit adäquat sind. In der Logik nämlich herrscht der Satz des Wider-
spruchs, der v i e l l e i c h t nicht bei den Dingen gilt, die Verschiedenes,
Entgegengesetzes s i n d."95 Mit diesem „Verdacht", der sich für Nietzsche
in den späteren Jahren zur Gewißheit Verdichtet, ist der Boden der neuzeit-
lichen Wissenschaft verlassen, weil in ihrem metaphysischen Reflexionsrah-
men die Frage nach der Gültigkeit der Logik nicht gestellt werden kann. Der
Satz vom Widerspruch gilt seit Aristoteles als das oberste Prinzip des Den-
kens überhaupt, dem aber seinerseits der ontölogisdie Grundsatz der Identi-
tät des Parmenides zugrunde liegt: „denn das Selbe ist: zu schauen (zu den-
ken) und zu sein"96. Er wird von Nietzsche in seiner überlieferten Form
ebenfalls in Frage gestellt, weil Nietzsche noch wußte, daß eine Wissen-
schaft nur dann kritisch ist, wenn sie sich auch über ihre ontologisdien
Voraussetzungen Rechenschaft gibt, anstatt sie zu verdrängen und sich als
„voraussetzungslos" auszugeben. Er hat damit eine Entwicklung vorwegge-
nommen, die erst durch die Grundlagenkrise der Physik, die der Krise der
Metaphysik in einer historischen Phasenverschiebung von nahezu hundert
Jahren folgte, ins wissenschaftliche Bewußtsein drang. Durch sie wurde es
möglich, die Frage nach einer den starren binären Schematismus der klas-
sischen Raum-Logik erweiternden mehrwertigen Logik zeitlicher Aussagen
zu stellen, die den komplexen Strukturen moderner Sozial- und Kommuni-
kationssysteme besser genügen konnte als die Aristotelische Logik97. Da aber
die Wissenschaft insgesamt den schwankend gewordenen Boden der Meta-
physik nicht verließ, sondern wieder stabilisierte, konnte eine fruchtbare
und umfassende Krise, die neue Ansätze ermöglicht hätte, nicht entstehen.
Jene Gestalt der „historischen Vernunft", die sidi heute im Rückgriff
auf Neukantianismus, logischen Positivismus und analytische Sprachtheorie
im wissenschaftlichen Rahmen einer „transzendentalen Historik" wieder
nach Prinzipien konstituiert, die „nie selber geschichtlich" sind, stellt daher
einen Rückfall auf theoretische Positionen vor Nietzsche und Marx dar.
Die „transzendentale Anthropologie", die sich diese „historische Vernunft"
— erneut mit dem traditonellen „Problem einer objektive Gültigkeit be-
anspruchenden Wertung und Beurteilung" konfrontiert — aufgrund einer
überzeitlichen „anthropologischen Fundamentalnorm" zugrunde legt, stellt

95
KTA, X, n. 89. '
96
Zit. G. Picht, Theorie und Meditation, in: Merkur, Nr. 311, April 1974, S. 306.
97
Vgl. G. Günther, Logik, Zeit, Emanation und Evolution, Köln/Opladen 1967.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 103

jedoch bloß ein fernes Abbild des dar08. Nietzsche hatte diese
wissenschaftliche Rekonstruktion der Metaphysik im Horizont einer „Theo-
rie der Geschichte** schon deshalb als nihilistisch interpretiert, weil der mo-
derne Begriff der „Theorie" eine Projektion des zeitlosen Aristotelischen
auf die Ebene der technologisch angewandten Metaphysik unserer Zeit
darstellt. Aristoteles selber wußte, daß der systematischen Darstellung
einer Lehre vom Wissen der ursprüngliche Entwurf der Ontologie voraus-
gehen muß, damit aus diesem ontologischen Entwurf die „episteme", die
Aristoteles deshalb in den „Analytica Posteriora* darstellt, als a b g e l e i -
t e t e s Wissen gewonnen werden kann". Im Horizont der neuzeitlichen
Willensmetaphysik wird jedoch die notwendig aporetische Struktur eines
jeden ursprünglichen onto-theo-logischen Entwurfs, an der Aristoteles noch
festgehalten hat, durch die Gleichung von Wissen und Macht (Francis
Bacon) verdeckt. Denn der Wissenschaft der Neuzeit geht es um die Wahr-
heit der Erkenntnis nur deshalb, weil es ihr um die Beherrsdibarkeit und
Machbarkeit der Dinge geht100. Dieser Sachverhalt, der sich bereits in Vicos
Formel „verum et factum convertuntur" ausdrückt101, wird heute an der
Theorie einer „Legitimität der Neuzeit" deutlich, die eine technokratisch
fundierte „Selbstbehauptung der Vernunft" gegenüber „allen Transzen-
denzen" philosophisch ermöglichen will102. Auch sie stellt die Geschichte
aufgrund überzeitlicher theoretischer Prämissen so dar, wie sie von sich aus
nicht ist und gehört daher ebenfalls in den Gesamtbereich des neuzeitlichen
„Willens zum Willena, der nach Heidegger die Geschichte an eine „Histo-
riea ausliefert, „die mit der Technik desselben Wesens ist"103.
Daß Nietzsches Denken in Wahrheit nicht, wie Heidegger es auslegt,
dem modernen „Willen zum Willen* philosophisch das gute Gewissen ge-
ben will, wird deutlich, wenn es mit dem „Universaütätsanspruch* einer
funktionalisrischen Systemtheorie konfrontiert wird, die sich heute als glo-
bale Sozialtechnologie zu etablieren beginnt104» Diese Theorie, die sich selber
„gleichsam als Nachfolgerin der alten, mit allen Zeiten simultanen omni-
scientia Deia als „System g e s c h i c k t e " versteht, hat mit der wirklichen

** H, M. Baumgartner, Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in:


Gesdiidite und Theorie, Umrisse einer Historik, hrsg. von H. M. Baumgartncr u* J.
Ruses, Frankfurt 1976, S* 274 ff.
·* stütze mich hier auf G, Picht, Theorie und Meditation, a.a.O.
lco
VgL W. Sdmlz, Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik, Pf ullingen 1957»
m
K, Lowith, Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur, in: dcrs*, Aufsätze und
Vortrage, a-aXX, S. 157 ff.
1BS
H. Blomoiberg, Säkuhmicmng * * *, a.aX>,
™ M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, a-aXX, S. 26 f,
JW
K. Luhmann, Weltzeit und Synei&gcsdbJditc. Ober Beziehungen zwischen Zeithomon-
ten und sozialen Strukturen geselUdiafükher Systeme, in; Getdhichtc und Theorie,
S. 337—3S7.
104 Friedrich Kabermann

Geschichte jedoch nur in der Negation, „als technische Aufhebung, Neutrali-


sierung und Objektivierung von Geschichte" etwas zu tun. Das wissen-
schaftliche Ziel ist es, in der Nachfolge der Willens- und Machtmotivationen
der metaphysischen Tradition mittels eines „technisierten* Wahrheitsbe-
griffs alle regional noch differierenden Geschichten der einzelnen natio-
nalen Sozialsysteme der Erde theoretisch so zu synchronisieren, daß schließ-
lich sämtliche „Zeithorizonte" bisher partikularer Systemgeschichten unter
der SuperStruktur einer abstrakt simultanen „Weltzeit" in ihren Sinnbezü-
gen „kompatibel" und damit beliebig operationalisierbar werden. Dies soll
dem global wachsenden Bedarf an Steuerungspotential der einen und ein-
zigen kollektiven Systemgeschichte dienen, deren systemtheoretische Kon-
struktion nach dem klassischen Zeitmodell Deiner „unendlichen Zeitpunkt-
reihe" erfolgt. Dieses Modell bildet die Zeit ebenfalls so ab, wie sie von sich
aus nicht ist, denn in Wirklichkeit wird die Einheit der Zeit in der Diffe-
renz ihrer Modi erfahren, und zwar so, daß die Erfahrung der Irreversibi-
lität allen Geschehens in die Offenheit der Zukunft weist. Da sich die Zeit
nicht, wie die moderne Physik gezeigt hat, auf die reflexiven Strukturen
eines „reinen", theoretischen Bewußtseins reduzieren läßt, bleibt die Kom-
patibilität ihrer Modi und die Funktionalisierung der Zeithorizonte, die die
Möglichkeit von Sinnerlebnissen kontrollierbar machen will, eine reine
Fiktion. In Wahrheit ist daher diese systemtheoretische Weltkonstruktion
der eigentliche Ausdruck- jenes „Willens zum Willen", der nicht nur die ver-
gängliche Welt, so wie sie ist, negiert, sondern vor allem auch sich selbst.
Was sich als Bejahung einer absoluten Autonomie und „Selbstbehauptung
der Vernunft" ausgibt, ist in Wirklichkeit, wie Nietzsche erkannt hat, das
Syüdrom einer tief sitzenden Furcht vor der Zeit und ihrem „,Es war'". Aus
ihr resultiert die moderne Aggressivität gegen „die Anheimgabe an die
Transzendenz der Zeit als die Endform aller dem Menschen gegenüber
rücksichtslosen Transzendenzen"105.
Nietzsches „historische Philosophie" hat mit den Theorien, die die
Geschichte an eine mit dem Wesen der Technik identischen „Historie" aus-
liefern, deshalb nichts zu tun, weil sein „Wille zur Macht" umgekehrt die
fiktiven Weltkonstruktionen der Metaphysik, die die Wissenschaft im zeit-
losen Horizont ihrer Theorien reproduziert, im Namen der Geschichte
überwinden will. In einer Nachlaß-Notiz aus dem Winter 1886/87, die zum
Entwurf des geplanten Hauptwerkes „Der Wille zur Macht — Versuch
einer Umwerthung aller Werthe" gehört und sich unter den Aufzeichnungen
zum dritten Kapitel mit dem Titel „Der Wille zur Wahrheit (erst gerecht-
fertigt im Ja-Werth des Lebens" findet, heißt es zur „wissenschaftlichen

105
H. Blumenberg, a.a.O., S. 266.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 105

Welt-Betrachtung*: „Kritik des psychologischen Bedürfnisses n a c h Wis-


senschaft. Das Begreiflich-madien-wollen; das Praktisch-, Nützlich-, Aus-
beutbar-madien-wollen —: in wiefern anti-aesthetisch. Der Werth allein,
was gezählt und beredinet werden kann. In wiefern eine durchschnittliche
Art Mensch dabei zum Übergewicht kommen will. Furchtbar, wenn gar
die G e s c h i c h t e in dieser Weise in Besitz genommen wird — das Reich
des Überlegenen, des Richtenden/'106

VI
Nietzsche bezeichnet sich in „Ecce horno" als den ersten „rechtschaff-
nen Geist* der Geschichte, „in dem die Wahrheit zu Gericht kommt"107.
Damit reflektiert er auf die geschichtliche Tatsache, daß er als erster Den-
ker innerhalb der abendländischen Tradition die ungeheure Frage nach dem
Verhältnis von Wahrheit und Geschichte gestellt hat und die Wahrheit des
göttlichen Seins dadurch so in die Horizontale der geschichtlichen Wahrheit
der Zeit umgedreht worden ist, daß die Achse der Transzendenz von nun
an in die unerschlossenen Möglichkeiten der Zukunft des Menschen weist.
In Platons Höhlengleichnis wird die Befreiung zur Erkenntnis der Wahr-
heit Gottes als eine Umkehrung vom Dunklen zum Hellen dargestellt, die
„mitsamt dem ganzen Leibe* und „der ganzen Seele aus dem Bereich des
Werdenden nach der anderen Seite" des Seins erfolgt. Die Umdrehung, die
Nietzsches Philosophie am Ausgang der Metaphysik vollzieht, kehrt den
seit Platon dem ewigen Sein zugewendeten Blick erneut um und richtet ihn
ausschließlich auf die geschichtliche Welt des Werdens, Aber auch moralisch
stellt Nietzsches Denken eine Umdrehung Platons dar: Der im Höhlen-
gleichnis von seinen Ketten Befreite verspürt, einmal ans Licht der gött-
lichen Wahrheit gelangt, „keine Neigung", zu seinen ehemaligen Mitgefan-
genen in der Höhle zurückzukehren und sie über den Trug ihrer Existenz
aufzuklären und von ihrer „Ketten-Krankheit" zu befreien. Die Überle-
gung, daß er für verrüdkt gehalten und sogar Gefahr laufen würde, selber
wieder gefangen gesetzt oder auch getötet zu werden, genügt, um ihn von
der Rückkehr abzuhalten und sich „vielmehr immer getrieben" zu fühlen,
von nun an „dort oben*, außerhalb der Höhle, im Lichte der göttlichen
Sonne ständig zu verweilen. „Und so ist es doch wohl auch ganz in der
Ordnung*, schließt Platon den Gedankengang ab, weil er das Schicksal des
Sokrates vor Augen hatte und wußtef wie es demjenigen ergeht, der seine
Mitmenschen über die Wahrheit aufklären will108.

*** KGW VHI/3, Ig [17], S. 337 u. VIH/!, 7 f 3), S, 264 f.


:
~ KGW VI/3, S. 359.
«* Zit. K. Vorländer, Philosophie de* Altsrrufm, Hainburg 1963, S. 215 ff.
106 Friedrich Kabcrmann

Für Nietzsche ist diese Haltung moralisch durchaus nicht in Ordnung,


weil sich für ihn Moralität und Solidarität im Horizont der christlichen
Überlieferung, deren metaphysische Umkehrung in die vertikale Trans-
zendenz er bekämpft, in einem anderen humanen Verweisungszusammen-
hang darstellen, als dies in der antiken Polis der Fall ist109. Der „tolle
Mensch" kehrt deshalb zu seinen Mitmenschen zurück, um ihnen die dop-
pelte Botschaft vom Tode des „alten Gottes" und der Heraufkunft einer
neuen Morgenröte im Namen der Wahrheit der Geschichte zu verkünden.
Seine Apostrophierung als „toll" macht deutlich, daß Nietzsche sich nicht
weniger als Platon über das Schicksal desjenigen im Klaren war, der sich
nicht nur selber auf die Wahrheit einläßt, sondern dessen „Wille zur Wahr-
heit" überdies noch will, daß sich auch die Mit- und Nachlebenden auf die
Wahrheit so einlassen, daß sie nicht mehr von ihr ablassen können. „Von
jetzt ab werde ich in Deutschland wohl unter die Verrückten gerechnet wer-
den", schreibt Nietzsche zu Beginn der Arbeit am „Zarathustra". „Es ist
eine wunderliche Art von ,MoralpredigtenV110 — Wunderlich sind diese
Moralpredigten schon deshalb, weil Nietzsche das „Zukunfts-Evangelium"
der umgedrehten Dionysos-Moral nicht abstrakt systematisch, sondern in
der Gestalt des Reden haltenden und Selbstgespräche führenden Zarathu-
stra verkündet. „Man muß die großen Probleme mit Leib und Seele e r l e -
b e n wollen", lautet eine Notiz aus den Jahren 1886/87. Das bedeutet:
Der alles bejahende amof fati ist nicht um seiner selbst willen, sondern für
den Mitmenschen da und muß deshalb auch verkündet werden; denn Nietz-
sche liegt weder etwas am Sein oder am Seienden im ganzen noch an den
entsprechenden ontologischen bzw. heils- und weltgeschichtlichen Differen-
zen, sondern ausschließlich „alles am M e n s c h e n " , wie es im Zusam-
menhang der Kritik an Schopenhauer am 19.12.1876 an Cosima Wagner
heißt111.
Zarathustra behält daher seine höchste Weisheit nicht für sich, sondern
kehrt zu den Menschen zurück; das gesamte Werk behandelt von Anfang an
thematisch nichts anderes als diesen Rück- und „Untergang" und die Bot-
schaft, um derentwillen er unternommen wird. „Ich möchte verschenken
und austheilen", sagt Zarathustra bereits zu Beginn der Vorrfede, „bis die
Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen
wieder einmal ihres Reidithums froh geworden sind. — Dazu muss ich in
die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer

109
Vgl. zum Zusammenhang H. G. Ulrich, Anthropologie und Ethik bei Friedrich
Nietzsche, Interpretationen zu Grundproblemen theologischer Ethik, München 1975.
110
Brief vom 1.2.1883 an P. Gast, zit. nach: Friedrich Nietzsche, Paul Re*e, Lou von
Salom^ a.a.O., S. 479.
111
KGW VIII/1, 5 [29], S. 199; das Briefzitat: KGW IV/4, S. 26.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 107

gehst * . . müss, gleich dir, u n t e r g e h e n , wie die Menschen es nennen,


zu denen ich hinab will." Daß er diese Worte zur Sonne spricht und ihren
Untergang hinter dem Meer zum Vorbild des eigenen Untergangs nimmt,
ist kein Zufall, denn Zarathustra ist zugleich auch der Lehrer des durch den
Tod des „alten Gottes*1 möglich gewordenen Obermenschen, auch wenn noch
die wenigsten Ohren für das „Unerhörte* dieser neuen Botschaft haben.
„Zu meinem Ziele will ich, ich gehe meinen Gang;" lauten Zarathustras
Worte am Schluß des vorletzten Abschnitts der Vorrede: „über die Zögern-
den und Saumseligen werde ich hinwegspringen. Also sei mein Gang ihr
Untergang!""*
In „Ecce homo* schreibt Nietzsche: „Zarathustra bestimmt einmal, mit
Strenge, seine Aufgabe -— es ist auch die meine —, dass man sich über den
S i n n nicht vergreifen kann: er ist j a s a g e n d bis zur Rechtfertigung,
bis zur Erlösung auch alles Vergangenen.*m Mit dieser ausdrücklichen
Identifizierung, die nicht verhindert hat, daß man sich über den Sinn des
„Zarathustra" dennoch vergriff, weil man den geschichtlichen Horizont, in
den er gehört, nicht begriff, charakterisiert Nietzsche die eigene unerhört
paradoxe Situation: Seine Botschaft von der Wahrheit der Geschichte, die
in der vom Menschen selber zu entwerfenden Zukunft liegt, muß über die
schwerhörigen Zeitgenossen hinwegspringen, um die Zukünftigen zu er-
reichen, damit nicht auch sie noch zu den „letzten Menschen" in den Höhlen
der Metaphysik zählen, die schon gestorben sind, bevor sie überhaupt gebo-
ren werden. Zur Verdeutlichung zitiert Nietzsche im Anschluß an die er-
wähnte Stelle aus „Ecce homo" noch Zarathustras Worte aus dem Kapitel
„Von der Erlösung": „Ich wandle unter Mensdben als den Bruchstücken
der Zukunft: jener Zukunft, die ich schaue. Und das ist all mein Dichten
und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück
ist und Räthsel und grauser Zufall/*114
Nietzsches Philosophie ist selber ein einziges Bruchstück jener Zu-
kunft, die sie schaut, ein gewaltiges Fragment, das Fragen stellt, wo es bis-
her Antworten gab und seinerseits weitere Fragen aufgibt: Wie ist es mög-
lich, daß jene dritte Gestalt der Vernunft, die die Wahrheit als höchste
Tat schafft, über zweitausend Jahre verschollen blieb, bevor ihre Umrisse
bei Nietzsche wieder sichtbar werden? Aristoteles nennt im XL Buch der
„Metaphysik" ihren Wirkungsbereich die „Wissenschaft des Hervorbrin-
gens*, die „Poietik", und grenzt sie gegenüber der „Wissenschaft der Na-
tur*, der „Physik*, und der „Wissenschaft des Handelns**, der „Ethik",

nt
KGW Vl/l, S. 5 ff.
*** KGW VI/3, S. 346,
VI/f,S. 175.
108 Friedrich Kabcrmann

entschieden ab: „Denn bei der Wissenschaft des Hervorbringens ist das
Prinzip der Bewegung in dem Hervorbringenden, nicht in dem Hervorge-
brachten, und dieses Prinzip ist entweder eine Kunst oder sonst ein Vermö-
gen. Ebenso ist bei der Wissenschaft des Handelns die Bewegung nicht in der
zu verrichtenden Handlung, sondern vielmehr in dem Handelnden/115 Er
hat aber dieses produktive Vermögen einer „poietischen Vernunft" im Ge-
gensatz zu den beiden anderen Formen der Wissenschaft nicht systematisch
ausgeführt, so daß es in seiner Eigenständigkeit unterging und sich in der
europäischen Tradition die Zweiteilung von theoretischer und praktischer
Wissenschaft durchsetzte, die Kant das Vermögen der „reinen" und der
„praktischen Vernunft" nennt. Das Vermögen des Hervorbringens wurde
lediglich unter der Theorie der Kunst, in dpr „Ästhetik", abgehandelt, die
aber im Gang der Geschichte die neu aufbrechenden weiten Bereiche der
wissensdiaftlich-technisdien Produktion theoretisch nicht zu fassen ver-
mochte.
Bevor allerdings das schaffende Vernunftvermögen bei Nietzsche als
die eigentlich künftige Gestalt der ökologischen Universalwissenschaft in
Erscheinung tritt, taucht sie umrißhaft im dritten kritischen Hauptwerk von
Kant, in der „Kritik der Urteilskraft" auf, die in der Literatur bisher im
Schatten der beiden anderen Kritiken stand116. Hier wird bereits eine Ver-
bindung von Kunst und Technik hergestellt, die dann bei Nietzsche unter
die moralische Perspektive der geschichtlichen Emanzipation gerät. Aber
erst in Georg Pichts Philosophie der geschichtlichen Zeit wird dieser Zur
sammenhang überhaupt transparent, weil die von Nietzsche prognostizierte
Krise der wissenschaftlich-technischen Zivilisation inzwischen ihrem Höhe-
punkt zutreibt. Dadurch aber wird endgültig deutlich, daß die überlieferten
Formen der Wissenschaft zur Lösung der globalen Probleme nicht mehr
genügen, weil es weder eine umfassende Theorie der Technik oder der Ar-
beit noch eine „an den Produkten orientierte Theorie der Produktion", eine
„Theorie von allen überhaupt möglichen Formen der Produktion" gibt117 —
von einer Ethik der technischen Welt, deren Notwendigkeit Nietzsche
erkannte, ganz zu schweigen.
Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang Nietzsches Philosophie
zukommt, läßt sich nur erkennen, wenn die moralische Einheit von Wissen,
Handeln und Schaffen im Horizont der geschichtlichen Emanzipation inter-

115
Zit. K. Vorländer, a.a.O., S. 243.
116
Vgl. G. Picht, Die Kunst des Denkens, a.a.O. und ebenfalls: Philosophie und Völ-
kerrecht, in: Frieden und Völkerrecht, hrsg. von G. Picht u. C. Eisenbarth, Stuttgart
1973, S. 170 ff.
117
G. Picht, Die Kunst des Denkens, a.a.O., S. 429.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 109

pretiert wircL Daß dies bisher nicht geschehen ist, bestätigt den Satz von
Picht: Nietzsches Philosophie ist unbekannt- — Den drei Stnikturelemen-
ten der Metaphysik, die in Heideggers Analyse der abendländischen Phi-
losophie als Onto-theo-logie bezeichnet werden118, entsprechen bei Nietz-
sche sprachlich die Metaphern Meer, Sonne und Horizont und inhaltlich die
„historische Philosophie", der Entwurf des „Übermenschen", sowie die
Lehre von der Wahrheit als der „höchsten That". In ihnen spiegelt sich die
dreifache aristotelische Differenzierung zwischen der „Wissenschaft der Na-
tur", die für Nietzsche die Wissenschaft von der Geschichte ist, der „Wissen-
schaft des Handelns", für die Nietzsches Dionysos-Moral steht und der
„Wissenschaft des Hervorbringens", die Nietzsche mit dem Titel „große
Politik" bezeichnet- Die neue „Fröhliche Wissenschaft" von der Geschichte,
die „historische Philosophie", analysiert die Metaphysik am kritischen
Leitfaden einer „Genealogie der Moral" — ermöglicht durch den „Willen
zur Macht", d. h, zur Emanzipation von der Metaphysik. Die neue Ethik
des Obermenschen, die Dionysos-Moral, bejaht die Endlichkeit alles Seien-
den — ermöglicht durch das Erlebnis des amor fati. Die neue Vernunft
schließlich schafft die Wahrheit als höchste Tat durch den Entwurf der
„Umwerthung aller Werthe" — ermöglicht durch das „ungeheure Schwer-
gewicht der Verantwortlichkeit" angesichts des „hohen Rechts" der Mensch-
heit „auf Zukunft". Denn: „ S c h a f f e n s t e h t h ö h e r als Er-
kennen," 1 1 0 — „Wie lange wird es dauern", fragt Nietzsche in einem
Brief an Reinhard von Seydlitz vom 13. Mai 1888 aus Turin, „ehe meine
p e r i p h e r i s c h e n Wirkungen (— denn ich habe Anhänger in Nord-
amerika und sogar in Italien) zurückwirken auf das geliebte Vaterland?
— wo man mit einem tückischen Ernste mich seit Jahren gewähren läßt,
ohne auch nur zu mucksen ... Das ist sehr philosophisch — und klug!"120

VII
Nietzsche hat viereinhalb Monate später im Vorwort zum „Anti-
christ" die Bedingungen angegeben, unter denen man ihn versteht „und
dann mit N o t w e n d i g k e i t versteht —*t ohne dabei sein Vaterland
noch besonders zu erwähnen, das wenig später als „Europas Flachland" be-
zeichnet wird121, „Man muss gleichgültig geworden sein, man muss nie fra-
gen* ob die Wahrheit nutzt, ob sie Einern zum Verhängniss wird ..." Diese

"* VgL M. Heidegger, Identität. * „ a,au(Xf S, 31 ff,


·=» Nachlaß, Sommer 1875, KGW lV/1t 9 ft]« S- 235.
·» Briefe, *A<X, S, 463.
»*' Vorwort von NW. KGW VJ/3. S- 413.
110 Friedrich Kabermann

„Rechtssdhaffenheit" in geistigen Dingen, die bis zur „Härte" geht, ist die
grundsätzliche Bedingung, die Nietzsche zu allererst voraussetzen muß,
wenn auch nur der „Ernst" und die „Leidenschaft" seines Denkens ver-
standen und ausgehalten werden soll. Dann nennt er die Bedingungen im
einzelnen: „... Eine Vorliebe der Stärke für Fragen, zu denen Niemand
heute den Muth hat; der Muth zum V e r b o t e n e n ; die Vorherbestim-
mung zum Labyrinth. Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten. Neue
Ohren für neue Musik. Neue Augen für das Fernste. Ein neues Gewissen für
bisher stumm gebliebene Wahrheiten. U n d der Wille zur Ökonomie gros-
sen Stils: seine Kraft, seine B e g e i s t e r u n g beisammen behalten ...
Die Ehrfurcht vor sich; die Liebe zu sich; die unbedingte Freiheit gegen
sich..."— /
Im ersten Teil dieser äußerst gedrängten und verschlüsselten Aussage
umreißt Nietzsche noch einmal den Horizont, die transzendentale Vor-
aussetzung und die Methode seiner „historischen Philosophie" im ganzen:
Der Mut zum Verbotenen nennt den Mut, sich durch die Umdrehung der
platonisch-christlichen Metaphysik auf die Wahrheit der Geschichte einzu-
lassen; die Vorherbestimmung zum Labyrinth metaphorisch den transzen-
dentalen Ort, von dem aus sie überhaupt erkannt werden kann; die Stärke
des Fragens schließlich die offene Methode der „unabgeschlossenen Hori-
zonte", die sich von den dogmatischen Denkstrukturen der Metaphysik und
der positiven Wissenschaft verabschiedet hat, weil allein sie dem Horizont
und der transzendentalen Voraussetzung des neuen Denkens gerecht zji
werden vermag. — Im zweiten Teil gibt er die Fähigkeiten der neuen
poietisdien Vernunft an, ohne die, wie sich in der Tat gezeigt hat, nicht
einmal das „Vorspiel" seiner „Philosophie der Zukunft" verstanden werden
kann: Ein neues Hören und Sehen, ein neues Gewissen und einen neuen
Willen, der die Kraft zum Schaffen und die dazu notwendige Begeisterung
in sich vereint, um so den weltgeschichtlichen Aufgaben, die ihn erwarten,
gewachsen zu sein. — Der letzte Teil schließt mit den drei Elementen, aus
denen die neue dionysische „Welt-Moral" bestehen muß, wenn das Leben
auf dem Planeten nicht vollends zugrunde gerichtet werden spll: der Ehr-
furcht v o r sich, der Liebe z u sich und der unbedingten Freiheit g e g e n
sich. Diese drei Elemente werden deshalb erst am Schluß genannt, weil sie
das Resultat von Nietzsches gesamtem Leben und Denken darstellen und
unter drei verschiedenen Perspektiven in dieselbe Dimension weisen, in der
die klassische Unterscheidung von Individual- und Sozialethik zurückgelas-
sen ist. Denn Ehrfurcht vor dem Leben hat nur der, der vor sich selber Ehr-
furcht hat; lieben kanni nur der, der sich selber lieben kann; und Freiheit
zu schaffen vermag nur der, der sich selber frei gegenüberzutreten vermag.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 111

Es ist bisher wenig darüber nachgedacht worden, warum Nietzsche


das Resultat seiner Umdrehung des christlichen Platonismus in derart ver-
schlüsselter Form gerade im Vorwort einer Schrift zusammenfaßt, der er
den Titel „Der Antichrist" gibt. Die Theologie glaubt bis heute, sich ge-
genüber Nietzsche verteidigen zu müssen, und zwar so, daß sie seiner Kritik
umgekehrt entgegenhält, sie setze „platonische und christliche Tradition un-
differenziert identisch**182, — anstatt sich darüber Gedanken zu machen,
warum Nietzsche der m e t a p h y s i s c h e n V e r f a s s u n g der christ-
lichen Moraltheologie den Krieg erklärt123. Die griechische Onto-theo-logie
ist strukturell Ursprungsphilosophie, also Protologie, die Botschaft des
Neuen Testaments dagegen Eschatologie. Als Folge der Synthese aus Neu-
platonismus und patristischer Dogmatik verschwindet aber im Schatten von
Augustins Theologie sowohl die eschatologische Botschaft wie auch der ihr
immanente Auftrag zur geschichtlichen Emanzipation124. Die Scholastik
mauert sich im zeitlos fixen Horizont der aristotelischen Metaphysik ein
und wird deshalb ebenfalls wesentlich Protologie, Schöpfungstheologie.
»Am Anfang war** — lautet der Titel des 3. Aphorismus in „Der Wande-
rer und sein Schatten": „— Die Entstehung verherrlichen — das ist der
metaphysische Naditrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder
ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das
Werthvollste und Wesentlichste.**125 Die Frage, wie es heute mit dem „meta-
physischen Naditrieb** der Theologie bestellt ist, kann die Theologie nur
beantworten, wenn sie auch die Bemerkung in „Ecce homo** verstanden hat:
„... das N o t h w e n d i g e verletzt mich nicht; amor fati ist meine inner-
ste Natur. Dies sdbliesst aber nicht aus, dass ich die Ironie liebe, sogar die
welthistorische Ironie.** Im anschließenden Satz verweist Nietzsche auf den
„zerschmetternden Blitzschlag der U m w e r t h u n g " , auf den noch
nicht veröffentlichten „ Antichrist* hin126.
Die „welthistorische Ironie**, mit der Nietzsche seine „innerste Natur**,
den amor fati, als „antidbristlich** bezeichnet, wird aber erst wirklich ver-
ständlich, wenn ihre drei Elemente — Ehrfurdbt, Liebe und Freiheit — in
der Einheit ihrer Differenz interpretiert werden. Was Nietzsche unter Ehr-
furcht versteht, wird an dem Stück Nr. 279 im IV. Buch der „Fröhlichen
Wissenschaft** mit dem Titel „Steriien-Freundsdiaft** deutlich. Nietzsche

£* Jüngel, deus qualexn Paulus creavit, dei negatto, in: Nkmdie-Studien, Bd. l, 1972,
S. 286 ff,, . 295.
Audi in H. G. Ulridfis theologischer Untersuchung findet sidi über diese Zusammen-
hange nichts {^Anthropologie und Ethik bei Fricdndb Nietzsche", a.a.O.)»
De cm Dei, VIII u. XL
KGW IV/3, S. 178.
. 361 £
112 Friedrich Kabcrmann

versteht darunter nicht jene ästhetischen Stilisierungen, mit denen später


Thomas Mann oder die „George-Schule" eine „Sternenfreundschaft" zwi-
schen ihm, Wagner und Schopenhauer oder gar zu Jacob Burckhardt kon-
struiert haben, sondern er reflektiert auf die konkrete Lebenserfahrung, die
besagt, daß eine Freundschaft so zerbrechen kann, daß die ehemaligen
Freunde künftig sogar „einander Erden-Feinde" sein müssen. Daß dies
möglich ist, liegt nicht nur an subjektivem Versagen, an Launen oder ir-
gendwelchen Zufällen, sondern an dem „Gesetz ü b e r uns". Darunter
versteht Nietzsche nicht ein ominöses Fatum, sondern wiederum eine kon-
krete Erfahrungstatsache, nämlich die, daß zwischen der subjektiven In-
tentionalität menschlicher Handlungen oder Unterlassungen und den ob-
jektiven Ereignis- und Wirkungsstrukturen eine Differenz besteht, die nicht
lediglich ein überwindbares Reflexionsdefizit darstellt, sondern sich viel-
mehr im Schatten des Bewußtseins befindet, der selber gleichsam aus den
Interferenzen aller möglichen Reflexionen besteht. Aber gerade dadurch,
weil dieses Gesetz auch in jeder Erden-Freundschaft und Erden-Feindschaft
waltet und beide zugleich transzendiert, „sollen wir uns auch ehrwürdiger
werden"; die Erden-Feindschaft kann nicht das letzte Wort des Lebens
sein: „Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft g l a u b e n " ,
denn es „giebt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Curve und Ster-
nenbahn, in der unsere so verschiedenen Straßen und Ziele als kleine Weg-
strecken e i n b e g r i f f e n sein mögen, — .. ,"127.
Unter den Nachlaß-Auf Zeichnungen des Jahres 1872, zu denen die,
gehört, die dem Philosophen die Aufgabe zumißt, er solle erkennen, was not
tut und das allgemeine Leid so nachempfinden, daß er in diese Lücke „seine
Welt" hineinbauen könne, befindet sich auch eine andere, die von der
„ e r l ö s e n d e n Kraft" einer neuen „Religion" spricht; sie könne, so
heißt es, möglicherweise „das Vakuum" ausfüllen: „Jedenfalls müßte die
Religion, welche es könnte, eine ungeheure L i e b es kraft haben: an der
zerbricht auch das Wissen, wie es an der Sprache der Kunst zerbricht."128 Ein
Jahrzehnt später beschreibt Nietzsche —* wiederum im IV. Buch der
„Fröhlichen Wissenschaft" — im Stück mit der Nummer 334 und mit dem
Titel „Man muß lieben lernen", diese neue Lebenshaltung, die* jedoch alle
Wagnersche Liebesmystik weit hinter sich gelassen hat. Er erläutert das
neue Verhältnis zum Leben am Beispiel der Musik: Wie wir erst langsam
„eine Figur und Weise" überhaupt „ h ö r e n " und „ertragen" lernen bis
zu dem Augenblick, „wo wir ihrer g e w o h n t sind, wo wir sie erwarten,
wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte", ebenso haben

127
KGW V/2, S. 204.
128
KTA, X, n. 104.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 113

wir erst alle Dinge, »die wir jetzt lieben, l i e b e n g e l e r n t . Wir wer-
den schließlich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit,
Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam sei-
nen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: —
es ist sein D a n k für unsere Gastfreundschaf t, Audi wer sich selber liebt,
wird es auf diesem Wege gelernt haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch
die Liebe muss man lernen."1*9
So wie die Liebe die Bedingung für die Ehrfurcht vor dem Leben ist,
ist die Freiheit die Bedingung für die das gesamte Leben umfassende Liebe.
Daß Nietzsche nicht allein eine allgemeine politisch, sozialökonomisch oder
auch individuell psychosomatisch bedingte Freiheit meint, zeigt ihre Kenn-
zeichnung als u n b e d i n g t e Freiheit. Um eine Freiheit zu verstehen,
die die Bedingung aller Bedingungen ist, ohne doch selber eine Bedingung
zu haben, muß der sachliche Zusammenhang zu der bisher unerwähnt ge-
bliebenen Formulierung: „Eine Erfahrung aus sieben Einsamkeiten" ange-
deutet werden, der die Bemerkung über die »Vorherbestimmung zum La-
byrinth* der Zukunft vorausgeht. In dem Gedicht „Das Feuerzeichen" ist
davon die Rede, daß Zarathustra sechs Einsamkeiten bereits kenne und als
Fischer auf hohen Bergen nun nach der siebenten l e t z t e n Einsamkeit
suchend die Angel auswerfe, nachdem er zuvor seine Höhenfeuer angezün-
det habe: »— Meine Seele selber ist diese Flamme, / unersättlich nach neuen
Fernen — — Das nadifolgende Gedicht enthüllt, was Nietzsche mit der
Chiffre der siebenten Einsamkeit sagen will:
»Heiterkeit, güldene, komm!
du des Todes
heimlichster süssester Vorgemiss!
— Lief ich zu rasch meines Wegs?"
Die unbedingte Freiheit, die die Liebe und die Ehrfurcht gegenüber
allem Lebendingen ermöglicht, gründet für Nietzsche in der Vergegenwär-
tigung des Todes. Worin aber besteht diese ständige Vergegenwärtigung des
Todes, dessen unmittelbare Nähe Nietzsche mehrfach erfahren und durch-
lebt hat? Darin, daß das Leben den Tod als notwendig bejaht — so wie
sich Licht und Schatten „liebevoll* an den Händen halten**0. — »Der Ge-
danke an den Toda lautet auch der Titel des Stücks, das vor dem Abschnitt
über die „Steraen-Freundschaft* steht. Es ist das dritte Stück des IV. Bu-
ches der „Fröhlichen Wissenschaft*f das von der erstmaligen Erwähnung
des amor fatt am Beginn allein schon in der Anordnung der einzelnen
Stücke den intendierten sachlichen Zusammenhang genau aufweist. Audi

» KGW V/2, S. 2*9 L


«· KGW fV/3f S- 176,
114 Fricdridi Kabermann

hier wird der Tod als Schatten, als der „dunkle Weggefährte" bezeichnet,
der alles lärmende Auf und Ab des Lebens schweigend in die Zukunft be-
gleitet, ohne daß sich das Leben dessen bewußt wäre; „... und doch ist Tod
und Todtenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zu-
kunft! Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast
gar Nichts über die Menschen vermag und dass sie am W e i t e s t e n da-
von entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen."131
Wenn der Tod als das Sicherste der Zukunft wie ein Bruder angenom-
men werden kann, dann ist die Angst vor der Zeit und ihrem ,„Es war*"
überwunden und jene unbedingte Freiheit gegen sich selbst erreicht, die die
Bedingung dafür ist, daß das Leben in der Fülle seiner Erscheinungen und
der Ehrfurcht vor dem undurchsdhaubaren'Gesetz der Notwendigkeit um-
fassend geliebt werden kann. Für Nietzsche liegt darin die einzige Mög-
lichkeit, wie der circulus vitiosus aus Frusträtion und Aggressivität, Selbst-
verneinung und „Selbstbehauptung", metaphysischem Nihilismus und om-
nipotenter Wissenschaft aufgesprengt werden kann. In der naiven Meinung
des dogmatischen Pragmatismus unserer Tage, es müsse bei einer morali-
schen „,Revolution*" allein darum gehen, „ n e u e R e g e l n " zu ent-
wickeln, „die der Realität und unseren Vorstellungen besser angepaßt" und
zugleich von „objektiver Begründbarkeit" seien, hätte Nietzsche bei wei-
tem noch keine neue „Ethik ohne Metaphysik", sondern lediglich eine alte
Metaphysik ohne Ethik gesehen132.
Am Schluß des zweiten Teils von „Menschliches, Allzumenschliches"
fragt der Wanderer seinen Schatten beim Abschied: ,*Und könnte ich dir
nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun? Hast du keinen
Wunsch?", und der Schatten, der Tod, antwortet: „Tritt unter diese Fichten
und schau dich nach den Bergen um; die Sonne sinkt."133 Audi das er-
wähnte Gedicht, in dem Nietzsche den eigenen Tod antizipiert und die
Chiffre der siebenten letzten Einsamkeit transparent wird, trägt als Titel
diesen Satz: „Die Sonne sinkt." Die letzte Strophe lautet:
„Siebente Einsamkeit!
Nie empfand ich
näher mir süsse Sicherheit,
warmer der Sonne Blick.
— Glüht nicht das Eis meiner Gipfel noch?
Silbern, leicht, ein Fisch
schwimmt nun mein Nachen hinaus.. ."134

131
KGWV/2,.S. 203.
132
G. Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, S. 99 f.
133 KGW IV/3, S. 342.
134
KGW VI/3, S. 395.
Fragezeichen für solche, die Antwort haben 115

Wohin —? Da Nietzsche das Land der Metaphysik verlassen hat, fügt


er der Fülle der dogmatischen Antworten, die ständig weiter wächst, nicht
neue Antworten hinzu, sondern stellt die Metaphysik selbst in Frage.
Denn die Frage ist diejenige Form, in der das Denken der Wahrheit der
Geschichte entspricht und sich der Offenheit der Zukunft öffnet. Im Ge-
dicht »Die Sonne sinkt" gewinnt es im Ober-Gang eine letzte Gestalt, in
der die Sprache die Grenze der Erfahrung und die Erfahrung der Grenze
bereits die Sprache transzendiert. Was zurückbleibt, ist viel: »... Frage-
zeichen für Solche, die Antwort haben .. /

»* KCW VI/3f S. 391.

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