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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


34–35/2010 · 23. August 2010

Weltstaatengesellschaft?
Christiane Grefe
Rio Reloaded

Jeanne Lätt · Thomas Fues · Siddharth Mallavarapu


“We will have to learn to be better listeners”

Michael Zürn
Internationale Institutionen und nichtstaatliche Akteure

Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner


Globaler Rechtspluralismus

Eva Senghaas-Knobloch
Internationale Arbeitsregulierung

Inge Kaul
Zukunft des Multilateralismus

Ekkehart Krippendorf
Staat muss sein. Muss Staat sein?
Editorial
Die großen Herausforderungen unserer Zeit verlangen, dass
zunehmend über nationale Staatsgrenzen hinaus nach Strategien
gesucht und entsprechend abgestimmt gehandelt wird. Probleme
wie die Erderwärmung, die globale Finanzkrise oder weltweite
Armut lassen sich von einzelnen Staaten oder kleineren Staaten-
gruppen nicht allein lösen. Doch wie soll die Politik in der viel-
fältig vernetzten Welt gestaltet werden? Sind supranationale In-
stitutionen denkbar, die erstens über die notwendige Legitimität
verfügen und zweitens dazu in der Lage sind, wirksame Maß-
nahmen nicht nur zu beschließen, sondern auch durchzusetzen?
Kurz: Wie könnte global governance künftig aussehen?

Das System der internationalen Ordnung, das sich in der


Nachkriegszeit herausgebildet hat, wird derzeit stärker hinter-
fragt denn je. Die Vereinten Nationen sind zwar immer noch
die wichtigste internationale Organisation, aber ihre Wirksam-
keit – etwa bei der Bewältigung von Konflikten – ist begrenzt.
Zudem hat es „tektonische Verschiebungen“ gegeben: Staaten
wie China, Brasilien oder Indien haben inzwischen erheblich
an politischem und ökonomischem Gewicht gewonnen und ver-
langen nach stärkerer Repräsentation auch in anderen Instituti-
onen. Der Bedeutungsverlust der Gruppe der sieben stärksten
Industrienationen und Russlands (G8) zugunsten der Gruppe
der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20)
spiegelt dies schon wider. Wie aber die Rolle der aufstrebenden
Staaten künftig genau aussehen wird, ist noch unklar.

Ist die Vorstellung einer „Weltstaatengesellschaft“ also realis-


tisch oder eine unerreichbare Utopie? Gibt es Normen, auf die
sich alle einigen könnten, bzw. wer soll diese definieren? Um
(bessere) globale Kooperation zu ermöglichen, gilt es, alte Nord-
Süd-Gräben zuzuschütten, eingefahrene Sichtweisen zu über-
winden und vor allem: zu lernen, „bessere Zuhörer zu sein“.

Johannes Piepenbrink
Christiane Grefe als weiteren Ausdruck der Unfähigkeit ihrer
Regierungen, wirksame Regeln zum Schutz

Rio reloaded von Mensch und Natur zu schaffen. Die au-


ßer Kontrolle geratene Ölförderung erscheint
ihnen nur als weiterer Beleg dafür, dass die

Essay politische Kooperation der Länder der wirt-


schaftlichen Verschmelzung noch immer be-
drohlich fußlahm hinterherhinkt.

H underttausende Liter klebrigen, schwar-


zen Erdöls ergießen sich täglich ins Meer.
Keiner weiß, wie viele Millionen am Ende die
Der Widerspruch ist tatsächlich groß: Ei-
nerseits wird auf allen politischen Gipfeln
die „eine Welt“ beschworen, ob es um Ab-
Küsten von Louisiana rüstung oder Artenvielfalt, Aids oder Ar-
Christiane Grefe bis Texas verseuchen beitsschutz geht. So gut wie allen Regierun-
Geb. 1957; Autorin und Redak- werden. Über Monate gen ist heute klar, dass ihre Ökonomien und
teurin bei „Die Zeit“; Autorin kämpfen die Zauber- Gesellschaften allein auf nationaler Ebe-
von „Der Globale Countdown. lehrlinge von BP (Bri- ne nicht mehr zu steuern sind. Andererseits
Gerechtigkeit oder Selbst- tish Petroleum) gegen wächst hinter den diplomatischen Plädoyers
zerstörung – Die Zukunft die Geister, die sie ver- für global governance noch längst nicht zu-
der Globalisierung“ erschie- antwortungslos riefen. sammen, was zusammen gehört, um die gro-
nen 2008 (gemeinsam mit Immer neue Anläu- ßen globalen Herausforderungen zu bewälti-
­Harald ­Schumann). fe enden immer wie- gen. Die Kooperation ist unzulänglich, fragil
christiane.grefe@zeit.de der vergeblich – wie und teils auf dem Rückzug bei den drei wich-
bei Goethes Gedicht tigsten Krisen, mit denen die aus dem Ruder
„Helft mir, ach! ihr hohen Mächte!“ Die Ha- gelaufene Ölförderung im Golf von Mexiko
varie im Golf von Mexiko, die Anfang August eng verbunden ist und die mit Bankencrashs
dieses Jahres endlich gestoppt werden konnte, und zahlungsunfähigen Staaten, sich häufen-
erscheint auf den ersten Blick als US-ameri- den Wirbelstürmen, Fluten und Hungersnö-
kanische Katastrophe. Kein anderes Land der ten Vorboten möglicher noch größerer Kata-
Welt verschlingt schließlich pro Kopf derart strophen senden.
große Mengen fossiler Ressourcen; nirgends
sonst gilt ein vergleichbar energiehungriger
Lebensstil quasi als Menschenrecht. Doch der Die drei großen Krisen:
Ölteppich zeigt noch mehr: die Verwobenheit „Die Summe aller Fehler“
jeder Ökonomie mit dem Rest der Welt. Er ist
ein globales Menetekel. Denn erst die wach- Vor der gefährlichen Finanzkrise hatten kri-
sende Nachfrage in den Schwellenländern tische Ökonomen lange gewarnt. Doch die
nach „des Teufels Tränen“ und der sich gleich- Staats- und Finanzchefs der wichtigsten
zeitig abzeichnende Beginn ihrer Erschöp- Wirtschaftsmächte zeigten sich als Meister
fung ließen eine riskante Tiefseeförderung der Verdrängung – selbst dann noch, als sie
wie im Golf von Mexiko überhaupt rentabel im Jahr 2008 tatsächlich ausbrach. Anders als
werden; der Untergang der Bohrinsel „Deep bei der Großen Depression ab 1929 kamen sie
Water Horizon“ ist insofern ein „Tscherno- immerhin rasch zusammen und verhinderten
byl“ des Ölfördermaximums, des peak oil. mit hohen Staatsausgaben und -garantien die
Erst ein völlig unzulängliches internationales befürchtete Kaskade ökonomischer Zusam-
Seerecht, das auch dank der Lobby der gro- menbrüche. Doch schon morgen könnte die
ßen Energiekonzerne Schlupf­löcher bei den Welt erneut am Abgrund stehen. Denn wei-
Sicherheits- und Schadenersatzpflichten of- ter gehende Konsequenzen werden blockiert,
fen ließ, senkte die Risikoschwelle, 1500 Me- ob durchgreifende Transparenzvorschriften,
ter tief im Meeresgrund nach dem Schmier- Kontrollinstanzen, Bankabgaben oder die
stoff der industriellen Entwicklung zu boh- Schließung von Steueroasen. Das Schwächeln
ren. Ähnliche Unglücke könnten daher je- der Regierungen gegenüber der Macht der
derzeit auch vor anderen Küsten passieren, Finanzwelt und die fehlende Vorsorge kom-
in Angola, Russland oder Brasilien. Bürger mentiert Altbundeskanzler Helmut Schmidt
in aller Welt empfanden das entfesselte Spru- lakonisch: „Von ihren fulminanten Absichts-
deln der unterseeischen Quelle deshalb auch erklärungen zur Regulierung der Finanz-

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märkte und deren Finanzinstrumenten ist Gas – sind die gleichen wie bei den meis-
bisher noch nichts verwirklicht worden.“ ten anderen Umwelt- und Ressourcenprob-
lemen wie Knappheit an Wasser oder Boden;
Noch beschämender ist die Kluft zwi- diese werden überdies durch die Auswirkun-
schen Beteuerungen und Erreichtem bei der gen der Erderwärmung noch weiter verstärkt.
globalen Verteilungs- und Armutskrise. Seit Dabei sind ausgerechnet die Bewohner jener
Jahrzehnten versprechen die reichen Länder Länder, die zur Erwärmung der Erde am we-
vollmundig, dass sie 0,7  Prozent ihres Brut- nigsten beigetragen haben, die verletzlichsten
tosozialproduktes für Hilfsprogramme und potenziellen Opfer, die von Wetterextremen,
die Entwicklung benachteiligter Ökonomi- Flüchtlingsströmen und Ressourcenkriegen
en ausgeben werden. Doch ebenfalls seit Jahr- bedroht werden. Aufgrund all dieser Zusam-
zehnten halten sich nur die wenigsten an ihre menhänge bezeichnet die indische Umwelt-
Verpflichtungen. Viele Rückschritte müssen schützerin Sunita Narain den Klimawandel
bei den acht Mil­len­niums­zielen bilanziert zu Recht als „Summe aller Fehler“ und for-
werden, welche die Vereinten Nationen (VN) dert, dem Grundkonflikt der vernetzten Welt-
im Jahr 2000 beschlossen haben, um die Situ- gesellschaft an die Wurzeln zu gehen: Gerech-
ation der Armen zu verbessern. Die Zahl der tigkeit oder Selbstzerstörung. Auch wenn
Hungernden soll bis 2015 von etwa 800 Milli- Schwellenländer wie Indien, China oder Bra-
onen Menschen um die Hälfte verringert wer- silien heute Mitverantwortung tragen: Die al-
den? Tatsächlich ist sie sogar wieder auf eine ten Industrienationen müssen aufgrund ihrer
Milliarde gestiegen, als Folge schlichten po- historischen Verantwortung in Vorleistung
litischen Desinteresses. Selbst nachdem die- treten. Sie müssen sich ungleich entschlosse-
ser dramatische Befund im Jahr 2009 veröf- ner, mit viel größerem Tempo als bisher aus
fentlicht wurde, glänzten die Regierungschefs dem fossilen Zeitalter befreien und neue Ent-
der reichen Länder beim VN-Gipfel gegen wicklungs- und Wohlstandsmodelle demons-
den Hunger in Rom durch Abwesenheit. Ihre trieren. Stattdessen auch bei diesem Thema:
Vertreter verwässerten fast alle Bestimmun- permanenter Aufschub. Spätestens im Jahr
gen der Abschlusserklärung, die wie der Ab- 2007, als der Weltklimarat IPCC (Intergovern-
bau von Exportsubventionen oder Begren- mental Panel on Climate Change) unbequeme
zungen des „Landraubs“ eigene Interessen Wahrheiten publizierte, konnten die Regie-
beschnitten hätten. Solcher Hochmut ist po- rungen der Welt die Dringlichkeit des Pro-
tenziell explosiv in einer ungleichen Weltge- blems nicht mehr relativieren. Noch nie war
sellschaft, in der ein Prozent der erwachsenen zwar die Weltöffentlichkeit so intensiv um das
Weltbevölkerung 40 Prozent der Vermögens- gleiche Thema versammelt wie in diesem Jahr;
werte besitzt, während die ärmere Hälfte der noch nie war der Druck auf die Umweltmi-
Menschheit über nicht einmal ein Prozent nister und ihre Unterhändler aus 192 Ländern
verfügt. Das extreme Gefälle teile die Welt so massiv wie bei der Weltklimakonferenz im
„in eine Zone des Friedens und eine Zone des Winter 2007 auf Bali. Aber trotz dieser Dra-
Aufruhrs“, schreibt der britische Entwick- matik entgingen die Verhandlungen in letz-
lungsökonom Robert Wade. Dabei richtet ter Sekunde nur zufällig dem Kollaps. Erneut
sich der Zorn jener, die sich vom Wohlstand konnten sich die Delegierten auf kaum mehr
abgehängt fühlen, nicht nur gegen die Rei- einigen als eine weitere Konferenz. Diese wie-
chen wie beim Bombenattentat auf das Hotel derum vermeintlich letzte Gelegenheit schei-
Taj Mahal Palace in Bombay (Mumbai), eine terte zwei Jahre später in Kopenhagen am
mondäne Unterkunft für den global traveller. Streit um eine gerechte Verteilung der „Emis-
Die wachsende soziale Kluft spaltet viele Ge- sionsrechte“. Seither herrscht in der globalen
sellschaften auch von innen. In abgelegenen, Klimapolitik weitgehender Stillstand.
verelendeten Regionen Indiens etwa flackern
zunehmend bürgerkriegsartige Konflikte auf.
Übersehene Erfolge globalen Regierens
Ernüchterung auch bei der Klimakrise: Sie
ist ein planetarischer Notfall und die umfas- Das neue Jahrzehnt begann also mit einem
sendste Herausforderung, weil sie fast alle großen Katzenjammer. „Die Weltgemein-
Aspekte des Wirtschaftens berührt. Ihre schaft stolpert durch ein Wechselbad der Ge-
wichtigsten Ursachen – Entwaldung und die fühle“, formuliert der Politikwissenschaftler
übermäßige Verbrennung von Kohle, Öl und Dirk Messner milder, wie sich Hoffnungen

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und Enttäuschungen bei der global governance bedingungen sozial und ökologisch verträg-
abwechseln. Ist die eine Welt doch nur eine Il- licher zu gestalten. Nicht zuletzt dank des
lusion und trotz drohender Katastrophen un- Einsatzes uniformierter Helfer der VN hat
fähig zu kooperieren? Kommt das globale sich beispielsweise die Zahl der Bürgerkriege
Regieren wegen fehlender Wirksamkeit ausge- und bewaffneten Konflikte deutlich verrin-
rechnet aus der Mode, da es immer dringlicher gert. Kriegsverbrechen können vor einem in-
wird? Ja: die Globalisierung überhaupt? ternationalen Gerichtshof geahndet werden.
Die Bemühungen vieler Länder um eine bes-
Das Projekt Weltgesellschaft für tot zu er- sere Grundschulbildung und im Kampf gegen
klären, wäre aber noch bedrohlicher als mit Malaria und Aids kamen auch deshalb voran,
seinen Geburtswehen zu ringen, denn bei weil der internationale Druck des Mil­len­
einem Scheitern würden alle verlieren. Die niums­pro­zes­ses und die Unterstützung der
Geschichte zeigt, dass Ent-Globalisierung VN auf manchen Gebieten eben doch Wir-
schnell in Gewalt münden kann: Zu Beginn kung zeigte. Sie haben Regeln zum Schutz
des vergangenen Jahrhunderts hatte schon der Biodiversität verabschiedet, indigene Völ-
einmal ein rasend voranschreitender Aus- ker können sich auf neue Partizipationsrech-
tausch von Gütern und Technologien über te berufen, das Welternährungsprogramm
die globalen Märkte vielen Ländern und Be- hilft doppelt so vielen Menschen wie zu Be-
völkerungsgruppen immensen sozialen Fort- ginn der 1990er Jahre. Sonderbeauftragte für
schritt gebracht. Aber auch damals gab es ne- Wirtschaft und Menschenrechte oder für das
ben den Gewinnern zahlreiche Verlierer des Menschenrecht auf Nahrung dringen mit
Wandels. Einige Regionen Europas verloren Nachdruck auf die vernachlässigte praktische
zum Beispiel durch billige Getreideimporte Umsetzung großer VN-Konventionen.
aus den USA ihre Absatzmärkte. Ihre Ver-
armung war einer der Gründe für rigorosen
Protektionismus und nationalistische Ag- Erwartungen an globales Regieren
gression und diese ein Funken an den Pulver- sind oft überfrachtet
fässern, der den grausamen Ersten Weltkrieg
mit seinen Abermillionen Opfern entfachte. Dass die Regierungen bei den drei großen
Krisen bisher keine adäquaten Lösungen er-
Auch heute wäre der Rückzug ins Natio- zielt haben, liegt an nationalen und ökonomi-
nale die Flucht aus einer komplexen Verzah- schen Interessen, aber nicht zuletzt auch da-
nung der Gesellschaften, von der bei besserer ran, dass die neoliberalen Blütenträume der
Regulierung alle profitieren könnten. Die po- 1990er Jahre geistig noch immer nicht über-
sitiven Folgen, die der neue Integrationsschub wunden sind. Mit einem neuen Welthandels-
in die Weltmärkte in den 1990er Jahren und regime und dem „Washington-Konsens“ des
die damit verbundene Kommunikationsdich- Internationalen Weltwährungsfonds (IWF)
te ausgelöst haben, werden allzu leicht über- und der Weltbank leiteten die Industrienati-
sehen. So stärkt die ökonomische Vernetzung onen seinerzeit die nächste Dimension welt-
und die damit einhergehende gegenseitige weiter wirtschaftlicher Integration ein. Li-
Abhängigkeit der Nationen ihr Interesse am beralisierung und Privatisierung galten als
Frieden, und sie kann allen mehr Wohlstand Allheilmittel. Der Glaube an eine quasi na-
bringen. Besonders in den großen Schwellen- turgesetzliche Marktdynamik, die Wohlstand
ländern hat sie mehreren Millionen Menschen für alle erreichen würde, hatte nach dem Zu-
neue Chancen eröffnet, der absoluten Armut sammenbruch des sozialistischen System-
zu entkommen. Enormer Reichtum wurde blocks die Regierungs- und Chefetagen er-
weltweit erwirtschaftet. Jean Ziegler, der en- fasst; er beherrschte die Gesellschaften der
gagierte Menschenrechtskämpfer im Auftrag Industrieländer bis hinein in rote und grüne
der VN, drückt es so aus: „Zum ersten Mal in Parteien. Ein regulierender Staat, ja letztlich
der Geschichte der Menschheit ist der objek- das Politische, galt als Anachronismus, und
tive Mangel besiegt, und die Utopie des ge- das traf auch die globalen Institutionen.
meinsamen Glückes wäre materiell möglich.“
Die Vorherrschaft des Ökonomischen fiel
Überdies gibt es im Schatten des Scheiterns weit zurück hinter die Erkenntnisse, die 1992
auch Erfolge beim Versuch der Völkerge- bei der großen Konferenz der VN über Um-
meinschaft, die globalen politischen Rahmen- welt und Entwicklung festgehalten wurden.

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Seinerzeit waren in Rio de Janeiro Ökologie, statt Politik. Es beschließen zum Beispiel alle
wirtschaftliche Entwicklung, Demokratie und gemeinsam vollmundig im Jahr 2009 im italie-
soziale Gerechtigkeit erstmals zusammenge- nischen L’Aquila, 22 Milliarden US-Dollar ge-
dacht worden. Dem Treffen in Aufbruchstim- gen den Hunger bereitstellen zu wollen, doch
mung folgten zwar bis ins neue Jahrtausend ein Jahr später ist noch immer kein Cent aus-
hinein eine Vielzahl weiterer VN-Konferen- gegeben. So wie schon mehrmals, wenn es um
zen zu den großen Zukunftsthemen Klima, Versprechungen für die Armen ging, nur alter
Weltbevölkerung, Menschenrechte, Frauen, Wein, der schon einmal in nationalen Schläu-
soziale Entwicklung, Siedlung, Ernährung chen abgefüllt war, international noch einmal
und Nachhaltigkeit, die bei allen Gegensät- als neu verkauft wurde. Als Vertretung aller
zen und Unzulänglichkeiten wichtige globa- Völker – von Guinea-Bissau bis China – haben
le Normen setzten. Doch wo ihre Beschlüs- daher einzig die VN eine globale Legitimati-
se wirtschaftliches Handeln beschnitten wie on, und es bleibt die Aufgabe, ihre zähen Dis-
etwa bei Biopatenten, da wurden sie von der kussionsprozesse und Strukturen mit langem
ungleich größeren Durchsetzungsmacht der Atem zu verbessern.
Welthandelsbestimmungen untergraben.
Auch manche ihrer Fürsprecher haben zur
Gewiss, auch die Kritik an der Ineffizi- derzeit herrschenden Global-governance-
enz der VN ist berechtigt. Viele ihrer Or- Müdigkeit beigetragen, indem sie die VN mit
ganisationen sind gelähmt durch Bürokratie allzu hohen Erwartungen überfrachteten.
und reflexhafte, anachronistische Nord-Süd- Eine Weltregierung mit ähnlichen Aufgaben
Schlachten. Doch solche Schwächen rühren wie eine nationale Exekutive kann und soll es
nicht zuletzt daher, dass die VN trotz wach- in New York nicht geben. Ihr Zentralismus
sender Aufgaben meist über völlig unzuläng- wäre von den unterschiedlichen wirtschaft-
liche Mittel verfügen, und dringend notwen- lichen, ökologischen, kulturellen und sozia-
dige innere Reformen vernachlässigt wurden. len Verhältnissen der einzelnen Länder viel zu
Überdies haben sich die USA globalem Re- weit abgekoppelt, ihre Entscheidungen wären
gieren stets, gelinde gesagt, pragmatisch ent- demokratisch kaum kontrollierbar, das heißt:
zogen, und die veralteten VN-Strukturen weder innovativ noch fehlerfreundlich. Der
spiegeln ähnlich wie beim IWF und der Welt- Versuch, alle Ökonomien nach dem gleichen
bank noch immer die Welt ihrer Gründung in Wirtschaftsmodell zu uniformieren, ob Mala-
Zeiten des Kalten Krieges wider. Den „tekto- wi oder Japan, Kenia oder die USA, war auch
nischen Machtverschiebungen“, die der neue schon der größte Fehler der Welthandelsver-
Globalisierungsschub mit sich gebracht hat, absolutierer. Auch seinetwegen herrscht in der
sind sie kaum angepasst, und es untergräbt Welthandelsorganisation (WTO) in Genf seit
ihre Autorität, dass sich Entwicklungsländer langem Stagnation. Ähnlich abgehoben droht
und besonders Schwellenländer wie ­China, auch der Klimaprozess keineswegs nur an ego-
Indien oder Brasilien mit ihren hohen Be- istischen Emissionsinteressen der mächtigen
völkerungszahlen und Wirtschaftsleistungen Wirtschaftsnationen zu scheitern. Auch die
nicht angemessen repräsentiert fühlen. tiefgreifenden technokratischen Ansätze einer
hermetischen globalen Klimaschutz-Exper-
Der Club der reichen G8-Staaten konnte sich tenszene stoßen zunehmend auf Widerstän-
daher lange Zeit mit Pomp als eigentliche Ins- de, weil CO2 -Vermeidung nach ihren Regeln
titution globalen Regierens inszenieren. Zwar Menschen ihrer lokalen Ressourcen berau-
ist es ein Fortschritt, dass er unter dem Druck ben oder entwicklungspolitische Ziele gefähr-
der Krisen die größten Schwellenländer in sei- den kann. Die Vorstellung erweist sich zuneh-
ne exklusiven Reihen aufnahm – diese neue mend als realitätsfremd, 192 Staaten könnten
G20 und ihr regelmäßiger Austausch haben über jedes winzige Detail etwa eines globalen
auch eine hohe vertrauensbildende Bedeutung Emissionshandels einen Konsens erzielen.
in Zeiten sich verschärfender ökonomischer
Konkurrenz – aber die Treffen sind informell, So ist die Kernfrage der global governance
und ihre Beschlüsse bleiben allzu oft Absichts- jene nach der richtigen politischen Arbeits-
erklärungen, peinlich folgenlos. Die man- teilung. Im globalen Rahmen gilt es wei-
gelhafte parlamentarische Rückkoppelung terhin, um Normen, Ziele und Sanktionen
der selbsternannten Weltregierung erleichtert zu ringen, überdies um gerechte finanziel-
eben eine Kultur der Doppelzüngigkeit: PR le Transfers und den Austausch von Wissen.

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Die praktischen Instrumente aber, um Ver- Jeanne Lätt
änderungen wie den Umbau des Energiesys-
tems zu erreichen, werden schneller, wirksa-
mer und ressourcengerechter regional oder
“We will have to learn
lokal entwickelt. Nur so lässt sich dauerhaft
eine politische und wirtschaftliche „Arten- to be better listeners” –
Double interview
vielfalt“ und damit ein Wettbewerb der bes-
ten Lösungen aufrechterhalten.

Weltmacht Weltbürger with Thomas Fues and


„Global denken, lokal handeln“: Der Ansatz Siddharth Mallavarapu
der „Agenda 21“ erscheint zwanzig Jahre
später weitsichtiger denn je. Er verdient auch
deshalb als „Rio reloaded“ neu bedacht zu
werden, weil er die Demokratie belebt. Denn
eine Schlüsselrolle spielt dabei die globale Zi-
T he creation of global governance institu-
tions is not so much a question of choice
as a necessary response to the pressure cre-
vilgesellschaft, die weit über professionali- ated by global prob-
sierte Nichtregierungsorganisationen hinaus lems such as growing Jeanne Lätt
geht, sich dank des Internets ebenfalls inten- social and economic M. A., born 1974; fellow resear-
siver denn je zusammenschließt und auf die inequalities, climate cher at the German Develop-
die meisten kreativen Lösungen zurückge- change, financial cri- ment Institute, Tulpenfeld 6,
hen. Auch Bauern- oder Wirtschaftsverbän- sis or international 53113 Bonn.
de, Gewerkschaften, Wissenschaftsorganisa- terrorism, some theo- jeanne.laett@die-gdi.de
tionen und unzählige Stiftungen sind längst rists of international
über die Grenzen der Kontinente hinweg ver- relations say. Our ef- Thomas Fues
netzt und können die Umsetzung von Ver- forts should therefore Dr. rer. pol., born 1954; head of
einbarungen der VN vorantreiben. Beispiel- not concentrate on Training Department and senior
weise erinnern sie wie das Netzwerk CorA whether global gov- researcher at the German
ihre Regierungen an deren Verantwortung ernance is desirable or Devel­opment Institute (v. s.).
dafür, dass transnationale Unternehmen auf not, but on how it can thomas.fues@die-gdi.de
die Einhaltung von Menschenrechten wie die be brought about in an
Versammlungsfreiheit verpflichtet werden. efficient and inclusive Siddharth Mallavarapu
Oder sie setzen sich wie La Via Campensina way. Ph. D., born 1973; Assistant Pro-
weltweit für die Umsetzung des Menschen- fessor at the Centre for Interna-
rechts auf Nahrung ein. Global governance The first essential tional Politics, Organisation and
wird auch durch erfolgreiche Modelle auf na- step on the path to- Disarmament, Jawaharlal Nehru
tionaler Ebene bereichert. Am deutlichsten wards more inclusive- University, New Delhi/India.
wird dies beim Einspeisegesetz für erneuer- ness in global govern- mallavarapu.siddharth@
bare Energien. In keinem anderen Land ist ance will no doubt gmail.com
die Einführung von Windkraft, Photovol- be to overcome the
taik und Biomasse so weit gediehen wie in North-South divide. In order to achieve this
Deutschland, deshalb wurde das Gesetz be- aim, we will need to be more attentive to
reits in über 50 Staaten in jeweils angepasster power unbalances in the current international
Weise zum Vorbild genommen. system, but also to historical sensibilities and
different perspectives between the regions on
Die Verbindung zwischen globaler und lo- the global problems that affect us all.
kaler Ebene sieht auch die Wirtschaftsno-
belpreisträgerin Elinor Ostrom als Weg, den Although the opinions advanced in the fol-
drohenden Krisen zu begegnen. „Wir brau- lowing interview are very personal ones, they
chen globale Abkommen“, sagt sie und fügt might offer a glimpse of where major points
hinzu: „Fangt bei Euch selbst an!“ of discussion could lie: Is international norm-

The interview took place on 13 April 2010 in Bonn.


Deutsche Übersetzung online: www.bpb.de/apuz

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creation as an inclusive process conceivable the apex. However, the international com-
or is it necessarily mirroring the priorities of munity has not yet come to an agreement on
powerful states? Do current international in- basic normative principles. This is a crucial
stitutions such as the United Nations (UN) factor in explaining the breakdown of the re-
have the legitimacy to coordinate the process cent Copenhagen summit on climate change.
of global norm-creation or are they taint- Governments could not agree on a formu-
ed because they originate from a historical la for equi­table burden sharing in mitigation
­period of western domination? And will the and adaptation. We now experience a frag-
role of emerging developing countries like mentation of global authority, a backslide to
China, India or Brazil – which are economi- the “anarchic” state of international relations
cally and politically strong enough to “mat- envisioned by realist theorists. Trust, reci-
ter” on the global stage – principally be an procity and the construction of a cooperative
important and positive one? multilateral order will critically depend on
agreeing on universal ethics.

Lacking shared global visions? Despite the difficulties you see ahead, nei-
ther of you actually puts in doubt the neces-
When we look at the difficult and often con- sity to find shared global values. Why, in your
fusing negotiations during the Copenhagen opinion, should norms be a constitutive ele-
climate summit last year, the incapacity of in- ment of global governance in the first place?
ternational institutions to come up with long-
term and systemic responses to the current fi- Fues: For me, the essential building block
nancial crisis, or the deadlock of the World of governance is the individual human being.
Trade Organization (WTO) Doha round The legitimacy of global governance cannot
launched in 2001, it seems that the global com- be found in the pursuit of national self-inter-
munity is having a hard time bringing about est or in systemic outcomes such as stability
effective solutions to global problems. Could and prevention of interstate-war, but rather
the reason be that we are currently lacking in improving the living conditions of every
shared global visions and global norms? member of the human race while, at the same
time, ensuring a healthy biosphere and the
Mallavarapu: I would not see the cur- survival of fellow creatures on Earth. Follow-
rent difficulties as a deadlock of global gov- ing this logic, I think that there are different
ernance. Rather, the pace at which global in- ways of explaining the necessity of ethics for
stitutions are evolving has been somewhat global governance. According to the econo-
reduced ultimately. Notwithstanding the mist Amartya Sen, universal norms have an
general pessimism after Copenhagen, we can intrinsic value for human life and well-being,
see that there is a general agreement that more particularly as individuals become more in-
collective action and shared global values are terconnected in a globalised society. Younger
necessary. However, global governance is not generations begin to extend their horizon be-
such an easy thing to bring about. The cru- yond national and group entities and to sup-
cial disagreements relate to the modalities as port global causes such as justice for all. Eth-
well as the content of global governance. It ics also has an instrumental value in raising
involves contending with both pragmatic is- the productivity and resilience of the global
sues, such as institutional design, and more economy. For example, poverty and exclu-
substantive issues, such as finding a consen- sion exacerbate social tensions while equity
sus on what actually constitutes global justice and human rights favour innovation and sus-
in terms of burden sharing, how we may con- tainable development. And finally, ethics has
struct a genuinely global identity, etc. There a constructive importance. This refers to the
is really no escape from these questions. observation that universal standards are not
self-explanatory considering the diversity of
Fues: The notion of “normative crisis” as cultures, religions and value systems in the
root cause for the paralysis in global politics world. In the process of ongoing conversa-
appeals to me. After the end of the hegem- tions and negotiations on the principles and
onic order dominated by western countries priorities of managing global affairs, societies
we now live in a world of multipolarity where continually experience shifting perceptions
rising powers from the South have moved to of the “self” and the “other” and learn to in-

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tegrate a cosmopolitan dimension into their ly. This suggests that there may be alterna-
“radically incomplete identity”. This last tive maps in terms of a hierarchy of values, in
point is highlighted for instance by Homi K. other words, there may be different answers
Bhabha, Professor at Harvard University and to the question: What matters most? A  so-
one of the most important figures in contem- lution to this problem would be to register
porary post-colonial studies. these different maps and bring them into con-
versation. But this will be difficult – though
You both mention “burden-sharing” as one not impossible – to achieve. Even within do-
of the main ideas of fair global governance. mestic spheres the establishment of common
International negotiations such as, most re- norms and a national identity are contested,
cently, Copenhagen have shown that differ- and this is particularly glaring in situations of
ent countries apparently have very different ethno-national polarisation such as between
views on the “burden” they ought to carry. the Sinhalas and Tamils as witnessed until re-
How can we reach a common understanding cently in Sri Lanka.
on global justice?

Fues: In my view, global norm-creation “Why always refer only to Kant?”


should be considered as a double-track pro-
cess: deductively from above – for example You mention the establishment of a common
distilling common ground from world reli- identity at the national level: Can the pro-
gions  – and inductively from below. A nice cess towards more global governance be com-
example for the second kind of approach is pared to the state-building processes as they
given by the current proposals for global cli- took place in Europe during the 19th century,
mate policies, particularly regarding the allo- for example?
cation of the remaining environmental space
–  the so called “sink capacity” – for green- Mallavarapu: The analogy is certainly
house gas emissions. Policy-makers from In- limited. Governance beyond the boundaries
dian prime minister Manmohan Singh to of the nation-state poses its own set of prob-
German chancellor Angela Merkel, as well lems. While there is growing recognition that
as scholars, do agree that the available envi- distinguishing too sharply between the do-
ronmental space should be distributed on an mestic and the international is certainly in-
equal per capita basis – meaning that each per- adequate, there still remain some dif­feren­ces.
son on this planet would ultimately receive For the process of nation-building, clear dev-
the same emission quota. This, multiplied by olution of structures is essential. Governance
the population of a particular country, would internally is about governments, about sov-
lead to the national emission quota. If nations ereignty and constitutionalism, all aspects
would agree to that formula in climate poli- which are relatively weaker outside the do-
cies, the principle of equal per capita rights to mestic sphere. So the fundamental issue at the
the global commons could be applied to other international level would be to achieve gov-
kinds of transnational environmental goods. ernance in the absence of government. How
This would represent a powerful component do we establish a body of regulations without
of global ethics coming from concrete inter- having a supranational authority? How do we
governmental dialogue and negotiations. arrive at universally acceptable standards?

Mallavarapu: When talking about a com- Fues: The difference at the global level is
mon understanding of global values, we have that no world government is in sight nor is
to make sure first of all that the provincial it desirable. Rather, global governance has to
– any hegemon’s values – is not masquerading rely on the motivation for voluntary associa-
as the universal yet again. Let me give you an tion and collaboration. The incentives for this
example: The first generation of human rights will increase as the benefits of shared sover-
focused more exclusively on civil and political eignty become more obvious in the face of
rights, while the developing world was keen global interdependencies. Rather than look-
to lodge economic and social rights as equal- ing for national models, it might be useful to
ly fundamental in a charter of human rights. look at the formation of regional blocks like
The second generation of human rights even- the European Union (EU) or the Association
tually incorporated these rights more square- of Southeast Asian Nations (ASEAN). The

APuZ 34–35/2010 9
Lisbon Treaty of the EU has a strong ethic­ tial frameworks about concepts and catego-
al foundation, the Charter of Fundamental ries, its own approach to recognise the world.
Rights, which embraces basic economic and Mignolo is even suspicious of the way our
social rights, alongside the more tradition- current regions of the world – Latin Amer-
al civil and political rights. I see it as a cru- ica, for instance – have been framed as part
cial milestone on the road towards Euro­pean of the Area Studies tradition. The issue of
citizenship in providing a single normative power comes in here, too. Historical asym-
framework for the continent. The ASEAN metries of resource exploitation have be-
Charter, adopted in 2007, also includes com- come part of the political consciousness of
mon principles of human rights and social the global South, and for this reason there is
justice, but at a more general level compared a certain degree of suspicion about the actu-
to the European document. It seems that po- al establishment of fair global standards. The
litical leaders, in the process of regional inte- most glaring backdrop of this was centuries
gration, have begun to recognise the essential of colonial rule. But asymmetries and pow-
value of shared ethics for supranational con- er relations are not only present at the global
stitutionalism. level; they are also reproduced in the regions.
The process of consensus building within the
How can these experiences be transferred to EU is often idealised. Neither the EU nor the
the global level? ASEAN are monoliths, both comprise more
and less powerful countries, some which are
Fues: In the first place, regional associa- more influential than others. So the question
tions which enshrine common normative would ultimately be how to arbitrate the dif-
principles could well become a model for glo- ferent claims. Whose norms will we chose?
bal governance. And to take this line of rea- How can we ensure that there is real inclu-
soning a step further: There might be ways of sivity? We have to think about this when we
synthesising existing and evolving regional talk about creating global governance struc-
value systems into an overarching universal tures based on supposedly regional or global
body of norms and rules. To move into this value systems.
direction we would need a comparative anal-
ysis of the ethical substance of regional inte- How could the gaps you mention – geo-cul-
gration regimes. Additional insights on com- tural, related to historical experience, etc. – be
mon value systems across regions could come overcome? Are there existing models which
from a focus on continental human rights have more legitimacy than others? Or do we
regimes which exist in Africa, America and have to look for new solutions?
Europe. A similar methodological approach
has been followed by the Parliament of the Fues: I would be very pragmatic and look
World’s Religions in 1993, when it claimed at what already exists: Under the umbrella of
that a global ethic already implicitly exists the United Nations, the international com-
through a common set of core values – non- munity has, over the years, adopted an im-
violence, respect for life, tolerance and soli- pressive body of binding legal agreements as
darity – found in religious teachings. well as soft law in the form of political com-
mitments which constitute a comprehen-
Mallavarapu: Certainly, there are some sive framework of global ethics. Early ex­
basic ­ideas everybody agrees on: the impor- amples of this are the UN Charter (1945) and
tance of a good quality of life, human well- the Universal Declaration of Human Rights
being, the right to life. But if we are talking (1948). More detailed provisions are to be
about global or regional norm setting, I think found in the array of human rights conven-
we have to bring in the concept of “geo-cul- tions and intergovernmental agreements on
tural epistemologies” as employed in the labour standards which have been ratified by
work of the Argentinian Walter Mignolo, ❙1 most countries. High moral norms are em-
the fact that each region has its own referen- bedded in the aspirational paradigm of sus-
tainable development which was successive-
ly passed by the UN General Assembly at
❙1  Argentinian semiotician; Professor of Literature at
Duke University; in his extensive work, he explores the world conferences of the 1990s, such as
concepts such as global coloniality, the geopolitics of the 1992 Rio Earth summit, the Copenha-
knowledge and transmodernity. gen social summit and the women’s confer-

10 APuZ 34–35/2010
ence in Beijing (both of 1995). Of particular der the ­aegis of the United Nations. For this
relevance for the ethics of global governance purpose, I could imagine both a decision of
is the Millennium Declaration of 2000 which the UN General Assembly by consensus or a
sets high standards for universal peace, pros- majority decision which allows for a limited
perity and ­sustainability. number of dissenting votes.

Mallavarapu: The UN is undoubtedly


the international body which enjoys the wid- “Nobody forces a government
est legitimacy globally. However, in my opin- to ratify a human rights agreement”
ion it is essential in the interest of legitimacy
that we get back to regional or local sources And where do you see the main challenges to
to find global values. In India, Mahatma Gan- these universal projects?
dhi and Rabindranath Tagore, a popular Ben-
gali poet, novelist and musician, are excellent Fues: We have to acknowledge that the im-
exemplars of locally anchored cosmopolitan pact of normative frameworks such as that of
beings. Why always refer only to [Imma­nuel] the UN is weak since member states ignore
Kant when we think of cosmopolitanism? them at their will with impunity. There are
Sure, he had some very important ideas to of- huge gaps in monitoring and no sanctioning
fer the world but we need to also take into mechanisms – except in international securi-
consideration sophisticated thinking in other ty and trade. These gaps structurally privi-
parts of the world. In my view, regional ref- lege the arbitrary exercise of sovereign rights
erences are essential in order to find a global – the pursuit of narrow national self-interest –
consensus on values and norms. The archive over the ethically based concept of “enlight-
must be opened up to include thinking avail- ened sovereignty” (Stephen Harper) which
able in both past and present in Africa, Latin puts equal emphasis on global responsibili-
America and Asia. This has to be done with ties and multilateral cooperation. Another
genuine interest, rather than merely as token challenge to UN norm-creation comes under
gestures of goodwill. To begin with we must the guise of anti-colonial emancipation. It is
all be better listeners. The rest follows only claimed by some quarters that ethic­a l stan-
subsequently. dards in general and the particular hierarchy
of moral priorities have been created to serve
Fues: I would agree that many examples the interests of western states. This position
from history can also be valuable sources for disregards the broad participation of politi-
the constitution of global norms. I am think- cal leaders and scholars from the developing
ing for example of the governing principles of world. Still, in a historical perspective, the
the Indian Emperor Ashoka (304–232 BCE), contested documents originate from a period
who established a political system based on of western predominance. It may therefore be
ethical commitments in regard to equality of advisable to initiate a new process for global
all human beings, respect of religions, non- ethics which reflects multipolarity and ex-
violence, prohibition of slavery and the death plicitly draws on value systems and historical
penalty, environmental protection and ani- experiences from the South.
mal welfare. His kingdom is also seen as the
first to provide humanitarian assistance to Mallavarapu: This is not only a question
neighbouring countries, including medical of historical perspective. One of the big chal-
personnel, facilities, medicine as well as en- lenges is the contradiction between the prin-
gineers. Another interesting example is the ciple of equal legal standing between all UN
Tang dynasty in China (618–907 CE), with its member states, and the stark differentials
cosmopolitan achievements such as peaceful in the world system in terms of actual state
coexistence of ethnic communities, religious standing. The UN is probably the most at-
and cultural freedom, equality of ­women tractive forum to jointly discuss global val-
and, to a limited extent, rule of law. In my ues. But even within the UN system, the Se-
understanding, any global ethical frame- curity Council is an exclusive club. The UN
work derived from historical experiences, re- General Assembly, which is far more repre-
ligious teachings and cultural values would sentative than the Security Council, is not
have to be deliberated and negotiated in an half as influential. The structures of the UN
inclusive, transparent fashion, preferably un- are in high need of reform. Outside the UN

APuZ 34–35/2010 11
system too, the lives of some appear to matter The issue of legal sovereignty was then a key
more than the lives of others. The initial in- issue for India and other recently decolonised
ternational inaction surrounding the Rwan- countries, who were keen to be full members
dan genocide is a case in point. of the international community and to re-
ceive legal recognition. Even today, the UN
Does this mean that the real problem lies undoubtedly is widely recognised, also in In-
in the structure of the current global govern- dia. At the same time, much of the promise of
ance framework, rather than in the values on the movements of the South has not been re-
which it is based? alised. A good example is the Non-Aligned
Movement (NAM), which was never really
Mallavarapu: It is certainly a question of able to challenge the dominance of the great
values as much as of structures. As far as the powers. Even positive and constructive ide-
values are concerned, the devil is in the de- as like the New International Economic Or-
tail. For instance one issue that has irked the der (NIEO) ❙3 were never allowed to breathe
developing world considerably are subsidies freely in the international system. They were
to farmers in the developed world when the nipped in the bud. I do not deny that there
terms of trade are extremely unequal to the is an agreement on some core values, what
disadvantage of the peasantry in the develop- I want to say is that structures and politi-
ing world. These examples can be multiplied. cal processes matter. Look at what is being
What we really need is to engage the question done under the flag of democracy promotion
of democratising the international system. or even international aid. There is simply a
gap between aspirational values and the prac-
Fues: It is true that western countries have tice of politics. I do not think modern inter-
in the past, and sometimes still today, utilised national law has had an untarnished reputa-
moral concerns such as human rights and tion in terms of its lineage. In this context,
good governance for the pursuit of a hidden I find the work of Antony Anghie ❙4 very in-
agenda towards developing countries. One structive. He argues that the colonial encoun-
example for this is the ongoing controver- ter was critical to the constitution of modern
sy on the “responsibility to protect” which international law and that the language of
some see as important cosmopolitan innova- contemporary sovereignty is an outcome of a
tion while other accuse it as a pretext for neo- not very distant Eurocentric past. We have to
imperialist interference. However, a total re- be aware of this lineage when we talk about
jection of UN ethics would not do justice to “global” values.
the broad participation of political leaders,
scholars and activists from the South in the Fues: In my eyes, the best way to move
design and implementation of such norma- forward would be a double tracked strat­egy.
tive frameworks. And it also disregards the On the one hand, existing commitments
voluntary consent and accession of nation- must be monitored and non-compliance
states to proposed declarations and conven- must be exposed. The mechanisms for this,
tions. Nobody forces a government to ­ratify however, must be independent and impar-
a human rights agreement, though there may tial in order to eliminate any hint of power-
be pressures from within. But once they do based influence on process and outcome. On
that they need to be made accountable to the the other hand there must be a new political
substance and procedure contained in the initiative which is based on a genuine syn-
­document. thesis of value systems and cultures from all
parts of the world. Even more importantly,
Mallavarapu: Political leaders from the the voluntary character of any commitment
South have indeed played an important role should be protected under all circumstanc-
in designing global normative frameworks. es. Therefore, western states should refrain
If you look at India, a great deal of faith was
placed in multilateralism and the UN system
particularly in the Nehru years (1947–1964). ❙2 ❙3  Set of proposals put forward during the 1970s by
developing countries through the United Nations
Conference on Trade and Development (UNCTAD)
❙2  Jawaharlal Nehru (1889–1964) was a leading figure to promote their economic interests.
in the Indian independence movement and first prime ❙4  See Antony Anghie, Imperialism, Sovereignty and
minister of India. the Making of International Law, Cambridge 2005.

12 APuZ 34–35/2010
from any sort of ethics conditionality at- The WTO has an impartial process of dis-
tached to development assistance or other pute settlement, all WTO members are sub-
benefits. ject to it. Or take the human rights conven-
tions, where shadow reports from non-state
actors exert significant pressure on devi-
“The new heavyweights from the South ant countries, although there is no formal
have to lay their cards on the table” sanctioning mechanism in the human rights
area.
You mention the problem of non-compliance.
In the absence of a global government, how Mallavarapu: Sanctioning mechanisms
can the global community ensure that glo- may work better in some domains than in
bal rules and principles are respected? And others. However, the overall legitimacy of
who would most probably be the major “rule the institutions involved as well as the instru-
­breakers”? mentalities chosen remain crucial to scru-
tinise from the perspective of the disadvan-
Fues: In the same way as there exists or- taged. As long as they are perceived as unjust
ganised crime at the national level, we can by virtue of being uninclusive they are not
expect that certain “rogue actors” of global likely to be very enduring bases on which
governance will not abide by ethical norms, to erect a new architecture of global govern-
so we will have to find a way to constrain ance. Apprehensions also relate to double
them. Such malevolent actors could be au- standards. For instance if we look at the In-
thoritarian governments or private entities, ternational Criminal Court. What is the like-
for example from the business sector. Effec- lihood that any powerful head of State from
tive, independent mechanisms of monitoring the advanced industrialised world would be
and adjudication have to be established, with hauled up and questioned for his or her polit-
coercive power to a certain extent. In a key ical excesses? In my view, the notion of per-
area of global governance – trade – we already ception is very important: We can have great
have well functioning sanctioning mecha- rules and institutions, but as long as they are
nisms under the WTO. Conflicts are dealt not universally viewed as fair, we are back to
with by impartial dispute settlement bodies. square one.
Numerous countries, weak and strong, suc-
cessfully make use of this arrangement. Of Western scholars and policy-makers have
course, this presupposes that these countries been increasingly aware of the emergence of
forgo part of their sovereignty to a suprana- big developing countries – China, India, Bra-
tional authority. The key challenge here is zil, South Africa and others – on the global
how to transfer this enlightened understand- stage. Do these countries play a particular role
ing of national sovereignty to other areas of in the establishment of a normative global
global governance. framework? And do they have the potential
to achieve more global justice?
Mallavarapu: Indeed, the key obstacle
is that of national sovereignty. Unfortunate- Mallavarapu: This does offer an inter-
ly, I think that the global community has not esting conjuncture in history. What will be
yet fully internalised a feeling of “­we-ness”. made of this opportunity is as yet an unset-
Global institutions might play a crucial role tled question. Realists in international rela-
in creating some sort of global identity, but tions are likely to remind us that the gram-
in the meantime, traditional notions of sov- mar of power is similar in different parts of
ereignty prevail. This is regrettable in an in- the world. Once countries belong to the first
creasingly global world, and it certainly is league, they will represent their own new in-
part of the problem, but that is where we terests. I am more inclined to explore wheth-
are. The global community has elements of a er the Brazilian or Indian or Chinese styles of
deeper constitutionalism present, yet the ten- foreign policy will bring to bear a degree of
dency for countries is also to lapse back to exceptionalism stemming from their unique
various national logics. locations and backgrounds in world history.
To take the case of India, this country was far
Fues: I would not be that pessimistic. As more vocal on several issues (decolonisation,
I said, some mechanisms are already there: disarmament, development issues) under the

APuZ 34–35/2010 13
stewardship of Jawaharlal Nehru than more Michael Zürn
recent Indian governments. This does not
necessarily mean that current governments in
India care less about these issues. However, in
Internationale Institu-
terms of the stylistics of foreign policy, India
today is much more circumspect and some
argue far more pragmatic. I do not think that
tionen und nichtstaat-
Nehru was any less pragmatic merely because
he articulated himself more regularly and vis-
liche Akteure in der
ibly on the world stage.
Global Governance
Fues: In my opinion, their very econom-
ic and political importance represents a big
challenge for the rising powers themselves.
Today, the G20 has practically displaced the
G8 in terms of global agenda-setting. But it
W er derzeit nach den dringendsten poli-
tischen Problemen unserer Zeit fragt,
wird eine Liste erhalten, auf welcher Klima-
still has to find its own identity and purpose. wandel, Finanzkrise,
It was established as an ad-hoc guardian of Verbreitung von Mas- Michael Zürn
global public goods particularly with regard senvernichtungswaf- Dr. rer. soc., geb. 1959; Direktor
to the stability of the financial system, glo- fen oder Bekämpfung der Abteilung Transnationale
bal growth and open markets. Now that ris- des Terrorismus weit Konflikte und Internationale
ing powers have joined the club, they have oben stehen. Ihre Lö- Institutionen am Wissen-
voluntarily accepted the privileges and obli- sung wird allerdings schaftszentrum Berlin für
gations of global leadership. Nobody forced nicht von National- Sozialforschung (WZB), Reich­
them to join. Now they have the responsibil- staaten, sondern von pietsch­ufer 50, 10785 Berlin.
ity to promote global institutions based on internationalen Orga- zuern@wzb.eu
normative foundations. Clearly, this will not nisationen erwartet:
be the western-biased values of the past, but 54,9 Prozent der deutschen Bevölkerung äu-
the new heavyweights from the South have to ßerten im Jahr 2005 die Ansicht, dass Pro-
lay their cards on the table and let the world bleme infolge der Globalisierung am Bes-
public know what they stand for in terms of ten auf der internationalen Ebene bewältigt
global order and equity. werden könnten. ❙1 Die Mehrheit der Bevöl-
kerung schreibt internationalen Organisa-
Mallavarapu: Still, I view emerging tionen wie der Weltbank, dem internationa-
powers as extremely cautious political ac- len Währungsfonds (IWF), der Welthandels-
tors when it comes to making internation- organisation (WTO), der G8 bzw. G20 oder
al commitments. South-South cooperation den Vereinten Nationen (VN) sogar realpo-
today has a different flavour to it, different litisch bereits einen größeren Einfluss in der
from the days of the Non-Aligned Move- Weltpolitik als der Bundesregierung zu. Aus
ment. States are accountable both domesti- der Bedeutung, die dem Regieren jenseits
cally and externally. Countries like India are des Nationalstaates inzwischen zugemessen
aware that they are faced with internal de- wird, leiten sich eine Reihe von Fragen ab, die
velopment challenges while also recognising auf grundlegende Merkmale der politischen
that their current economic growth rates if Ordnung auf internationaler Ebene abzie-
sustained over the next decade or so funda- len: Haben sich die internationalen Organi-
mentally alters their overall standing in the sationen und Institutionen im Zuge der Glo-
world economy. It is a difficult balancing act balisierung grundlegend verändert und einen
in terms of the extent of importance to assign supra­natio­nalen Charakter erlangt? Und wel-
to one over the other but quite clearly there che Rolle spielen nichtstaatliche Akteure in
is recognition that there is a shift in the glo- diesen Prozessen?
bal mood and it is generally speaking a posi-
tive one. Bevor die Entwicklung der internationalen
Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg in

Ich danke Anne Siemons für die Unterstützung bei


der Erstellung dieses Beitrags.

14 APuZ 34–35/2010
groben Zügen nachgezeichnet werden kann, entierung, die allerdings fest in nationale po-
bedarf es begrifflicher Vorklärungen: Inter- litische Systeme eingebettet ist, welche durch
nationale Institutionen bezeichnen Normen, den Weltmarkt verursachte Schocks und Un-
Regeln, Programme und das dazugehörige gleichheiten abfedern können. ❙2 Infolge ei-
Netzwerk von Akteuren, die das Handlungs- nes durch vertiefende Liberalisierung und
repertoire von Staaten oder nichtstaatlichen beschleunigte technologische Entwicklung
Akteuren beeinflussen, da sie etwas verbie- verursachten Denationalisierungsschubs wa-
ten, ermöglichen oder verlangen. Der Be- ren nationale Politiken jedoch immer weni-
griff Institution umfasst in dieser Verwen- ger in der Lage, durch nationale Marktin-
dung sowohl formale Organisationen mit terventionen und soziale Schutzprogramme
Akteursqualität als auch normgeleitete, sta- gewünschte soziale Ergebnisse zu erreichen.
bilisierte Handlungsmuster. Demgegenüber Das augenfällige Paradox des Nachkriegsli-
verweist der Begriff der Organisation ex- beralismus liegt somit darin, dass er seine ei-
klusiv auf die Akteursqualität einer Einrich- genen institutionellen Abfederungsmecha-
tung. Sowohl internationale Institutionen als nismen angegriffen hat.
auch internationale Organisationen lassen
sich in zwei Grundtypen unterteilen: Zwi- Im Sicherheitsbereich schrieb die VN-
schenstaatliche Institutionen (etwa das Welt- Charta im Jahr 1945 erstmals ein vollständi-
handelsregime) und Organisationen (etwa die ges Verbot von zwischenstaatlicher Gewalt-
Welthandelsorganisation) sind von Staaten anwendung fest. Ausnahmen von diesem
begründet; transnationale Institutionen (wie Verbot sollten lediglich die individuelle oder
etwa die lex mercatoria) und Organisationen kollektive Selbstverteidigung im Falle des
(z. B. Amnesty International) werden hinge- Angriffs sowie der Einsatz von Gewalt zum
gen von gesellschaftlichen Akteuren getragen Zwecke der Sicherung des internationalen
und als transnationale Regime oder transnati- Friedens auf Beschluss des VN-Sicherheits-
onale Nichtregierungsorganisationen (NRO) rates sein. Mit dem Beschluss von 1991 und
bezeichnet. Von all diesen internationalen In- der erfolgreichen Zurückdrängung des Irak
stitutionen ist der Prozess der gesellschaftli- aus Kuwait während des Zweiten Golfkriegs
chen Denationalisierung (oder Globalisie- 1990/91 schien das Gewalt- und Interventi-
rung) zu unterscheiden, der die schubartige onsverbot in der internationalen Politik end-
Zunahme grenzüberschreitender Aktivitäten gültig etabliert und institutionell abgesichert
in so unterschiedlichen Bereichen wie Wirt- zu sein. Im Zuge eines seit gut zwei Jahr-
schaft, Umwelt, Kultur und Wissenschaft zehnten fortschreitenden Prozesses der De-
­beschreibt. nationalisierung der Sicherheitsbedrohungen
nimmt jedoch die Bedeutung der klassischen
Die internationalen Beziehungen nach dem zwischenstaatlichen Kriege, aber auch der in-
Zweiten Weltkrieg waren durch die Bretton- nerstaatlichen Bürgerkriege relativ zu jenen
Woods-Institutionen und das Verbot zwi- ab, die häufig als „neue Kriege“ bezeichnet
schenstaatlicher Gewaltanwendung durch werden. Damit rücken Sicherheitsbedrohun-
die Charta der VN als institutionelle Rah- gen, bei denen die Grenzen zwischen Bürger-
mensetzungen geprägt. Die unter US-ame- krieg, Terrorismus, Staatsterror und Krimi-
rikanischer Führung etablierten Bretton- nalität verschwimmen und die einen dezidiert
Woods-Institutionen (das internationale transnationalen Charakter haben, in den
Handelsregime GATT und die Regime zur Vordergrund. ❙3 Parallel hat sich eine norma-
Regelung von Währungs- und Finanzange- tive Dynamik entfaltet, in Folge derer Men-
legenheiten) unterstützten fast dreißig  Jah- schenrechte heute als weitgehend universell
re lang das Wachstum in den westlichen In- gelten und erhöhter Handlungsdruck ange-
dustriestaaten und förderten die Integration
der Weltwirtschaft. Diesen internationalen ❙2  Vgl. John G. Ruggie, International Regimes, Trans­
Institutionen liegt das Prinzip des embedded actions, and Change: Embedded Liberalism in the
liberalism zugrunde: Es bezeichnet eine frei- Postwar Economic Order, in: Stephen D. Krasner
händlerische und grenzöffnende Grundori- (ed.), International Regimes, New York 1983.
❙3  Vgl. Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized
Violence in a Global Era, Cambridge 2007 (erstmals
❙1  Vgl. Steffen Mau, Transnationale Vergesellschaf- 1998); Bernhard Zangl/Michael Zürn, Frieden und
tung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten, Krieg. Sicherheit in der nationalen und post-nationa-
Frankfurt/M. 2007, S. 190. len Konstellation, Frankfurt/M. 2003.

APuZ 34–35/2010 15
sichts massiver Menschenrechtsverletzungen teresse eines Kollektivs oder stärker noch, das
für die etablierten westlichen politischen Sys- Gemeinwohl einer Gesellschaft absichtsvoll
teme besteht. ❙4 Die Logik des am Status quo zu befördern.
orientierten zwischenstaatlichen Gewalt-
verbots behindert jedoch die Intervention in Das analytische Konzept der Governance
solche neuen Kriege und die Linderung der verweist zum einen darauf, dass die autorita-
häufig damit verbundenen drastischen Men- tive Regelung gesellschaftlicher Problemlagen
schenrechtsverletzungen. Die Beendigung nicht zwingend an Staaten gebunden ist. Ne-
neuer Kriege von außen erfordert nicht sel- ben der governance by government kann es
ten die Verletzung des Interventionsverbotes. auch governance without government (Selbst­
Obgleich diese nach dem Zweiten Weltkrieg auf­erle­g ung von Normen und Regeln durch
geschaffenen internationalen Institutionen gesellschaftliche Akteure) und governance
also auf den Schutz des Status quo und der with governments (Verpflichtung von Staa-
nationalstaatlichen Souveränität zielten, ha- ten im Umgang miteinander auf bestimmte
ben die Denationalisierung der Sicherheitsbe- Normen und Regeln, ohne dass diese von ei-
drohungen sowie die beschriebene normative nem übergeordneten Akteur beschlossen und
Eigendynamik im Ergebnis zur Unterminie- durchgesetzt werden können) geben. Die Ver-
rung der internationalen Nachkriegsinstitu- wendung des Konzepts der Governance im
tionen geführt. Bereich der internationalen Beziehungen ver-
weist darauf, dass internationale Regelungen
nicht mehr nur einfache Koordinationsleis-
Supranationalisierung tungen erbringen. Häufig zielen sie auf eine
und Transnationalisierung aktive und mit normativen Zielsetzungen ver-
bundene Behandlung gemeinsamer Angele-
Die internationalen Institutionen der Nach- genheiten der internationalen Staatengemein-
kriegszeit trugen mithin zu ihrer eigenen schaft bzw. der Weltgesellschaft.
Transformation bei. Im Zuge dieses Wandels
hielt der Begriff global governance Einzug in Entscheidend für unseren Zusammenhang
die Analyse internationaler Angelegenheiten. ist nun, dass sich mit diesen neuen Gover-
Governance allgemein bezeichnet die Ge- nance-Inhalten eine Supranationalisierung
samtheit der kollektiven Regelungen, die auf und Transnationalisierung ihrer institutionel-
eine bestimmte Problemlage oder einen be- len Form vollzog. Supranationalisierung be-
stimmten gesellschaftlichen Sachverhalt zie- zeichnet einen Prozess, in dem internationa-
len und mit Verweis auf das Kollektivinter- le Institutionen Verfahren ausbilden, die sich
esse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt von dem zwischenstaatlichen Kon­sens­prin­zip
werden. Der Begriff bezieht sich also nicht auf lösen. Dadurch können für nationale Regie-
einzelne Regelungen wie die Festlegung eines rungen Verpflichtungen entstehen, Maßnah-
Zollsatzes, sondern auf die Summe der Re- men auch dann zu ergreifen, wenn sie selbst
gelungen, die eine Problemlage betreffen. Er nicht zustimmen. Infolge der Supranationali-
umfasst sowohl den Regelungsinhalt als auch sierung verschiebt sich ein Teil der politischen
die Normen, die den Prozess des Zustande- Autorität von einzelnen Staaten zu interna-
kommens und der Durchsetzung des Rege- tionalen Institutionen. Insofern bezeichnet
lungsinhalts festlegen. Zu regelnde Problem- Supranationalisierung einen Prozess, der po-
lagen und Sachverhalte können beispielsweise litische Autorität – eine Fu­sion von Macht
den Klimawandel, die Handelsbeziehungen, mit einem legitimen sozialen Zweck – jenseits
die Finanzbeziehungen, die Menschenrech- des Nationalstaates erwachsen lässt. ❙5 Eine so
te und anderes mehr betreffen. Es kann aber verstandene Autorität bedarf der Legi­ti­ma­
nur dann von Governance gesprochen wer- tion. Transnationalisierung bezeichnet einen
den, wenn die beteiligten Akteure ihr Han- Prozess, bei dem nichtstaatliche Akteure die
deln damit rechtfertigen, das gemeinsame In- Träger internationaler politischer Regelungen

❙4  Vgl. Thomas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sik- ❙5  Vgl. Volker Rittberger/Martin Nettesheim/Car-
kink (eds.), The Power of Human Rights. International men Huckel/Thorsten Göbel, Introduction: Chan-
Norms and Domestic Change, Cambridge 1999; Frank ging Patterns of Authority, in: Volker Rittberger/
Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration Martin Nettesheim (eds.), Authority in the Global
of Europe. Rules and Rhetoric, Cambridge 2003. Political Economy, Basingstoke 2008, S. 3.

16 APuZ 34–35/2010
und Aktivitäten sind, ohne dass Staaten die ler internationalen Organisationen möglich
Aufgabe an diese formal delegiert haben. Sol- sind, beobachten. ❙8 Mehrheitsentscheidun-
che Regelungen beruhen auf dem Prinzip der gen erhöhen die Handlungsfähigkeit in-
Selbstorganisation und erzeugen private au- ternationaler Institutionen, indem sie das
thority. ❙6 Darunter fallen dann beispielsweise Veto einzelner Staaten aushebeln, Blocka-
sogenannte codes of conduct (Verhaltenskodi- den überwinden und auf Vetospieler einen
zes), die zwischen Unternehmen vereinbart Druck zur Kompromissbereitschaft aus-
werden und möglicherweise Verpflichtungen üben. Der Blick auf strittige Fälle der Regel-
beinhalten, denen die nationale Regierung interpretation zeigt eine Bedeutungszunah-
des Landes, in dem sich der Stammsitz eines me unabhängiger Schiedsgerichtsverfahren
Unternehmens befindet, nicht zugestimmt und internationaler Gerichtshöfe. Gerichts-
hätte. Gleichermaßen bringt die Übernahme förmige Verfahren dienen dazu, Lösungen
von Funktionen durch transnationale NRO für Kollisionen zwischen verschiedenen Re-
im Rahmen internationaler Institutionen eine gelungen zu finden und die Regelinterpreta-
solche Transnationalisierung zum Ausdruck. tion von komplexeren Regelungsgegenstän-
Auch die Transnationalisierung kann im Er- den zu erleichtern; sie entziehen diese jedoch
gebnis dazu führen, dass das Konsensprinzip weitgehend dem Zugriff der Staaten. Von
und Nichtinterventionsgebot internationaler derartigen quasi-gerichtlichen Einrichtun-
Politik de facto umgangen wird. Der enorme gen gab es im Jahre 1960 nur 27; 2004 betrug
Anstieg der Anzahl aller bei der VN regis­ ihre Anzahl bereits 97. ❙9 Die Überwachung
trier­ten internationalen Verträge von 8776 im (monitoring) und Verifikation internationa-
Jahr 1960 auf aktuell 63 419 kann als erstes In- ler Regelungen insbesondere von Aktivitäten
diz für die beschriebenen Veränderungen in innerhalb von Staatsgebieten erfolgt gleich-
der Governance internationaler Beziehungen falls zunehmend von Vertragsorganisatio-
angeführt werden. ❙7 Auch die Problemfelder, nen, internationalen Sekretariaten aber auch
die von internationalen Institutionen bearbei- transnationalen NRO, die nicht direkt der
tet werden, haben sich enorm ausgeweitet. staatlichen Kontrolle unterliegen. So ist bei-
spielsweise die Überwachung von internati-
Neben der wachsenden Quantität und Aus- onal genormten Menschenrechten informell
weitung internationaler Vereinbarungen zeigt längst Menschenrechtsorganisationen wie
sich die Dynamik von Supranationalisierung Human Rights Watch und Amnesty Interna-
und Transnationalisierung der Governance tional übertragen worden.
qualitativ, wenn institutionelle Komponenten
an Bedeutung gewinnen, die das zwischen- Hinsichtlich der Regeldurchsetzung kann
staatliche Konsensprinzip unterlaufen. Dies eine gestiegene Bereitschaft beobachtet wer-
lässt sich an allen Stationen des policy-cycles den, gegen Regelverletzer materielle Sanktio-
in internationalen Institutionen, welcher die nen zu verhängen. Der Bereich des ius cogens
Entwicklung einer Regelung in verschiede- (zwingendes, von der Zustimmung der Staa-
ne Phasen aufteilt, aufzeigen: So können für ten unabhängiges Völkerrecht) reicht inzwi-
die internationale Ebene die folgenden Pha- schen über das Aggressionsverbot hinaus und
sen unterschieden werden: Agendasetzung – umfasst auch das Verbot von genozidartigen
Entscheidung – Implementation/Regelinter- Handlungen und der Apartheid. Darüber hi-
pretation – Überwachung – Durchsetzung naus hat die internationale Staatengemein-
– Evaluation/neue Agenda­setzung. schaft insbesondere seit 1989 Menschen-
rechtsverletzungen zunehmend sanktioniert
Mit Blick auf die Verhandlungs- bzw.
Entscheidungsphase lässt sich zunächst eine
❙8  Vgl. Daniel Blake/Autumn Payton, Voting Rules
relative Zunahme von Mehrheitsentschei- in International Organizations: Reflections of Pow-
dungen, die heute in grob zwei Drittel al- er or Facilitators of Cooperation?, Papier präsentiert
auf „ISA’s 49th Annual Convention“ am 26. 3. 2008 in
❙6  Vgl. A. Claire Cutler/Virginia Haufler/Tony Por- San Francisco.
ter (eds.), Private Authority and International Af- ❙9  Vgl. Project on International Courts and Tribunals,
fairs, New York 1999; Thomas J. Biersteker/John A. online: www.pict-pcti.org/matrix/matrixintro.html
Hall (eds.), The Emergence of Private Authority in (20. 5. 2010); Karen J. Alter, The European Court’s
Global Governance, Cambridge 2002. Political Power. Selected Essays, Oxford 2009; Beth
❙7  Vgl. United Nations, Treaty Collection, online: A. Simmons, Mobilizing for Human Rights: Interna-
http://treaties.un.org (25. 3. 2010). tional Law in Domestic Politics, Cambridge 2009.

APuZ 34–35/2010 17
und in einigen Fällen wie etwa im Kosovo vergangenen zwei Jahrzehnten auch transna-
oder Osttimor haben die Vereinten Nationen tionale Institutionen herausgebildet haben,
nach 1989 sogar internationale Übergangs- die sich der Kontrolle der Nationalstaaten
verwaltungen eingesetzt. ❙10 Normativ werden gleichfalls partiell entziehen (governance wi-
solche externen Eingriffe durch das – teilwei- thout government). Beispiele für private For-
se noch umstrittene – Prinzip der responsibi- men transnationaler Governance sind etwa
lity to protect abgestützt, nach dem die Staa- die Internationale Handelskammer (Interna-
tengemeinschaft in innere Angelegenheiten tional Chamber of Commerce) oder die zahl-
eingreifen kann, wenn ein Staat seiner Ver- losen Verhaltenskodizes und Zertifizierungs-
antwortung nicht nachkommt, seine Bevöl- systeme (z. B. Forest Stewardship Council,
kerung vor humanitären Notlagen zu schüt- Rugmark). Eine zweite Form transnationa-
zen. ❙11 Auch im ökonomischen Bereich setzt len Regierens besteht in der gemeinsamen Er-
die Weltbank seit gut zwei Jahrzehnten ver- bringung von Governance-Leistungen durch
stärkt auf konditionale Kredite – solche, die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Akteu-
mit der Erfüllung von Bedingungen durch re in Verbindung mit Staaten innerhalb so-
den Empfänger verbunden sind. genannter public private partnerships. ❙14 Bei-
spiele dafür sind die Internet Corporation for
Schließlich sind auch bei der Politikevalua- Assigned Names and Numbers (ICANN),
tion und der damit verbundenen Agendaset- welche die Vergabe von Internetadressen re-
zung zunehmend internationale Sekretariate gelt oder die Roll Back Malaria Initiative.
sowie transnationale NRO beteiligt. Dem- In diesen Fällen erbringen gesellschaftliche
nach gewinnen zum einen die mit den Sekre- Akteure unmittelbar eine Reihe von Gover-
tariaten der internationalen Organisationen nance-Leistungen oder produzieren öffentli-
verbundenen knowledge bodies wie etwa das che Güter, die von Staaten nicht oder nicht al-
Intergovernmental Panel on Climate Change lein bereitgestellt werden können. Dabei sind
an Bedeutung. ❙12 Gleichermaßen ist die Rolle private Akteure neben der Regelsetzung auch
von Transparency International bei der Ent- in die Regelüberwachung und -interpretati-
wicklung der Anti-Korruptions-Konvention on sowie bei der Um- und Durchsetzung der
(Anti-Bribery Convention) ein Beispiel für Governance-Inhalte involviert. Es kann ge-
die Bedeutung von transnationalen NRO, in- zeigt werden, dass die Anzahl derartiger re-
ternationale Problemlagen zu identifizieren gulativer Standardsetzungen und die relati-
und entsprechende internationale Regelun- ve Bedeutung der privaten Akteure in deren
gen einzufordern. ❙13 Entwicklung im Laufe der Zeit zugenommen
hat. ❙15 Die gestiegene Anzahl grenzübergrei-
Im Ergebnis haben sich internationa- fend agierender nichtstaatlicher Akteure wie
le Institutionen entwickelt, die Autorität transnationale Konzerne und transnatio-
und Herrschaft ausüben und tief in natio- nale NRO auf etwa 51 500 in den vergange-
nale Gesellschaften hineinwirken. Es han- nen Jahrzehnten deutet darauf hin, dass die
delt sich dabei nicht mehr um governance by Transnationalisierung insgesamt eine erheb-
government, sondern um governance with liche quantitative Dynamik erhalten hat. ❙16
governments. Hinzu kommt, dass sich in den
Angesichts der skizzierten Entwicklun-
❙10  Vgl. Wolfgang Seibel, Moderne Protektorate als gen lässt sich in der Tat von einer Supra- und
Ersatzstaat: UN-Friedensoperationen und Dilem- Transnationalisierung der Governance dena-
mata internationaler Übergangsverwaltungen, in: tionalisierter Problemlagen sprechen. Das in-
Gunnar F. Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Gover-
nance in einer sich wandelnden Welt, Wiesbaden
2008. ❙14  Vgl. Wolfgang H. Reinicke/Francis M. Deng, Cri-
❙11  Vgl. International Commission on Intervention tical Choices. The United Nations, Networks, and
and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to the Future of Global Governance, Ottawa 2000.
Protect, International Development Research Cen- ❙15  Vgl. Kenneth W. Abbott/Duncan Snidal, The
tre, Ottawa 2001, S. 69. Governance Triangle: Regulatory Standards Institu-
❙12  Vgl. Peter M. Haas/Casey Stevens, Organized tions and the Shadow of the State, in: Walter Mattli/
Science, Usable Knowledge and Multilateral Gover- Ngaire Woods (eds.), The Politics of Global Regulati-
nance, Ms., Massachusetts 2009. on, Princeton 2009.
❙13  Vgl. Günter Metzges, NGO-Kampagnen und ihr ❙16  Vgl. Margaret P. Karns/Karen A. Mingst, Interna-
Einfluss auf internationale Verhandlungen, Baden- tional Organizations. The Politics and Processes of
Baden 2006. Global Governance, Boulder 2004, S. 17.

18 APuZ 34–35/2010
ternationale Menschrechtsregime, die Grün- nötig und kann nicht einfach voluntaristisch
dung des internationalen Strafgerichtshofs zurückgedreht werden, ohne signifikante Re-
und die aktive Rolle des VN-Sicherheitsrates gelungsdefizite auf der internationalen Ebe-
seit 1990 zeigen, dass dieser Prozess auch in ne zu erzeugen, die selbst wiederum Akzep-
Politikfeldern wie Sicherheit und Herrschaft tanzprobleme hervorrufen.
stattfindet. Und selbst in den Kernbereichen
moderner Staatlichkeit, nämlich dem Steu- Um einen Umgang mit den konstitutio-
ermonopol und dem Gewaltmonopol, lassen nellen Problemen der globalen Mehrebenen-
sich entsprechende Tendenzen erkennen. ❙17 Governance zu finden, kann daher auf der ge-
sellschaftlichen Ebene angesetzt werden. Das
prozessuale Zustandekommen, der Inhalt der
Legitimationsprobleme Ergebnisse internationaler Politikprozesse
internationaler Institutionen und vor allem die damit verbundenen subsys-
temischen Kompetenzzuweisungen bedürfen
Die Governance denationalisierter Problem- zunehmend der Rechtfertigung, die durch
lagen kann als Mehrebenensystem bezeichnet nationale Öffentlichkeiten, Parlamente und
werden, da sie zunehmend durch das Zusam- die transnationale Zivilgesellschaft eingefor-
menspiel von funktional differenzierten, aber dert werden. Dafür stehen zahlreiche soge-
konstitutiv voneinander abhängigen Ebenen nannte globalisierungskritische Gruppen wie
gekennzeichnet ist. Eine solche Mehr­ebenen- Attac ebenso wie der national organisierte
Governance erhöht zwar die Effektivität von Widerstand gegen die Unterhöhlung demo-
Regelungen im Falle denationalisierter Pro- kratischer Souveränität etwa bei Referenden
bleme; erzeugt jedoch gleichzeitig besonde- über die Europäische Integration.
re Legitimationsprobleme. ❙18 In dem Maße
wie internationale Institutionen eine eigen- Die Thematisierung internationaler Ins-
ständige politische Autorität erlangen, steigt titutionen und Verträge vollzieht sich aber
der Bedarf ihrer direkten Legitimierung. Der nicht allein durch Protest. Gleichzeitig for-
zweistufige Legitimationsprozess, bei dem dern nämlich viele transnationale NRO
Staatenvertreter als legitime Vertreter ihrer und soziale Bewegungen stärkere interna-
Bevölkerung ohne gesellschaftliche Beteili- tionale und transnationale Organisationen
gung und öffentlichkeitsfern bindende Re- und zielen damit auf den ungedeckten Re-
geln aushandeln, genügt dann nicht mehr. gelungsbedarf. So treten beispielsweise viele
Umweltgruppen für eine zentrale Weltum-
Da die Entstehung von Autorität ausüben- weltorganisation und eine drastische Ver-
den Institutionen mit supranationalen Kom- schärfung klimapolitischer Maßnahmen auf
ponenten im Allgemeinen dem wachsen- der internationalen Ebene ein. Zuletzt wur-
den Regelungsbedarf auf der internationalen de die Forderung nach stärkeren internatio-
Ebene geschuldet ist, sind diese Legitimati- nalen Institutionen im Kontext der jüngsten
onsprobleme in letzter Instanz Resultat der Finanzkrise deutlich.
gesellschaftlichen Denationalisierung. Die
Supranationalisierung und Transnationali- Es ist diese Doppelbewegung bestehend
sierung internationaler Institutionen ist in- aus wachsenden Protesten gegen, bei gleich-
sofern als Trend strukturell bedingt; sie ist zeitig intensivierter Nutzung von internatio-
nalen Institutionen, die auf eine zunehmende
❙17  Vgl. Philipp Genschel/Markus Jachtenfuchs, Politisierung der Weltpolitik verweist – also
The Fiscal Anatomy of Multilevel Governance: The die öffentliche Thematisierung von interna-
EU and the Regulation of Taxation, online: www.
unc.edu/euce/eusa2009/papers/genschel_10F.pdf
tionalen Angelegenheiten und Bedeutungs-
(16. 3. 2010); Eva Herschinger/Markus Jachtenfuchs/ zuweisung an internationale Institutionen.
Christiane Kraft-Kasack, Transgouvernementali- Im Zuge dieser Politisierung kann eine di-
sierung und die ausbleibende gesellschaftliche Poli- rekte, einstufige Verbindung zwischen den
tisierung der inneren Sicherheit, in: Michael Zürn/ internationalen Institutionen und ihren ge-
Matthias Ecker-Ehrhardt (Hrsg.), Gesellschaftli- sellschaftlichen Adressaten erwachsen. NRO
che Politisierung und internationale Institutionen,
Frankfurt/M. 2010.
helfen somit, die Entscheidungen internatio-
❙18  Vgl. Fritz W. Scharpf, Legitimität im europäi- naler und transnationaler Institutionen mit
schen Mehrebenensystem, in: Leviathan, 37 (2009) 2, den gesellschaftlichen Adressaten zu verbin-
S. 244–280. den, indem sie die Interessen lokaler Grup-

APuZ 34–35/2010 19
pen auf internationaler Ebene einbringen und Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner
gleichzeitig an der Umsetzung und Vermitt-
lung der international getroffenen Entschei-
dungen auf lokaler und nationaler Ebene be-
teiligt sind. ❙19 Gleichzeitig verschärfen sich
Globaler
freilich dadurch auch Asymmetrien in der
Einflussnahme. Denn die gesellschaftlichen
Akteure, die auf der internationalen Ebene
Rechtspluralismus
erfolgreich Einfluss ausüben können, verstär-
ken die westliche Dominanz in den interna-
tionalen Institutionen. I n den Versuchen, die Fortentwicklung des
Rechts unter Bedingungen der Globalisie-
rung zu deuten, hat das Konzept des Rechts-
Der Prozess der Politisierung eröffnet den- pluralismus an Bedeu-
noch eine langfristige Perspektive: Er schafft tung gewonnen. Der Andreas Fischer-Lescano
den Nährboden für neue, bisher undenk- Soziologe Niklas Luh- Dr. jur., LL. M. (EUI), geb. 1972;
bare internationale Politiken und letztlich mann mutmaßte noch, Professor für Öffentliches
auch für zusätzliche Legitimationsressour- dass normative Erwar- Recht, Völkerrecht und Euro-
cen für internationale Institutionen wie Par- tungsformen in der parecht; Geschäftsführender
tizipation, Rechenschaftspflicht, individuelle Weltgesellschaft an Direktor des Zentrums für
Grundrechte und öffentliche Auseinander- Bedeutung verlieren Europäische Rechtspolitik;
setzung. Diese sind notwendig, um die Un- würden, weil diejeni- Projektleiter am Sonderfor-
terstützung und Legitimation internationaler gen Sozialsysteme, die schungsbereich „Staatlich-
Institutionen zu sichern, die notwendig sind, weltweite Kontakte er- keit im Wandel“, Universität
um politische Herrschaft ausüben und somit möglichen – wie Wirt- Bremen, Universitäts­allee GW 1,
die erforderlichen Leistungen im Zeitalter schaft, Massenmedi- 28359 Bremen.
der Globalisierung erbringen zu können. In- en, Wissenschaft und voelkerrecht@
ternationale Institutionen sind somit im Zuge Technik  –, durchweg zerp.uni-bremen.de
ihrer Politisierung nicht mehr nur vielseitig ein kognitiver Erwar-
einsetzbare Instrumente, um die weltpoli- tungsstil kennzeichne, Lars Viellechner
tischen und innenpolitischen Interessen der der im Falle einer Ent- Ass. jur., LL.M. (Yale), geb.
Regierungen der mächtigen Länder unmittel- täuschung nicht auf- 1976; wissenschaftlicher
bar durchzusetzen. Mit der Möglichkeit, alle recht erhalten werde, Mitarbeiter am Zentrum für
Fragen der internationalen Politik ins Licht sondern sich lernfähig Europäische Rechtspolitik
der Öffentlichkeit zu zerren, wird die Nut- und anpassungsbereit und am Sonderforschungs-
zung internationaler Institutionen zur Ma- zeige. ❙1 Ein Rechts- bereich „Staatlichkeit im
nipulation innenpolitischer Fragen ❙20 eben- schwund ist derzeit ­Wandel“ (s. o.).
so erschwert wie die rein technokratische aber nicht in Sicht. lars.viellechner@uni-bremen.de
Lösung von Interdependenzproblemen, die Allein die Struktur
keine Rücksicht auf Verteilungsfragen und des Rechts scheint sich zu verändern. An die
Symboliken nimmt. Insofern scheint der Ty- Stelle der nach innen einheitlich und hierar-
pus internationaler Institutionen, wie er sich chisch gedachten staatlichen Rechtsordnung,
nach dem Zweien Weltkrieg herausbildete, die nach außen nur den Bindungen des Völ-
ein Auslaufmodell zu sein. kerrechts unterliegt, tritt offenbar ein unüber-
sichtliches Nebeneinander zahlreicher Ord-
nungsmuster verschiedenen Zuschnitts.
❙19  Vgl. Jens Steffek/Patrizia Nanz, Emergent Pat-
terns of Civil Society Participation in Global and Eu-
Zum einen entstehen als Reaktion auf das
ropean Governance, in: Jens Steffek/Claudia Kiss-
ling/Patrizia Nanz (eds.), Civil Society Participation Bedürfnis zur Regulierung globaler Sachver-
in European and Global Governance. A Cure for the halte, hinsichtlich derer die Rechtsordnun-
Democratic Deficit?, New York 2008. gen einzelner Staaten im wörtlichen Sinne an
❙20  Vgl. Klaus D. Wolf, Die Neue Staatsräson – Zwi- Grenzen stoßen, neuartige „Rechtsregimes“,
schenstaatliche Kooperation als Demokratieproblem die nicht mehr zutreffend als zwischenstaat-
in der Weltgesellschaft. Plädoyer für eine geordnete
lich beschrieben sind. ❙2 Hierbei handelt es sich
Entstaatlichung des Regierens jenseits des Staates,
Baden-Baden 2000. einerseits um supranationales Recht, das von
den Staaten ins Leben gerufene internationale
Organisationen mit eigener Rechtsetzungs-

20 APuZ 34–35/2010
befugnis teilweise mit unmittelbarer Wir- tionale Gerichte ziehen bei der Auslegung
kung für Individuen erlassen. ❙3 Paradebeispiel des nationalen Rechts zunehmend internati-
dafür ist das Recht der Europäischen Union onale Quellen heran, auch weil internationa-
(EU). Da sich derartige Einrichtungen man- le Gerichte mitunter dieselben Fälle entschei-
gels Schnelligkeit oder Konsens in der Staa- den. In das allgemeine Bewusstsein gerückt
tengemeinschaft aber nicht zur Lösung aller ist dieser Umstand vor allem durch zwei auf-
Probleme schaffen lassen, bildet sich daneben sehenerregende Entscheidungen des Obers-
andererseits ein transnationales Recht heraus, ten Gerichts (Supreme Court, S.Ct.) der
das private Akteure teilweise mit staatlicher Vereinigten Staaten von Amerika zur Verfas-
Beteiligung durch Verträge in Geltung set- sungswidrigkeit des Verbots bestimmter Se-
zen. ❙4 Zu den prominenten Beispielen zählt xualpraktiken sowie der Todesstrafe für min-
das Regime der Internet Corporation for As- derjährige Straftäter, die sich ausdrücklich
signed Names and Numbers (ICANN), ei- auf völkerrechtliche Verträge und Entschei-
ner privatrechtlich verfassten Institution mit dungen internationaler Gerichte stützten, ❙6
Sitz in Kalifornien, die für die Regulierung ferner durch die Kontroverse von Bundesver-
der Domainnamen im Internet verantwort- fassungsgericht (BVerfG) und Europäischem
lich zeichnet. Diese Arrangements erlangen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
eine relative Autonomie von den staatlichen über das Spannungsverhältnis von Pressefrei-
Rechtsordnungen dadurch, dass sie eigene heit und Persönlichkeitsrecht im „Caroline“-
Streitschlichtungsmechanismen einrichten. Fall. ❙7 Umgekehrt wird die Herausbildung
So macht ICANN die Unterwerfung unter verfassungsähnlicher Normen und Struk-
das Schiedsverfahren der Uniform Domain turen in internationalen Organisationen so-
Name Dispute Resolution Policy (UDRP), wie im allgemeinen Völkerrecht beobachtet.
das eine schnelle und kostengünstige Ent- Beispielsweise hat der Europäische Gerichts-
scheidung von Konflikten zwischen Domain- hof (EuGH) schon früh europäische Grund-
namen und Markenrechten vorsieht, zum Be- rechte als allgemeine Rechtsgrundsätze an-
standteil jeder Vereinbarung über die Vergabe erkannt, ❙8 während sich im Völkerrecht die
von Domainnamen. Dadurch, dass ICANN Konzepte von ius cogens (zwingendes Recht)
die Entscheidungen der Schiedsgerichte und Verpflichtungen erga omnes (gegen je-
durch Löschung oder Übertragung des be- dermann) etabliert haben, die grundlegen-
treffenden Domainnamens unmittelbar elek- den Normen wie dem Folterverbot Vorrang
tronisch vollstrecken kann, ist das Arrange- auch gegenüber entgegenstehendem nationa-
ment sogar ganz und gar unabhängig von den len Verfassungsrecht einräumen. ❙9
Staaten, obwohl sich Klagen vor staatlichen
Gerichten nicht ausschließen lassen. Zugleich deutet sich eine „Fragmentierung“
des Völkerrechts in eine Vielzahl bereichsspe-
Zum anderen unterliegen aber auch die zifischer Regimes an, die voneinander weit-
staatlichen und zwischenstaatlichen Rechts- gehend unabhängig sind und daher ihrer ei-
ordnungen tiefgreifenden Veränderungen. genen Sachlogik folgen können. ❙10 Besonders
Hier vollzieht sich eine „Hybridisierung“ des nachdrücklich gezeigt hat sich diese Ent-
Rechts: Die „Internationalisierung des Ver-
fassungsrechts“ geht mit einer „Konstituti- ❙6  Vgl. S.Ct., Entscheidung vom 26. 6. 2003, in: Uni-
onalisierung des Völkerrechts“ einher. ❙5 Na- ted States Reports, 539 (2003), S. 558–606; Entschei-
dung vom 1. 3. 2005, in: United States Reports, 543
❙1  Vgl. Niklas Luhmann, Die Weltgesellschaft, in: (2005), S. 551–630.
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, 57 (1971), ❙7  Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999, in: Entschei-
S. 1–35. dungssammlung 101, S.  361–396; Beschluss vom
❙2  Andreas-Fischer Lescano/Gunther Teubner, Re- 26. 2. 2008, in: Entscheidungssammlung 120, S. 180–
gime-Kollisionen, Frankfurt/M. 2006, S. 36. 223; EGMR, Urteil vom 24. 6. 2004, in: Neue Juris-
❙3  Vgl. Hans Peter Ipsen, Über Supranationalität, in: tische Wochenschrift, 57 (2004), S. 2647–2652.
Horst Ehmke et  al. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich ❙8  Vgl. EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, in: Rechtspre-
Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 211–225. chungssammlung 1970, S. 1161–1194.
❙4  Vgl. Gunther Teubner, Globale Bukowina: Zur ❙9  Vgl. International Criminal Tribunal for the for-
Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, mer Yugoslavia (ICTY), Urteil vom 10. 12. 1998, in:
in: Rechtshistorisches Journal, 15 (1996), S. 255–290. International Legal Materials, 38 (1999), S. 317–393.
❙5  Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völ- ❙10  Martti Koskenniemi/Päivi Leino, Fragmentation
kerrechts und Internationalisierung des Verfassungs- of International Law?, in: Leiden Journal of Interna-
rechts, in: Der Staat, 42 (2003), S. 61–75. tional Law, 15 (2002), S. 553–579.

APuZ 34–35/2010 21
wicklung etwa an der Kollision von Belangen ellem“ und „inoffiziellem“ Recht in westli-
des Freihandels und des Umweltschutzes im chen Gesellschaften und verbanden es mit
„Garnelen/Schildkröten“-Fall, der im Streit- der rechtspolitischen Forderung zur Aufga-
beilegungsverfahren der Welthandelsorgani- be des „rechtlichen Zentralismus“ im Staat. ❙17
sation (World Trade Organization, WTO) zur Rechtstheoretische Unternehmungen, die sich
Entscheidung stand. ❙11 Insofern setzt sich die ausdrücklich als „postmodern“ ❙18 oder „nach-
Ausformung von self-contained regimes fort, positivistisch“ ❙19 titulierten, teilten dieses An-
die partiell den Rückgriff auf das allgemeine liegen aus ganz anderem Antrieb. Während
Völkerrecht ausschließen wie das Diploma- ihre Anstrengungen noch mit guten Grün-
ten- und Konsularrecht. ❙12 Unabhängig da- den zurückgewiesen werden mochten, ist der
von entdecken einige Beobachter neuerdings neue Rechtspluralismus auf globaler Ebene
das Aufkeimen eines in seinen Umrissen in- nun jedoch durch tatsächliche Veränderun-
des noch unscharfen „globalen Verwaltungs- gen heraufbeschworen worden. Unter diesen
rechts“, das sich zwar in mancher Hinsicht von Umständen lässt sich die Suche nach einem
den Staaten lösen, aber gerade durch seinen normativen Konzept des Rechtspluralismus,
öffentlichen Charakter auszeichnen soll. ❙13 das Antworten auf die Fragen von Legalität,
Legitimität und Interlegalität der verschiede-
In der Weltgesellschaft ist folglich weder eine nen Normen findet, nicht mehr vermeiden.
Verdrängung noch eine Höherlegung staatli-
cher Rechtsordnungen, sondern eine gleich-
zeitige Überlagerung und Vermengung teils Legalität
territorial ausgerichteter, teils funktional ori-
entierter Rechtsregimes festzustellen. Wenn Zunächst stellt sich die Frage, ob es sich bei
dieser Zustand als „neuer Rechtspluralismus“ den beschriebenen Normen nichtstaatlicher
bezeichnet wird, ❙14 kommt damit zum Aus- Herkunft überhaupt um Recht handelt. Er-
druck, dass das zugrunde liegende Konzept staunlicherweise wird diese Frage bezüglich
bereits älter ist. In der Rechtsgeschichte fand des Sekundärrechts supranationaler Orga-
es Verwendung zur Kennzeichnung nebenei- nisationen selten gestellt, obwohl zuvor der
nander bestehender personaler Herrschafts- Rechtscharakter des Völkerrechts angesichts
rechte im Mittelalter. ❙15 In der Rechts­anthro­ der Identität von Rechtsetzern und Rechts-
po­lo­gie wurde es zur Veranschaulichung unterworfenen sowie des Fehlens effekti-
gegenläufiger Rechte von Kolonialmächten ver Rechtsdurchsetzungsmechanismen lange
und indigener Bevölkerung aufgegriffen. ❙16 In bestritten wurde. Hier ist der Ableitungs-
beiden Fällen handelte es sich allerdings um zusammenhang mit der staatlichen Rechts-
einen „weichen“ Rechtspluralismus, der un- ordnung offenbar noch handgreiflich genug.
ter einer übergeordneten religiösen oder po- Umso nachdrücklicher werden demgegen-
litisch-staatlichen Einheit stand. Erst später über Zweifel an der Denkbarkeit eines trans-
übertrugen vorwiegend rechtssoziologische nationalen Rechts artikuliert. Man könnte die
Ansätze das klassische Konzept des Rechts- Beantwortung der Frage gleichwohl für ent-
pluralismus auf das Verhältnis von „offizi- behrlich halten, da selbst eine Negation die
soziale Bedeutung der beschriebenen Phä-
❙11  Vgl. WTO, Appellate Body Report vom nomene nicht schmälern würde. Indes be-
12. 10. 1998, in: International Legal Materials, 38 steht neben dem theoretischen Interesse am
(1999), S. 118–175. Schicksal des Rechts unter Bedingungen der
❙12  Vgl. Bruno Simma, Self-Contained Regimes, Globalisierung auch ein praktisches Bedürf-
in: Netherlands Yearbook of International Law, 16 nis nach Regeln für die gegenseitige Aner-
(1985), S. 111–136.
kennung und Abstimmung der verschiedenen
❙13  Benedict Kingsbury/Nico Krisch/Richard B. Ste-
wart, The Emergence of Global Administrative Law, Regimes. Wie das internationale Privatrecht
in: Law and Contemporary Problems, 68 (2005), zeigt, können solche Kollisionsregeln nach
S. 15–61.
❙14  Paul Schiff Berman, The New Legal Pluralism, in: ❙17  John Griffiths, What is Legal Pluralism?, in: Jour-
Annual Review of Law and Social Science, 5 (2009), nal of Legal Pluralism and Unofficial Law, 24 (1986),
S. 225–242. S. 1–55, hier: S. 3.
❙15  Vgl. Harold J. Berman, Recht und Revolution, ❙18  Karl-Heinz Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie,
Frankfurt/M. 1991, S. 468–472. Berlin 19952.
❙16  Vgl. Leopold Pospíšil, Anthropologie des Rechts, ❙19  Alexander Somek/Nikolaus Forgó, Nachpositi-
München 1982, S. 137–171. vistisches Rechtsdenken, Wien 1996.

22 APuZ 34–35/2010
dem rechtlichen Status der in Betracht kom- chen Ergebnis gelangt, wer Recht nach sei-
menden Sachnormen unterscheiden. ❙20 ner Funktion – der kontrafaktischen Stabili-
sierung von Verhaltenserwartungen im Code
Freilich besteht über die Frage nach dem von Recht und Unrecht ❙22 – bestimmt. Trans-
Begriff des Rechts seit jeher Uneinigkeit. nationale Verträge können die Befolgung des
Eine eindeutige Antwort lässt sich selbst Vereinbarten dadurch absichern, dass sie das
dann nicht finden, wenn man soziologische erwartete Verhalten schriftlich festhalten
Ansichten vernachlässigt und mit einer an und die Streitentscheidung an neutrale Drit-
der Rechtspraxis orientierten Rechtstheo- te auslagern. ❙23 Diesen Anforderungen genü-
rie allein darauf abstellt, welches Recht ein gen auch die Verträge über die Vergabe von
Richter, der hier und jetzt über einen konkre- Domainnamen, indem sie formularmäßig die
ten Fall zu entscheiden hat, anwenden sollte. UDRP einbeziehen. Zugleich zeigt sich, dass
Denn jedem Richter stehen zumindest zwei die Positivität des Rechts in der Weltgesell-
Möglichkeiten offen: Er kann entweder die schaft nicht aufgehoben ist.
partikularistische Sicht seiner eigenen Rechts-
ordnung oder eine universalistische Perspek- Man mag einwenden, dass nicht der Vertrag,
tive einnehmen. Dabei schließen partikula- sondern das Gesetz an den Vertrag bindet. ❙24
ristische Sichtweisen zwar universalistische Doch muss man sich dann die Frage gefallen
Bestrebungen nicht aus, vermögen aber uni- lassen, warum eigentlich das Gesetz bindet.
versale Geltung nicht zu garantieren. Aus der Der Verweis auf die Verfassung führt nur zu
partikularistischen Perspektive einer staatli- der weiteren Frage nach der Geltungsbegrün-
chen Rechtsordnung etwa mögen transnatio- dung der Verfassung. „Darauf antworten dann
nale Verträge nicht als Rechtsquelle anzuse- nur noch feierliche Erklärungen.“ ❙25 Unter Be-
hen sein. Staatliche Gerichte können es daher dingungen der Globalisierung wird besonders
ablehnen, Streitigkeiten zwischen Domain- deutlich, dass sich Rechtsgeltung nur paradox
namen- und Markenrechtinhabern nach den begründen lässt. Es erscheint daher nahelie-
Regeln der UDRP zu entscheiden. Es lässt gend, auch aus der Perspektive des staatlichen
sich aber nicht verhindern, dass sich aus ei- Rechts die „Parallelisierung und Vernetzung
ner anderen partikularistischen Perspektive von gesetzlicher und vertraglicher Geltungs-
Gegenteiliges ergibt. So ist nach Paragraf 15 produktion“ anzuerkennen. ❙26 Einstweilen
Buchstabe a UDRP-Regeln ein zur Streiten- mag man sich hier zwar noch mit der Aner-
tscheidung berufenes Schiedsgericht zur An- kennung des transnationalen Vertragsrechts
wendung der UDRP verpflichtet, wenngleich als Produkt delegierter Rechtsetzung im Rah-
es ergänzend weitere Regeln und Prinzipien men von staatlich gewährter Privatautonomie
heranziehen darf, die es für anwendbar hält. behelfen können. ❙27 Damit ist aber die Unter-
werfung unter zwingende Regeln eines par-
Aus rechtstheoretischer Perspektive lässt tikularen Privatrechts verbunden, die weder
sich die Geltung transnational paktierten der globalen Bedeutung noch der öffentlichen
Rechts jedenfalls plausibel begründen. Er- Dimension transnationaler Rechtsregimes ge-
kennt man ein Rechtssystem in der Vereini- recht werden. ❙28 Eine ähnliche Problematik
gung von „primären Regeln“ der Verpflichtung
und „sekundären Regeln“ der Ermächtigung ❙22  Vgl. Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft,
zur Hervorbringung, Änderung und Anwen- Frankfurt/M. 1993, S. 124–164.
dung von Primärregeln, ❙21 dann lässt sich ohne ❙23  Vgl. Gralf-Peter Calliess/Moritz Renner, Between
weiteres die Rechtsqualität des ICANN-Re- Law and Social Norms, in: Ratio Juris, 22 (2009),
gimes annehmen. In Paragraf  15 Buchsta- S. 260–280.
❙24  Vgl. Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stutt-
be a UDRP-Regeln findet sich die gesuchte
gart 19738, S. 240.
Sekundärregel, die auf die anzuwendenden ❙25  Niklas Luhmann, Verfassung als evo­lu­tio­näre
Primärregeln der UDRP verweist. Zum glei- Errungenschaft, in: Rechtshistorisches Journal, 9
(1990), S. 176–220, hier: S. 184.
❙26  N. Luhmann (Anm. 22), S. 324.
❙20  Vgl. Boris Schinkels, Die (Un-)Zulässigkeit einer ❙27  Vgl. Ralf Michaels, The Re-state-ment of Non-
kollisionsrechtlichen Wahl der UNIDROIT Princip- State Law, in: Wayne Law Review, 51 (2005), S. 1209–
les nach Rom I, in: Zeitschrift für Gemeinschaftspri- 1259.
vatrecht, 4 (2007), S. 106–111. ❙28  Vgl. Moritz Renner, Selbstgeschaffenes Recht der
❙21  Herbert L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frank­ Wirtschaft? Öffentliche Interessen in privaten Rechts-
furt/M. 1973, S. 115–141. regimes, in: Kritische Justiz, 43 (2010), S. 62–69.

APuZ 34–35/2010 23
entsteht dann, wenn nationale Verfassungsge- bringen. ❙31 Insofern ist bereits die Rede von
richte die Grenzen des supranationalen Rechts „globalen Zivilverfassungen“, die sich, dem
vermittels des Zustimmungsgesetzes am par- englischen common law nicht unähnlich, „in
tikulären Maßstab einer nationalen Verfas- untergründigen evolutionären Prozessen von
sung bestimmen wollen – wie kürzlich etwa langer Dauer“ herausbildeten. ❙32
das BVerfG im „Lissabon“-Urteil. ❙29
Normativ betrachtet, lässt diese Entwick-
lung vielen aber noch zu wünschen übrig. Ih-
Legitimität nen erscheint vor allem das demokratische
Verfassungselement jenseits des Staates un-
In der Unterwerfung unter das staatliche Recht terentwickelt. Die Klagen über das Demokra-
liegt auch ein Versuch, eine Antwort auf das tiedefizit der EU und anderer internationaler
zweite normative Anliegen, die Gewährleis- Organisationen sind mittlerweile Legion. Bei
tung der Legitimität des globalen Rechts, zu dieser Betrachtung bleibt häufig unberück-
finden. Da die neuartigen Rechtsregimes ange- sichtigt, dass eine identische Reproduktion
sichts ihrer relativen Autonomie dem Zugriff staatlicher Demokratiemodelle im globalen
staatlicher Gerichte zuweilen entkommen, be- Kontext weder möglich noch nötig ist. Die
steht eine weitere Strategie darin, die bislang er- Besonderheiten supranationaler Rechtset-
folgreichste Lösung zur Legitimation positiven zungsprozesse verlangen jedenfalls nach einer
Rechts, das aus den bürgerlichen Revolutionen Anpassung hergebrachter Demokratievor-
gegen Ende des 18. Jahrhunderts hervorgegan- stellungen. ❙33 In den transnationalen Arrange-
gene Konzept der Verfassung, in den globa- ments, die zwar teilweise öffentliche Belange
len Kontext zu übertragen. Im Nationalstaat berühren, Recht aber häufig ohne staatliche
vermittelt die Verfassung Legitimität gerade Beteiligung im Vertragswege in Geltung set-
durch Legalität. Selbst als höherrangiges Recht zen, scheint es gar einer grundlegenden Neu-
positiviert, unterwirft sie den Rechtsetzungs- formulierung des Verhältnisses von Demo-
prozess nicht nur einem demokratischen Ver- kratie und Grundrechten zu ­bedürfen. ❙34
fahren, das Beteiligung oder zumindest Reprä-
sentanz aller Betroffenen garantiert, sondern Weitgehend Einigkeit herrscht inzwischen
macht ihm auch materielle Vorgaben, freilich zumindest darüber, dass die Errichtung eines
allein negativer Art in Gestalt von Grundrech- demokratischen Weltstaats ebenso unrealistisch
ten. Die Konsensfähigkeit des Modells erklärt ist wie die Abschottung nationaler Demokra-
sich zumal daraus, dass die Richtigkeitsfrage tie unter dem Schutzmantel staatlicher Souve-
auf diese Weise offen bleibt. ❙30 ränität. ❙35 Tatsächlich können selbst die mäch-
tigsten Staaten globale Regulierungsprobleme
Im globalen Kontext hat sich unter der heute nicht mehr einseitig lösen. Davon abgese-
Formel der Konstitutionalisierung bislang
jedoch vornehmlich ein deskriptives Verfas- ❙31  Vgl. World Intellect Property Organization
sungsverständnis verbreitet, das sich auf die (WIPO), Arbitration and Mediation Center, Ad-
allmähliche Herausbildung einzelner Ver- ministrative Panel Decision vom 6. 7. 2000, online:
www.wipo.int/amc/en/domains/decisions/html/​
fassungselemente, insbesondere vorrangiger
2000/d2000-0190.html (1. 7. 2010).
Grundrechte, in einzelnen Regimes bezieht. ❙32  Gunther Teubner, Globale Zivilverfassungen, in:
Es lässt sich beobachten, dass mittlerweile so- Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und
gar einige UDRP-Schiedsgerichte, nament- Völkerrecht, 63 (2003), S. 1–28, hier: S. 15.
lich in sogenannten „BrandnameSucks.com“- ❙33  Einige Versuche bei James Bohman, Democracy
Fällen, in denen sich politische Aktivisten across Borders, Cambridge 2007; Gráinne de Búrca,
Developing Democracy Beyond the State, in: Colum-
die Marken bekannter Unternehmen ver-
bia Journal of Transnational Law, 46 (2008), S. 221–
bunden mit kritischen Zusätzen als Domain- 278; Andreas Niederberger, Demokratie unter Be-
namen eintragen lassen, das Recht der Mei- dingungen der Weltgesellschaft?, Berlin 2009.
nungsfreiheit zwischen Privaten in Anschlag ❙34  Vgl. Lars Viellechner, Können Netzwerke die De-
mokratie ersetzen?, in: Sigrid Boysen et  al. (Hrsg.),
Netzwerke, Baden-Baden 2007, S. 36–57.
❙29  Vgl. BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009, in: Entschei- ❙35  Pointierte Gegenauffassungen in den USA bei Jed
dungssammlung 123, S. 267–437. Rubenfeld, Unilateralism and Constitutionalism,
❙30  Vgl. Dieter Grimm, Der Verfassungsbegriff in in: New York University Law Review, 79 (2004),
historischer Entwicklung, in: ders., Die Zukunft der S.  1971–2028; Jeremy A. Rabkin, Law Without Na-
Verfassung, Frankfurt/M. 20023, S. 101–155. tions?, Princeton 2005.

24 APuZ 34–35/2010
hen wäre nationale Gesetzgebung mit extrater- in der Folge aber unter der unaufgelösten
ritorialen Effekten besonders undemokratisch, Spannung zwischen Geltung und Anwend-
da sie ausländische Betroffene überhaupt nicht barkeit des Rechts: Während die gleichzeiti-
beteiligt. Alles deutet folglich darauf hin, dass ge Geltung von Völkerrecht und staatlichem
die Legitimität des globalen Rechts nur im Zu- Recht allseits vorausgesetzt wird, kann de-
sammenwirken seiner verschiedenen Bestand- ren Anwendbarkeit in den unterschiedlichen
teile generiert werden kann. Rechtsordnungen jeweils von weiteren Vo-
raussetzungen abhängig gemacht werden. In
Anbetracht der Vielzahl staatlicher Rechts-
Interlegalität ordnungen entpuppen sich daher auch die ge-
mäßigten Varianten von Monismus und Dua-
Dies führt zum dritten Aspekt globaler Nor- lismus als pluralistische Auffassungen.
mativität: dem Verhältnis der verschiedenen
Rechtsordnungen und Rechtsregimes zuein- Der Pluralismus ist freilich eine Meta-Per-
ander. Der Rechtspluralismus mündet in einen spektive, denn Normenkonflikte können in
Zustand der „Interlegalität“, ❙36 in dem „paral- Ermangelung einer übergeordneten Rechts-
lele Normsysteme unterschiedlicher Herkunft ordnung immer nur aus der Sicht einer der
sich wechselseitig anregen, gegenseitig ver- beteiligten Rechtsordnungen gelöst werden.
binden, ineinander greifen und durchdringen, Auf dieser Prämisse baut auch das internatio-
ohne zu einheitlichen Super-Ordnungen zu nale Privatrecht auf, bei dem es sich entgegen
verschmelzen, die ihre Teile absorbieren, son- seiner irreführenden Bezeichnung um staat-
dern in ihrem Nebeneinander als heterarchi- liches Recht handelt, das andere staatliche
sche Gebilde dauerhaft bestehen“. ❙37 Unter die- Rechtsordnungen zwar als geltend anerkennt,
sen Umständen stellt sich die Frage, ob und wie aber selbst bestimmt, ob sie auf einen Sachver-
im globalen Rechtssystem überhaupt noch nor- halt mit Auslandsbezug anzuwenden sind. Es
mative Kompatibilität erreicht werden kann. bietet sich daher der Versuch an, die Rechts-
kollisionen in der Weltgesellschaft vermittels
Eine strukturanaloge Frage hatte sich be- eines neuartigen „Kollisionsrechts“ nach die-
reits früher für das Verhältnis von innerstaat- sem Vorbild zu bewältigen. ❙39 Der kollisions-
lichem Recht und Völkerrecht gestellt. Hier rechtliche Verweis auf eine andere partikula-
standen sich zunächst zwei Lager unverrück- re Rechtsordnung erschiene dann aber ebenso
bar gegenüber. Der Dualismus ging von zwei wenig sachgerecht wie die alleinige Heranzie-
eigenständigen und unabhängigen Rechtsord- hung der eigenen Rechtsordnung. Vielmehr
nungen aus, die nach Quellen und Regelungs- müssten die verschiedenen Rechtsordnungen
gegenständen klar voneinander getrennt sei- die Belange der anderen Rechtsordnungen je-
en. Der Monismus nahm demgegenüber eine weils intern reflektieren. Die Lösung bestün-
einheitliche Rechtsordnung an, entweder mit de dann in der Bildung eines substanziellen
Primat des staatlichen Rechts oder mit Primat Rechts, das Elemente aus allen beteiligten
des Völkerrechts. Heute werden alle Auffas- Rechtsordnungen in sich aufnimmt. Auf diese
sungen aber nur noch in gemäßigten Formen Weise könnte sich in den staatlichen Rechts-
vertreten. Sie gestehen gleichermaßen zu, dass ordnungen etwa auch ein den Veränderun-
Völkerrecht und staatliches Recht in Konflikt gen angepasstes Verständnis der Horizontal-
treten können, wobei das Völkerrecht zwar wirkung von Grundrechten entwickeln, das
von jedem Staat einzuhalten, entgegenste- im Fall von Klagen vor nationalen Gerich-
hendes staatliches Recht aber nicht automa- ten einen Schutz gegenüber transnationalen
tisch nichtig sei. Damit werden die Varian- Rechtsregimes gewährleistet. ❙40 Damit wäre
ten austauschbar. ❙38 Das Rechtssystem leidet
❙39  Christian Joerges, Kollisionsrecht als verfassungs-
❙36  Boaventura de Sousa Santos, Toward a New Legal rechtliche Form, in: Nicole Deitelhoff/Jens Steffek
Common Sense, London 20022, S. 437. (Hrsg.), Was bleibt vom Staat?, Frankfurt/M. 2009,
❙37  Marc Amstutz, Zwischenwelten, in: Chris­tian S. 309–331; Gunther Teubner, Altera Pars Audiatur:
Joer­ges/Gunther Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungs- Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsan-
recht, Baden-Baden 2003, S. 213–237, hier: S. 213. sprüche, in: Archiv für Rechts- und Sozialphiloso-
❙38  Für den gemäßigten Monismus Hans Kelsen, Die phie-Beiheft, 65 (1996), S. 199–220.
Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, in: ❙40  Vgl. Karl-Heinz Ladeur/Lars Viellechner, Die
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und transnationale Expansion staatlicher Grundrechte,
Völkerrecht, 19 (1958), S. 234–248. in: Archiv des Völkerrechts, 48 (2008), S. 42–73.

APuZ 34–35/2010 25
gewissermaßen deren externe Konstitutiona- solution des Sicherheitsrats, die Individual-
lisierung erreicht. sanktionen gegen mutmaßliche Terroristen
vorsah, wegen Unvereinbarkeit mit europä-
Eine bedeutende Rolle kommt unter die- ischen Grundrechten für nichtig erklärte. ❙46
sen Umständen den Gerichten zu, die Ni- Dieser Ansatz mag aber der Tatsache ge-
klas Luhmann auf Grund ihres rechtlichen schuldet sein, dass die VN einen vergleichba-
Entscheidungszwangs seit jeher im Zentrum ren gerichtlichen Rechtsschutz bislang nicht
des Rechtssystems sah. ❙41 Tatsächlich stellen bieten. Unabhängig davon haben sich zum
Beobachter fest, dass sich mittlerweile ein anderen Rechtspflichten zur gegenseitigen
„Netzwerk von Gerichten“ formiert habe, Berücksichtigung gerichtlicher Entscheidun-
das sich einer globalen Herrschaft des Rechts gen etabliert. Das Übereinkommen der Ver-
verpflichtet fühle und informale Beziehun- einten Nationen über Verträge über den In-
gen über gegenseitige Beobachtung und per- ternationalen Warenkauf (United Nations
sönlichen Austausch pflege. ❙42 Bereits früher Convention on Contracts for the Internati-
wurde von einer „Funktionsverdoppelung“ onal Sale of Goods, CISG) etwa bestimmt in
staatlicher Gerichte gesprochen, die zugleich Artikel 7 Absatz 1, dass bei seiner Auslegung
als Organe der internationalen Gemeinschaft sein internationaler Charakter und die Not-
tätig würden, um die Durchsetzungsschwie- wendigkeit seiner einheitlichen Anwendung
rigkeiten des Völkerrechts zu überwinden. ❙43 zu berücksichtigen sind. Während im Übri-
gen einige Gerichte die Rechtsprechung an-
Aus der faktischen Zusammenarbeit sind derer Spruchkörper lediglich ergänzend her-
inzwischen sogar einige rechtliche Prin- anziehen, um ihre eigene Argumentation zu
zipien über die Interaktion verschiede- stützen, hat das BVerfG aus dem Grundsatz
ner Rechtsordnungen geronnen. Dazu ge- der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grund-
hören zum einen Subsidiaritätsprinzipien, gesetzes eine verfassungsrechtliche Pflicht
die in „Solange“-Formeln verschiedenen staatlicher Gerichte abgeleitet, die Entschei-
Zuschnitts zum Ausdruck kommen. Das dungen internationaler Gerichte derart zu
BVerfG zum Beispiel übt seine Rechtspre- berücksichtigen, dass sie sich erkennbar mit
chung über die Anwendbarkeit von europä- ihnen auseinandersetzen und gegebenenfalls
ischem Sekundärrecht nicht mehr aus, solan- nachvollziehbar begründen, warum sie ihnen
ge die EU generell einen Grundrechtsschutz nicht folgen. ❙47 Insofern erzwingt der Prozess
gewährleistet, der demjenigen des Grund- der Globalisierung zwar einen Einbau kog-
gesetzes im Wesentlichen gleich zu ach- nitiver Mechanismen in das Recht, bewirkt
ten ist. ❙44 Dieses Motiv hat auch Eingang in aber nicht dessen Rückentwicklung.
die „Bosphorus“-Entscheidung des EGMR
zur Kontrolle von Unionsrecht am Maßstab Ein normatives Konzept des Rechtsplura-
der Europäischen Menschenrechtskonven- lismus in diesem Sinne eröffnet einen neuen
tion gefunden. ❙45 Der EuGH hat sich in sei- Weg, um nicht nur die überkommene dua-
ner „Kadi“-Entscheidung zwar einem ähnli- listische Vorstellung staatlicher Souveränität
chen Kooperationsverhältnis gegenüber den und die unerreichbare monistische Vision
Vereinten Nationen (VN) verweigert, indem weltstaatlicher Universalität zu überwinden,
er eine Verordnung zur Umsetzung einer Re- sondern auch die postmoderne Zumutung
radikaler Partikularität zu vermeiden. Zwar
❙41  Vgl. Niklas Luhmann, Die Stellung der Gerich- mag ein derartiger Kompromiss niemanden
te im Rechtssystem, in: Rechtstheorie, 21 (1990), wirklich zufrieden stellen. Ein aussichtsrei-
S. 459–473. cheres Modell für das Recht der Weltgesell-
❙42  Anne-Marie Slaughter, A Global Community of
schaft ist derzeit aber nicht in Sicht.
Courts, in: Harvard International Law Journal, 44
(2003), S. 191–219.
❙43  Georges Scelle, Le phénomène juridique du dé-
doublement fonctionnel, in: Walter Schätzel/Hans- ❙46  Vgl. EuGH, Urteil vom 3. 9. 2008, in: Rechtspre-
Jürgen Schlochauer (Hrsg.), Rechtsfragen der in- chungssammlung 2008, S. I-6351–6512.
ternationalen Organisation, Frankfurt/M. 1956, ❙47  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004, in: Ent-
S. 324–342. scheidungssammlung 111, S. 307–332; Beschluss vom
❙44  Vgl. BVerfG, Beschluss vom 22. 10. 1986, in: Ent- 19. 9. 2006, in: Neue Juristische Wochenschrift, 60
scheidungssammlung 73, S. 339–388. (2007), S. 499–504.
❙45  Vgl. EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, in: Neue Ju-
ristische Wochenschrift, 59 (2006), S. 197–204.

26 APuZ 34–35/2010
Eva Senghaas-Knobloch Bern die Unterzeichnung erster zwischen-
staatlicher Abkommen über Produktions-
Internationale bedingungen wie das Verbot des hochgif-
tigen weißen Phosphors bei der Fertigung

Arbeitsregulierung für von Streichhölzern.

Aber erst nach dem Zivilisationsschock


ein menschenwürdiges des Ersten Weltkriegs kam es im Rahmen
des Friedensvertrags von Versailles 1919 zur

Leben weltweit Gründung der bis heute bestehenden Inter-


nationalen Arbeitsorganisation (IAO). ❙3 Den
gesellschaftlichen Anstößen zu ihrer Grün-
dung entsprechend sah sie für jedes Mit-

D er Ruf nach einer internationalen Re-


gulierung von Arbeit hat die Entwick-
lung der Industriegesellschaften seit ihrem
gliedsland eine „dreigliedrige“ Beteiligung
von Regierung, Arbeitnehmer- und Arbeit-
gebervereinigungen bei allen Beratungs- und
Entstehen begleitet. Beschlussfassungen vor. In der Präambel zu
Eva Senghaas-Knobloch Seit Beginn der In- ihrer Verfassung von 1919, die bis heute gilt,
Dr. phil., geb. 1942; Profes- dustrialisierung in heißt es: „Der Weltfrieden kann auf die Dau-
sorin (em.) für Arbeitswissen- Europa nach 1750 ge- er nur auf sozialer Gerechtigkeit aufgebaut
schaft, Universität Bremen; rieten traditionelle werden. Nun bestehen aber Arbeitsbedin-
Senior Researcher im For- Wirtschafts- und So- gungen, die für eine große Anzahl von Men-
schungszentrum Nachhaltigkeit zialordnungen unter schen mit soviel Ungerechtigkeit, Elend und
(artec), Enrique-Schmidt- den Druck einer Dy- Entbehrungen verbunden sind, dass eine Un-
­Straße 7, 28359 Bremen. namik, in welcher die zufriedenheit entsteht, die den Weltfrieden
esk@artec.uni-bremen.de weniger produktive und die Welteintracht gefährdet. Eine Ver-
durch die produktive- besserung dieser Bedingungen ist dringend
re Arbeit verdrängt wurde. Durch die neue erforderlich.“ ❙4
dramatische Entwicklungsdynamik wurde
den Menschen in traditionellen (allermeist Das bis heute einzigartig für internatio-
bäuerlichen) Wirtschafts- und Lebensweisen nale Organisationen vorgesehene Vertre-
oft die materielle Grundlage entzogen, ohne tungsprinzip der Dreigliedrigkeit bringt
dass ihnen ausreichende Ressourcen für wirt- zum Ausdruck, dass Gerechtigkeit in einer
schaftliche Alternativen zur Verfügung stan- Weltsozialordnung innerhalb und zwischen
den; und mit dem heraufziehenden Bürger- Staaten auf der Anerkennung gleichberech-
tum wurden traditionelle Herrschafts- und tigter Interessen beruht, die in Verhandlun-
Ordnungsvorstellungen delegitimiert, ohne gen über Arbeits- und Sozialbedingungen
dass sich für die große Mehrheit der Bevöl- einbezogen werden müssen. Bekräftigt und
kerungen die Lebensverhältnisse verbes- völkerrechtlich weiterentwickelt wurde diese
serten. Damit stellte sich die Problematik frühe Auffassung noch während des Zwei-
ordnungspolitischer Rahmenbedingungen ten Weltkriegs und in den ersten Jahrzehn-
für Wohlstands- und Wohlfahrtsmehrung: ten danach: „Der Kampf gegen die Not muss
Reicht es aus, der Wirtschaftsdynamik innerhalb jeder Nation und durch ständiges
möglichst ungehindert freien Lauf zu las- gemeinsames internationales Vorgehen uner-
sen oder bedarf es politischer Gestaltungs- müdlich weitergeführt werden“, wird in der
räume zur ihrer Lenkung? ❙1 „Ein internatio-
nales Gesetz über die industrielle Arbeit ist
❙1  Zur Aktualität der Programmatiken ökonomischer
die einzig mögliche Lösung des großen So- Klassiker vgl. Dieter Senghaas, Weltordnung in einer
zialproblems“, urteilte der elsässische Besit- zerklüfteten Welt, Berlin 2010, Kap. 5 (i. E.).
zer einer Seidenmanufaktur Daniel Legrand ❙2  Zit. nach: Alfred Manes, Sozialpolitik in den Frie-
schon 1857 und setzte sich für eine auf sechs densverträgen und im Völkerbund, Berlin 1918, S. 6.
Stunden am Tag begrenzte Arbeitszeit für ❙3  Bekannter ist die englische Abkürzung ILO, die
aber sowohl für die Organisation (International La-
Kinder ein. ❙2 Anlässlich der Weltausstellung
bour Organization) als auch für deren Stab (Interna-
von 1900 in Brüssel bildete sich die priva- tional Labour Office) steht.
te Internationale Vereinigung für gesetzli- ❙4  Internationales Arbeitsamt, Verfassung der Inter-
chen Arbeiterschutz und bewirkte 1906 in nationalen Arbeitsorganisation, Genf 1997, S. 7.

APuZ 34–35/2010 27
IAO-Erklärung von Philadelphia von 1944 gehören neben regelmäßigen Staatenberich-
unterstrichen. ❙5 Auch werden gemäß der 1945 ten und ihrer Auswertung während der jähr-
angenommenen Charta der Vereinten Natio- lich tagenden Internationalen Arbeitskonfe-
nen (VN) laut Artikel  55 die „Verbesserung renz auch Beschwerde- und Klageverfahren
des Lebensstandards, die Förderung von durch Gewerkschafts- und Regierungsver-
Vollbeschäftigung und der Voraussetzungen treter und den Verwaltungsrat (exekutives
für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt Organ der IAO).
und Aufstieg“ angestrebt. Einschlägige Ar-
tikel enthält überdies die Allgemeine Erklä- Neben den auf Normen bezogenen Akti-
rung der Menschenrechte von 1948. ❙6 Und die vitäten ist der IAO-Stab im Bereich der tech-
beiden Menschenrechtspakte, der Interna- nischen Hilfe und des capacity building ❙9 tä-
tionale Pakt über bürgerliche und politische tig und mit der ständigen Weiterführung und
Rechte (Zivilpakt) und der Internationale Revision der organisatorischen Wissensbasis
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu- befasst, bei der es um Analysen und Lageein-
relle Rechte (Sozialpakt) von 1966 formulie- schätzung in den verschiedenen sozioökono-
ren in ihren Präambeln analog, dass das ­Ideal mischen Kontexten der Welt, auch um Eva-
vom freien Menschen, der frei von Furcht luationen eigener Aktivitäten geht. ❙10 Dies ist
und Not lebt, nur verwirklicht werden kön- auch erforderlich, weil sich seit der Grün-
ne, wenn Verhältnisse geschaffen würden, in dung der IAO die von ihr in den Blick ge-
denen wirtschaftliche, soziale und kulturelle nommene Arbeitswelt stark verändert hat.
Rechte die gleiche Bedeutung hätten wie bür- Mit der Dekolonisierung und den neuen
gerliche und politische Rechte. Ländermitgliedschaften wuchs die Heraus-
forderung, Arbeit in einem entwicklungs-
Der IAO kommt als VN-Sonderorganisa- politischen Zusammenhang zu betrachten;
tion zentrale Bedeutung zu, wenn es ange- mit dem Ende des Ost-West-Konflikts und
sichts gravierender Wirtschafts- und Sozial- einem neuen Globalisierungsschub rück-
krisen um die soziale Dimension einer global ten erneut Reichweite und Geltung der uni-
governance geht. Hier wird Arbeitspolitik versell konzipierten, aber flexibel umzuset-
als Grundlage für jede weiter gehende Sozi- zenden Arbeits- und Sozial­standards in den
alpolitik gesetzt, der es neben Regeln auch Mittelpunkt.
um Ausgleich durch Umverteilung und Ver-
sorgung mit dem Lebensnotwendigen gehen
muss. ❙7 So wurden in den 91  Jahren des Be- Veränderungen der Arbeitswelt
stehens der IAO von der Internationalen Ar-
beitskonferenz (Plenarorgan der IAO) über durch Globalisierung
188 (ratifikationsbedürftige) Übereinkom-
men und 199 Empfehlungen angenommen, 76 Nach dem zweiten Öl-Schock Ende der
Übereinkommen wurden im letzten Revisi- 1970er Jahre, durch den in den Industrie-
onsprozess als aktuell bestätigt und den heute staaten Stagflation (Nullwachstum bei stei-
183 Mitgliedstaaten zur Ratifikation empfoh- gender Inflation) und ein dramatischer An-
len, auf deren völkerrechtlich verbindlicher stieg von Arbeitslosigkeit ausgelöst wurde,
Basis umfangreiche Aufsichtsverfahren in zerbrach der Jahrzehnte währende politische
Gang gesetzt werden. ❙8 Zu diesen Verfahren Konsens innerhalb der Industriegesellschaf-
ten über Grundprinzipen von Sozialstaat-
❙5  Ebd., S. 25. lichkeit. Dominant wurde die Ökonomie
❙6  So beispielsweise gegen Sklaverei und Leibeigen-
schaft (Artikel 4), für Versammlung und Vereinigungs-
freiheit (Artikel  20) oder für soziale Sicherheit, wirt- ❙9  Vgl. Andrea Liese, „Capacity Building“ als Stra-
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Artikel 22). tegie zur Förderung der Regeleinhaltung. Erfahrun-
❙7  Vgl. Lutz Leisering, Soziale Globalisierung? Die gen der IAO bei der Abschaffung von Kinderarbeit,
Entstehung globaler Sozialpolitik, in: APuZ, (2008) in: Eva Senghaas-Knobloch (Hrsg.), Weltweit gelten-
21, S. 21–26. de Arbeitsstandards trotz Globalisierung, Münster
❙8  Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Zwischen Über- 2005, S. 63–79.
zeugen und Erzwingen. Nachhaltiger Druck zur ❙10  Vgl. Eva Senghaas-Knobloch/Jan Dirks/Andrea
Geltung und Wirksamkeit internationaler Arbeits- Liese, Die Internationale Arbeitsregulierung in Zei-
und Sozialstandards, in: Bernhard Zangl/Michael ten der Globalisierung. Politisch-organisatorisches
Zürn (Hrsg.), Verrechtlichung – Baustein für Global Lernen in der Internationalen Arbeitsorganisation,
Governance?, Bonn 2004, S. 140–159. Münster 2003.

28 APuZ 34–35/2010
einer fälschlicherweise ❙11 „neoliberal“ ge- sowohl zur Markterschließung vor Ort (wie
nannten Schule, die auf rein wirtschaftliche in Brasilien oder China) als auch mit dem Ziel
Anreize als Grundlage von Wachstum und der Kostensenkung für die Belieferung des
Beschäftigung setzt und in jeglicher Regulie- eigenen heimischen Marktes in den Indus-
rung des Arbeitsmarkts tendenziell schädli- triegesellschaften (outsourcing, insourcing).
che Marktverzerrungen sieht. Entsprechend Dadurch wird der Welthandel zu einem er-
wurden Strategien der Privatisierung, Rück- heblichen Anteil zu einem Austausch von Wa-
nahme des öffentlichen Beschäftigungssek- ren zwischen verschiedenen Standorten von
tors, Rückbau von Arbeitsschutz und sozi- Multis. 1999 machte beispielsweise solcher
aler Sicherung, Liberalisierung von Handel „Intrafirmenhandel“ ein Drittel des Handels
und Finanzen und eine restriktive Geld- und zwischen Japan und den USA aus. Schon ab
Steuerpolitik als angemessene Politik propa- den 1970er Jahren wuchs der Welthandel pro-
giert und durchgesetzt. In den verschuldeten zentual stärker als die Weltproduktion von
Ländern Lateinamerikas, Afrikas und eini- Gütern, und ab Mitte der 1980er Jahre stiegen
ger asiatischer Länder wurde in den 1980er auch die grenzüberschreitenden Kapitalbewe-
Jahren eine solche Politik auch konsequent gungen auf rasante Weise an – weltweit, aber
im Rahmen des Washingtoner Konsenses in auf bestimmte Kernregionen konzentriert;
Gestalt von (Staatsaktivitäten abbauenden) schließlich begannen reine Finanztransak-
„Strukturanpassungsplänen“ als Bedingung tionen die Produktivkapitalbewegungen bei
für die Gewährung von Krediten von Welt- Weitem zu überschreiten. ❙13 Die Aktivitäten
währungsfonds und Weltbank verfolgt. Auch in Entwicklung, Planung, Produktion und
in den EU-Ländern und in der EU-Kommis- Dienstleistungen großer westlicher Konzer-
sion fanden, wenngleich vielerorts durch tra- ne werden in globalen sogenannten Wert-
dierte Politikkulturen gedämpft, neoliberale schöpfungsketten dezentralisiert, also – nach
Rezepte einer weitgehenden Deregulierung Maßgabe von unternehmensstrategischen,
Anklang. Am weitesten wurden die Finanz- letztlich gewinnorientierten Investitionsim-
märkte dereguliert, mit den inzwischen be- perativen  – auf Standorte an verschiedenen
kannten Ergebnissen einer Weltfinanz- und Orten der Welt ausgelagert, weiterverlagert,
Weltwirtschaftskrise. Im Zuge dieser Ent- zurückverlagert oder auch aufgegeben. Im-
wicklung haben fast alle Staaten einen Teil ih- mer mehr Unternehmen investierten zudem
rer bis dahin vorhandenen politischen Steu- offensichtlich einen erheblichen Teil ihrer Ge-
erungsfähigkeit verloren. Sozialstaatliche winne in spekulative Geschäfte. Volkswirt-
Vorkehrungen werden seitdem weniger unter schaftliche Entwicklung im Rahmen einzel-
dem Gesichtspunkt einer öffentlichen Inves- ner betroffener politischer Gemeinweisen ist
tition für eine gewünschte Sozialintegration bei diesen Entscheidungen nicht im Blick.
als hinsichtlich eines vermeintlichen Nach-
teils im globalen Wettbewerb um Privatin- Die Folgen dieser strukturell-asymmetri-
vestitionen betrachtet. schen Art von Globalisierung stellen sich in
den verschiedenen Regionen und sozioöko-
Seit den 1970er Jahren investieren multi- nomischen Kontexten der Weltwirtschaft ver-
und transnational agierende Unternehmen schieden dar. Für nahezu alle gilt aber, dass
mit Hauptsitz in den Industrieländern (und die Einkommensunterschiede dramatisch an-
neuerdings auch in den asiatischen Schwellen- stiegen. Das Auseinanderdriften zeigt sich
ländern) nicht nur – wie schon zuvor – welt- sowohl zwischen den Staaten als auch inner-
weit in den Abbau von Rohstoffen und in die halb der Staaten: Die Daten der Weltbank zei-
Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte für gen, dass sich zwischen Anfang der 1960er
den Export; ❙12 sie errichten auch weltweit Pro- Jahre und Anfang des neuen Jahrhunderts in
duktionsstätten für industrielle Güter – dies 94 Ländern, für die entsprechende Daten vor-
lagen, die Kluft zwischen dem durchschnitt-
❙11  Zu den frühen Neoliberalen bzw. Ordoliberalen, die
staatliche Regulierung, nicht aber „Marktaktivitäten“
des Staates für erforderlich hielten vgl. Karen Horn, ❙13  Vgl. hierzu und zum Folgenden Werner Sengen-
Die Soziale Marktwirtschaft, Frankfurt/M. 2010. berger, „Der kurze Traum immerwährender Pro-
❙12  Vgl. Olivier De Schutter, International Trade in sperität“ und die lange Ernüchterung, in: Norbert
Agriculture and the Right to Food, Friedrich Ebert Altmann/Fritz Böhle (Hrsg.), Nach dem „kurzen
Stiftung, Dialogue on Globalization, Occasional Pa- Traum“. Neue Orientierungen in der Arbeitsfor-
per 46, Genf 2009. schung, Berlin 2010 (i. E.).

APuZ 34–35/2010 29
lichen Pro-Kopf-Einkommen der 20 ärmsten ter Beschäftigung, Teilzeitarbeit und einem
Länder im Verhältnis zu dem der 20 reichsten starken Anstieg verschiedener Arbeitsformen
Länder von 1 zu 54 auf 1 zu 121 vergrößerte. ❙14 in der informellen Ökonomie mit ihren ver-
Diese drastische Entwicklung von Ungleich- letzlichen Beschäftigungsformen. In Afrika
heit wird verdeckt, wenn die Verbesserungen ist als Folge der Globalisierung vor allem der
in den bevölkerungsreichen neuen Export- Druck auf kleinbäuerliche Existenzen, be-
ländern China und Indien, die wenigstens das sonders von Frauen, hervorzuheben: Im Ge-
Ausmaß der extremen Armut trotz gleichzeitig gensatz zum erklärten Freihandelsziel ver-
wachsender innerer Ungleichheit reduzieren drängen subventionierte landwirtschaftliche
konnten, in die globalen Zahlen eingerechnet Produkte aus Industrieländern wie den USA
werden. Diese und einige kleinere Länder wie und den EU-Staaten im südlichen Afrika die
Südkorea konnten aus der Exportförderung – nicht selten zuvor mit Entwicklungshilfe
volkswirtschaftlichen Gewinn ziehen, hatten aufgebauten – örtlichen Existenzen wie bei
sich aber keineswegs dem Marktöffnungsdik- der Geflügelhaltung und im Fischfang. Das
tat gebeugt, sondern ihre Wirtschaftspolitik Weltwirtschaftswachstum in den Jahren vor
selbst gezielt staatsinterventionistisch gesteu- der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise
ert – allerdings auf Basis einer Wirtschafts- hat auch vielen der etwa 1,5 Milliarden formal
und Arbeitspolitik, die sich über Rechte bei registrierten lohnabhängigen Beschäftigten
der Arbeit hinwegsetzt und insbesondere keinen erhöhten Wohlstand gebracht. In den
Frauen diskriminiert. In der Folge eines Wett- Ländern der Organisation für wirtschaftliche
laufs bei Steuersenkungen, besonders auf Ka- Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)
pitaleinkommen, sanken mit den eingenom- stieg die Niedriglohnquote (zwei Drittel des
menen Steuern auch die staatlichen Ausgaben Median) zwischen 1996 und 2006 von 17 auf
für Bildung, Gesundheit und andere öffentli- 18 Prozent. Die Lohnquote (Anteil der Löhne
che Aufgaben; Infrastrukturen wurden viel- am Bruttoinlandsprodukt) ist in den vergan-
fach privatisiert. In Afrika, Osteuropa, Zen- genen Jahren in drei Vierteln aller Länder ge-
tralasien, Lateinamerika und Mittelasien stieg schrumpft. Die Reallohnzuwächse der Indus-
der Anteil der Menschen in absoluter Armut. trieländer betrugen zwischen 2001 und 2007
In vielen fortgeschrittenen Industrieländern höchstens ein Prozent; in Deutschland waren
zeigt sich der Trend für die Einkommens- und es 0,5 Prozent. ❙16 Auch das Arbeitsleben in der
Vermögensverteilung während der vergan- EU hat sich in den vergangenen Jahrzehnten
genen hundert  Jahre als Bild einer „offenen erheblich verändert: sowohl was die Qualität
­Sichel“: Lohnspreizung sowie Reichtums- der Beschäftigungsverhältnisse anbelangt, als
und Armutsdifferenzierung zu Beginn und auch die der Arbeit selbst. ❙17 Bei den Beschäf-
zum Ende des 20. Jahr­hunderts. tigungsverhältnissen ist die Zunahme von un-
terbezahlten und gering geschützten Dienst-
Von besonderer Bedeutung ist die weltwei- leistungen sowie Teilzeitarbeit besonders von
te Zunahme (und nicht wie modelltheoretisch Frauen auffällig.
prognostiziert die Abnahme) von informa-
lisierter Arbeit – jener Form von Beschäfti-
gung, die sich außerhalb von formaler Regis- Decent Work Agenda
trierung und damit verbundenen staatlichen
Schutzrechten bewegt – als Folge dieser de­ Dass Arbeitskraft nicht ohne die Person, zu
regu­lier­ten Globalisierungspolitik. In Latein- der sie gehört, zu haben ist, also jede Nutzung
amerika wird von einer „Delaborisierung“ ❙15 menschlicher Arbeitskraft auch die Wür-
gesprochen: Der Anteil arbeits- und sozial- de des Menschen tangiert, wird seit Kurzem
rechtlich geschützter Beschäftigungsverhält- wieder thematisiert. Bis weit in die 1990er
nisse sank zugunsten von Kontraktarbeit und Jahre war die IAO im Konzert der internatio-
Alleinselbständigenarbeit sowie von befriste- nalen Institutionen eher marginalisiert. Zwar
hatten sich die 120 Regierungschefs während
❙14  Vgl. Weltkommission über die soziale Dimension des Sozialgipfels von 1995 in Kopenhagen zu
der Globalisierung, Eine faire Globalisierung, Genf
2004, S. 38 ff.
❙15  Daniel Martinez, The World of Work in the Con- ❙16  Vgl. ILO, Global Wage Report 2008/09, Genf
text of Economic Integration and Trade Liberalizati- 2008, S. 19 ff.
on. From the Vantage Point of the Americas, ILO-Po- ❙17  Vgl. Eva Senghaas-Knobloch, Wohin driftet die
licy Integration Department, Paper 145, Genf 2004. Arbeitswelt?, Wiesbaden 2008.

30 APuZ 34–35/2010
den drei großen Zielsetzungen bekannt: so- ausreichenden Lebensunterhalt noch gesun-
ziale Inklusion, Vollbeschäftigung und Ar- de Arbeitsbedingungen. Zur Förderung der
mutsreduktion in Verbindung mit grund- Menschenwürde bei der Arbeit sind sie unab-
legenden Menschenrechten bei der Arbeit. dingbar, zur Verbesserung der Arbeits- und
Aber allein die Armutsreduktion ist im Jahr Lebensbedingungen allein unzureichend. Zu
2000 in die Liste der VN-Mil­len­n iums­ziele den prioritär zu fördernden Übereinkommen
für Entwicklung aufgenommen worden  – werden daher vom IAO-Stab auch die Über-
ohne Bezug auf Probleme von Beschäftigung einkommen über Arbeitsaufsicht, Sozialein-
und Arbeit. Die deutliche Trennung ökono- richtungen, die Festsetzung von Mindestlöh-
mischer von sozialen Dimensionen in den in- nen und Arbeitnehmervertreter im Betrieb
ternationalen Governance-Strukturen hatte gezählt.
sich mit der Gründung der Welthandelsorga-
nisation (World Trade Organization, WTO) Auf dieser normativen Grundlegung konn-
1996 noch verstärkt: Regierungen und Ar- te die Decent Work Agenda der IAO von
beitgebervertreter aufstrebender Schwellen- 1999 aufbauen. Ihr Anspruch ist die Inklusi-
länder des Südens sprachen sich gegen jedes on aller arbeitenden Menschen in das Mandat
Junktim von so­zial-normativen Kriterien und der IAO. Juan Somavía, der erste nicht aus
Freihandel aus, weil sie darin Wettbewerbs- einem klassischen Industrieland kommende
verzerrungen zu ihrem Nachteil sahen. Erst Generaldirektor der IAO, formulierte in sei-
1998 gelang es der IAO mit der „Erklärung ner programmatischen „Agenda für weltweit
über grundlegende Prinzipien und Rechte bei menschenwürdige Arbeit“ als vorrangiges
der Arbeit“ einen anfänglich bescheidenen Ziel, „Möglichkeiten zu fördern, die Frau-
normativen Grundkonsens für die Welt der en und Männern eine menschenwürdige und
Arbeit zustande zu bringen. Da das Arbeits- produktive Arbeit in Freiheit, Sicherheit und
recht nicht zum öffentlichen Recht gezählt Würde und unter gleichen Bedingungen bie-
wird, gab es bis dahin kaum Verbindungen ten“. Der IAO müsse es „auch um Erwerbstä-
zwischen arbeitsrechtlichen und menschen- tige außerhalb des formellen Arbeitsmarktes
rechtlichen Diskursen, obwohl schon in der gehen, um die Arbeitnehmer in ungeregelten
IAO-Erklärung von Philadelphia 1944 eine Verhältnissen, um Selbständige und Heimar-
an Rechten orientierte Sprache gewählt wur- beiter“. ❙19 Die Decent Work Agenda der IAO
de („Arbeit ist keine Ware“). benennt vier strategische Grundsätze, die zu
Lebensbedingungen beitragen sollen, in de-
Bei den von der IAO erklärten grund- nen sich Menschen entwickeln können: pro-
legenden Rechten oder Kernarbeitsnor- duktive Beschäftigung (also Arbeit, die über
men, die in acht IAO-Übereinkommen völ- die bloße Existenzerhaltung hinaus Bedürf-
kerrechtlich judifiziert sind, geht es um das nisse erfüllen kann), Rechte bei der Arbeit,
Recht auf Vereinigungsfreiheit bzw. kollekti- Sozialschutz in den Lebensphasen, in denen
ve Tarifverhandlungen, die Abschaffung von der eigene Unterhalt nicht durch Arbeit ge-
Zwangsarbeit, die Beseitigung (spezifizier- sichert werden kann (Kindheit, Krankheit
ter) Kinderarbeit und das Verbot von Dis- bzw. Invalidität, Beschäftigungslosigkeit
kriminierung in Beschäftigung und Beruf und Alter) und Sozialdialog (also das Prin-
(wie nach Geschlecht oder Hautfarbe). Diese zip, Arbeitende in allen Entscheidungen, die
grundlegenden Prinzipien und Rechte lassen ­A rbeit betreffen, in einem Verhandlungspro-
sich als faire Wettbewerbsregeln für die inter- zess mit Arbeitgebern oder auch Regierun-
nationale Wirtschaft legitimieren. In ihrem gen zu ­beteiligen).
normativen Sinn sind sie als Ermöglichungs-
rechte zur Existenzerhaltung und -entfaltung Die IAO steht mit Blick auf alle vier Grund-
zu verstehen. ❙18 Es sind liberale Grundrechte; sätze vor der Herausforderung, die struktu-
im Unterschied zu der Vielzahl von IAO-Re- rellen Unterschiede und Interdependenzen
gelungsgebieten im Arbeits- und Sozialrecht der sozioökonomischen Kontexte (Schwel-
schaffen sie für sich allerdings noch keinen len-, Entwicklungs-, Industrie- und Trans-
materiellen Schutz: So garantieren sie weder formationsländer) zu beachten, um sowohl
ökonomischen Entwicklungsnutzen als auch
❙18  Vgl. Martha Nussbaum, Women and Equality.
The Capabilities Approach, in: International Labour ❙19  Internationales Arbeitsamt, Menschenwürdige
Review, 138 (1999) 3, S. 217–245. Arbeit, Genf 1999, S. 4.

APuZ 34–35/2010 31
unveräußerliche Rechte zu befördern. Von danach begann sie damit, durch eine Priori-
besonderer Bedeutung ist, wie dem Grund- sierung bestimmter Normen und durch Maß-
gedanken des klassischen Arbeitsrechts, nahmen des capacity building in Ländern des
also der Stärkung der Verhandlungsmacht Südens die Anerkennung und Umsetzung
der schwächeren Seite (Arbeitnehmer), auch ihrer aktuellen Normen zu befördern. Als
im Fall von unregelmäßiger und alleinselb- besonders erfolgreich gilt dabei das Inter-
ständiger Arbeit Rechnung getragen werden nationale Programm zur Abschaffung der
kann. Hier sind gewerkschaftliche und ge- Kinderarbeit, wenngleich das Ziel der Über-
nossenschaftliche Vereinigungen entschei- windung von Kinderarbeit in der Welt –
dend, besonders wenn es um die faktische Be- selbst, was ihre schlimmsten und gefährlichs-
achtung von Recht und Gesetz vor Ort geht. ten Formen anbelangt – noch in weiter Ferne
In ihren spezifischen Länderprogrammen be- ist und sich durch die derzeitige Krise noch
müht sich die IAO auch um die Verbesserung weiter entfernt hat.
der Arbeits- und Lebensbedingungen in der
informellen Ökonomie. Dazu gehören Kon-
zepte für ein „globales soziales Minimum“ ❙20 Bedeutung von Institutionen
und die Organisation basaler sozialer Siche-
rungssysteme, um Kinder sowie kranke, ver- Weltweite Probleme wie Kinderarbeit,
letzliche und alte Menschen zu schützen. Zwangsarbeit, rechtlich ungeschützte infor-
melle Arbeit sind politisch zu bearbeiten.
Die Decent Work Agenda konkretisiert Seit den staatlichen Rettungsschirmen für
und aktualisiert das Mandat der IAO und Banken im Jahr 2008 gibt es eine veränder-
ist zugleich eine Managementstrategie, um te Diskussionslage über die Notwendigkei-
sowohl ihre vielfältigen eigenen Aktivitäten ten staatlicher Handlungsfähigkeit. Schon
konsistent aufeinander zu beziehen, als auch im Bericht über den Einfluss der Weltkom-
um die gebotene Kohärenz der diversen Insti- mission für die soziale Dimension der Glo-
tutionen und Akteure der Weltwirtschaft zu balisierung von 2007 ist die dringende Not-
überprüfen und einzufordern. Dabei geht es wendigkeit eines policy space unterstrichen
vor allem um die Respektierung und Umset- worden. ❙21 Dort und an vielen anderen Stel-
zung geltender internationaler Normen, wo- len ist immer wieder die Problematik man-
bei die Kernarbeitsnormen hervorgehoben gelnder Kohärenz in nationalen und inter-
werden. Die Agenda bringt die Unstimmig- nationalen Entscheidungen benannt worden.
keiten (Inkohärenz) in den gegenwärtigen in- Diese liegt insbesondere darin, dass die Miss-
ternationalen Regelungs- und Steuerungs- achtung sogar der grundlegenden Rechte bei
maßnahmen zum Vorschein, etwa wenn eine der Arbeit (Vereinigungsfreiheit, Verbot der
Regierung im Rahmen von Weltbank, Inter- Kinderarbeit, Diskriminierung und Zwangs-
nationalem Währungsfonds, WTO und EU arbeit) teils ignoriert, teils sogar gefördert
eine andere Politik als innerhalb der IAO ver- wird, wenn es um Konditionen für Kredi-
tritt. Erst 2005 sind Beschäftigungsförderung te von Seiten der internationalen Finanzins-
und decent work in die Liste der VN-Millen- titutionen geht. Erst in jüngster Zeit gibt es
niumsziele aufgenommen worden; 2006 wur- verstärkte Koordinierungsansätze zwischen
de das Konzept vom VN-Wirtschafts- und den internationalen Institutionen. ❙22 2008
Sozialrat bestätigt. Zur gleichen Zeit hat auch bestätigten die Mitglieder der IAO die inte-
die EU diese Zielsetzung in ihre Programma- grale Einheit ihrer strategischen Zielsetzun-
tik eingefügt. Die Decent Work Agenda hat gen in Gestalt ihrer „Declaration on Full and
es also ansatzweise vermocht, die klassische Productive Employment and Decent Work“.
Zielsetzung der IAO wieder auf die internati- Auch die allgemeine Unterstützung eines von
onale Tagesordnung zu setzen: eine gerechte
Entwicklung für alle, auf der Grundlage ei- ❙21  Vgl. Hamish Jenkins/Eddy Lee/Gerry Rodgers,
ner fairen Globalisierung. Schon 1969 hatte The Quest for a Fair Globalization three Years on,
die IAO mit ihrem „Weltbeschäftigungspro- Genf 2007, S. 29 f.
gramm“ Aufgaben der ländlichen Entwick- ❙22  Vgl. Wolfgang Hein, „Globale Sozialpolitik statt
Entwicklungshilfe“. Menschenrechte, globale Zi-
lung in den Blick genommen. Dreißig Jahre vilgesellschaft und die Kontrolle von „Risiken aus
dem Süden“, in: Hartwig Hummel/Sebastian Loges
❙20  ILO, Decent Work and the Informal Economy, (Hrsg.), Gestaltungen der Globalisierung, Opladen
Genf 2002. 2009, S. 37–158.

32 APuZ 34–35/2010
der IAO lancierten (auf dieser Erklärung auf- tung durch Nichtregierungsorganisationen
bauenden) Globalen Beschäftigungspakts an- zwar entrechteten Menschengruppen hel-
gesichts der Weltwirtschaftskrise im Sommer fen, nicht aber deren eigene kollektive Stim-
2009 zeigt eine neue Aufgeschlossenheit für me in selbstbestimmten Vereinigungen er-
die IAO-Ziele – ohne dass damit schon aus- setzen. Es ist daher äußerst bedenklich, dass
gemacht ist, dass es tatsächlich zu einer neu- von allen Kernarbeitsnomen gerade die bei-
en Politik in und zwischen den Staaten kom- den Übereinkommen zur Vereinigungsfrei-
men wird. heit und zu kollektiven Tarifverhandlungen
die geringsten Ratifizierungen aufweisen,
Von entscheidender Bedeutung ist, dass und dass bei jüngeren Rechtsprechungen des
seit der Liberalisierung des Kapitaltrans- Europäischen Gerichtshofs (EuGH) eine Re-
fers mit den multi- und transnational ope- lativierung der Grundrechte zugunsten wirt-
rierenden Unternehmen neue Akteure von schaftlicher Grundfreiheiten vorgenommen
beispielloser Gestaltungsmacht entstanden wurde. ❙24 Hilfreich erweisen sich demgegen-
sind, die außerhalb der in der IAO vertrete- über die Rahmenübereinkommen ❙25 globaler
nen Mitgliedsgruppen operieren. Zur Ein- Gewerkschaften mit transnationalen Unter-
bindung dieser neuen Akteursgruppe, die nehmen. Aber ihre Anzahl von etwa 60 ist bei
das Weltwirtschaftsgeschehen prägt, wurden etwa 60 000 „Multis“ äußerst gering.
schon 1976 durch die OECD-Leitlinien und
1977 durch die IAO-Grundsätze und eigene Die westlichen Industrieländer machen
Berichtsverfahren geschaffen. Die Kernar- heute die Erfahrung, dass die Folgen ih-
beitsnormen wurden Anfang des neuen Jahr- rer Politik des Freihandels ohne Respekt für
hunderts in beide Regelwerke ausdrücklich grundlegende Rechte bei der Arbeit und der
aufgenommen. Angesichts der immer grö- deregulierten Finanzmärkte auf sie selbst zu-
ßer gewordenen Handlungsmacht und der rückfallen: in Gestalt von Wohlstands- und
ausbleibenden Erfolge dieser Instrumente, Wohlfahrtsverlusten, ungesteuerter Migra-
die auf staatlichen Verpflichtungen zur Ein- tion aus verelendeten Regionen der Welt so-
wirkung auf die multinationalen Unterneh- wie damit zusammengehender mangelhafter
men beruhen, entstand 1999 mit dem Global Durchsetzung auch nationalen Arbeitsrechts.
Compact der VN ein freiwilliges Selbstver- Nachdem über Jahrzehnte die IAO-Normen
pflichtungssystem für Unternehmen. Sei- von vielen Regierungen ihrer Mitgliedslän-
ne Wirkungsweise soll auf dem marktbezo- der vernachlässigt wurden, wird in der ge-
genen Anreiz beruhen, den guten Ruf eines genwärtigen Krise wieder eine Verbindung
Unternehmens durch Bindung an zehn Prin- zwischen der sozialen und der ökonomischen
zipien, darunter die in den IAO-Kernarbeits- Dimension gesellschaftlicher Entwicklung
normen formulierten Standards, zu beför- hergestellt – auch indem die ökonomischen
dern. Auswertungen ❙23 zeigen allerdings, dass Kosten einer Vernachlässigung sozialer Di-
die Aktivitäten sogenannter gesellschaftli- mensionen in den Gemeinwesen berechnet
cher Unternehmensverantwortung (corpo- werden. Kostenkalkulation kann allerdings
rate social responsibility), in deren Kontext den politischen Willen zur Anerkennung
sich eine unübersichtliche Vielfalt privater weltweit geltender grundlegender Arbeits-
Verhaltenskodizes, Zertifikate und Güte­ und Sozialnormen nicht ersetzen. Diesen zu
siegel oft ohne expliziten und engen Bezug befördern, ist Aufgabe bürgerschaftlichen
auf die international anerkannten IAO-Nor- ­Engagements.
men entwickelt hat, wegen mangelnder Me-
chanismen mit Blick auf Beschwerden, Sank-
❙24  Vgl. Andreas Fischer-Lescano/Florian Rödl/
tionen oder Wiedergutmachung im Falle der
Christoph Schmid (Hrsg.), Europäische Gesell-
Übertretung meist wirkungslos bleiben. Eine schaftsverfassung. Zur Konstitutionalisierung sozi-
soziale Rechenschaftspflicht ist daher unab- aler Demokratie in Europa, Baden-Baden 2009.
dingbar; Marktmechanismen reichen nicht. ❙25  Vgl. Torsten Müller/Hans-Wolfgang Platzer/Ste-
Zudem kann eine anwaltschaftliche Vertre- fan Rüb, Internationale Rahmenvereinbarungen
– Chancen und Grenzen eines neuen Instruments
globaler Gewerkschaftspolitik, Friedrich-Ebert-Stif-
❙23  Vgl. Brigitte Hamm/Hannes Koch, Soziale und tung, Globale Gewerkschaftspolitik, Kurzbericht 8,
ökologische Verantwortung. Zur Umsetzung des 2008.
Global Compact in deutschen Mitgliedsunterneh-
men, Frankfurt/M. 2010.

APuZ 34–35/2010 33
Inge Kaul verbundene wachsende Bedeutung von glo-
balen öffentlichen Gütern. ❙1 Die Durchläs-
Souveränität wieder- sigkeit nationaler Grenzen basiert auf einer
von der Politik geförderten „Verglobalisie-

gewinnen: Suche nach rung“ von zuvor eher nationalen öffentlichen


Gütern wie etwa den Handels- und Investi-
tionsregimen. Nationale Handelsschranken
den Grundelementen wurden abgebaut und Einfuhr- und Aus-
fuhrbestimmungen weltweit vereinheitlicht.

eines neuen Multi- Ähnliche Tendenzen hat es im Kapitalbe-


reich gegeben. Auch technische Normen

lateralismus
und Standards sind harmonisiert worden,
um Infrastruktursysteme besser integrieren
zu können. All das hat die Globalisierung
von Märkten und das Wachstum grenzüber-

I mmer häufiger fühlen sich Politiker ge-


jagt und gehetzt – von Finanzmärkten,
Erderwärmung, ansteckenden Krankheiten,
schreitender ökonomischer Aktivitäten be-
fördert. Die Motivation vieler Staaten, ins-
besondere der Industrienationen, für die
Drogen­handel, Ter- „Verglobalisierung“ von öffentlichen Gütern
Inge Kaul rorismus und anderen speiste sich aus ihrem Interesse, neue globale
Dr. rer. soc.; beigeordnete Problemen. Es bleibt Möglichkeiten zu erschließen, vornehmlich
Professorin an der Hertie kaum noch Zeit für mit Blick auf die internationalen Handels-
School of Governance in Berlin; eine proaktive Gestal- und Finanzmärkte.
ehemalige Leiterin des Büros tung der Politik. Kri-
für Entwicklungsstudien beim senmanagement be- Allerdings hatten diese Veränderungen
Entwicklungsprogramm der stimmt weitgehend auch unbeabsichtigte Folgen, die sich nun
Vereinten Nationen (UNDP). das politische Gesche- leichter und schneller in der Welt verbreiten
contact@ingekaul.net hen. Woher kommt konnten  – wie etwa ansteckende Krankhei-
dieses politische Tau- ten, „toxische“ Stoffe und Finanzprodukte,
meln von Krise zu Krise? Wie die folgenden Kriminalität und Gewalt. Diese spill-over-
Ausführungen zeigen, ist die Vermutung, oder externen Effekte, die in zunehmendem
dass sich die Natur der politischen Heraus- Maße von außen in ein Land wirken können,
forderungen gewandelt hat und deshalb kon- haben zu einer „Verglobalisierung“ weiterer
ventionelle Politikansätze und Instrumente öffentlicher Güter geführt: Das Gesundheits-
nicht mehr greifen, in der Tat zutreffend: Die wesen, Recht und Ordnung, Finanz- und
Anpassung der Politik an die heutigen Reali- Wirtschaftsstabilität oder Umweltbedingun-
täten, insbesondere an die wachsende Bedeu- gen hängen heute immer mehr nicht nur von
tung globaler, grenzüberschreitender Pro- der nationalen Politik eines Landes ab, son-
bleme, hat bislang nur zum Teil stattgefun- dern auch von der Politik anderer Staaten.
den. Aber erste Ansätze eines neuen Mul-
tilateralismus lassen sich erkennen. Dessen
❙1  „Öffentliche Güter werden am besten in der Ge-
Kernstück wird eine neue Rolle des Staates genüberstellung zu privaten Gütern verständlich.
sein: Staaten werden sich mehr und mehr als Der Gebrauch privater Güter kann ausschließend
Vermittler zwischen nationalen und interna- und ausschließlich gestaltet werden. Private Güter
tionalen Politikerwartungen positionieren sind mit eindeutigen Eigentumsrechten versehen.
und so politische Gestaltungskraft wieder- Und es ist ihren Besitzern überlassen, über ihren Ge-
brauch zu bestimmen – oder über ihren Verbrauch,
gewinnen, um Globalisierung und Souve­
ihren Verleih oder den Handel mit ihnen. Öffentliche
räni­t ät besser miteinander vereinbaren zu Güter dagegen sind Güter im öffentlichen Bereich, sie
­können. sind allen zum Gebrauch verfügbar und haben so po-
tenziell Einfluss auf alle Menschen. Globale öffentli-
che Güter sind öffentliche Güter mit Nutzen – oder
Globale öffentliche Güter Kosten, wie im Fall öffentlicher ‚Übel‘ wie Krimina-
lität und Gewalt –, die sich über Länder und Regio-
nen, über reiche und arme Bevölkerungsgruppen und
Ein grundlegend neuer Aspekt der gegen- sogar über Generationen erstrecke.“ So in: Inge Kaul
wärtigen Zeit ist die zunehmende Durchläs- et  al. (eds.), Providing Global Public Goods. Mana-
sigkeit der nationalen Grenzen und die damit ging Globalization, New York 2003, S. 10.

34 APuZ 34–35/2010
Globale öffentliche Güter implizieren Kon- wenn die Kriseneffekte verebben – oder die
suminterdependenz. Aber sie implizieren nächste Krise ins politische und mediale
auch Politikinterdependenz: Sollten sich die Rampenlicht tritt.
Menschen in einem Land, beispielsweise in
Deutschland, für eine dezidierte Reduktion Da die meisten multilateralen Entschei-
von Treibhausgasen aussprechen, um der Erd- dungen auch weiterhin unverbindlicher Art
erwärmung entgegenzuwirken, dann könnten sind, gibt es etliche multilaterale Stellung-
sie dieses Ziel nur erreichen, wenn alle ande- nahmen zu den globalen Zielen, welche die
ren Staaten, vornehmlich die Hauptemitten- internationale Gemeinschaft gerne erreichen
ten, sich ebenfalls zu einer solchen Redukti- würde – Frieden, Sicherheit, Nachhaltigkeit,
on der Gase verpflichten würden. Ähnliches Halbierung der globalen Armut bis 2015 und
gilt für viele andere globale Herausforderun- vieles anderes. Aber die Umsetzung solcher
gen wie die Sicherheit der internationalen Zi- Zielvorstellungen vollzieht sich nur zögernd.
villuftfahrt oder den internationalen Banken- Nur ein Bruchteil der Ressourcen, die natio-
sektor: So ist es nur von begrenztem Nutzen, nal und international zur Verfügung stehen
Bankenrisiken in lediglich einigen wenigen müssten, wird tatsächlich bereitgestellt. Die
Ländern zu kontrollieren und nicht in al- Gelder für Entwicklungszusammenarbeit
len relevanten Märkten, da beispielsweise ein haben nicht einmal die Hälfte des angekün-
Verbot von Leerverkäufen in einem Land zu digten Niveaus von 0,7  Prozent des Brutto-
einem Anstieg von Leerverkäufen in einem inlandsproduktes der Geberländer erreicht
anderen Land führen kann. und werden dies aufgrund der gegenwärti-
gen Finanz- und Wirtschaftskrise wohl auch
Globale öffentliche Güter verlangen oft nicht sehr bald tun. Das Auseinanderklaffen
nach einem multilateralen Politikansatz, oder von multilateralen Politikzielen und tatsäch-
anders formuliert, einer Harmonisierung na- lichem Handeln hat sich auch auf der Klima-
tionaler Politikmaßnahmen. Dies bedarf in- konferenz in Kopenhagen Ende 2009 gezeigt.
ternationaler Abkommen, welche den natio- Aber solche Diskrepanzen tauchen nicht nur
nalen Interessen der einzelnen Staaten gerecht auf, wenn es um finanzielle Aspekte der in-
werden. Da die „Institution Staat“ auf inter- ternationalen Zusammenarbeit geht, sondern
nationaler Ebene kein vollwertiges Äqui- auch bei der Übernahme politischer Kosten,
valent besitzt, muss sich internationale Ko- die sich zum Beispiel bei der Bekämpfung
operation weitgehend auf freiwilliger Basis von Korruption, der Limitierung von Treib-
vollziehen und dementsprechend auch die In- hausgasen oder der Erhebung einer Finanz-
teressen aller betroffenen Staaten berücksich- transaktionssteuer ergeben könnten.
tigen. Kooperation muss aus Sicht der jewei-
ligen Nationalstaaten Sinn ergeben und sich Der Grund dafür ist ein Verhalten, das in
lohnen. Aber an eben dieser Einsicht – dass der Ökonomie als „Trittbrettfahren“ bezeich-
internationale Kooperation Sinn ergibt und net wird und häufig im Zusammenhang mit
mittlerweile unumgänglich ist – hapert es öffentlichen Gütern zu beobachten ist: Weil
eben oft noch. öffentliche Güter eben für alle da sind, neigen
private Akteure dazu, anderen bei der Bereit-
stellung dieser Güter den Vortritt zu lassen,
Bisherige Politikantwort: sprich, ihnen die Bezahlung zu überlassen,
Wandel unter dem Druck von Krisen wohl wissend, dass, wenn das Gut zur Ver-
fügung steht, es auch für sie da ist – kosten-
Die Tatsache, dass viele Probleme und He- los. Staaten verhalten sich wie Privatakteu-
rausforderungen heute globaler Art sind und re: Auch sie unterliegen nur allzu oft, wie die
mithin nach effektiver multilateraler Koope- heutige zunehmende Krisenhäufigkeit zeigt,
ration verlangen, ist nicht unbemerkt geblie- der Versuchung des Trittbrettfahrens, des
ben. Selbst Vertreter der stärksten Weltmacht easy riding. Dabei spielen freilich auch andere
USA, wie Präsident Barack Obama, erkennen Faktoren eine Rolle: Manche Staaten werden
dieses Faktum der Politikinterdependenz an. nicht die notwendigen Mittel oder Kapazitä-
Die Suche nach neuen Politikansätzen hat be- ten zur Bereitstellung des öffentlichen Gutes
gonnen. Doch sie wird oft nur dann vorange- haben; in anderen Fällen kann mangelndes
trieben, wenn sich eine akute Krisensituation gegenseitiges Vertrauen dafür verantwort-
ergibt, und sie wird rasch wieder vergessen, lich sein, dass alle warten, bis der jeweils an-

APuZ 34–35/2010 35
dere den ersten Schritt zur Finanzierung des oft auf die internationalen Erwartungen re-
Gutes macht. Ein weiterer wichtiger Faktor agieren und ihr Verhalten entsprechend an-
ist, dass, statt ökonomisch zu denken, die In- passen. Sie agieren heute immer häufiger
dustrieländer oftmals aus rein machtpoliti- mit dem Selbstverständnis eines Vermittler-
schen Erwägungen heraus handeln. Doch die staates. Das heißt, sie insistieren nicht unbe-
heutige Konsum- und Politikinterdependenz dingt auf absoluter Politiksouveränität, son-
der Staaten verlangt nach politisch-ökonomi- dern sind mehr und mehr bereit, zwischen
schen Überlegungen: Probleme müssen ge- nationalen Politikpräferenzen und externen
löst werden, wenn sie nicht eine (potenzielle) Politikanforderungen zu vermitteln und es
Gefahr für alle darstellen sollen; dies bedarf beiden Seiten – den Wählern zu Hause und
effektiver internationaler Kooperation und den internationalen „Partnern“ (wie anderen,
eines Win-win-Denkens, also der Einbezie- mächtigeren Staaten oder auch beispielsweise
hung von Fairness in die eigenen Kosten- Ratingagenturen) – recht zu machen.
Nutzen-Kalkulationen.
Nur hat sich auch dieser Wandel bislang zu-
Unter dem Druck akuter Krisen haben meist ad hoc vollzogen, als Antwort auf eine
Staaten aber dennoch begonnen, ihr Verhal- akute Krise. Vielen Politikern und auch Wäh-
ten zu ändern. Gegenseitige Aufforderungen, lern wird dieser Rollenwandel des Staates bis-
Spill-over-Effekte besser zu managen, werden lang kaum bewusst geworden sein. Mithin
immer lauter und in immer mehr Politikbe- üben Staaten die neue Vermittlerrolle oft auch
reichen entschiedener. Staaten verlangen von- nur halbherzig und zögernd aus. Dies kommt
einander, mehr zu tun, um den Klimawandel vor allem dann vor, wenn Anpassungs- oder
einzudämmen, um ansteckende Krankheiten Abwehrmaßnahmen hohe nationale Kosten
wie die H1N1-Grippe zu kontrollieren oder nach sich ziehen würden. Auch die konventi-
um ihren Beitrag zur Finanzmarktstabili- onell mächtigeren Staaten tun sich in solchen
tät zu leisten. In diesen und anderen globa- Fällen schwer, wie ihr gegenwärtiges Verhal-
len Politikfeldern wird auch nach neuen Po- ten im Klima- und Finanzbereich nur allzu
litikansätzen gesucht. Man denke nur an die deutlich zeigt – obwohl rechtzeitige und ent-
Initiativen zur Entwicklung von CO2 -Märk- schiedene Korrekturmaßnahmen ihnen oft
ten oder an die diversen Instrumente, die im großen Gewinn bringen würden, selbst wenn
Zusammenhang mit der gegenwärtigen Fi- sie auch noch anderen Ländern finanziel-
nanz- und Wirtschaftskrise debattiert wer- le Anreize bieten müssten, um eben alle „ins
den – etwa bessere Bankenregulierung und Boot“ zu holen.
-aufsicht, Erhebung einer Bankenabgabe, Be-
steuerung von Bonuszahlungen und die Fi- Viele der Güter, die Gegenstand internati-
nanztransaktionssteuer. onaler Verhandlungen sind, und die wir als
Krisen erfahren, sind globale öffentliche Gü-
In einzelnen Bereichen wie dem multilate- ter dieser Art, deren Bereitstellung den rei-
ralen Handel haben internationale Organi- chen Ländern Kosten verursacht. Güter, die
sationen (so beispielsweise die Welthandels- entweder allen Nutzen bringen (wie etwa
organisation) außerdem größere Befugnisse die internationalen Kommunikations- und
erhalten, Staaten durch die Verhängung von Transportsysteme) oder die von besonderem
Sanktionen zur Umsetzung globaler Normen Interesse für die Industrienationen sind (wie
zu „zwingen“. Auch die Überwachung und etwa viele Aspekte des multilateralen Han-
Beobachtung von Staatsverhalten ist inten- delsregimes) stehen zumeist in vollem Um-
siviert worden. Man denke nur an die vielen fang zur Verfügung – selbst wenn sie den
Indikatoren und Indizes zu good governance, weniger entwickelten Ländern Kosten ver-
welche von multilateralen Organisationen, ursachen. Allerdings hat sich gezeigt, dass
der Zivilgesellschaft oder auch privaten Un- die erzwungene Anpassung der schwächeren
ternehmen veröffentlicht werden und in Staaten an politische Vorgaben der Indust-
nicht unbedeutendem Maße die internatio- rienationen, einflussreicher Firmen oder Or-
nale Wahrnehmung eines Staates beeinflus- ganisationen der Zivilgesellschaft staatliches
sen – einschließlich seiner Anziehungskraft Verhalten oft nicht nachhaltig verändern und
für ausländische Investoren oder der Beur- auch zu mangelnder Bereitstellung von glo-
teilung seiner Kreditfähigkeit. Interessant balen öffentlichen Gütern führen kann. Man
ist in diesem Zusammenhang, dass Staaten erinnere sich nur an die vielen Proteste ge-

36 APuZ 34–35/2010
gen diverse Privatisierungs- und Liberalisie- unsere Chancen, rücksichtsvolles Verhalten
rungsmaßnahmen, die den Entwicklungslän- von anderen erwarten zu können. Souveräni-
dern oft von internationalen Organisationen tät kann als eine besondere Form von Freiheit
und Organisationen der bilateralen Hilfe ab- gesehen werden: Respekt für die Souveränität
verlangt worden sind. anderer Staaten stärkt globale Normen wie
die der Nichteinmischung in die inneren An-
Obwohl somit die Anpassung an die Folgen gelegenheiten eines Staates. Nationale Sou-
der Globalisierung bislang nur unzureichend veränität wird heute in zunehmendem Maße
ist, verändern sich nationale und internatio- nicht nur durch militärische Interventionen
nale Politikprozesse, um auf globale Heraus- verletzt. Weit häufiger sind Attacken, die von
forderungen – neue Möglichkeiten und neue Krankheitserregern ausgehen oder ihren Ur-
Zwänge – reagieren zu können. Wie gesagt, sprung in Luftverschmutzung, spekulativem
erste Ansätze eines neuen Multilateralismus Finanzgebaren und anderen Aktivitäten ha-
sind erkennbar. Die Frage ist, welche Ver- ben, die globale Spill-over-Effekte produzie-
änderungsnotwendigkeiten sie andeuten: In ren können. Wenn alle Staaten mehr tun wür-
welche Richtung müsste sich multilaterale den, um solche Effekte zu reduzieren, gäbe es
Kooperation bewegen, um die Welt aus der weniger globale Probleme.
Krisenspirale zu befreien, in der sie sich ge-
genwärtig zu verfangen droht? Das genau macht Politikinterdependenz
zu einer neuen Herausforderung: Sie kon-
frontiert die Welt mit der Tatsache, dass eine
Globalisierung und Souveränität Öffnung der Grenzen nur dann mit Souve-
vereinbaren ränität zu vereinbaren ist, wenn Staaten auf-
einander Rücksicht nehmen. Mangelnde
Die bisherigen Politikantworten verdeutli- Rücksichtnahme könnte dazu führen, dass
chen, dass globale Herausforderungen nicht es letzten Endes allen Ländern schlechter
unbedingt zu einer De-Nationalisierung der geht – alle Staaten in zunehmendem Maße
Politik führen. In allererster Linie verlan- von Pandemien, Naturkatastrophen, Finanz-
gen sie nach einer neuen Rolle des Staates. und Wirtschaftskrisen, Energieunsicherheit,
Sie sollte, wie die folgenden Punkte verdeut- Landknappheit und letztlich auch Konflik-
lichen, die Grundlage zukünftiger Politikin- ten und Krieg heimgesucht werden. Multi-
novation sein. Maßnahmen auf internationa- lateralismus, der in die heutige Politikland-
ler Ebene wären komplementärer Natur. schaft passt, muss auf nationaler Ebene damit
anfangen, die Rolle des Staates neu zu defi-
Vom Staat eine Vermittlerrolle erwarten: nieren. Diese Neudefinition muss von den
Ein erster fundamentaler Schritt wäre, die Staaten verlangen, dass sie die Welt als Gan-
bereits stattgefundene Veränderung der Rolle zes betrachten und die Rechte anderer Staa-
des Staates genauer zu analysieren. Zu klären ten mitberücksichtigen, wenn sie nationale
ist, ob und inwieweit Staaten in der Tat schon Politik betreiben.
die erwähnte Rolle eines Vermittlers zwi-
schen externen und internen Politikanforde- Ein Konzept von verantwortungsvoller
rungen spielen, welche Konsequenzen sich Souveränität entwickeln: Wie erwähnt, haben
daraus ergeben, etwa für die nationale De- die Staaten damit begonnen, sich gegenseitig
mokratie, und wie eine solche Vermittlerrolle zur Internalisierung externer Effekte zu er-
des Staates weiter gestärkt werden könnte. mahnen. Auch die im Rahmen der Vereinten
Nationen aufgekommene Debatte über eine
Eine Verringerung der Krisenhaftigkeit responsibility to protect geht in diese Rich-
der gegenwärtigen Welt ist nicht ohne einen tung. Diese Norm besagt, dass die interna-
Wandel des konventionellen „Westfälischen tionale Gemeinschaft verpflichtet ist zu in-
Staates“ hin zum Vermittlerstaat denkbar. tervenieren, wenn Staaten nicht ihrer Pflicht
Auf lokaler Ebene haben wir gelernt, dass die nachkommen, das Überleben ihrer Bürgerin-
Rücksicht auf die Freiheiten anderer unsere nen und Bürger zu sichern.
eigenen Freiheiten nicht notwendigerweise
limitiert, sondern oft sogar erweitert. Wenn Aber Staaten haben Pflichten nach innen
wir selbst Normen der Rücksichtnahme auf und nach außen. Denn eine Vernachlässi-
andere akzeptieren, dann erhöhen sich auch gung von Problemen wie Klimawandel kann

APuZ 34–35/2010 37
in Zukunft auch vielen Menschen weltweit auch den Anstoß für die Gründung der
das Leben kosten. Deshalb wäre es wichtig, „Gruppe der 20“ (G20), die sich auf Mi­n is­ter­
international Konsens darüber herzustel- ebe­ne trifft und mit der globalen Finanzsta-
len, welchen internen und externen Pflich- bilität befasst. Die Hauptidee war leadership:
ten Staaten unbedingt nachkommen sollten Komplexität managen, alle Aspekte im Auge
und was die internationale Gemeinschaft tun behalten, das gegenseitige Vertrauen unter
könnte, um Staaten bei der Erfüllung solcher den Staaten, die am meisten zur Bewältigung
Pflichten zu unterstützen, beziehungsweise wichtiger globaler Probleme beizutragen ha-
wie nachlässige Nichtachtung zu sanktionie- ben, stärken und so sicherstellen, dass Ziel-
ren wäre. vorstellungen auch in Taten, in verändernde
Politik, umgesetzt werden. Die gegenwärtige
Zielvorstellungen und Problemlösungen Finanzkrise hat zu einer Aufwertung der G20
disaggregieren: Heute wird die Bereitstel- geführt. Sie trifft sich jetzt auf der Ebene von
lung globaler öffentlicher Güter oft auf ei- Staats- und Regierungschefs, zu Gipfeln wie
nem stark aggregierten Niveau diskutiert. dem in Toronto im Juni 2010. Aber es wird
Man verhandelt über Klimawandel, Finanz- auch zunehmend deutlich, dass Staats- und
stabilität oder Armutsbekämpfung. Das sind Regierungschefs sich nicht nur auf ein The-
höchst komplexe Phänomene, die sich aus ma konzentrieren können und wollen. Mit-
vielen und oft recht unterschiedlichen Bau- hin soll auf dem nächsten Gipfeltreffen im
steinen zusammensetzen, welche auf nationa- November 2010 in Südkorea die Agenda er-
ler oder internationaler Ebene erbracht wer- weitert werden – um Themen wie globale Ge-
den müssen und verschiedene staatliche und sundheit und Armutsbekämpfung. Aber die
nichtstaatliche Akteursgruppen involvieren. Ausweitung der Agenda birgt auch Risiken:
Aber nur selten gibt es genaue Vorstellungen Zwar werden viele Themen angesprochen, es
darüber, welcher Akteur welche Aufgabe und bleibt aber kaum Zeit für detaillierte Diskus-
Verpflichtungen hat. Und mithin ist auch die sionen und konkretes Verhandeln.
Verantwortung für das Erreichen bestimmter
Ziele kaum festzulegen und schon gar nicht Mithin wäre es interessant zu testen, ob
einzufordern. Probleme effektiver zu lösen wären, wenn es
eine eigene „GX“ für jede der vordringlichs-
Aber auch in dieser Hinsicht beginnen sich ten globalen Fragen gäbe und diese Gruppen
Politikprozesse zu verändern. Die Zahl von sich auf Ministerebene treffen würden. Sie
internationalen Kooperationsmechanismen, könnten unter anderem ein Auge darauf ha-
die sich auf ein wohl definiertes Problem – ben, ob alle notwendigen Single-issue-Initia-
etwa die Erforschung eines neuen Impfstoffes tiven tatsächlich umgesetzt werden und sich
gegen tropische Krankheiten – konzentrie- letztlich zu dem gewünschten globalen öf-
ren, hat in jüngster Zeit rapide zugenommen. fentlichen Gut zusammenfügen. Die G20 auf
Das hat mehrere Gründe wie etwa die stärke- der Ebene der Staats- und Regierungschefs
re Einbindung von privaten Akteuren in mul- könnte sich dann mit der Welt als Ganzes
tilaterale Zusammenarbeit. Aber wichtig ist befassen und darauf achten, dass alle Krisen
vor allem, dass es das Herunterbrechen kom- notwendige Beachtung und Lösungen fin-
plexer Probleme in ihre diversen Bestandteile den. Allerdings könnten die G20 auf höchs-
leichter macht, zu erkennen, wer unter wel- ter Ebene und die „thematischen Gs“ diese
chen Voraussetzungen bereit und in der Lage Funktionen nur erfüllen, wenn sie weltweit
wäre, einen Beitrag zu leisten und ob der Bei- als legitim angesehen würden. Dafür müsste
trag – zum Beispiel eine Reduktion von CO2 - neu überdacht werden, wie allen Betroffenen
Emissionen – auch wirklich erbracht wurde. und Interessierten eine effektive Stimme ver-
Single-issue-Verhandlungen und -Mechanis- liehen werden könnte.
men tragen zu dieser Klarheit bei. Deshalb
gilt es, sie für eine Politik der kleinen, aber Die internationale und nationale Instituti-
konkreten Schritte in Richtung einer größe- onenlandschaft durchforsten: Der „G“-An-
ren globalen Zielvorstellung zu nutzen. satz ist vorläufig noch als ein Experiment
anzusehen. Deshalb wäre es verfrüht, ihn be-
Einen erweiterten G20-Ansatz ­erproben: reits jetzt mit konventionellen multilateralen
Überlegungen, welche zur Ausbreitung  von Organisationen wie den Vereinten Nationen
Single-issue-Mechanismen führten, ­gaben zu verbinden. Das gilt übrigens auch für die

38 APuZ 34–35/2010
Beziehung zwischen den Single-issue-Mecha- dern auch die Wissenschaft: So gibt es trotz
nismen und den konventionellen Organisati- der wachsenden Zahl globaler Probleme und
onen wie der Ernährungs- und Landwirt- Krisen noch keine umfassende, systematische
schaftsorganisation der Vereinten Nationen Theorie globaler öffentlicher Güter, die Fra-
(Food and Agriculture Organization of the gen von deren Bereitstellung auf nationaler
United Nations, FAO) oder auch der Welt- und internationaler Ebene behandelt.
gesundheitsorganisation (World Health Or-
ganization, WHO). Längerfristig wird sich Von einer solchen Theorie könnte man
jedoch die Frage nach ihrer institutionellen dann erfahren, ob durch die Globalisierung
Verankerung stellen. Um sie beantworten zu neue Möglichkeiten der Ressourcenmobi-
können, wäre es wichtig, zunächst die neue lisierung geschaffen wurden. Wäre es nicht
Rolle des Staates und die anderen damit ver- angebracht, dass Akteure (wie Banken), die
bundenen Politikinnovationen zu erkunden. Nutzen aus globalen öffentlichen Gütern
Denn Staaten wenden sich zumeist an inter- (wie der Finanzmarktstabilität) ziehen, eine
nationale Organisationen, weil sie von ihnen geringfügige (ihr Marktverhalten nicht ver-
einen bestimmten Service erwarten, den sie zerrende) Nutzungsabgabe zahlen – ähn-
alleine nicht erbringen können, zumindest lich den Gebühren, die auf nationaler Ebene
nicht auf effiziente und effektive Art und für das Parken auf öffentlichen Plätzen und
Weise. Im Augenblick wissen wir noch zu Straßen oder als Eintrittsgeld in öffentliche
wenig darüber, welche multilateralen Orga- Schwimmbäder erhoben werden? Wann soll-
nisationen wir in Zukunft brauchen werden ten Abgaben dieser Art erhoben werden, und
und was genau von ihnen zu erwarten sein wann eher Steuern, die darauf abzielen, Ver-
wird. Es muss sich auch erst noch genauer haltensänderungen herbeizuführen (wie bei-
zeigen, inwieweit Multilateralismus weiter- spielsweise von spekulativen Finanztransak-
hin formal organisiert, das heißt auf Instituti- tionen abzuhalten)? Die jüngsten Debatten
onen bezogen ablaufen oder sich eher in flexi- über die Einführung einer Finanztransakti-
blerer Art vollziehen wird, etwa in der Form onssteuer haben nur allzu deutlich gezeigt,
der Sechs-Parteien-Gespräche zu Nordko- wie dünn die wissenschaftliche Basis auf die-
rea, und wie die global vernetzten nichtstaat- sem Gebiet noch ist und wie schwach die Ar-
lichen Akteure sich zu multilateralen staatli- gumente sowohl auf der Seite der Gegner als
chen Initiativen verhalten werden. auch der Befürworter sind.

Der richtige Augenblick für grundlegen- Der Mangel an öffentlichen Geldern ist si-
de Reformen des gegenwärtigen multilatera- cherlich nicht das einzige Hindernis, das
len Systems ist noch nicht gekommen – wohl multilaterale Kooperation ins Stocken bringt.
aber der Augenblick für Reformen im natio- Einige Innovationen sind bereits zu verzeich-
nalen Institutionengefüge, die notwendig wä- nen – wie die Solidaritätsabgabe auf Flug­
ren, um die neue Vermittlerrolle des Staates tickets. Aber sie reichen bei Weitem nicht aus,
zu unterstützen. Dazu gehört, das Verhältnis um die anstehenden Probleme angemessen zu
zwischen den Sektorministerien zum (immer finanzieren, selbst wenn öffentlich-private
noch so genannten) Außenministerium neu Partnerschaften (public private partnerships)
zu denken: Wer hat die Hauptverantwortung berücksichtigt werden. Allein für die Anpas-
für globale Fragen? Wer stellt sicher, dass sich sung der Entwicklungsländer an die Auswir-
die nationalen und internationalen Bausteine kungen der Klimaerwärmung werden etwa 30
zur Bereitstellung globaler öffentlicher Gü- Milliarden US-Dollar pro Jahr benötigt – ein
ter ergänzen? Ähnliche Fragen stellen sich Betrag, der sich bis zum Jahr 2020 auf etwa
in Bezug auf die Zusammenarbeit von par- 100 Milliarden US-Dollar erhöhen wird. Die
lamentarischen Ausschüssen. Auch dort be- Identifizierung von neuen und zusätzlichen
steht zumeist noch eine Trennung zwischen Ressourcen könnte es den Regierungen er-
Innen- und Außenpolitik, die es in der Reali- leichtern, bei ihren Wählerinnen und Wäh-
tät schon längst nicht mehr gibt. lern politische Zustimmung für eine umfas-
sendere Finanzierung globaler öffentlicher
Neue Wege der Finanzierung erkunden: Güter zu finden. Es wäre höchst nützlich,
Nicht nur staatliche Institutionen hinken der wenn Ökonomen und Finanzexperten sich
Realität hinterher, wenn es um die Anpas- der Erforschung solcher Ressourcenquellen
sung an Globalisierungsprozesse geht, son- widmen würden – und überaus erfreulich,

APuZ 34–35/2010 39
wenn es dann noch gelingen würde, diese in Ekkehart Krippendorff
eine umfassendere Theorie der globalen öf-
fentlichen Güter oder eine Theorie öffentli-
cher Finanzen für das gegenwärtige Zeitalter
der Globalisierung einzubetten.
Staat muss sein.
Ausblick
Muss Staat sein?
Es wird oft behauptet, dass Politikinnovation
und weitere Schritte in Richtung eines neu-
Essay
en, stärker an Problemen orientierten Mul-
tilateralismus noch weiterer schwerer Kri-
sen bedürfen. Aber es scheint, dass es auch
andere Kräfte gibt, die Wandel herbeiführen
W er und wann aus dem weiten Feld im-
perial kodierter amerikanischer Po-
litikwissenschaft den Begriff failed states,
­könnten. der „fehlgeschlagenen
Staaten“, in Umlauf Ekkehart Krippendorff
Wir befinden uns zurzeit in einer Über- gebracht hat, ließe sich Dr. phil., geb. 1934; Profes-
gangsphase von einer unipolaren zu einer sicher mit etwas philo- sor (em.) für Politikwissenschaft
multipolaren Welt. Immer mehr Akteure logischer Kleinarbeit und Politik Nordamerikas am
werden an internationalen Verhandlungen feststellen. Es wird John F. Kennedy-Institut für
über globale Fragen teilnehmen. Internatio- irgendwann im Kon- Nordamerikastudien, Fachbe-
nale Politik wird so partizipatorischer, viel- text des Erwachens reich Politische Wissenschaft,
stimmiger und – so die Hoffnung – fairer. aus den Illusionen ei- Freie Universität Berlin.
Dazu werden auch die international immer ner geordneten Welt kpdff@zedat.fu-berlin.de
stärker engagierten nichtstaatlichen Akteure nach dem Ende des
beitragen. Das bedeutet, dass die Staaten in Kalten Krieges geschehen sein. Für Europa,
zunehmendem Maße mit Erwartungen von für „den Westen“ war wohl der kriegerische
außen konfrontiert werden, denen sie sich nur Zerfall Jugoslawiens ein traumatisch nach-
mit zunehmenden Kosten entziehen können. wirkender Schock. Seit 2005 erstellt der US-
Der politische Druck auf Staaten, sich wie ein amerikanische Fund for Peace einen jährli-
Vermittler zu verhalten und verantwortliche chen Index zerfallsbedrohter Staaten, und die
Souveränität auszuüben, wird wachsen und deutsche Politikwissenschaft versammelte im
damit auch die politische Bereitschaft, ande- selben Jahr ihre einschlägigen Experten für
re komplementäre Politikinnovationen vor- internationale Politik zu einem Themenheft
zunehmen. „Zerfallende Staaten“, ❙1 wenig später folg-
te eine entsprechende Publikation der Hein-
In dem Maße, in dem Staaten ihr Verhal- rich Böll Stiftung. ❙2 Der Begriff selbst war ein
ten ändern, wird auch deutlich werden, dass Reflex auf die Desillusionierung mit der wie-
unter den Bedingungen größerer Durchläs- derum westlich-imperial geborenen Strategie
sigkeit nationaler Grenzen und der damit einer neuen Weltstaatenordnung im Gehäu-
verbundenen wachsenden Bedeutung globa- se der Vereinten Nationen (VN), welche aus
ler öffentlicher Güter eine faire, auf win-win den entkolonisierten Gesellschaften Afrikas,
ausgerichtete internationale Kooperation, Asiens und der arabischen Welt „National-
die für alle Beteiligten beste Strategie ist. Ein staaten“ zu machen versuchte; der magische
neuer Multilateralismus, der internationale politologische Begriff der 1950er und 1960er
Kooperation national verankert, könnte dies Jahre hatte nation building geheißen. Jetzt
befördern – und politischen Entscheidungs- aber, seit Ende des 20.  Jahrhunderts, stellen
trägern die Souveränität zurückgeben, die sie sich viele der damals aus der Zusammenar-
aufgrund mangelnder oder ineffektiver Ko- beit mit ehemals kolonialen (meist in den Me-
operation verloren haben. Um aber dahin zu tropolen ausgebildeten) und europäischen
kommen, bedarf es noch zahlreicher Poli­tik­ Außenpolitikeliten konstruierten Staaten als
inno­va­tio­nen und Debatten. „Fehlschläge“ heraus. Zwischenzeitlich hat-
ten sich einige der Neuen durch einen Seiten-
wechsel ins „sozialistische Lager“ vom Ge-
burtsmakel, Kolonialismusprodukte zu sein,

40 APuZ 34–35/2010
zu befreien versucht. Es erging ihnen aber waren die Taliban – die allerdings nicht da-
nicht besser als den im „westlichen Lager“ ran dachten, nun einen Staat nach westli-
verbliebenen Neo-Staaten, vielmehr wurden chem Modell zu errichten, weshalb sich ihr
sie dann meist Opfer außengelenkter Bürger- amerikanischer Schirmherr bald von ihnen
kriege als Folge des globalen Kräftemessens abwandte.
während des Kalten Krieges.
So oder so: Das megalomane Projekt der
Das derzeit im Zentrum internationaler weltpolitischen Manager, die bunte Welt-
Aufmerksamkeit und Betroffenheit stehen- gesellschaft der Kulturen, Religionen und
de Afghanistan ist dafür ein Paradebeispiel. Ethnien in das Korsett einer berechenbaren
Seinen Namen gaben diesem die englischen Weltstaatengesellschaft zu pressen, zeichne-
und die russischen Geostrategen, für die das te sich immer deutlicher als ein failed project
auf der Landkarte staatenlose Gebiet eine ab – eines, das vom Ansatz her letztlich nicht
Pufferzone zwischen ihren jeweiligen Ein- gelingen konnte. Um diese These einigerma-
flusszonen darstellte. Mitte des 19.  Jahrhun- ßen überzeugend zu begründen, bedürfte es
derts wurden mehr oder minder willkürliche an dieser Stelle der Rückbesinnung auf die
Grenzen gezogen und ein Königreich ge- Geschichte und Ideologie von Staatlichkeit,
gründet, welches aber bei den durch unwirt- was aber den Rahmen eines Essays sprengen
liche Gebirge voneinander getrennt leben- würde. Nur an so viel sei hier erinnert: Es hat
den Stämmen so gut wie keine Akzeptanz in der Geschichte nur zwei geschichtsmäch-
fand. Mit sechs Millionen Angehörigen bil- tige, das heißt überlebende Strategien der
den die Paschtunen den größten Stammesver- Staatlichkeit gegeben: die chinesische und die
band (aus dem sich heute die Taliban rekru- ­römische.
tieren), daneben gibt es die Hazaras mit vier,
die Usbeken mit ein bis zwei Millionen, aber Der chinesische Staat zeichnete sich un-
auch noch Turkmenen, Aimaken, Perser, Be- ter anderem durch seine erstaunliche Selbst-
lutschen, Tadschiken und andere. 1973 wur- genügsamkeit und Selbstbegrenzung inner-
de die Monarchie im Staatsstreich gestürzt, halb mehr oder minder stabiler Grenzen
durch eine Republik ersetzt und diese wiede- eines riesigen Territoriums aus, was ihm eine
rum 1978 von linken, prosowjetischen Put- ungewöhnlich stark ausgeprägte kulturell-
schisten übernommen, womit sie eine tra- ideologische Identität gab. Die chinesische
ditionalistische Konterrevolution und einen Herrschaftselite verstand sich und ihr Land
Bürgerkrieg provozierten. als Zentrum der zivilisierten Welt („Reich der
Mitte“) und entfaltete darum keine imperial-
Das infamste Politik-Spiel trieb in den expansive Dynamik. Im Gegenteil: Zwischen
1980er Jahren die US-Regierung, welche die sich und ihren Nachbarn errichtete sie die bis
staatsfeindlichen fundamentalistischen Isla­ heute höchst eindrucksvolle Mauer und un-
misten aktiv und mit Waffen unterstützte, tersagte gleichzeitig den Bau einer hochsee-
was wiederum die sowjetischen Militärs auf tüchtigen Flotte. Rom hingegen entwickelte
den Plan rief. Eben das war die Falle gewe- nach seiner Unterwerfung der italischen Völ-
sen, die sich die US-Strategen für die ohne- ker eine geradezu atemberaubende militä-
hin schon krisengeschüttelte Sowjetmacht risch-administrative und kulturell-ideologi-
ausgedacht hatten: Acht Jahre verausgab- sche Expansionsdynamik, die innerhalb von
te sich die sowjetische Armee erfolglos, ehe drei Jahrhunderten nahezu das ganze heuti-
sie geschlagen abziehen musste und ihr eige- ge West-, Ost- und Mitteleuropa einschließ-
nes marodes Staatsprojekt einer „Union so- lich Nordafrikas einschloss. Sein zweiphasi-
zialistischer Sowjetrepubliken“ wenige Jah- ger Untergang (Westrom im 5.  Jahrhundert,
re später zusammenbrach, so wie es sich die Ostrom im Jahr 1453 mit dem Fall Konstan-
amerikanischen Strategen in ihren kühnsten tinopels) hinterließ den Traum eines pazifi-
Träumen vorgestellt hatten. Die einzige eini- zierenden Imperiums: eine funktionieren-
germaßen kohärente militärisch-politische de Infrastruktur, eine einheitliche Währung,
Formation, die in Afghanistan zurückblieb, militärische Organisation von Sicherheit,
ein universalistisches Rechtssystem und eine
❙1  Vgl. APuZ, (2005) 28–29. verfassungsähnliche Institutionalisierung der
❙2  Vgl. Heinrich Böll Stiftung, Ethnonationalismus Macht, eine Amtssprache und eine alle diese
und State Building, Bd. 5, 2008. Faktoren verbindende politische Kultur.

APuZ 34–35/2010 41
Die Vision einer Weltfriedensordnung als nendes Personal wurde am Ende des Dreißig-
Erbe Roms blieb in Europas „kulturellem Ge- jährigen Krieges 1648 mit dem Westfälischen
dächtnis“ (Jan und Aleida Assmann) erhalten Frieden ratifiziert und als von der Politi-
und ist in Kunst und Literatur, Bildsprache schen Soziologie später so getaufter „Moder-
und Musik bis in unsere Gegenwart unge- ner Staat“ auch administrativ praktiziert. In
brochen lebendig geblieben. Die Erinnerung Frankreich gebar diese Idee den noblen Be-
an Rom ist aber zugleich die Erinnerung an griff einer raison d’état, einer Staatsvernunft,
den Staatsgedanken, der in den Teilen, in wel- die über den Partikularinteressen Einzelner
che das Imperium zerbrach und sich auflöste, oder gesellschaftlicher Gruppen und Klassen
weiterlebte. Das betrifft besonders die westli- stehe. In England schuf Thomas Hobbes das
chen, die dauerhaft christianisierten „Bruch- Bild des „Leviathan“, der die Staatsbürger zu
stücke“. Die deutschen Kaiser verstanden sich einer großen, unüberwindlichen Gestalt zu-
ebenso wie die europäischen Prinzen allesamt sammenschweißt. In Deutschland brachte
als Erben und Bewahrer römischer Staats­ der Soziologe Max Weber diese Staatsidee auf
tradi­tion und ließen sich bis weit ins 19. Jahr- den Begriff der „rationalen Anstalt“, die es
hundert als solche feiern, abbilden und his- auch empirisch „nur im Okzident gegeben“
torisch legitimieren. Die jungen Vereinigten habe. Und schließlich erkannte der Philosoph
Staaten von Amerika, deren Gründungsvä- Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der Rati-
ter zwar geistesgeschichtlich vor allem Auf- onalität des neuzeitlichen Staates das Wirken
klärer waren, sahen sich aber gleichwohl ex- der historischen Vernunft und konnte von
plizit als Erben und Erneuerer der imperialen ihr, nach Jahrhunderten der geistigen Maul-
Ordnungsmacht Rom, die bis heute als his- wurfsarbeit des Zu-sich-selbst-Kommens,
torisches Vorbild von politischen Historikern sagen: „Der Staat ist die Wirklichkeit der sitt-
immer wieder erinnert, berufen und als histo- lichen Idee.“
rischer Auftrag zitiert wird. ❙3 Darum gehören
die USA in einem erweiterten historischen Im Grunde sind wir Europäer, die wir von
Horizont hier zu Europa, zur europäischen den Staaten anderer Kulturkreise funktionie-
politischen Tradition und leben auch sie vom rende Institutionen, Verfassungen, ein Mi-
europäischen staatspolitischen Erbgut. nimum an Rechtsstaatlichkeit und rationale
Verwaltungen – besetzt mit unbestechlichen
staatsloyalen Beamten – erwarten, Hegelia-
Staat als die Wirklichkeit ner. Die Idee vom Staat als Wirklichkeit der
der sittlichen Idee sittlichen Idee ist ein europäischer Maßstab,
den wir im VN-Zeitalter in der internatio-
Was war das Besondere an diesem in Rom ge- nalen Politik an alle, also nunmehr auch an
borenen und in den ehemals römischen Ko- außereuropäische Staaten mit anderen histo-
lonien bewahrten Staatsgedanken, der ihn rischen und geistesgeschichtlichen Traditio-
unterscheidet von allen anderen Modellen, nen anlegen und daraus politische Strategien
insbesondere vom einzigen ihm gewisserma- ableiten, etwa wenn es um den Umgang mit
ßen ebenbürtigen Ordnungskosmos Chinas? oft landesüblicher Korruption geht. Wie viel
Es war die Idee – das Ideal – einer transperso- spätmittelalterliche Triebsublimierung, kul-
nalen, schriftlich verfassten, in Rechten und turelle Repression, höfische Disziplinierung
Pflichten kodifizierten rationalen Ordnung, der Sitten, Gehorsamserziehung der Unterta-
der sich auch die Regierenden zu unterwerfen nen kompensiert durch prestige-abgesicher-
haben: Der Staat als ein sichtbar-unsichtba- te Dienstehre zur Herausbildung der spezi-
rer, alle Menschen gleichermaßen erfassender fisch europäischen „Staatskultur“ nötig war,
Mechanismus, der in Gang gehalten wird von hat Norbert Elias eindringlich und detailliert
„Staatsdienern“, deren Ethos in uneigennüt- dargestellt. ❙4 Noch der letzte Postbeamte und
ziger Pflichterfüllung besteht. An der Spitze Zugschaffner (ehe der Privatisierungswahn
dieser Anstalt stand ein Monarch, Fürst bzw. unserer Tage diese Kultur brutal zerstörte)
Machthaber, dessen (selten erreichtes) Rol- konnte sich als Mitglied einer staatstragen-
lenselbstbild das des „Ersten Dieners seines den Dienstelite fühlen und sich in der Pflicht-
Staates“ war. Diese Staatsidee und ihr die-
❙4  Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisati-
❙3  Vgl. Peter Bender, Weltmacht Amerika – das neue on. Soziogenetische und psychogenetische Untersu-
Rom, Stuttgart 2003. chungen, 2 Bde., Frankfurt/M. 1976.

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erfüllung seine gesellschaftliche Identität be- nach der Reconquista. Dem jüngsten europä-
stätigen. Diese idealtypische Mentalität fehlt ischen Nationalstaat galt der erleichterte und
dem vergleichbaren nigerianischen oder pa- besorgte Stoßseufzer: „L’Italia è fatta, ora
kistanischen Post- oder Schalterbeamten; im facciamo gli Italiani“ – Italien ist gemacht,
Militär lässt sich diese nicht dem Staat, son- jetzt müssen die dazugehörigen Italiener ge-
dern der Familie oder dem Clan geschuldete macht werden. Für die neuen Staaten waren
Loyalität an der hohen Desertionsrate wie in darum „Bürgerkriege“ absehbar und vorpro-
Afghanistan festmachen. grammiert – dreißig Jahre lang zusätzlich in-
strumentalisiert vom sowjetisch-amerikani-
Um Missverständnisse zu vermeiden: Nicht schen Hahnenkampf im Kalten Krieg. Mehr
die empirische Wirklichkeit europäischer als andere taten sich da die USA hervor, die
Staatengeschichte ist hier zu thematisieren – heute den Sturm ernten, den sie damals als
die ist über weite Strecken so grauenvoll und Wind säten (al-Qaida, Taliban). Aber dieses
de­struk­tiv, dass man sich fragen muss, wie es Kapitel ist weit davon entfernt, im histori-
kam und kommt, dass ihre Idee überhaupt schen Bewusstsein des Westens angekommen
überlebt hat. Der Schlüssel zu einer mögli- zu sein, und die Regierenden haben mit Er-
chen Antwort liegt im 19.  Jahrhundert: So folg alles getan, um es vergessen zu machen.
weltweit überwältigend war der Erfolg eu- Ganz anders allerdings steht es um die histo-
ropäischer Staatlichkeit gewesen, dass ihre rische Erinnerung daran bei den Betroffenen,
Theoretiker und handelnden Protagonisten den Opfern dieser machiavellistischen Herr-
in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, schaftsstrategien – sie haben nicht vergessen.
als sie mit der ordnungspolitischen Aufga-
be konfrontiert wurden, den militärisch und Das heute zu beobachtende und analytisch
ökonomisch relativ leicht unterworfenen au- zu entschlüsselnde Phänomen des Staaten-
ßereuropäischen Gesellschaften den Weg in zerfalls, eben der failed states, hat hier sei-
die politische Selbstständigkeit zu öffnen und nen Ursprung. Die von Hegel auf den Be-
ihnen ihre Freiheit zur Selbstbestimmung ih- griff gebrachte Idee der Staatlichkeit konnte
res politischen Schicksals zurückzugeben, in den überwiegend ethnisch und tribal or-
sich diese gar nicht anders vorstellen konnten ganisierten Gesellschaften Afrikas, der ara-
als im Gehäuse wiederum europäisch model- bischen Völker oder Südostasiens keine An-
lierter Staaten. knüpfungspunkte finden. Wer dort vom Staat
als Wirklichkeit der sittlichen Idee spräche,
Den Entkolonisierten den europäischen würde bestenfalls auf Unverständnis stoßen,
Staat als Bedingung für die Souveränität zu vermutlich aber politisch nicht ernst genom-
oktroyieren, war nicht, oder jedenfalls nicht men bzw. ausgelacht werden. Kaum einem
ausschließlich, ein zynisch-machiavellisti- der jungen Staaten ist es gelungen, ein iden-
sches Manöver zur Fortsetzung der Koloni- titätsstiftendes Dach für seine Bevölkerung
alherrschaft mit anderen Mitteln. Diese insti- zu konstruieren, aus einem machtpolitisch
tutionelle Strategie entsprang vielmehr einer auf Landkarten konstruierten Staatsvolk
nachvollziehbaren kulturellen Blindheit der von vielfältigen Stämmen und Religionsge-
europäischen außenpolitischen Eliten, ideo- meinschaften einen funktionierenden Na-
logisch unterstützt von Sozialwissenschaft- tionalstaat zu bilden oder wenigstens ein
lern ohne differenzierte ethnologische und übergreifendes Staatsbewusstsein zu stiften.
präkoloniale historische Kenntnisse. Staat Afghanistans Stammesgesellschaft ist da wie-
musste sein, weil er vernünftig war und sich derum nur das aktuellste und dramatischs-
in Europa bewährt hatte. Unterschlagen, ver- te Beispiel. Der amerikanische Botschafter
gessen und verdrängt wurde dabei, dass der Karl  W. Eikenberry resümierte seine Erfah-
europäische, sogenannte Nationalstaat sich rungen in Afghanistan nüchtern: „Abgesehen
seine Nation – die kulturelle, sprachliche, re- von [dem Präsidenten Hamid] Karsai gibt es
ligiöse Homogenität – erst im Laufe von mehr keine politische Elite, die aus den lokalen Lo-
als drei Jahrhunderten in blutigen, bisweilen yalitäten eine nationale Identität formen und
massenmörderischen Kriegen hatte erkämp- ein zuverlässiger Partner sein könnte.“ Über
fen müssen: Man erinnere sich an den organi- die afghanischen warlords schreibt ein gut in-
sierten Massenmord und die Vertreibung der formierter Journalist: „Sie sind Menschen-
französischen Hugenotten oder an Zwangs- schlächter, die ganze Bevölkerungsgruppen
taufe und Vertreibung der spanischen Juden vertreten: Ich zahle, Du kämpfst und stimmst

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für mich bei Wahlen. In einem Land, in dem ginnen mit dem Hinterfragen der zentralen
es keine zuverlässige staatliche Struktur gibt Hypothesen, auf denen das von den VN re-
und in dem seit Jahrzehnten Krieg geführt präsentierte und verteidigte Weltstaatensys-
wird, bleiben sie die Ansprechpartner.“ ❙5 Die tem beruht. Aus ihrer Sicht ist der europäisch
Verunsicherung traditioneller Staatsdiplo- kodierte Staat alternativlose Rahmenbedin-
matie im Umgang mit nichtstaatlichen (oder gung jeder legitimen Politik: Staat muss sein.
„substaatlichen“) Akteuren führt zu einem Also werden die failed states allen Schwie-
rational kaum vermittelbaren ständigen tak- rigkeiten und Widersprüchen zum Trotz sta-
tischen Strategie- und Partnerwechsel, an bilisiert, wie es aktuell in Afghanistan zu
dessen Widersprüchlichkeiten eine kritische beobachten ist. Als das wichtigste und erfolg-
journalistische Berichterstattung bitteres in- versprechendste Instrument der Stabilisie-
tellektuelles Vergnügen findet: „Die britische rungsstrategie gilt das Militär. Ohne Militär
Regierung, die sich früher für eine großzü- kein Staat – das war und ist die europäische
gigere Finanzhilfe für die Regierung in Ka- Erfahrung. Staat und Militär sind Zwillings-
bul eingesetzt hatte, nennt dieselbe jetzt institutionen als Garanten von Ordnung und
korrupt, halb-kriminell, ineffizient und ille- Berechenbarkeit. Wenn man von den Regier-
gitim. Warlords wie Gul Agha Shirazai, die ten der „Versagerstaaten“ schon kein inter-
einst verteufelt wurden, werden jetzt tole- nalisiertes Staatsbewusstsein erwarten kann,
riert und sogar gelobt. Die USA bewaffne- dann muss man ihnen wenigstens das Rück-
ten 2001 afghanische Milizen, entwaffneten grat militärischer Ordnung implantieren.
sie 2003 wieder durch ein Demobilisierungs- Das scheint operativ machbar und lässt sich
programm, und bewaffneten sie erneut 2006 von Diplomaten und Ministerialbürokrati-
als Gemeinde-Verteidigungsstreitkräfte. Wir en scheinbar einfach umsetzen in normierte
erlaubten 2001 lokale Autonomie, drängten und disziplinierte Ausbildungsprogramme
zwei Jahre später auf eine starke Zentralre- und Rüstungslieferungen. So dient die Mili-
gierung und kehrten 2006 wieder zurück zur tärhilfe der Bundesregierung erklärtermaßen
Dezentralisierungs­strategie.“ ❙6 dem Ziel der „Festigung der Staatsgewalt“ in
den Empfängerländern. Das ist zusätzlich
Vergleichbares gilt auch für den anderen ein glänzendes Geschäft, das weltweit größ-
aktuellen Kriegsschauplatz, Irak, wo sich die te Geschäft einer Kategorie überhaupt: Die
englische Kolonialbürokratie und -diploma- (unzuverlässigen) Zahlen für Waffenexpor-
tie in den 1920er Jahren im nation building te schwanken weltweit zwischen 45 und 200
versucht hatte. Andere Zerfallskandidaten Milliarden US-Dollar. Das Geschäft ist zu
stehen gewissermaßen Schlange, um auf die 90  Prozent in der Hand der Mitglieder des
Liste des Fund for Peace zu kommen: Jemen, VN-Sicherheitsrates, also des obersten poli-
Somalia, Sri Lanka, Nigeria und die Repu- tischen Weltorgans, den materiellen Nutzen
blik Kongo bis hin zu den Großstaaten In- davon aber haben ausschließlich die Indust-
dien und Pakistan. Der Index wird jährlich rienationen. Die für uns lebensnotwendigen
länger. In Europa tendiert man allerdings zu Rohstoffe – allen voran das Öl – werden mit
vergessen, dass noch vor zehn Jahren auf dem Waffenlieferungen bezahlt, mit denen die
eigenen Kontinent ein völkermörderischer Militärapparate vor Ort für eine Ordnung
Staatenzerfalls-Bürgerkrieg tobte: In Jugo- sorgen, die unseren Lebensstandard staat-
slawien, das unvergleichlich günstigere Vo- lich sichert. So stehen beispielsweise für das
raussetzungen funktionierender Staatlichkeit deutsche Verteidigungsministerium beim
zu haben schien. Bürgerkrieg im Kongo, der Ende der 1990er
Jahre zu mehreren Millionen Toten führte,
„zentrale Sicherheitsinteressen unseres Lan-
Was ist zu tun? des“ auf dem Spiel. Ein circulus vitiosus.

Zunächst einmal ist noch sehr viel intensive In den vergangenen Jahren hat sich die
Forschungsarbeit zu leisten. Die müsste be- ­ hese von den „asymmetrischen Kriegen“
T
und ihrer Entstaatlichung durchgesetzt, der-
zufolge die Staaten nicht mehr als Staaten
❙5  Thomas Avenarius in: Süddeutsche Zeitung vom
29. 1. 2010. strukturell und letztlich auch moralisch-po-
❙6  Rory Stewart in: The New York Review of Books litisch für den kriegerischen Gewaltcharakter
vom 14. 1. 2010. des internationalen Systems verantwortlich

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sein sollen, sondern nunmehr nichtstaatliche Möglichkeiten anderer, kulturell authenti-
Akteure wie warlords und vielerlei kriminelle scher Politikformen, in denen tribale und
und terroristische Netzwerke, von denen al- ethnische Loyalitäten nicht als minderwer-
Qaida nur das prominenteste ist. „Nur dann tige Primitivismen diskreditiert, sondern
wenn die ökonomischen Strukturen wesent- als Potenzial eigener Normen und Verfah-
lich unter staatlicher Kontrolle stehen“, kön- ren ernst genommen werden, wird dieser
ne man die falsche These ❙7 aufrechterhalten, Stein des Sisyphos ihnen immer wieder auf
dass Kriege grundsätzlich Staatenkriege sei- die Füße rollen. Auf dem langen und ideo-
en. Dabei wird die zentrale Bedeutung des logisch extrem schwierigen Weg dahin wäre
Waffenhandels übersehen, der ohne die ak- eine – noch nicht existierende – ethnologisch
tive Rolle der industrialisierten Staaten als informierte normative Wissenschaft der In-
Wegbereiter, Vermittler, Kontrolleure und ternationalen Beziehungen gefragt, die sich
Profiteure nicht funktionieren könnte: kein in Zusammenarbeit mit arabischen, afrikani-
Krieg – sei es Bürger-, Sezessions- oder klas- schen und asiatischen Gesellschaften auf die
sischer Grenzkrieg  –, der ohne die Existenz Spurensuche nach verschütteten indigenen
der staatlich legitimierten, abgesicherten und Wurzeln politischer Organisation präkolo-
systematisch geförderten Waffenexporte aus- nialer Gesellschaften begeben müsste.
gebrochen oder durchzuhalten wäre. Nach
wie vor ist Staatlichkeit ohne Militär und die- Ist Demokratie als gesellschaftliche Selbst-
ses ohne eine weltweite Rüstungsökonomie, bestimmung tatsächlich ausschließlich eine
deren wichtigste Auftraggeber wiederum Erfindung des klassischen Griechenland oder
Staaten sind, nicht denkbar. Aber gleichzei- hat es nicht auch außereuropäische Formen
tig kann man wissen, dass die intendierte Sta- und Variationen gesellschaftlicher Selbstre-
bilisierung „zerfallender Staaten“ mit mili- gierung gegeben, die unter der massiven Wal-
tärischen Mitteln nicht funktioniert, weil sie ze europäischer Welteroberung und damit
eben wegen dieses angewandten Mittels nicht einhergehender systematischer Kulturzer-
funktionieren kann. störung (wie exemplarisch in Spanisch-Ame-
rika) begraben wurden, aber ­heute konst-
Seit Gründung der USA haben amerikani- ruktiv erinnert und rekonstruiert zu werden
sche Streitkräfte mehr als zweihundert Mal in verdienen? ❙9 Immerhin haben zumindest
Auslandseinsätzen für die Wiederherstellung zwei der berühmten amerikanischen „Grün­
von Ruhe und Ordnung zu sorgen versucht. dungs­väter“, Thomas Jefferson und Benja-
Von den 16 Malen, die die USA in jüngerer min Franklin, sich die Mühe gemacht, von
Zeit versucht haben, zerfallende Staaten ent- indianischen politischen Erfahrungen zum
weder aufzubauen oder durch Regimewech- Beispiel über die Bildung stammesüber-
sel zu festigen, waren elf glatte Fehlschläge greifender stabiler Bündnisse für die eigene
und zwei – Grenada und Panama – können Bündnisstruktur der „Vereinigten Staaten“
nur als „wahrscheinlich erfolgreich“ gelten. ❙8 zu lernen; mehr Indianisches als nach außen
Wirklich erfolgreich waren aus der Sicht ei- bekannt ging in die frühen Diskussionen um
niger Forscher nur zwei Fälle: Deutschland Kultur und Struktur dieses neuen politischen
und Japan. So viel zum militärischen nation Staates ein, der selbst kein Staat, sondern nur
building. eine gemeinsame „Administration“ von Staa-
ten sein ­wollte. ❙10
Solange die Experten der internationa-
len Politik und ihre operativen Manager Seit den 1940er Jahren haben Ethnologie
sich nicht von der alternativlosen Rekon- und Anthropologie bei außereuropäischen
struktion des europäischen Staatsmodells, Kulturen wichtige Erkenntnisse gewonnen,
der „rationalen Anstalt“ als einziger Form zum Beispiel über Konfliktlösungsmechanis-
des Politischen verabschieden zugunsten der men in nichtstaatlichen Gesellschaften, die

❙7  Vgl. Ekkehart Krippendorff, Staat und Krieg. ❙9  Mein eigener bescheidener Versuch dazu: Die Kul-
Die historische Logik politischer Unvernunft, tur des Politischen. Wege aus den Diskursen der
Frankfurt/M. 1985. Macht, Berlin 2009, S. 55–77.
❙8  Vgl. William R. Polk, Aufstand. Widerstand gegen ❙10  Vgl. Thomas Wagner, Irokesen und Demokratie.
Fremdherrschaft – vom Amerikanischen Unabhän- Ein Beitrag zur Soziologie interkultureller Kommu-
gigkeitskrieg bis zum Irak, Hamburg 2009. nikation, Münster 2004.

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von der Politikwissenschaft überhaupt nicht, Die wahre Staatsvernunft, auf die wir so stolz
von einigen Friedensforschern bestenfalls sind, sollte zunächst darin bestehen, jegli-
marginal zur Kenntnis genommen wurden, chen Handel mit Waffen und Rüstungsmate-
aber nirgends zu einem kreativen Nachden- rial zu unterbinden. Die Entmilitarisierung
ken über neue Politikformen jenseits reprä- von Konflikten statt der systematischen, gar
sentativen Parteienstaates geführt haben. noch symmetrisch-profitablen Aufrüstung
beider Seiten, ist eine der wichtigsten Bedin-
Ein gründlich recherchierter Bericht über gungen für die Möglichkeit des geduldigen
die explosive Bürgerkriegssituation im Je- Experimentierens mit alternativen indigenen
men sprach vom „undurchdringlichen Ge- Politikformen.
flecht der Stämme“. ❙11 Der Notwendigkeit,
tribale Gesellschaften zerfallender Staaten zu Wir diskutieren das Problem der „zerfal-
Partnern staatlicher Politik machen zu müs- lenden Staaten“ in Bezug auf die außereuro-
sen, stellen sich fast unlösbare Probleme für päischen Neo-Staaten – und ignorieren dabei
Theorie und Praxis: für die Theorie ein neu- die Phänomene zerfallender nationalstaatli-
es, unkonventionelles Nachdenken über die cher Identität in einigen der „Mutterländer
Subjekte und Parameter des Politischen; für moderner Staatlichkeit“. Gibt es einen unter-
die Praxis die Differenzierung und Wertung gründigen Zusammenhang mit den hier dis-
kulturell legitimer versus destruktiv-sektie- kutierten dramatischen Zerfallserscheinun-
rerischer Netzwerke des Machtspiels. Nicht gen und den plötzlich auftretenden nationalen
jeder Clan, nicht jedes außerstaatliche Netz- Identitätskrisen in Frankreich, Spanien, Eng-
werk, nicht jeder Stamm hat in der Selbstbe- land oder auch der Schweiz? Die Vermutung
stimmung und Selbstregierung seiner Mit- eines Zusammenhanges mit den von der Glo-
glieder seine Identität und Dignität. In dem balisierung ausgelösten Migrationsbewegun-
Bericht über den Kleinkrieg im Nordjemen, gen drängt sich auf. Führen die dadurch aus-
in den die saudische Monarchie inzwischen gelösten demographischen und kulturellen
zugunsten der Zentralregierung und gegen Veränderungen zur Entloyalisierung mit der
die schiitischen Houthi-Rebellen eingegrif- Idee vom Staat als Wirklichkeit der sittlichen
fen hat, heißt es: „Al Qaida, sonst ein er- Idee? Könnte sich daraus auch in Europa eine
bitterter Feind der saudischen Monarchie, andere Staatsidee entwickeln? Haben die Ver-
warnt die sunnitische Welt im Internet davor, einigten Staaten von Amerika möglicherwei-
dass die schiitischen Iraner im Grenzland se mit ihrem Anteil an einem andersartigen
zwischen dem Jemen und Saudi-Arabien eine Erbteil moderner Staatlichkeit eine besse-
Einflusszone schaffen wollten gleich der von re Chance, eine multikulturelle Gesellschaft
Hisbollah beherrschten Region im Libanon.“ politisch zu integrieren als das starre euro-
An Verwirrung für jede Form von Analyse päische Staatsmodell? Wenn da politische
und vor allem diplomatisch-militärische Pra- Integration versagt, ist dann nicht Desinte-
xis ist da offensichtlich kein M
­ angel. gration, also „Zerfall“, die langfristige Kon-
sequenz? Oder könnten – und sollten – sich
Nur eines scheint sicher: An eine erfolg- nicht neue Formen des Politischen, neue For-
reiche Rekonstruktion von Staatlichkeit ist men des „Politikmachens“ jenseits der Staats-
auch da ebenso wenig zu denken, wie an den fixierung herausbilden und ermutigt werden?
sinnvollen Einsatz konventioneller außenpo- Müssten sie nicht ansetzen mit einer ande-
litischer Mittel und Methoden, insbesonde- ren Sprache des Nachdenkens, Sprechens und
re des Militärs als der ultima ratio staatlicher Schreibens über Politik? Müsste Politik sich
Politik. Die zynisch-pragmatische Schluss- nicht davon befreien, ein eindimensionaler
folgerung, welche die amerikanischen Poli- Diskurs über Macht und die Praxis staatli-
tikmacher aus dem „Zerfallsdilemma“ zie- cher Machtausübung zu sein, um ein mehrdi-
hen, keine staatlichen Ansprechpartner zu mensionaler Diskurs über Kultur zu werden,
haben und daraufhin einzelne Gruppen oder wie sie ihn in Literatur, Kunst und Musik
Stammesführer zu „kaufen“, mag kurzfris- entdecken und für ihre Aufgabe der Gestal-
tig wie im Irak gewisse taktische Erfolge zei- tung von gesellschaftlicher Ordnung, einer
tigen, macht aber eine stabile politische Lö- Friedensordnung zumal, fruchtbar machen
sung langfristig noch unwahrscheinlicher. kann: die Kultur des Politischen?

❙11  Süddeutsche Zeitung vom 12. 11. 2009.

46 APuZ 34–35/2010
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Die Spanische EU-Ratspräsidentschaft 2010 – eine Bilanz
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Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur ISSN 0479-611 X
Weltstaatengesellschaft? APuZ 34–35/2010

Christiane Grefe
3–7 Rio reloaded
Finanzkrisen, wachsende Armut und Klimawandel sind globale Herausforderun-
gen. Um die weitere Zuspitzung dieser Probleme zu verhindern, gilt es, am Ansatz
der Vereinten Nationen einer demokratischen Artenvielfalt neu anzuknüpfen.

Jeanne Lätt · Thomas Fues · Siddharth Mallavarapu


7–14 “We will have to learn to be better listeners”
Das Doppelinterview mit Thomas Fues und Siddharth Mallavarapu widmet sich
den normativen Grundlagen von global governance unter den Bedingungen einer
multipolaren Welt. Fehlt es derzeit an globalen Normen und Visionen?

Michael Zürn
14–20 Internationale Institutionen und nichtstaatliche Akteure
Das Regieren jenseits des Nationalstaates wirft eine Reihe von grundlegenden
Fragen auf: Haben die internationalen Institutionen einen supranationalen Cha-
rakter erlangt? Welche Rolle spielen nichtstaatliche Akteure?

Andreas Fischer-Lescano · Lars Viellechner


20–26 Globaler Rechtspluralismus

In der Weltgesellschaft überlagern sich zahlreiche Rechtsregimes. Kohärenz wird
nur durch ein Rechtsverständnis zu erreichen sein, das Vorstellungen von staatlicher
Souveränität, weltstaatlicher Universalität und radikaler Partikularität überwindet.

Eva Senghaas-Knobloch
27–33 Internationale Arbeitsregulierung

Internationale Arbeitsregulierung steht seit der Industrialisierung auf der politi-
schen Tagesordnung. Die negativen Auswirkungen der Deregulierungspolitik auf
die soziale Situation in den Industrieländern unterstreichen ihre Aktualität.

Inge Kaul
34–40 Suche nach den Grundelementen eines neuen Multi­lateralismus

Die Anpassung der Politik an globale Realitäten hat bislang nur zum Teil stattge-
funden. Kernstück eines neuen Multilateralismus wird eine neue Rolle des Staates
sein: als Vermittler zwischen nationalen und internationalen Erwartungen.

Ekkehart Krippendorff
40–46 Staat muss sein. Muss Staat sein?
Am Beispiel Afghanistan zeigt sich die Besonderheit der europäischen Staats-
bildung, die als Vorbild außereuropäischen Gesellschaften kolonial oktroyiert
wurde, ohne überall deren tribale Strukturen außer Kraft setzen zu können.

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