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Einleitung [ 2]
Fazit [18]
Anhang [20]
I – Abbildungen
II – Bibliographie
Abbildungsnachweis
1
Einleitung
1 Paul Klee „Angelus Novus“, 1920, 31,8 x 24,2 cm, Israel Museum, Jerusalem.
2
Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die
Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel
wächst.“2
Kann man Benjamins pessimistische Darstellung der Geschichte und den
hoffnungslosen Blick in die Zukunft aus seiner Verzweiflung während der Flucht vor
der nationalsozialistischen Verfolgung begreifen, die ihn 1940 in den Selbstmord
trieb, so treffen diese Motivationen für Campusumgestaltungsdebatten nicht zu.
Dennoch werden allenthalben Objekten, Personen und Kulturen Erinnerungswerte
zugesprochen, deren Rechtfertigung zum Teil vage bis höchst zweifelhaft scheint.3
Dabei ist meist völlig unklar, wer den „Katalog kollektiver Normen des Erinnerns“
etabliert und damit verordnet, wie und an was sich erinnert wird und vor allem, wie
diese Erinnerung zum politischen Rechtfertigungselement und als
Identifikationsmodell instrumentalisiert wird.
Die sogenannte kulturelle Erinnerung gilt neben Sprache, Konfession und
materieller Kultur als ein wichtiges Element, Identitätsgefühle – zum Beispiel eines
Landes – zu schaffen oder zu verstärken und dem sich hieraus ergebenden Hang
zur Retrospektivität sind die meisten Rechtfertigungsdebatten nationalbildender
Prozesse geschuldet. Wir wohnen derzeit der weltweiten Verbreitung des Erinnerns
bei. Historische Ereignisse, seien es traumatische oder erfolgreiche4, sowie
retrospektive Verweise auf ein oft fingiertes Kulturerbe finden dabei als
identifikationsstiftende Momente Verwendung.
9/11 oder erfolgreiche wie die erste Mondlandung oder die historischen Erfolge eines US-amerikanischen Sportstars, sie alle
werden instrumentalisiert und verwendet, den sozialen und politischen Zusammenhalt des gesellschaftlichen Kollektivs zu
organisieren. Unter Berufung auf solche Ereignisse wird eine bestimmte Art von „Amerikanisch-Sein“ etabliert, die das
Ergebnis der verschiedensten Identifikationsprozesse darstellen soll.
3
der Sowjetunion sechs Jahre später, etliche Bemühungen zur Etablierung einer
staatlichen Gemeinschaft und die entsprechenden Rituale kollektiver Identität
bemerkbar gemacht. Zunächst also sollen die Begriffe und Theorien kollektiver
Identität auf Basis der Texte von Erik H. Erikson, Bernhard Giesen und Jürgen
Straub sowie Aspekte kultureller Erinnerung vorgestellt werden, bevor diese ihre
Veranschaulichung in den entsprechenden Beispielen finden.
Seit einiger Zeit hat das ursprünglich psychologische Phänomen der Identität
in philosophische, soziologische und politische Diskurse Einzug gehalten. Beinahe
inflationär werden damit verwandte Begriffe wie Erinnerungskultur, Identifikation,
kollektive Identität u. ä. in Debatten getragen, die weit ab von der psychologischen
Konstruktion des Begriffes arbeiten.5 Ein erster Versuch zu fassen, was mit Identität
gemeint sein soll, leitet demzufolge schnell zu der Erkenntnis, dass eine einheitliche
Definition fast unmöglich ist. Nahezu aus jedem Bereich der Human- und
Sozialwissenschaften liegen dazu Konzepte und Kommentare vor. Lutz Niethammer
hat sehr anschaulich Verwendungen und Häufigkeiten verdeutlicht: „Die allermeisten
der aktuell verfügbaren Buchtitel beschäftigen sich nicht mit individueller, sondern mit
Variationen kollektiver Identität, und unter denen gibt es eindeutig drei Spitzenreiter:
politische bzw. nationale Identität, ethnische und geschlechtliche. Die nationale stellt
ein starkes Viertel, allein zur amerikanischen Identität gibt es derzeit 480 Titel, hart
gefolgt von Varianten ethnischer Identität mit einem knappen Viertel, wobei die
5Noch einmal sei hier an die Umgestaltungsdebatten um den Universitätsneubau am Augustusplatz verwiesen. Es sind
allerdings vor allem politische Diskussionen, die häufigst mit eben jenen Begriffe arbeiten. So zum Beispiel, wenn es um die
kollektive Identität türkischer Migranten geht, eine Debatte, die seit einiger Zeit in größeren, überregionalen Tages- und
Wochenzeitungen geführt wird. In hohem Maße sind in der letzten Zeit Diskussionen und Debatten zu Nationalbildungs-
prozessen zu beobachten - sicherlich nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Gewichtung „Europas“. In Leipzig sei auf die
Ringvorlesung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. (GWZO)
verwiesen, die sich mit regionalen und nationalen Geschichtskonzeptionen und die Auswirkungen national umgrenzter
Kunsttopografien beschäftigt.
4
schwarze oder afro–amerikanische Identitätsproblematik mit zusammen 257 sich
teilweise überlappenden Treffern nunmehr die jüdische mit 128 klar abgehängt hat
und alles andere unter ‘ferner liefen’ rangiert (‘white’ 46, ‘asian’ 38). Bei ‘gender’–
Identität schwimmt der unbestimmte Metabegriff mit 246 Treffern oben.“6
Wir gehen davon aus, dass der Begriff Identität ein psychologisches
Phänomen beschreibt. Zwar gibt es bereits vor den bedeutenden Psychoanalytikern
der Moderne, die sich dem Konstrukt der Identität gewidmet haben, wie George
Herbert Mead oder Erik H. Erikson, anthropologische bzw. ethnologische Konzepte,
die sich mit der Rolle des Subjekts in bestimmten Gesellschaftsrollen7 beschäftigen,
jedoch in diesem Rahmen nur erwähnt bleiben müssen.
Nicht nur Niethammer und Bernhard Giesen sondern auch Jürgen Straub
verweisen auf eine Schlüsselrolle Eriksons.8 Eriksons Konzept der Ich-Identität baut
auf Theorien der Psychoanalyse nach Freud auf. Er stellt Freuds System der
psychosexuellen Phasen je ein Identitätsstadium zur Seite9. In den jeweiligen
Phasen hat das Individuum entsprechende Probleme bzw. Aufgaben zu lösen. Wenn
die Aufgabe einer Phase, z. B. der oralen, gelöst ist, ist auch das entsprechende
Identitätsstadium erreicht. Der Prozess gipfelt zunächst in der Pubertät, wo es zu
einer größeren Krise kommt. Nach deren Lösung stellt sich das Individuum als eine
integrierte Gesamtidentität in Form der „Fähigkeit, […] eine innere Einheitlichkeit und
Kontinuität aufrecht zu erhalten“10 dar. Straub verwendet das Prinzip der
Identitätsbildung durch spezifische Krisenerfahrung, um seine eigene Analyse des
Begriffs Personale Identität zu entwerfen.11 Er formuliert personale Identität als
Zusammenfassung der Elemente, welche die „personalen Selbst- und
Weltverhältnisse und deren symbolische [...] Gestaltung durch individuelle
Subjekte“12 darstellen.
Obschon es in dieser Arbeit hauptsächlich um kollektive Identität gehen soll,
ist der Exkurs zur personalen oder individuellen Identität, praktisch als theoretische
Vorannahme, wichtig. Sowohl Giesen, als auch Straub konstruieren ihre Theorien
von kollektiver Identität in Disposition zur personalen.
5
Straub stellt zunächst in Frage, ob der Begriff Identität mit den
entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten gleichermaßen auf Individuen und auf
Kollektive anwendbar ist.13 Sicherlich ist der sprachliche, der begriffliche Gebrauch in
beiden Fällen unterschiedlich, dennoch gibt es in den Bildungsprozessen sowohl von
personaler, als auch von kollektiver Identität Parallelen, wie sich noch zeigen wird.
Ganz offensichtlich haben kollektive Kategorien wie Staat, Gruppe, Ethnie oder ganz
allgemein Kultur mit Konzepten wie Subjekt, Subjektbildung und Individuum kaum
etwas zu tun. So können also Gemeinschaften nicht als „biophysische Einheit“14
betrachtet werden, die Zuweisung eines „kollektiven Subjekts“15 und das Fingieren
eines selbstständigen Bewusstseins oder gar einer eigendynamischen Seele nicht
sinnvoll. Vielmehr setzt sich die Seele einer Gruppierung aus dem Bewusstsein
seiner Mitglieder zusammen. Die Konzentration auf etwas Gemeinsames und die
Reduktion auf einen gemeinsamen Nenner ist maßgeblicher für die Beschreibung
kollektiver Identitäten. So präsentiert sich der Charakter eines Kollektivs als das Bild,
das als Gemeinsamkeit allen Mitgliedern immanent ist und das sie nach Außen
transportieren. Unter diesem Bild sind sie vereint, es gleicht sie einander an. Die
Identität einer Gruppe beruht demnach auf der Möglichkeit, dass sie Bilder und
Inhalte verkörpert, mit denen sich ihre Mitglieder identifizieren können. Dass
Erinnerung und Geschichtsbewusstsein ein wichtiger Bestandteil dieser Konstruktion
sein können, soll im Folgenden näher beschrieben werden.
Wie schon T. S. Eliot 1920 treffend bemerkte, spürt man in jeder Gegenwart
die Anwesenheit des Vergangenen.16 Nicht selten wird mahnend an historische
Ereignisse verwiesen, um drohende Fehler für die Zukunft abzuwenden. „Erinnern
statt vergessen!“ heißt es immer wieder in öffentlichen Diskursen und politischen
Appellen. Für eine Auseinandersetzung mit Bildungsprozessen kollektiver und
nationaler Identitäten kommt man demnach um eine theoretische Betrachtung von
Geschichtsbewusstsein und Erinnerungskulturen nicht herum.
13 Vgl. ebd.
14 Ebd.
15 Ebd., S.102.
16 Vgl. ELIOT [1920] 1951, S. 47f.
6
Wie schon die Diskussionen um Identitäten haben auch Reflexionen über das
Gedächtnis und das Erinnern Konjunktur. Schon lange ist reflektierte Erinnerung
mehr als nur Vergangenheitsbewältigung, die sich aus der Forderung ergibt, die
Erinnerung an schuldhaftes Verhalten in der Vergangenheit als Mahnung für die
Zukunft zu bewahren.17 Zunehmend bedeutet Erinnerung die Rekonstruktion und die
Darstellung einer gruppenspezifischen – egal ob regional, ethnisch, religiös,
geschlechtlich oder anders definiert – ganz eigenen Geschichte. Diesem Memory
Boom18 verdanken wir die beinahe produktionsmäßige Einrichtung der
verschiedensten Erinnerungsorte. Das durch die Erinnerung beschworene
historische Bewusstsein dient dadurch zu einem nicht unwesentlichen Teil der
Rechtfertigung der bestehenden Gesellschaftsstruktur. Das gemeinschaftliche,
gesellschaftliche Gedächtnis ist immer politisch instrumentalisiert19 und äußert sich
häufig als ideologische Konstruktion. Eine normative, eine verordnete Erinnerung
lässt sich als wirksames Mittel benutzen, den gesellschaftlichen Zusammenhang,
unter Berufung auf gemeinschaftliche Traditionen, kulturelle Gleichheit, Identität, zu
organisieren.
7
Schau: „Je me souviens“ steht auf den Nummernschilder ihrer Autos.“20 Das
gewählte Zitat erweckt nicht zufällig die Assoziation mit Eriksons Konzept der
Identitätsbildung durch spezielle Krisenerfahrungen. So scheinen sich meist
durchlebte Krisen oder gemeinsam überwundene Notzeiten am besten zu eignen,
um verschiedene Persönlichkeiten unter einem, ihnen verinnerlichten Schlagwort zu
vereinen. Inhalte individueller Erfahrungen werden zusammengeführt und auf
eindeutige gemeinschaftliche Erkennungszeichen konzentriert. Im sozial-
psychologischen Kontext stellen Erinnerungen Teile eines Netzes dar, das Menschen
verbindet und aufgrund dessen sie sich als zueinander zugehörig verstehen. Die
gemeinsamen Erfahrungen können als Teil eines kollektiven Gedächtnisses21
erinnert und weitergegeben werden.
So formt sich auch die spezifische kollektive Identität aus kollektiver
Erinnerung. Aus der Gruppe der Einzelnen, die ihre gemeinsamen Erfahrungen
miteinander teilen, wird eine Erinnerungsgemeinschaft22, letztendlich die
Erinnerungskultur. Sie lässt sich überall dort ausmachen, wo die Neigung zur
Historisierung besonders ausgeprägte Züge annimmt. Öffentlichkeit, Wirtschaft und
Politik hegen ein vielschichtiges Interesse an den Darstellungen einer nationalen
Geschichte.23 Sie bietet Rechtfertigungs- und Identifikationsmodelle an, bindet den
Einzelnen an ein politisches Kollektiv. Erinnerung ist seit langem Bestandteil der
politischen Kultur eines Landes.
Darüber hinaus muss der Gehalt des Begriffs Erinnerungskultur für den
weiteren Gebrauch näher erläutert und damit eingeschränkt werden. Vor allem Jan
Assmann führt das Theoriekonstrukt um das kollektive Gedächtnis weiter und
unterscheidet kommunikatives und kulturelles Gedächtnis.24 Das kommunikative
Gedächtnis beruht auf Interaktion. Es bezeichnet die Erinnerung an tatsächliche
Erfahrungen, die von Menschen gemacht wurden und die durch Medien
beziehungsweise mündliche Überlieferung in der Gegenwart präsent sind.25 So lange
Zeitzeugen die Erfahrungen „authentisch“ weitergeben können, ist der allgemeine
20 Ebd.
21 Die soziologischen Theorien gehen auf den Durkheim-Schüler Maurice Halbwachs zurück, der den Begriff „Kollektives
Gedächtnis“ geprägt hat. Halbwachs hat seine Theorie des Kollektivgedächtnisses vor allem in dem 1925
erschienenen Buch Les Cadres sociaux de la Mémoire und im 1950 posthum veröffentlichten Essay La Mémoire
collective entwickelt. Vgl. CORNELISSEN 2003, S. 549. Zur Begriffsgeschichte „Kollektives Gedächtnis“ und Halbwachs:
KRACHT 1996, S. 21-31.
22 Der Begriff Erinnerungsgemeinschaft geht auf Aby Warburg zurück. Vgl. CORNELISSEN 2003, S. 552.
23 Vgl. ebd., S. 554.
24 Vgl. ASSMANN 2000, S. 15-86.
25 Vgl. CORNELISSEN 2003, S. 554.
8
Charakter des kommunikativen Gedächtnisses gewahrt und alle Gemeinschaftsmit-
glieder können an diesen Erfahrungen teilhaben: es ist ein „gesellschaftliches
Kurzzeitgedächtnis“26, das erlischt, sobald Spezialistinnen den Gehalt der Erinnerung
verwalten müssen. Ist dies der Fall, ist von einem kulturellen Gedächtnis die Rede.
Es enthält alle scheinbar objektiven, zeit- und epochenüberdauernden
geschichtlichen Elemente der gesellschaftlichen Tradition: Kunstwerke und
Architektur, Bilder und Riten, Sitten und Normen. Im kulturellen Gedächtnis entwirft
und vermittelt die Gesellschaft ihr Selbstbild. Durch die Bildung eines
gemeinschaftlich geteilten Wissens über die Vergangenheit fördert es ein kollektives
Bewusstsein von Eigenheit und Eigenart der Gesellschaft und deren Mitglieder.27
Das kulturelle Gedächtnis wird letztendlich zu einem wesentlichen Bestandteil der
Ausbildung kollektiver Identitäten.
26 Ebd.
27 Vgl. ebd.
9
Philosophie, Historienmalerei und politische Ikonographie sind Gegenstand der
Kunst- und Architekturgeschichte, etc. Eine Betrachtung kultureller Erinnerung im
gesellschaftswissenschaftlichen Kontext konstituiert sich also aus den
Frageinteressen der beteiligten Fächer.
Ebenso unbestritten ist, dass den jeweiligen Konstruktionen der Darstellung
von Geschichte die Funktion zukommt, kollektive Identitäten zu stiften. Solche
Identitätsstiftungen beanspruchen in der Regel Geltung mit unterschiedlichem
Wirkungsbereich. Sie können sowohl als Entwurf nationaler oder gar transnationaler
Identität mit dem Versuch einhergehen, nationale beziehungsweise globale
Verbände herzustellen, mit der Absicht dabei regionale Unterschiede zu relativieren
und zu beseitigen. In der Geschichte solcher Konstruktionen von der Renaissance28
bis in unsere Moderne werden globalere Identitätsentwürfe (etwa: europäische
Adelskultur, kaufmännische Interessenverbände, monastische Gebetsgemein-
schaften, bis zum Europa-Gedanken in der EU; u. ä.) zunehmend auch durch Bilder
europäischer Identität ergänzt.29
Als zentraler Ausgangspunkt für die Ausbildung nationaler, kollektiver
Identitäten stellt sich der Begriff Identifikation heraus. Identifikation steht nach
Erikson gewissermaßen am Anfang jeder Bildung von Identität: „Jene endgültige
Identität also, die am Ende der Adoleszenz steht, ist jeder einzelnen Identifikation mit
den Beziehungspersonen der Vergangenheit durchaus übergeordnet; sie schließt
alle wichtigen Identifikationen ein, aber verändert sie auch, um aus ihnen ein
einzigartiges und einigermaßen zusammenhängendes Ganzes zu machen.“30
Nationale und regionale Geschichtskonzeptionen sollen die Möglichkeit zur
Identifikation eines Einzelnen mit einem zusammenhängenden Ganzen – Nation,
Heimat, Kultur – bieten. Geschichtskonzeptionen etablieren bestimmte Objekte, so
28 Die Ausbildung nationaler Identitäten in der Renaissance ist ein geradezu klassisches Forschungsthema. Der
Renaissance-Humanismus trug nicht unwesentlich durch die Entwicklung neuer medialer, staatlicher und bildungs-
geschichtlicher Bedingungen zur Neubildung und Veränderung kollektiver Identitäten bei. Zur Ausbildung der nationalen
Identität im Renaissance-Humanismus existiert eine reiche und teilweise sehr hochrangige jedoch ältere Forschung von P.
Joachimsen: Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung in Deutschland unter dem Einfluß des Humanismus.
[Erstveröffentlichung Leipzig 1910]. In: ders.: Gesammelte Aufsätze. Beiträge zur Renaissance, Humanismus und
Reformation; zur Historiographie und zum deutschen Staatsgedanken. Aalen 1970. Eine jüngere Publikation operiert in
methodisch fruchtbarer Weise mit dem diskursanalytischen Konzept Foucaults: H. Münkler/H. Grünberger: Nationale
Identität im Diskurs der Deutschen Humanisten. In: H. Berding (Hrsg.): Nationales Bewusstsein und kollektive Identität.
Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2. Frankfurt a.M. 1994, S. 211-248. Weitere Literatur
liefert R. v. Dülmen (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Köln, Weimar, Wien 2001.
29 Ein eindrucksvolles wenn auch diskutierbares Beispiel für das Bild „Europas“ lieferte die Ausstellung „Idee Europa –
Entwürfe zum ‚ewigen Frieden’. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen
Union“ im Deutschen Historischen Museum, Berlin 2003.
30 ERIKSON 1966, S. 139.
10
etwa kulturelle Errungenschaften oder historische Ereignisse als regionale bzw.
nationale Besonderheiten. In diesen werden im gleichen Zuge Werte und
Normenvorstellungen errichtet, die ebenfalls den Status einzigartiger nationaler
Phänomene haben. Die Identifikation des Einzelnen mit der Konstruktion der Nation
geschieht als das Einverleiben, das unbedingte Aneignen und Annehmen der
Objekte und den ihnen immanenten Werten als etwas zum spezifischen Ich
gehörenden. Die Identifikation ist nichts anderes als die Projektion und die
„Aufrichtung des Objekts im eigenen Ich.“31 Dadurch vollzieht sich unwillkürlich eine
persönliche Anbindung an das Objekt, die das betreffende Ich mit anderen teilt. Die
gleiche Art der Anbindungen an ein solches Objekt verbindet mehrere Einzelne. So
wird die gleiche Art der Aneignung als Gleichheit – Identität! – wahrgenommen, die
sich in der Anbindung der Einzelnen untereinander, in der Schaffung von
Gruppengefühlen und Gemeinschaften äußert. Seit Freud wird Identifikation als
„früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person“32 charakterisiert,
hinter der der Wunsch steht, „das eigene Ich ähnlich zu gestalten wie das andere,
zum Vorbild genommene.“33 Identifikation stellt sich also in psychologischen
Diskursen als Übernahme bestimmter anderer Positionen und Haltungen dar, die
gleich oder ähnlich denen einer Gruppe oder einer einzelnen Person sind. Dieses
Sich-zu-eigen-machen von Haltungen, Meinungen oder Handlungen mündet in
einem Bewusstsein von scheinbarer Gleichheit zwischen dem Ich und einer Gruppe.
Es bildet Identität.
Geschichtskonzeptionen und ihre verschiedensten medialen Verbreitungen
sind aus dem Grund besonders zu betrachten, weil sie ebensolche Objekte mit dem
Potential zur Identifikation liefern können. Sie beschwören historische Traditionen,
um den gegenwärtigen sozialen, politischen und gesellschaftlichen Zustand zu
rechtfertigen. Die Liste an Beispielen und Veranschaulichungen solcher Konzepte
sind sowohl zahlreich als mannigfaltig: Die politischen Träger der Gesellschaft stellen
sich durch die Verwendung von Zitaten antiker griechischer Bauwerke in die
historische Tradition der griechischen demokratischen Volksherrschaft, wenn im 19.
Jahrhundert an Gebäuden des politischen und öffentlichen Lebens – Reichstag,
Reichsgericht, etc. – auf die antike Bauweise zurückgegriffen wird [Abb. 3 / 4].
Säulenvorhallen erinnern an griechische Tempel, die Assoziation an eine
11
demokratische Tradition wird geweckt, Symbole etablieren Identitätsentwürfe unter
Berufung auf historische Gemeinsamkeit. In historischen Sammlungen und Museen
spiegelt sich die Idee wieder, eine mit Mitteln der Kunst und des Kunsthandwerks
gebildete Selbstdarstellung der Nation zu verwirklichen.34 Gerade im Polen des
ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts – jedoch nicht
ausschließlich, das Phänomen lässt sich in fast allen europäischen Staaten mit mehr
oder weniger Engagement beobachten – dienen solche Sammlungen letztendlich
dem einen Zweck, dem Besucher der Sammlung eine Reihe von Objekten und
Ereignissen zur Rezeption bereit zu stellen, die in ihm Identifikationsprozesse
beleben sollen. Die patriotische Literatur der Romantik beruft sich nicht selten auf
Heldentaten und Verhaltensnormen mit der gleichen Absicht. Feier- und Gedenktage
sollen Gemeinschaftsgefühle bestärken.
Geschichtskonzeptionen konstruieren ein nationales Bewusstsein durch die
Bereitstellung identitätsstiftender Vorstellungen und Ideen. Sie liefern das „Bild der
Nation“ als Objekt, mit dem sich der Einzelne identifizieren kann.
34 Ein Kunstmuseum oder jede Sammlung nationaler Kulturgüter ist m.E. Bestandteil der gesellschaftlichen Konstruktion von
Identität. Diesen Anspruch kann man oft den programmatischen Schriften, die Museumsgründungen vorausgehen,
entnehmen. Als Verweis dazu RAVE 1968. Speziell für historische Sammlungen Polens im Bezug auf seine Historiographie
ist die Publikation von BORN/JANATKOVÀ/LABUDA 2004 von Bedeutung.
35 Ein kurzes Intermezzo staatlicher Unabhängigkeit, das mit dem Einfall der deutschen Truppen 1939 endete.
36 Zur polnischen Geschichte allgemein: Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens. Stuttgart 1998. Zur Zeit der Teilung: Müller,
Michael: Die Teilungen Polens 1772, 1793, 1795. München 1984; Piotr S. Wandycz: The Lands of Partitioned Poland 1795-
1918. Washington 1974 und Henryk Wereszycki: Historia polityczna Polski 1864-1918 (Politische Geschichte Polens 1864-
1918). Paris 1979.
37 Größere Aufstände fanden in relativer Regelmäßigkeit alle dreißig Jahre statt. Bemerkenswerter Weise richteten sie sich
meistens gegen die russische Besetzung und nur selten gegen die preußische.
12
mehr und mehr an Souveränität einbüßte. Dem Novemberaufstand von 1830 folgte
beispielsweise der Verlust des Rechtstatus als Königreich Polen. Nach dem
Januaraufstand von 1863 degradierte der russische Zar das ehemalige Königreich zu
Priwislanskij Kraj, zur russischen Provinz, was somit zusätzlich die Auslöschung des
historischen Staatsnamens bedeutete. Polen verschwand von den Landkarten. Doch
das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Verbrüderung der Polen konnten die
Invasoren nicht unterbinden. Je härter sich die Repressalien der Teilungsmächte
äußerten, um so wichtiger und dauerhafter erschienen die überlieferten
Wertvorstellungen und die traditionelle nationale Idee. Trotz der bisherigen
Niederlagen vererbten die Väter ihren Söhnen die Tradition des Freiheitskampfes als
identifikationsstiftendes Bild eines Polnischseins, „so dass die permanenten
Rückschläge und der jeweilige Neubeginn sich fortlaufend als feste Bestandteile des
Nationalbewusstseins jeder Generation der jungen Polen integrierten.“38 Für die
Entwicklung einer modernen nationalen Identität ist die zweite Hälfte der Zeit der
Teilung weitaus relevanter. Zum einen verlagerte sich das historische Bewusstsein
der eigenen Nation von den elitären Adelsschichten zu breiteren
Bevölkerungsschichten. Somit wurde auch der Gedanke einer eigenständigen
kulturellen Identität von einer zahlenmäßig bedeutenderen und politisch wirksameren
Masse getragen. Zum anderen wurde gegen Ende der 70er und 80er Jahre des
19. Jahrhunderts die polnische Geschichtsschreibung mit deutlicher Akribie
betrieben.39
Die schriftliche Darstellung der polnischen Geschichte wird von den Besetzern
weitgehend unterbunden. Zu gefährlich und zu aggressiv gegenüber den
Großmächten Preußen und Russland sind die Aussagen der polnischen Literatur
dieser Zeit. Die Invasoren reagieren mit Zensur und Verbot. Im preußischen Teil
Polens wurde nach dem Verbot der polnischen Sprache ein freier literarischer
Ausdruck undenkbar.40 Viele Autoren mussten in das Exil fliehen, für den Handel mit
polnischsprachiger Literatur drohten harte Strafen.41 Aufgrund dieser Verhältnisse
wuchs die Forderung nach einem anderen Medium, die Werte der polnischen
nationalen Tradition zu vermitteln. So entstand eine Art Marktlücke, die bald durch
Werke polnischer Malerei aufgefüllt werden sollte. Malerei eignet sich besonders,
38 RUMINSKI 1998, S. 3.
39 Vgl. ebd., S. 4.
40 Vgl. ebd.
41 Ebd.
13
Sachverhalte auf eine allgemeinverständliche Art und Weise darzustellen. Sie
verlangt weder ein breitgefächertes Wissen noch eine entsprechende Vorbildung, der
Inhalt oder die Aussage der Bilder ergab sich für den Betrachter von selbst. Ein
Kunstwerk vermag dieselben Eindrücke bei den unterschiedlichst gebildeten
Bevölkerungsschichten, vom Hochgebildeten bis zum Analphabeten, zu erzeugen.
Gleichzeitig kann sie Tatsachen, die durch die Literatur nicht vermittelt werden
durften, ausdrücken, so wie etwa wahre Täter-Opfer-Verhältnisse, Ängste und
Sehnsüchte der Polen. Damit eignet sich die Historienmalerei am besten als Träger
politischer, nationaler oder patriotischer Ideen.
Die 1918 errungene Unabhängigkeit dauerte nur 20 Jahre und wurde durch
den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zerstört. In Polen wird der Erfolg der Befreiung
von 1918 seitdem unter dem Eindruck der neueren Repression durch den Überfall
der Nazis und den wiederholten Verlust der nationalen Souveränität betrachtet. Nach
1945 verlor Polen, obwohl es zu den Siegermächten gehörte und viele Verluste zu
verzeichnen hatte, gegen seinen Willen Teile seines Territoriums, veränderte sein
politisches System und geriet in die Einflusssphäre der ihm bis dahin feindlich
gesinnten UdSSR. Die Polen fanden sich nie mit dieser Situation ab – davon zeugen
nicht zuletzt die Versuche, auch die sowjetische Fremdherrschaft abzuschütteln:
1956, 1970 und 1981. Diese Daten reihen sich in die der Aufstände gegen die
Teilungsmächte – 1794, 1830, 1863. Auf diese Weise entstand eine Kontinuität
zwischen den letztgenannten, den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges42 und den
Protesten gegen die kommunistische Regierung. Ein solches Bild der Vergangenheit
zeigt Polen in der Rolle des unschuldigen Opfers, das von anderen Nationen
überfallen wird. Hier zeigt sich die schon so oft angesprochene spezifische
Krisenerfahrung. In der polnischen Romantik entstand gar die Bezeichnung von
Polen als „Christus der Völker“43, die mit dem Bewusstsein der Tradition des
Kampfes für die Unabhängigkeit zu den wichtigsten Elementen der patriotischen
Erziehung der Polen wurde.
42 Der sogen. Verteidigungskrieg von 1939 und der Warschauer Aufstand 1944.
43 RUCHNIEWICZ 2005, S. 18.
14
B – II.2. Bildende Kunst und Geschichtsbewusstsein
in Polen
Wie im vorangegangenen Kapitel bereits skizziert wurde, kommt der Kunst als
Vermittler nationaler Ideen und politischer Programmatik eine große Rolle zu. Dieses
Phänomen kann zwar zeitgleich in vielen Staaten beobachtet werden, jedoch ist jene
Bedeutung der Kunst gerade für Polen besonders hervorzuheben: „Weil es kein
anderes Forum gab, konnten die politischen Ideen [...] nur in der schönen Literatur,
Musik, Malerei und in einem kleineren Maße in der Publizistik vermittelt und diskutiert
werden.“44 Im Zuge der zunehmenden Russifizierungsmaßnahmen45 lässt sich auch
eine stärkere Besinnung der Polen auf ihre Identität ausmachen. Gerade unmittelbar
nach der Reformation der politischen Verhältnisse während der Jahre 1989 bis 1991
erwachte das historische Verlangen der Menschen in Polen und ganz Osteropa nach
nationaler Selbstbestimmung, der eine Rechtfertigung und Bestätigung des
nationalen Selbstverständnisses vorausgehen musste. Dies ist nichts anderes als die
Forderung, die nationale Identität Polens für alle anderen in aller Deutlichkeit sichtbar
zu machen. Es ist der Ruf nach Demonstration und Anerkennung der staatlichen
Eigenheit.
against imperial rule in various guises: the Habsburg, Ottoman, Prussian and Tsarist Russian empires up to the early
twentieth century, thereafter followed by the Nazi Third Reich and, finally, Soviet ‚socialist internationalism’.“
47 Nach der Klassifizierung und Beschreibung durch Jan Assmann. S. o.
15
romantische patriotische Literatur die Vorgabe für die verklärte Aufbereitung der
historischen Tradition des Freiheitskampfes. Als wichtigstes Beispiel dieser Art
Literatur gilt das Werk des Dichters und Historikers Julian Ursyn Niemcewicz: „Die
Historischen Gesänge“.48 Die Literatur der Romantik lieferte zweifelsohne die
wichtigsten Impulse für die Entwicklung einer polnischen Ikonographie in der
Historienmalerei. Sie prägte die historische Tradition und ihre Helden und etablierte
daraus Verhaltensnormen. Ganz allgemein hat die romantische Dichtung Polens
maßgeblich zur Bewahrung des Geschichtsbewusstseins beigetragen.49 Die enge
Verbindung der Malerei und der Dichtung äußert sich im illustrativen Charakter der
Werke, mit denen sie die Aussagen der Heldenepen unterstützen. Bald
verselbstständigte sich die Malerei und emanzipierte sich von ihrem Los,
traditionelles Bildmittel der literarischen Werke zu sein.
Die Entstehung der Historienmalerei fällt in Polen mit dem Verlust der
staatlichen Unabhängigkeit gegen Ende des 18. Jahrhunderts zusammen.
Angesichts der Aufteilung des Staates unter fremden Mächten enthält sie neben der
historischen auch eine politische Bedeutungsebene. Zwar bedeuten die dargestellten
historischen Ereignisse immer eine subjektive Interpretation des Geschehenen durch
den Künstler, dennoch macht die individuell gestaltete Botschaft, nämlich der
Verweis auf die historische Freiheit, in Zeiten der politischen Unfreiheit, die Bilder
zum Politikum. Sie sind untergründig mit dem Aufruf zum Kampf verbunden, folgen
dem Aufruf Seweryn Goszczy skis sich nicht mehr an eine bestimmte
Rezipientengruppe, sondern an die gesamte Nation zu wenden.50
Einer der künstlerischen Leitfiguren der polnischen Historienmalerei ist
sicherlich der 1837 geborene Artur Grottger. Seine politisch motivierten Bildzyklen
sind stellvertretend für die visuelle Präsentation und die Vermittlung des polnischen
historischen Bewusstsein zu betrachten. Anhand seiner Arbeiten zeigt sich auch wie
schnell die Künstler auf gerade vergangene Ereignisse reagierten. Die Folge
„Polonia“ entstand im Herbst 1863, gerade als der Ausgang des im Januar
begonnenen Aufstandes entschieden war. Seine acht Zeichnungen umfassende
Serie stellt das Leid der polnischen Bevölkerung als Folgen des verlorenen
Aufstandes dar und appelliert durch seine martyrologischen Akzente an das
48 Sein Hauptwerk „Die Historischen Gesänge ( piewy historyczne)“ erschien 1816 in Warschau. Vgl. RUMINSKI 1998, S.
119 (Anm. 229).
49 Vgl. ebd., S. 118.
50 Vgl. ebd., S. 59.
16
Gemeinschaftsgefühl der Polen. Das Titelblatt [Abb. 5]51 zeigt eine Allegorie der mit
Trauerkleidung bedeckten und in Ketten gelegten Polonia. Um sie herum befinden
sich drei nackte Jünglinge, einer macht sich an den Ketten zu schaffen, während die
anderen zwei erwartungsvoll nach einem Zeichen schauen. Ähnlich schonungslos
und düster auch die Darstellung des Blattes III „Die Schlacht“ [Abb. 6]52. Die
Szene zeigt den Ausschnitt eines Kampfes in der letzten Phase. Eine Gruppe
angeschlagener und verwundeter Männer verteidigt die Fahne. Ihr Patriotismus bleibt
wohl das letzte Gefühl vor dem Tod, denn die Schlacht ist längst verloren, die
angstvollen Blicke der Männer in alle Richtungen verweisen auf den nahenden
Feind.53
Im umfangreichen Œvre der polnischen Historienmalerei existieren freilich
auch Bilder mit positivem, aufbauendem Charakter, die an die glorreichen Momente
der polnischen Geschichte erinnern. In diesem Zusammenhang muss der wohl
bedeutenste polnische Historienmaler genannt werden: Jan Matejko. Sein
Monumentalwerk „Die Schlacht bei Tannenberg“ [Abb. 7]54 gilt als das
Paradebeispiel für eine Verflechtung von Kunst und Politik schlechthin. Das Bild zeigt
einen entscheidenden Moment der Schlacht zwischen dem Heer des polnisch-
litauischen Königreiches und dem Deutschen Orden. Die Schlacht wurde zugunsten
des litauischen Großfürsten Witold entschieden und endete mit der Befreiung der
unter Ordensherrschaft stehenden polnischen Ostseegebiete. Matejkos Bilder sind
die bekanntesten und symbolträchtigsten und gehören damit zu den wichtigsten,
wenn es darum geht, ein historisches nationales Kulturgut zu transportieren. Die
„Schlacht bei Tannenberg“ und ein weiteres bekanntes Gemälde Matejkos: „Der Fall
Polens – Rejtan“ [Abb. 8], das den Ratsabgeordneten Tadeusz Rejtan, der sich der
ersten Teilung Polens widersetzen wollte, am Boden zeigt,55 gehören zu der Art
Gemälde, die auch heute noch Besucherscharen in die Galerien und Museen locken.
Der Besuch vor Gemälden Matejkos, Grottgers oder Wojciech Kossaks gehört zu
51 Artur Grottger: „Polonia“, Titelblatt zum Zyklus, 42,5x57 cm, Kreidezeichnung auf Papier, 1863. Budapest, Szépmüvésti
Muzeum.
52 Artur Grottger: „Bitwa (Die Schlacht)“, Blatt III des Zyklus’ „Polonia“, 42,5x57 cm, Kreidezeichnung auf Papier, 1863.
Muzeum Narodowe.
55 Jan Matejko: „Upadek Polski – Rejtan (Der Fall Polens – Rejtan), 282x487 cm, Öl auf Leinwand, 1866. Warschau,
Königsschloss. Das Bild zeigt eine Szene im Warschauer Schloss vom 21. April 1773. Um die Abgeordneten nicht zum
verräterischen Vertragsabschluss und der Besiegelung der Teilung Polens zu lassen versperrt Rejtan mit seinem Körper den
Eingang zum Saal und rief: „Tötet mich, tretet mich, aber lasst nicht das Vaterland verrecken...“, RUMINSKI 1998, S. 65.
17
den Pflichtveranstaltungen des polnischen Geschichtsunterrichtes. Ihre Prägnanz für
die heutige Geschichtsauffassung in Polen kann demnach kaum bestritten werden.
Die Wirkung auf die Betrachter ist immer noch ungebrochen und noch immer lösen
sie bei älteren Museumsbesuchern Tränen der Rührung, Verzweiflung, Trauer und
Wut aus.56 In diesem Punkt gleichen die Gemälde auch anderen Erinnerungsorten
und entpuppen sich als Träger des nationalen Bewusstseins. Ihr Potential
Geschichtsbilder zu konstruieren und zu beeinflussen macht sie zum Lieferanten
identifikationsstiftender Werte.
Fazit
56 Ebd., S. 141.
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Gemeinschaften. Das Gruppenbewusstsein wird durch die Identifikation mit
immanenten und gemeinsamen Objekte gestärkt, wie sie durch Kultur und Kunst
verkörpert werden. Mit dem Verweis auf ein sogenanntes gemeinsames und
einmaliges Kulturerbe werden die eigenen Kulturleistungen höher geschätzt und die
Leistungen anderer geschmälert. Letztendlich führt der Versuch, die eigene Identität
über ein spezifisch zur Gemeinschaft gehörendes Kulturerbe zu rechtfertigen, zur
Etablierung einer normativen und manipulierbaren Erinnerungskultur. Die eigene
Identität rückt in den Vordergrund und führt gezwungenermaßen zu Isolation und
dem sich Verschließen gegenüber dem Anderen. Die zwanghafte egoistische
Bestätigung der Identität, die sich letzten Endes in übersteigertem Nationalismus und
Heimatwahn äußert, führt zu einem Bruch mit dem gesamten Umfeld57. Das ist das
Phänomen, mit dem sich schon Benjamin konfrontiert sah und das ihn zu solch
pessimistischer Deutung des Bildes von Paul Klee trieb. Auch heute lässt sich mit
dem erneuten „Memory Boom“ eine verstärkte Besinnung auf nationale und regionale
Besonderheiten ausmachen. Gerade im Zuge der Grenzauflösungen und
Erweiterungen in Europa werden die Rufe nach Nation und Vaterland gefährlich laut.
Dabei sollten durch eine sensible Erinnerung die Risiken dieser Tendenzen längst
bekannt sein.
57 Der Begriff Umfeld bezieht sich hierbei sowohl auf andere Personen, als auch auf nationalstaatliche Kollektive.
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Anhang
I Abbildungen
20
2 Paul Klee: „Angelus Novus“, 1920, 31,8 x 24,2 cm,
Israel Museum, Jerusalem.
21
3 Reichstagsgebäude, Portikus.
4 Akragas/GR, Concordiatempel.
22
5 Artur Grottger: „Polonia“, Titelblatt zum Zyklus, 42,5x57 cm, Kreidezeichnung
auf Papier, 1863. Budapest, Szépmüvésti Muzeum.
6 Artur Grottger: „Bitwa (Schlacht)“, Blatt III des Zyklus’ „Polonia“, 42,5x57 cm,
Kreidezeichnung auf Papier, 1863. Budapest, Szépmüvésti Muzeum.
23
7 Jan Matejko: „Bitwa pod Grunwaldem (Die Schlacht bei Tannenberg)“, 426x987 cm, Öl auf
Leinwand, 1878. Warszwa, Muzeum Narodowe.
8 Jan Matejko: „Upadek Polski – Rejtan (Der Fall Polens – Rejtan), 282x487 cm,
Öl auf Leinwand, 1866. Warschau, Königsschloss.
24
II Literatur [Auswahl]
Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte [Original 1940]. In: ders.:
Illuminationen. Fankfurt a. Main 1977.
Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der
Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln, Weimar, Wien
2001.
Eliot, Thomas S.: Tradition and the Individual Talent. The Sacred Wood
[Original 1920]. In: ders.: Selected Essays. London 1951, S. 47-59.
25
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. Main 1966.
Rave, Paul O.: Die Geschichte der Nationalgalerie Berlin – Von ihren
Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Berlin 1968.
26
Ruchniewicz, Krzysztof: Die historische Erinnerung in Polen. In: Deutschland
und Polen, APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte 5-6/2005. Bonn 2005, S. 16-
26.
27
Verzeichnis der abgekürzt verwendeten Literatur
ASSMANN/FRIESE 1998
Assmann, Aleida/Friese, Heidrun: Identitäten. Erinnerung, Geschichte,
Identität 3. Frankfurt a. Main 1998.
ASSMANN 1999
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des
kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
ASSMANN 2000
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und
Identität in früheren Hochkulturen. München 2000.
BATT/WOLCZUK 2002
Batt, Judy/Wolczuk, Kataryna (Hrsg.): Region, State and Identity in
Central and Eastern Europe. London 2002.
BORN/JANATKOVÀ/LABUDA 2004
Born, Robert/Janatková, Alena/Labuda, Adam (Hrsg.):
Ostmitteleuropäische Kunsthistoriographien und der nationale Diskurs.
Berlin 2004.
CORNELISSEN 2003
Cornelißen, Christoph: Was heißt Erinnerungskultur? In: GWU.
Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 10/03. Herausgegeben von
J. Rohlfes, W. Schulze. München 2003, S. 548-563.
ERIKSON 1966
Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. Main 1966.
28
HUSE 1997
Huse, Norbert: Unbequeme Baudenkmale: Entsorgen? Schützen?
Pflegen? München 1997.
KRACHT 1996
Kracht, Klaus G.: Gedächtnis und Erinnerung: Maurice Halbwachs –
Pierre Nora. In: GWU. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47.
München 1996, S. 21-31.
NIETHAMMER 2000
Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer
unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg 2000.
RAVE 1968
Rave, Paul O.: Die Geschichte der Nationalgalerie Berlin – Von ihren
Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Berlin 1968.
RUCHNIEWICZ 2005
Ruchniewicz, Krzysztof: Die historische Erinnerung in Polen. In:
Deutschland und Polen, APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte 5-6/2005.
Bonn 2005, S. 16-26.
RUMINSKI 1998
Ruminski, Krzysztof: Bildende Kunst, Politik und Geschichtsbewußtsein
in Polen: ein Beitrag zur Erforschung der nationalen Identität Polens ab
Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Frankfurt a. Main
u. a. 1998.
STRAUB 1998
Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines
theoretischen Begriffs. In: ASSAMANN/FRIESE 1998
STROTZKA 1982
Strotzka, Hans: Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Wien 1982.
29
Abbildungsnachweis
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