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52 Jahre Negative Dialektik oder: Warum sollte überhaupt dialektisch gedacht werden?
ENTWURF

JK: Lieber Alex, wir wollen einige Fragen zur negativen Dialektik diskutieren. Thema ist Adornos
5 Buch und Philosophie, Anlass ist dein Text »Die Selbstreflexion des Marxismus – Fünfzig Jahre
Negative Dialektik«, der 2016 in der PROKLA erschien und 2017 in dem Buch Materialistische
Dialektik – bei Marx und über Marx hinaus«.1 Ich möchte meine Fragen zunächst zusammenfassen
und dann einzeln stellen. Ich freue mich sehr über die Möglichkeit unseres Gesprächs.
Zusammengefasst: Ist die kritische Theorie ein Stadium der marxistischen Theorie? Ist die Negative
10 Dialektik kein fachphilosophisches Buch? Ist Wissenschaft für Adorno nicht die geeignete Form für
verändernde Praxis? Warum soll überhaupt dialektisch gedacht werden? – Adorno ist kein
Hegelmarxist aber Marxist und Hegelianer.

1. Ist die kritische Theorie ein Stadium der marxistischen Theorie? Du fasst die Würdigung des
15 Buchs und der Philosophie gleichen Namens dahingehend, dass sie »einen der Meilensteine in der
Entwicklung der marxistischen Theorie darstellt« und es an »den Zusammenhang dieses Buches mit
dem Marxismus und seine Bedeutung für ihn« zu erinnern gilt (1682). Die Negative Dialektik soll in
Übereinstimmung mit ihrem Selbstverständnis »als eine der großen Innovationen der marxistischen
Theorie begriffen werden« (170), die kritische Theorie als »Stadium« der marxistischen Theorie,
20 durch welches letztere »hindurchgehen muss« (169).
Ich lese: Wer von kritischer Theorie sprechen will, kann von Marxismus nicht absehen. Das heisst,
von einer konstitutiven Aussenseite der Geisteswelt nicht abzusehen: massenhafter monotoner oder
schwerer körperlicher Arbeit, oder mit Marx allgemeiner von einer »industriellen Reservearmee«
aus der jeweils so viele Arbeitskräfte zum Leben erweckt werden wie nötig. Ob Führungskraft oder
25 geführte Kraft, der Rest ist jeweils überflüssig und bildet eine ganze ›Lazarusschicht‹, die ihrer
Wiedererweckung harrt – so wie Jesus zu Lazarus sprach, natürlich erfolgreich: komm heraus aus
deinem Grab3. In ihrer ganzen Systematizität verstanden, eine lähmende Perspektive. Marxismus als
systematischer Materialismus ist zunächst niederschmetternd. Die Idee einer Work-Life-Balance
wirkt vor diesem Hintergrund ganz absurd weil es sich um eine umfassende Anpassung von Life an
30 Work handelt, der Rest ist eine Geschichte die man sich selbst dazu erzählt, Life ist vielleicht diese
Geschichte…Die Notwendigkeit der Aufhebung des Gegensatzes von Erwerbsarbeit und Leben

1 Alex Demirović: »Die Selbstreflexion des Marxismus – Fünfzig Jahre Negative Dialektik« in: Stefano Breda, Kaveh
Boveiri, Frieder Otto Wolf (Hg.): Materialistische Dialektik – bei Marx und über Marx hinaus. Akten der Tagung
»Materialistische Dialektik: Marx-Lektüren im Dialog«, 30. – 31. Oktober 2015, Freie Universität Berlin, 2017,
S. 168–182. Zuerst in: PROKLA – Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 184, 10/2016, S. 459-476.
2 Im Folgenden alle Seitenzahlen aus: Materialistische Dialektik – bei Marx und über Marx hinaus.
3 MEGA2 II/10, 578f.
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wird sofort sinnfällig. Zu meiner ersten Frage, die in die Frage nach deinem Begriff von Marxismus
mündet.
Kritische Theorie als Stadium des Marxismus – mein erster Gedanke: Hegel. Für kritische Theorie
35 als negative Dialektik4 gilt nicht nur: Wer von ihr sprechen will, kann von Marxismus nicht
absehen, sondern kann auch von Hegels System und Methode nicht absehen. Das bedeutet einen
zweiten Totalitätsanspruch mit der ›Wertvergesellschaftung‹ permanent in Betracht zu ziehen: die
Methode unserer sprachlich verfassten Vernunft, die nichts an sich handhaben kann sondern nur
Unterschiede, welche sie sich in Form komplementärer Gegensätze organisiert. So krude spricht
40 Hegel von Dialektik nicht, mir erscheint es aber förderlich sogar zu sagen, viel mehr ist es
wesentlich nicht aber auch nicht weniger. Die kritische Theorie wäre also zugleich mit der
marxistischen ein Stadium der dialektischen Theorie. Aus dieser Sicht wäre sie ohne diesen zweiten
Anspruch der absoluten Methode, welche die Einsicht in die genannte Gegensätzlichkeit bedeutet,
ein blinder Spiegel des Marxismus, interessant aber erfolglos. Der Spiegel soll etwas offenbaren,
45 das im unmittelbaren Selbstbezug nicht erkennbar ist. Mit anderen Worten und noch ganz verkürzt,
das hegelsche ›Ende der Geschichte‹ muss mit dem marxschen ›Eintritt in die Geschichte‹
zusammentreffen können.
Meine zweite Überlegung: Das Buch Negative Dialektik geht auf drei Vorträge am Collège de
France zum Thema Ontologie und Dialektik 1961 zurück, eine wie Adorno schrieb oberflächlich
50 verschleierte Auseinandersetzung mit Heidegger, dem diese Ehre nicht zuteilwerden sollte, aber
auch mit Hegel und Marx. »Hauptmotiv: daß Ontologie nicht geschichtsfrei gefunden werden kann
und nicht geschichtsfrei ist.«5 Heideggers Fundamentalontologie scheidet aus, Hegels »Idealismus«
bildet keine Alternative und die abstrakt-überzeitliche Ordnung von Materie und Arbeit die Adorno
im Staatssozialismus begegnet, scheidet auch aus um der »Spaltung von S + O« näher- bzw.
55 beizukommen. Negative Dialektik entsteht zwischen »dem großen Idealismus« um 1800 und
»kollektiver Regression« in Adornos Gegenwart.6 Es erscheint mir hier so, dass Marxismus immer
wieder vom Marxismus-Leninismus bzw. Diamat unterschieden werden muss, die ja auch Adorno
begleiteten, damit, wie du heute sagst, die kritische Theorie ein Stadium und Meilenstein, eine
Selbstreflexion des Marxismus sein kann. Könntest du etwas ausführen, wie du das löst?
60 Noch einmal anders: Mit dem Meilenstein, den Adornos Buch in der Entwicklung der marxistischen
Theorie darstellt, kommst du auf die elfte Feuerbachthese zu sprechen, »Die Philosophen haben die
Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.«7 Adornos Bezugnahme
auf die These am Beginn der Negativen Dialektik steht in deinem Text für den Zusammenhang
4 zur Gleichsetzung die Adorno einmal vornimmt: Theodor W. Adorno: Vorlesung über Negative Dialektik.
Fragmente zur Vorlesung 1965/66, Nachgelassene Schriften Band 16, S. 36.
5 in Rolf Tiedemann: Niemandsland. text und kritik 2007, S. 164f. / Brief an R. Minder
6 Archivmaterial Ts16803
7 Karl Marx: »1) ad Feuerbach«, 1845, aus dem Notizbuch aus den Jahren 1844-1847, MEGAIV/3, S. 21.
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seines Buchs mit dem Marxismus (168). Der prominente erste Satz der Einleitung heißt:
65 »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer
Verwirklichung versäumt ward.«8 Die bei Adorno folgenden zwei Sätze sind schon nicht mehr
schnell zu überblicken und ziehen den ersten bis zur Umkehrung in Zweifel. Die versäumte
Verwirklichung ist, so scheint es, zweifach zu lesen, als das auch auf Feuerbach zurückgehende
Thema der Verwirklichung der Philosophie bei Marx und als das Thema der Verwirklichung der
70 Philosophie bei Hegel als zunächst seltsame Schnittstelle von Geist und Natur. Beide sieht Adorno
auf die Weise seiner Zeit, des kalten Krieges. Beide Verwirklichungen haben keinen
durchschlagenden Erfolg, weil, wie Adorno fortfährt, u.a. die »begrifflichen Gehäuse« in denen
»nach philosophischer Sitte, das Ganze« untergebracht werden können soll, so rückschrittlich
erscheinen.9 Ich frage mich, ob unsere begrifflichen Gehäuse heute so entwickelt sind um die
75 Differenz dieser beiden Verwirklichungen dauerhaft richtigstellen zu können. Žižeks Modell von
den zwei Seiten eines Möbiusbandes10 ist nach ›cartesischer‹ Art klar und deutlich und deshalb auch
irreführend, ich finde es als Modell dennoch sehr gut, es zeigt auch die Schwierigkeit das
begrifflich zu meistern an, wenn man in die Geometrie geht, dennoch ein hervorragender Weg für
den Verstand, ein Holzweg und der Königsweg zugleich.
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2. Fachphilosophie und Wissenschaft. »Adornos Buch ist kein fachphilosophisches Buch. Wenn
Philosophie fortgesetzt werden kann oder besser: fortgesetzt werden muss, dann, weil es nicht zur
Verwirklichung jener Theorie kam.« (168) Meine erster Gedanke: Es gibt überhaupt keine andere
Lesart für das Buch als eine fachphilosophische, was sich darin zeigt, dass es nur mit enormer
85 fachphilosophischer Vorbildung in Adornos Sinn gewinnbringend gelesen werden kann – und das
ist ein Problem. Alle anderen Lesarten schlagen fehl. Sie hypostasieren Thesen oder Antithesen
oder werden Adornos Veranstaltungen um dies oder eine nach arithmetischer Art ermittelte
Synthese zu verhindern überdrüssig. Wenn man das systematisch nimmt, gelingt es besser, man
versteht dann die dialektische Konstruktion und erst dann wird ein dialektischer Materialismus oder
90 eine materialistische Dialektik lesbar, die Adorno m.E. wie kaum ein anderer lehren wollte. Meine
Frage an dich lautet, welcher Argumentation diese Aussage »kein fachphilosophisches Buch«
zugehört. Wen beruhigt das, wie kann es Adornos Text öffnen?
Nächster, formal sehr ähnlicher Punkt: Wissenschaft. »Wissenschaft ist Adorno zufolge, nicht die
geeignete Form« für verändernde Praxis. (170) Mein erster Impuls ist wieder die strikte
95 Gegenthese: Es gibt für Adorno/Horkheimer überhaupt keine andere Form für verändernde Praxis

8 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt am Main 1973ff., S. 15
9 Ebd.
10 Slavoj Žižek: Parallaxe, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009, S. 9.
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als Wissenschaft. Welche Wissenschaft? In »Zur Spezifikation der kritischen Theorie«11 wettert
Adorno wenn ich recht sehe gegen zwei Wissenschaftsbegriffe. Zunächst die objektive
Wissenschaft der traditionellen Theorie. Zweiter unwahrer Wissenschaftsbegriff: die
Wissenschaftlichkeit des ›wissenschaftlichen Sozialismus‹. Der ›objektiven‹ traditionellen
100 Wissenschaft stand eine ›parteiliche‹ Wissenschaft gegenüber, die sich als noch objektiver verstand.
Eine andere Wissenschaft hatte Adorno unmittelbar nicht und er sah, dass Philosophie diesen
Wissenschaften jeweils dient.12 Auch legt »Zur Spezifikation der kritischen Theorie« nahe, dass
eine zweite disziplinäre Verortung der kritischen Theorie zu Ökonomiekritik hinzu
Wissenschaftstheorie ist (andere Formulierungen bei Adorno: Gesellschaftskritik und
105 Erkenntniskritik, Wissenschaft und Politik). Traditionelle Theorie als Antithese zur kritischen
Theorie ist wesentlich eine ungenügende Form der Wissenschaftlichkeit, die Adorno und
Horkheimer mit großer Gewissheit an Descartes binden. Soll Wissenschaft aus der kritischen
Theorie ausscheiden und wie? Alle Jahrgänge »Zeitschrift für Sozialforschung« sprechen dagegen,
auch deine eigene kritische Theorie, ob im akademischen, gewerkschaftlichen oder aktivistischen
110 Rahmen. Wissenschaft ist »eine unter anderen gesellschaftlichen Produktivkräften und verflochten
in die Produktionsverhältnisse« schrieb Adorno13 aber ist dies ein Ausschlussgrund, denn wer oder
was ist in die Produktionsverhältnisse nicht verflochten? Was hält nach deiner Meinung in Händen,
wem die Negative Dialektik als Nicht-Fachphilosophie und Nicht-Wissenschaft erscheint?

115 3. »Warum nämlich sollte überhaupt dialektisch gedacht werden?« (178) – Noch einmal zur
Perspektive der Dialektik. Dialektik »wird sich überwinden lassen« (178), der »Anspruch geht
dahin, durch Dialektik auch noch Dialektik zu überwinden« (ebd.), ein Umschlag »der zur
Versöhnung führt und Dialektik selbst noch erübrigt« (ebd.), Versöhnung ist, wenn »Dialektik
überflüssig wird« (181). »Eine versöhnte Menschheit wäre über Dialektik hinaus.« (180). Die
120 Negative Dialektik bereitet eine »Überwindung der Dialektik vor« (ebd.).
Überwinden, erübrigen, überflüssig werden, darüber hinaus sein – mein erster Gedanke: Dialektik
wird abgeschafft bevor sie bei Licht erscheint. Mein zweiter Gedanke: Was Hegel mit Dialektik
intendierte und Adorno als Intention von ihm mitnahm, und auch Marx mitnahm, ein Hinaus über
blinde Unmittelbarkeit, bleibt durch obige Abschaffungen unberührt. Mein dritter Gedanke:
125 systematische Herrschaft ist, was abgeschafft werden soll, eine so unmittelbare, so unmittelbar mit

11 Theodor W. Adorno: »Zur Spezifikation der kritischen Theorie«, in: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Adorno.
Eine Bildmonografie, Frankfurt am Main 2003, S. 292.
12 Theodor W. Adorno: »Philosophie und Arbeitsteilung« in: Adorno, Horkheimer: Dialektik der Aufklärung.
Philosophische Fragmente, GS 3, S. 279. Interdisziplinärer Materialismus, intellektueller Nonkonformismus und
das Institut für Sozialforschung so könnte man zugleich sagen, standen für eine veränderte Wissenschaftspraxis
überhaupt.
13 Theodor W. Adorno: »Zur Spezifikation der kritischen Theorie«, aus These 5
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der eigenen Selbsterhaltung verwobene, dass es kaum fassbar ist. »Freiheit meint die Freiheit vom
Zwang zur Selbsterhaltung« schriebst du, ein Satz den ich im Kontext zitieren möchte:

»Die ökonomische Freiheit, bislang eine irrationale Freiheit und auf Unternehmer beschränkt, soll auf alle
130 ausgedehnt werden. Freiheit meint die Freiheit vom Zwang zur Selbsterhaltung. Dieser Zwang durchzieht
alles. Die Arbeit und die Unterwerfung unter diejenigen, die in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung das
Kommando führen, die Anweisungen erteilen und damit die kollektive Selbsterhaltung organisieren. Das
Individuum, das eine Identität ausbildet, um zu einem rationalen Akteur auf dem Markt zu werden und
die Erhaltung seines Selbst noch rational steuern zu können. Dies betrifft auch die sozialen Beziehungen
135 zu anderen, die Politik und das Denken.« 14

Können wir diesen Zwang zur Selbsterhaltung dingfest machen und von einem Leben
unterscheiden, das wir gar nicht kennen?

140 Ich möchte noch diese Überlegung anschliessen: Meine Perspektive ist keine allgemeine und sogar
noch enger gefasst, damit wir genauer sprechen, ist sie momentan wohl diese: Wo du unterstreichst
»Adorno ist kein Hegel-Marxist« (179) und deshalb sei Dialektik bei ihm nicht affirmativ zu
verstehen sondern eben negativ, unterstreiche ich, er ist kein Hegel-Marxist, aber Marxist und
Hegelianer und letzteres ist eine Unmöglichkeit die seine Negativität auch anleitet. Ich glaube, dass
145 diese Differenz auch mit der Zeit einhergeht, mit dem Untergang des kalten Krieges, seiner zwei
konkurrierenden Produktionsverhältnisse und des Merksatzes Materialismus oder Idealismus als
einer Art Leuchtreklame.

14 Alex Demirovic: »Arche Noah: zur Aktualität der kritischen Gesellschaftstheorie« in: Rainer Winter, Peter V. Zima
(Hg): Kritische Theorie heute, Bielefeld 2007, S. 72.

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