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Beate Selders

Keine Bewegung!
Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge –
Bestandsaufnahme und Kritik

Flüchtlingsrat Brandenburg & Humanistische Union (Hrsg.)


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi­
bliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Über die Autorin:


Die Sozialwissenschaftlerin Beate Selders lebt und arbeitet als freie Journalistin und Dozentin
für Schreibdidaktik in Berlin. Neben zahlreichen Reportagen in verschiedenen Printmedien legte
sie 2004 zusammen mit dem Sozialgeografen Thomas Bürk-Matsunami den Forschungsbericht
„Fremdenfeindliche und rechtsextreme Übergriffe auf Imbissbuden im Land Brandenburg“ vor
und erstellte im Jahr 2008 das Dossier „Der Fall Ermyas M. - Chronik einer Debatte“ als e-
book.

Beate Selders: Keine Bewegung! Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und
Kritik. Hrsg. von Flüchtlingsrat Brandenburg & Humanistische Union. Eigenverlag, Berlin 2009
2. korrigierte Auflage
ISBN: 978-3-930416-25-7

Titelbild: Omer Fadl / Umbruch Bildarchiv


Infografiken: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Landkreise_07-2007.svg
Gestaltung: Sven Lüders
Druck: Druckerei Hinkelstein, Berlin

Die Erstellung dieser Broschüre wurde finanziell gefördert durch Aktion Mensch, Pro Asyl,
Amadeu-Antonio-Stiftung und Doris-Wuppermann-Stiftung. Wir danken für die freundliche
Unterstützung. Eine umfassende Falldokumentation sowie weitere Informationen zum Thema
sind zu finden auf der Webseite www.residenzpflicht.info.

© Die Inhalte dieser Broschüre unterliegen der Creative Commons License Version 3.0. Die
Texte und Grafiken dürfen für nicht-kommerzielle Zwecke bei Nennung der Autorin und der
Herausgeber frei verwendet werden. (Weitere Informationen zur Lizenz siehe:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/.
Inhaltsverzeichnis

Einleitung................................................................................................................................................5
Vorwort der Humanistischen Union.......................................................................................5
Vorwort des Flüchtlingsrats Brandenburg...........................................................................7
Einführung in das Thema...........................................................................................................9

Reportagen...........................................................................................................................................17
Enzkreis, Baden-Württemberg: „Die Leute denken, wir kommen hierhin,
müssen nicht arbeiten und kriegen alles geschenkt. Die wissen gar nicht,
was los ist!“...................................................................................................................................17
Plauen, Sachsen: Wer den Bahnhof betritt, macht sich schon verdächtig..............22
Uckermark, Brandenburg: „Gefährlicher Straftäter gefasst!“ - oder:
Der unbedingte Wille zu kriminalisieren ............................................................................24

Das Gesetz............................................................................................................................................29
Buchstabe und Charakter des Gesetzes.............................................................................29
„Ein Urteil jenseits der Realität“. Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung
vor dem Bundesverfassungsgericht.....................................................................................37
Interview mit Richter Werner Schwamb............................................................................42
Der Straßburger Zirkelschluss. Die Beschwerde beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte..........................................................................................45
Interview mit Marei Pelzer (Pro Asyl).................................................................................46
Die Abschreckungsdoktrin und ihre Nachwirkungen ....................................................47

Isolation, Kontrolle und Rassismus


Interview mit Christopher Nsoh (Flüchtlingsinitiative Brandenburg)......................53

Die Behörde..........................................................................................................................................55
Parzellen und Wegezoll...........................................................................................................55
Umfassende Befugnisse...........................................................................................................58
Die Erteilung der Verlassenserlaubnis.................................................................................60
Rechtsanspruch? Eine Frage des Glücks.............................................................................65
Kontrollieren und disziplinieren............................................................................................66
Menschen vor und hinter dem Schalter.............................................................................68
Unzumutbares Verfahren oder: Wie kriminelle Ausländer gemacht werden.........71
4■ Residenzpflicht

Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ – Wirkungen auf Traumatisierte.


Interview mit der Psychotherapeutin Ruth Bierich........................................................73

Die Polizeikontrolle............................................................................................................................81
Erfolgreich durch Ressentiments ........................................................................................84
Illegalität, Schleierfahndung und ‚Residenzpflicht‘........................................................87
Institutioneller Rassismus. Interview mit Martin Herrnkind.......................................91
Konflikte und Gewalt...............................................................................................................93

Auswirkungen II: „Die Kontrolle ist vor allem eine psychische“. Zur Situation
von Frauen. Interview mit Florence Sissako (Women in Exile)...................................95

Die Verurteilung..................................................................................................................................99
Kriminalisierte Flüchtlinge – Beispiel Brandenburg.....................................................105
Überforderte Gerichte............................................................................................................107
Abzahlen von Geldstrafen....................................................................................................109
Spätfolgen der Kriminalisierung: Verweigerte Aufenthaltsrechte und
Ausweisung...............................................................................................................................110

Auswirkungen III:
Gefangen im Umfeld der Täter...........................................................................................115

Auswirkungen auf die Gesellschaft............................................................................................117


Der Staat als Negativ-Vorbild.............................................................................................117
Die Polizei gibt Stigmatisierungszeichen. Interview mit Hajo Funke.....................123
Ein Lackmustest für die Demokratie.
Mit einem Statement von Osaren Igbinoa (The VOICE)..............................................128
Vom ‚Recht auf Rechte‘. Gespräch mit der Psychologin und
Gesellschaftstheoretikerin Birgit Rommelspacher.......................................................131

Anhang................................................................................................................................................137
Umsetzung der ‚Residenzpflicht‘ in Bund und Ländern..............................................137
Flüchtlingsrat Brandenburg ................................................................................................141
Humanistische Union ..........................................................................................................143
Einleitung

Vorwort der Humanistischen Union


Die vorliegende Broschüre befasst sich mit einem Thema, von dem die meis­
ten Bürgerinnen und Bürger wohl noch nie gehört haben: der so genannten
Residenzpflicht. Dabei handelt es sich um eine Vorschrift, die es Asylbewer­
bern wie Geduldeten untersagt, ohne schriftliche Erlaubnis den Wirkungs­
kreis der zuständigen Ausländerbehörde zu verlassen. Verstöße gegen die
Residenzpflicht werden mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet. Die Texte
in dieser Broschüre beschreiben die alltäglichen Auswirkungen der Residenz­
pflicht für die betroffenen Flüchtlinge und Asylsuchenden, ebenso wie die
juristischen und politischen Hintergründe, wie es zu derart menschenunwür­
digen Verhältnissen in Deutschland kommen konnte.
Die Humanistische Union verbindet mit der Herausgabe dieser Broschüre
aufklärerische Absichten im wahrsten Sinne des Wortes: Die Texte bieten
einen lebendigen Einblick in den Alltag asylsuchender Menschen in Deutsch­
land, ihr Leben unter den restriktiven Bedingungen der Residenzpflicht. Die
hier vorgestellten Fallbeispiele und Informationen aus erster Hand sollen
dazu beitragen, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Ahnungslo­
sigkeit über die Lebenssituation Asylsuchender in Deutschland abzubauen.
Diese Ahnungslosigkeit kommt nicht von ungefähr, sondern liegt in der
Absurdität der Residenzpflicht begründet: Wer würde sich schon damit abfin­
den, dass sein Leben auf einen willkürlichen Verwaltungskreis beschränkt
würde, dass für jede Fahrt in die nächstgrößere Stadt die Erlaubnis einer
Behörde einzuholen wäre? Derartig Unvorstellbares für uns Nicht-Betroffene
vorstellbar zu machen, ist ein erstes Anliegen der Texte.
Die Beschreibungen, Reportagen und Interviews zum Thema Residenzpflicht
beschränken sich jedoch nicht auf eine reine Darstellung, die Broschüre bietet
mehr als nur den „ethnologischen Blick“ auf einen fremden Alltag. Beate Sel­
ders stellt die gesetzlichen Grundlagen der Residenzpflicht vor und skizziert
die politischen und juristischen Auseinandersetzungen um die räumliche Auf­
enthaltsbeschränkung. Kritisch setzt sie sich mit den Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Men­
schenrechte auseinander. Sie zeigt auf, wie Asylsuchende von grundlegenden
Freiheiten abgeschnitten werden und die umstrittene Begründung für die
Strafbarkeit eines an sich normalen Verhaltens funktioniert. Ausführlich geht
6■ Residenzpflicht

Beate Selders auf die praktische Anwendung der Residenzpflicht durch Aus­
länder- und Polizeibehörden ein. Dabei wird deutlich, dass die gesetzlichen
Grundlagen der Residenzpflicht zu einem alltäglichen Rassismus verleiten,
ihre Durchsetzung jenen diskriminierenden Blick fördert, den der Staat
andernorts aufwändig zu bekämpfen sucht. Durch die vielschichtige Darstel­
lung wird die Residenzpflicht nicht nur als Problem der Betroffenen, sondern
auch als grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft im Umgang mit Asyl­
suchenden thematisiert. Die Interviews und Reportagen von Beate Selders
machen deutlich, dass wir nicht untätig bleiben dürfen.

Die Humanistische Union versteht die Broschüre auch als Beitrag zu den
immer wiederkehrenden migrations- und kriminalpolitischen Diskussionen
um die sog. Ausländerkriminalität: Manche Vorurteile und Ressentiments
gegen „kriminelle Ausländer“ finden ihren rationalen Kern in Straftaten, die
eben nur Asylsuchende begehen können – wie die Verstöße gegen die Aufent­
haltsbeschränkungen des Asylverfahrensgesetzes oder des Aufenthaltsgeset­
zes. Verstöße gegen die sog. Residenzpflicht sind aber kein Beleg für „krimi­
nelle Ausländer“, sondern vielmehr Ausdruck menschenunwürdiger Lebens­
bedingungen für Asylsuchende in Deutschland. Mit der Broschüre wollen die
Herausgeber eine aus ihrer Sicht dringend notwendige Debatte über diese
Lebensbedingungen anregen. Das Recht auf freie Bewegung muss endlich für
die in Deutschland lebenden Migranten eingelöst werden.

Prof. Dr. Rosemarie Will


Bundesvorsitzende der Humanistischen Union
Vorwort des Flüchtlingsrats Brandenburg
Seit 1998 verleiht der Flüchtlingsrat Brandenburg am 21. März einen „Denk­
zettel für strukturellen Rassismus“. Der 21. März war 1966 von der Vollver­
sammlung der Vereinten Nationen zum „Internationalen Tag für die Beseiti­
gung der Rassendiskriminierung“ deklariert worden, in Erinnerung an das
Massaker von Sharpeville in Südafrika sechs Jahre zuvor. Hier hatten 20.000
Schwarze gegen die so genannten Passgesetze demonstriert. Die Polizei
schoss in die Menge, in wenigen Minuten starben 69 Menschen, über 180
wurden verletzt. In einem Akt des zivilen Ungehorsams hatten sich die
Demonstrant/innen ohne das obligatorische Passbuch versammeln wollen,
das alle Schwarzen außerhalb der „Homelands“ mit sich führen mussten. Das
Time Magazine schrieb 1960, wenige Tage nach dem Massaker: „In den letzten
Jahren wurde das Passbuch zu einer Art physischer Fessel. Reist ein Afrikaner
vom Land in die Stadt oder geht er nur über die Straße zum Zigaretten kau­
fen, kontrolliert ihn die allgegenwärtige, nicht zimperliche südafrikanische
Polizei. Steht er ohne Pass vor seinem Haus, lässt die Polizei ihn nicht fünf
Schritte gehen, um ihn zu holen. Er wird ins Gefängnis verschleppt, ohne
Benachrichtigung seines Arbeitgebers oder seiner Familie, und mit einer
Geldstrafe belegt oder inhaftiert. Morde werden nicht aufgeklärt, weil die
Gerichte mit Passverletzern verstopft sind.“1
Als Flüchtlingsselbsthilfeorganisationen wie „The Voice“ und die „Branden­
burger Flüchtlingsinitiative“ in den Jahren 2000 und 2001 eine Kampagne
gegen die so genannte Residenzpflicht führten, verglichen sie nicht ohne
Grund die deutsche Residenzpflicht mit den Passgesetzen des Apartheid-
Regimes. Wie die Passgesetze wurde die Residenzpflicht als eine Verletzung
eines elementaren Menschenrechts empfunden, des Menschenrechts auf
Bewegungsfreiheit. Trotz einer breiten bundesweiten Mobilisierung und einer
eindrucksvollen Demonstration gelang der Kampagne damals nicht der
Durchbruch. Eine Hoffnung blieb: der Europäische Gerichtshof für Men­
schenrechte sollte es richten.
Diese Hoffnung zerschlug sich endgültig im November 2007. In einem ver­
korksten Zirkelschluss gaben die obersten Menschenrechtswächter Europas
der deutschen Residenzpflicht ihren Segen. Für die Betroffenen und ihre
Unterstützer/innen, worunter sich der Flüchtlingsrat Brandenburg in guter
Tradition zählt, bedeutet dies: Die Kampagne muss wieder politisch werden.

1 The Sharpeville Massacre, Time Magazine v. 4.4.1960.


8■ Residenzpflicht

Es müssen die Verantwortlichen hier in Deutschland mit den unmenschlichen


Folgen der Residenzpflicht konfrontiert werden, auf allen Ebenen, angefan­
gen bei den lokalen Ausländerbehörden, den Landkreisen, bis hin zu den Län­
derparlamenten und dem Bundestag. Denn die Lebensrealität, der Flüchtlinge
in Deutschland ausgesetzt sind, hat sich seit der Jahrtausendwende in keiner
Weise gebessert. Geändert hat sich vor allen Dingen die Zahl derer, denen es
gelingt, die Mauern und Zäune der Festung Europa zu überwinden. Die weni­
gen, die noch kommen, werden weiterhin empfangen von einem Bündel von
Maßnahmen, das ihnen den Aufenthalt so unattraktiv wie möglich machen
soll, zum Zwecke der Abschreckung weiterer Flüchtlinge. Mit der Verschi­
ckung in entlegene Lager, Wertgutscheinen und der Kontrolle ihrer Bewegun­
gen durch die Residenzpflicht – um nur wenige dieser Maßnahmen zu nennen
–, sollen aus Schutzsuchenden Demonstrationsobjekte für die Unattraktivität
der Flucht nach Deutschland gemacht werden.

Die vorliegende Broschüre stellt das Material bereit, das nötig ist, um zu
sehen, was die Residenzpflicht ist: eine Menschenrechtsverletzung, die eine
weitere Hinnahme nicht duldet. Wir wünschen ihr eine möglichst große Ver­
breitung und Stärkung der Kampagne zur Abschaffung der Residenzpflicht.
Auf eine Verleihung des „Denkzettels für strukturellen und systemimmanen­
ten Rassismus“ wird angesichts der Vielzahl möglicher Adressaten im Falle
der Residenzpflicht im Jahr 2009 verzichtet.

Kay Wendel
Einführung in das Thema

Als Serge Kxxxx sein polizeiliches Führungszeugnis erhält, das er für


eine Stellenbewerbung braucht, erfährt er, dass er vorbestraft ist. Er ist
schockiert. Er, der sich nie etwas zu Schulden kommen ließ: vorbestraft!
Der Flüchtling aus Kamerun wurde im Aufnahmeverfahren für Asylsu­
chende dem Landkreis Barnim in Brandenburg zugewiesen. Jahrelang
war er verpflichtet, dort in einer so genannten Sammelunterkunft zu
wohnen. Die Landkreisgrenzen durfte er nur mit einer vorher bean­
tragten Verlassenserlaubnis überschreiten. Einmal musste er zum Rechts­
anwalt nach Potsdam fahren. Ein Anruf am Donnerstagnachmittag, er
solle am Freitag kommen. Die Ausländerbehörde ist schon geschlossen,
und freitags ist keine Sprechzeit. Die Zeit drängt, weil im Asylverfahren
Fristen einzuhalten sind. Er fährt ohne Genehmigung nach Potsdam. Im
Zug fährt auch die Bundespolizei mit. Die Beamten kontrollieren fremd­
ländisch aussehende Menschen wie ihn und wollen seine Papiere sehen.
Die erforderliche Verlassenserlaubnis kann er nicht vorweisen. Eine
Anzeige wegen Verstoßes gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung,
allgemein Residenzpflicht genannt, folgt.
In Potsdam angekommen wartet er lange in der Kanzlei auf den Anwalt,
der aber nicht kommt, weil sich ein Gerichtstermin in die Länge zieht.
Also muss Kxxxx am Montag wiederkommen. Er verbringt das Wochen­
ende bei einem Freund in der Stadt, um die Fahrtkosten nicht doppelt
zahlen zu müssen. Montags trifft er den Anwalt und fährt anschließend
zurück. Dafür muss er in Berlin umsteigen. Auf dem Bahnsteig wird er
wieder von Polizisten kontrolliert. Wieder folgt eine Anzeige. Monate
später verurteilt ihn ein Amtsrichter per Strafbefehl zu 90 Tagessätzen
Geldstrafe. Kxxxx ist nun vorbestraft wegen eines Verhaltens, das für
alle Bürger und Bürgerinnen dieses Landes eine Selbstverständlichkeit ist
und das niemandem schadet.
Ironie der Geschichte: Im Jahr 2008 wird Serge Kxxxx der brandenbur­
gische Bürgerpreis „Band für Toleranz und Verständigung“ verliehen,
weil er in Schulklassen und Jugendprojekte geht, um im Gespräch
Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit abzubauen.
10 ■ Residenzpflicht

Sucht man im Internet nach Einträgen unter dem Stichwort Residenzpflicht,


so findet man Hinweise auf Beamte, auf Pfarrerinnen und Ärzte, die dazu
verpflichtet werden, am Ort der Berufsausübung zu wohnen. Die Seelsorgen­
den sollen in der Nähe derer wohnen, für die sie sorgen, die Hausärztin auch
am Wochenende wohnortnah erreichbar sein. Residenzpflicht im eigentlichen
Sinn des Wortes ist eine Wohnsitzauflage. In dieser Broschüre ist dagegen die
Beschränkung des Aufenthaltes auf einen Landkreis oder eine kreisfreie Stadt
gemeint, die landläufig auch als Residenzpflicht bezeichnet wird. Sie gilt für
Asylsuchende, denen es nach den §§ 56 bis 58, 85 und 86 des Asylverfahrens­
gesetzes unter Androhung einer Geld- oder Freiheitsstrafe untersagt ist, ohne
schriftliche Erlaubnis den Wirkungskreis der zuständigen Ausländerbehörde
zu verlassen. Eine solche räumliche Beschränkung gilt auch für Geduldete.
Hier ist sie geregelt im Aufenthaltsgesetz, §§ 12 und 61, und der Aufenthalts­
bereich ist gesetzlich auf das Bundesland begrenzt, die Ausländerbehörden
können den Bewegungsraum aber durch Auflagen beliebig weiter einschrän­
ken.

Für diese radikale Beschneidung der Bewegungsfreiheit ist der Begriff Resi­
denzpflicht ein Euphemismus. Mit der Aufenthaltsbeschränkung wird nicht
nur das Wohnen, sondern das gesamte Alltagsleben der Betroffenen einer
Sonderbehandlung unterworfen, die sie durch kein Verschulden zu verantwor­
ten haben und der sie mit eigener Anstrengung nicht entkommen können.
Genau so lässt sich soziologisch das Wesen von Diskriminierung beschreiben.

Residenzpflicht im Kontext des Asylverfahrens


oder: „Dass so etwas möglich ist, ist für uns Bürger unfassbar!“
– so die Worte einer Engagierten, die einen Fall für die Dokumentation 2 schil­
dert. Die räumliche Beschränkung des Aufenthaltes wurde bereits 1982
Gesetz, aber selbst nach bald dreißig Jahren, die diese Regelung schon exis­
tiert, wissen nur wenige etwas davon. Die meisten, die zufällig davon erfahren,
sind erst ungläubig, dann empört. Eine solche Einschränkung der Freizügig­
keit im Inland widerspricht dem Rechtsempfinden der meisten Bundesbürger
und -bürgerinnen. Unter Bürgerrechtsgesichtspunkten ist die strafbewehrte
Untersagung der freien Bewegung im Inland für sich genommen schon ein
Skandal, aber die volle Bedeutung für die Betroffenen wird erst ermessbar,

2 Falldokumentation s. www.residenzpflicht.info.
Einleitung ■ 11

wenn man sie im Zusammenhang mit den anderen Auflagen für Flüchtlinge
im Asylverfahren betrachtet.

Wer in Deutschland Asyl beantragt, befindet sich oft auf Jahre in einer Art
Paralleluniversum, einem virtuellen Transitraum, in dem die Erlaubnis, über­
haupt anwesend zu sein, überprüft wird. Dieses Paralleluniversum besteht aus
der Unterbringung in Sammelunterkünften, in denen jeder Person abhängig
vom Bundesland zwischen 4,5 und 6 Quadratmeter Raum zugestanden wer­
den, meist in alten Kasernen, leer stehenden Pensionen oder Containern an
abgelegenen Orten, weit weg von der Wohnbevölkerung, bevorzugt in Indus­
triegebieten oder im Wald. In der Regel wird von Heimen gesprochen, die
Zwangseinweisung und die Lage legen jedoch den Begriff Lager nahe.

Es gibt Ausnahmen von der Zwangsunterbringung in Sammelunterkünften,


Ausnahmen, die den politischen Willen zur Ausschöpfung aller Gesetzesspiel­
räume voraussetzen. Beispiele sind Berlin, Cottbus oder Leverkusen, wo es
Asylsuchenden gestattet wird, in normale Wohnungen zu ziehen.

Zum Paralleluniversum gehört das Arbeitsverbot, für Jugendliche bedeutet es


das Verbot, eine Berufsausbildung zu machen. Nach einem Jahr können Asyl­
suchende eine Arbeitserlaubnis erhalten, wenn sie einen Arbeitsplatz finden,
den niemand anderes haben möchte. Deutsche Staatsangehörige, EU-Bürger
und -Bürgerinnen und Menschen mit anderen Aufenthaltstiteln haben Vor­
rang. Erst nach dieser Vorrangigkeitsprüfung wird eine Arbeitsgenehmigung
erteilt. Außerdem muss der Arbeitsplatz in der Nähe des Lagers liegen. Das
Arbeitsverbot besteht also faktisch fort. Die Hilfe zum Lebensunterhalt, auf
die die Betroffenen somit angewiesen sind, beträgt gesetzlich nur 70 Prozent
und, weil der Betrag seit 1993 nicht mehr erhöht wurde, faktisch sogar nur
etwa 50 Prozent des Sozialhilfesatzes, nämlich 184 Euro im Monat, und soll
als Sachleistung ausgezahlt werden. Es gibt Gutscheine auf Papier oder Chip­
karten, die nur für bestimmte Waren und nur in bestimmten Geschäften gel­
ten, oder Lebensmittelpakete und Textilien aus der Kleiderkammer. Die Bar­
geldauszahlung ist auf 40 Euro im Monat begrenzt. Eine Teilnahme am
gesellschaftlichen und kulturellen Leben ist schon aus Bargeldmangel extrem
eingeschränkt. Auch hier gibt es Ausnahmen, in denen alle Bezüge in bar aus­
gezahlt werden. Auch hier ist der politische Wille, den Gesetzesspielraum aus­
zuschöpfen, Voraussetzung.
12 ■ Residenzpflicht

Zum Paralleluniversum gehört als letzter Baustein die räumliche Aufenthalts­


beschränkung, die es unmöglich macht, der Isolation durch die Zwangsunter­
bringung und das Arbeitsverbot zu entkommen. Es ist eine Welt außerhalb
des Bürgerrechts, in der gleichzeitig fast jede Lebensäußerung einer gesetzli­
chen Vorschrift unterworfen ist. Der Mensch wird vollständig zum Objekt der
Verwaltung. Das Asylverfahrensgesetz mutet an wie die Umsetzung des Pro­


gramms der xenophoben Republikaner, die in ihrem Kommunalwahlpro­
gramm 1996 forderten:

„Asylbewerber sind aus Kostengründen und sozialen


Gesichtspunkten heraus ausschließlich in Gemein­
schaftsunterkünften mit Aufenthaltsbeschränkungen auf
diesen Bereich unterzubringen, möglichst in den Außenberei­
chen der Stadt. Der Standard dieser Unterkünfte hat sich auf
das Notwendigste zu beschränken. Keine Auszahlung von
Bargeld an Asylbewerber, sondern nur Zuweisung von Sach­
leistungen.“

Tatsächlich bilden die gesetzlichen Auflagen im Asylverfahren ein technokra­


tisch begründetes System der gesellschaftlichen Isolation, der Diskriminie­
rung und Stigmatisierung. Das zeigt sich an einem Beispiel aus der Kommu­
nalpolitik. Der Bürgermeister von Guben schlägt im September 2007 eine
ungewöhnliche Maßnahme vor, die Empörung quer durch alle gesellschaftli­
chen Gruppen und politischen Parteien hervorruft: ALG-II-Beziehende, die
bei der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft mit der Miete im Rückstand
sind, sollen nach seinem Willen ins leer stehende Asylbewerberheim umzie­
hen. „Lager für ALG-II-Bezieher“ titelt die Lokalzeitung3 und gibt die Posi­
tionen von lokalen Größen wie folgt wieder: „In Not geratene Menschen dür­
fen nicht in einer Massenunterkunft mit unzumutbaren Gegebenheiten unter­
gebracht werden“, der „unschöne Versuch der Ghettoisierung“ müsse
verhindert werden, und „Familien können nicht in einem Asylbewerberheim
am Rande der Stadt untergebracht werden“. In der Übertragung auf die ein­
heimische Bevölkerung wird der diskriminierende und stigmatisierende Cha­
rakter der Lebensbedingungen von Flüchtlingen deutlich.

3 Lausitzer Rundschau v. 5.9.2007, Berliner Zeitung v. 17.08.2007.


Einleitung ■ 13

Ausdehnung statt Abschaffung

In den Jahren 2000 bis 2002 gibt es eine breite Protestbewegung gegen die
sog. Residenzpflicht. Im fünften Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundes­
republik Deutschland 2002 bezieht sich die damalige Ausländerbeauftragte
Marie-Luise Beck auf diese Proteste und die von vielen gesellschaftlichen
Gruppen getragene Kritik an der Aufenthaltsbeschränkung und empfiehlt der
Bundesregierung, die gesetzlichen Bestimmungen zu revidieren. So könnten
die EU-Verhandlungen über die Richtlinien für die Flüchtlingsaufnahme
erleichtert werden, weil bis dato die Bundesrepublik das einzige Land ist, das
eine solche Freiheitsbeschränkung praktiziert.

Im Gegensatz zu dieser Empfehlung hat die Bundesregierung in den folgen­


den Jahren hart verhandelt, um die deutsche Regelung als Kann-Bestimmung
in der EU-Aufnahmerichtlinie durchzusetzen. Bisher hat nur Österreich die
Regelung übernommen, allerdings begrenzt auf die Zeit in der Erstaufnahme­
einrichtung, das heißt auf etwa 20 Tage. Auch in Slowenien wird die Aufent­
haltskontrolle sehr streng gehandhabt, aber immer noch freier als in der Bun­
desrepublik. Asylsuchende brauchen dort eine schriftliche Genehmigung,
wenn sie länger als drei Tage der Unterkunft fernbleiben. Die strikte Frei­
heitsbeschränkung für die Dauer des gesamten Asylverfahrens und teilweise
darüber hinaus ist immer noch einmalig in Europa.4

Niederlage in Straßburg
Teil der oben erwähnten Protestbewegung von Flüchtlingen gegen die sog.
Residenzpflicht war die Weigerung, die Bußgelder wegen Verstoß gegen das
bekämpfte Gesetz zu zahlen. Es folgte ein Prozess nach dem anderen. Doku­
mentiert sind diese Prozesse und die Kampagne des zivilen Ungehorsams in
einer Broschüre der Flüchtlingsorganisation The VOICE Refugee Forum.5 Eines
der Verfahren konnte bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschen­
rechte (EUGMR) in Straßburg gebracht werden. Seit November 2007 liegt die

4 Information and Cooperation Forum (2005): Aufnahmebedingung für Asylbewerber­


Innen in Deutschland, Österreich und den angrenzenden Beitrittsstaaten – Abschluss­
bericht, www.asyl.at/projekte/icf_einleitung.pdf (Gültigkeit für 2009 per Nachrecher­
che bestätigt).
5 Förderverein The VOICE (Hrsg.), Einblick in den Kampf gegen die Residenzpflicht,
Göttingen 2007.
14 ■ Residenzpflicht

Entscheidung vor. Der EUGMR hält in dem vorgetragenen Fall die räumliche
Aufenthaltsbeschränkung für vereinbar mit der Europäischen Menschen­
rechtskonvention. Diese Entscheidung ist nach der erfolglosen Vorlage des
Gesetzes beim Bundesverfassungsgericht im Jahr 1997 eine erneute Nieder­
lage für Menschen- und Bürgerrechte.

Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, eine Bestandsaufnahme der Recht­
spraxis zu unternehmen, um erneut eine breite gesellschaftliche Diskussion
und Initiative gegen diese gravierende Beschränkung der Bewegungsfreiheit
anzuregen. Es geht dabei nicht nur um die vielfältigen Auswirkungen auf die
unmittelbar Betroffenen, sondern auch um die Auswirkungen auf die gesamte
Gesellschaft: die Förderung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch
das ausgrenzende Gesetz und die Übertragung dieser repressiven Praxis auf
andere gesellschaftliche Gruppen.

„Flüchtlinge gibt es hier nicht! Flüchtlinge, die hatten wir nach '45“
So reagierte der Leiter einer brandenburgischen Kreisbehörde auf die Frage
nach baulichen Veränderungen am „Flüchtlingsheim“. Flüchtlinge gibt es
sprachlich in Deutschland nicht mehr, seit sich das Unwort Asylant etabliert
hat. Wer die abfällige Konnotation vermeiden möchte, spricht von Asylbewer­
bern oder geschlechtsneutral von Asylsuchenden. Juristisch korrekt ist nur als
Flüchtling zu bezeichnen, wer amtlich anerkannt wurde oder den Status nach
der Genfer Konvention zuerkannt bekam. Damit wird allen anderen ein legiti­
mer Fluchtgrund abgesprochen. Die Tatsache, dass 2007 zum Beispiel jeder
dritte irakische Flüchtling in der EU anerkannt wurde, in der Bundesrepublik
dagegen nicht einmal vier von Hundert6 zeigt, dass die Anerkennungsquote
wenig mit den Fluchtgründen zu tun hat. Im vorliegenden Text wird deshalb
wahlweise von Flüchtlingen oder Asylsuchenden gesprochen bzw. von Flücht­
lingen im Asylverfahren.

Zur Sprachregelung sei auch noch erwähnt, dass mit dem Begriff Residenz­
pflicht im Kontext der Asylpolitik mehrere Umstände beschrieben werden:
Neben der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung die Verpflichtung in Sam­
mellagern zu wohnen, das heißt, nicht nur an einem bestimmten Ort, sondern

6 Albrecht Kieser, Anerkennungsquote unter 1 Prozent. Asylverfahen im europäischen


Vergleich, Telepolis v. 28.9.2007, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26293/1.html.
Einleitung ■ 15

in einer bestimmten Art leben zu müssen, und die Wohnortauflage für den
Fall, das eine Unterbringung in Wohnungen zugelassen wurde. Diese verschie­
denen Bedeutungen führen oft zu Missverständnissen. In diesem Text ist
immer nur die räumliche Beschränkung gemeint.

Zum vorliegenden Text


Dieser Report über die ‚Residenzpflicht‘ unternimmt eine Bestandsaufnahme
der Behördenpraxis, eine Annäherung an das Ausmaß der Kriminalisierung
durch diese Regelung, eine Bilanzierung der Auswirkungen auf die unmittel­
bar Betroffenen wie auf die Gesellschaft, und er enthält Reflexionen über den
politischen Begründungszusammenhang. Die Basis sind Interviews mit
Expertinnen und Experten und eine mehr als einjährige Recherche mit zahl­
reichen Befragungen von Flüchtlingen, Integrationsbeauftragten, Anwältinnen
und Anwälten, Ausländerbeiräten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von
Flüchtlingsräten, unterschiedlichen Beratungsstellen und Ausländerbehörden
sowie eine umfangreiche Internetrecherche, Auskünfte von Ministerien und
Kreisverwaltungen und die Auswertung von Statistiken. Beispiele aus Bran­
denburg überwiegen, auch wenn die Recherche bundesweit angelegt war.

Am Anfang stehen drei Reportagen, in den Kapiteln finden sich immer wie­
der Beispiele zu den speziellen Aspekten. Eine weitere bundesweite Falldoku­
mentation mit Beispielen aus unterschiedlichen Quellen findet sich auf
www.residenzpflicht.info.

Immer wieder geht es um juristische Sachverhalte, die in dem Bemühen for­


muliert sind, sie auch für juristisch nicht Vorgebildete nachvollziehbar darzu­
stellen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1997 wird von Werner
Schwamb im Interview erläutert. Er ist heute Richter am Oberlandesgericht
von Frankfurt/Main und war 1997 Richter am Kirchhainer Amtsgericht, das
das Gesetz in Karlsruhe zur Überprüfung vorlegte. Das Urteil des Europäi­
schen Gerichtshofes für Menschenrechte aus dem Jahr 2007 wird von Marei
Pelzer, Juristin bei Pro Asyl, erläutert und kommentiert.

Zu den Auswirkungen werden neben zahlreichen Flüchtlingen der Sozialwis­


senschaftler Christopher Nsoh, Mitglied der Flüchtlingsinitiative Brandenburg
FIB, die Gesundheitswissenschaftlerin Florence Sissako von der Organisation
Women in Exile und Ruth Bierich, Psychotherapeutin bei der psychosozialen
Flüchtlingsberatungsstelle Xenion in Berlin, interviewt. Der Kriminologe und
16 ■ Residenzpflicht

Polizeibeamte Martin Herrnkind erläutert die Bedeutung der räumlichen Auf­


enthaltsbeschränkung für den Polizeialltag und erklärt das Wirken dieses
Gesetzes als institutionellen Rassismus.

Der Politologie Hajo Funke erläutert den Zusammenhang zwischen diskrimi­


nierenden Polizeikontrollen sowie anderen Stigmatisierungen von Asylsu­
chenden und rassistischer Gewalt. Osaren Igbinoba, Sprecher der Flüchtlingsini­
tiative The VOICE Refugee Forum erklärt die Strategie des zivilen Ungehor­
sams. Zum Abschluss reflektiert die Psychologin und Gesellschaftstheoreti­
kerin Birgit Rommelspacher im Gespräch die Verweigerung von Freizügigkeit im
Kontext der europäischen Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik.
Reportagen

Enzkreis, Baden-Württemberg
„Die Leute denken, wir kommen hierhin, müssen nicht
arbeiten und kriegen alles geschenkt. Die wissen gar nicht,
was los ist!“

Holzbachtal im Schwarzwald.
Ein Bach, ein Sägewerk, acht
Häuser und Wald. Viel Wald. Für
Touristen mag es idyllisch gewe­
sen sein, als sie noch kamen und
die zwei Hotels des Weilers
bevölkerten. Das eine ist jetzt
ein Wohnhaus, an dem anderen
hängt neben dem Eingang das
Landeswappen mit den drei
Staufer-Löwen und ein Schild:
Staatliche Sammelunterkunft für
Asylbewerber.
„Es ist sehr hart hier, verstehen Sie? Man sieht hier keinen Menschen. Es ist
total ruhig. Hier ist nichts. Wenn ich telefonieren oder Zigaretten kaufen will,
gehe ich eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Zwei Stunden. Es fährt
auch ein Bus. Das kostet zwei Euro hin und zwei Euro zurück. Wir bekom­
men zehn Euro in der Woche. Viele, die hier wohnen müssen, verschwinden
irgendwohin. Sie wollen nie wiederkommen.“
Es ist Ende Oktober 2008, und auch Kebba Kxxxxx ist erst seit einer Woche
wieder da. Fünf Monate war er in Schönborn, dem offenen Strafvollzug für
Kurzstrafer der Justizvollzugsanstalt Bruchsal, und verbüßte eine Haftstrafe
wegen wiederholtem Verstoß gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung.
„Das Gefängnis war okay“, resümiert er, „ich habe den ganzen Tag gearbeitet,
war unter Menschen. Hier, in Holzbachtal, das ist das eigentliche Gefängnis.
Du darfst nicht arbeiten, du hast keinen Kontakt mit Leuten. Du schläfst, bist
wach, schläfst, bist wach, du versuchst dir etwas zu essen zu machen. Dann
sitzt du, dann schläfst du und wachst wieder auf. Verstehen Sie? Niemand
18 ■ Residenzpflicht

mag so ein Leben. Es gibt keine Zukunft. Viele hier sind schon kaputt. Auf
die eine oder andere Art wirst du verrückt.“

Kebba Kxxxxx kommt aus Gambia. Im Juli 2007 hat er Asyl beantragt. Er
spricht Englisch, durchsetzt mit prägnanten deutschen Worten wie „Strafe“,
„kaputt“ und „Landkreis“. Systematisch Deutsch zu lernen, dazu hatte er
keine Gelegenheit. Für einen Kurs im nahen Karlsruhe bekam er keine Ver­
lassenserlaubnis. „They said no, because I have too many Strafe.“

Im Treppenhaus der Sammelunterkunft hängt ein ‚Hygieneplan‘. 27 Personen


sind darauf gelistet, höchstens 15 seien immer anwesend, meint Kebba
Kxxxxx. Seine Zimmergenossen sind auch nicht da. Zum Glück, denkt man,
denn wie sich vier Erwachsene hier aufhalten sollen, ist schleierhaft. Das Zim­
mer ist eng und stickig. Zwei Etagenbetten finden nur knapp Platz jeweils
links und rechts vom Fenster. Zwischen den Metallgestellen steht ein Sessel,
ein Zweisitzer, ein Couchtisch. Damit ist das Zimmer so voll, dass man sich
kaum darin bewegen kann. Eine Nasszelle ragt in den Raum. Vier Metall-
Spinde stehen an der gegenüberliegenden Wand und ein Kühlschrank hat
Platz neben der Zimmertür. Das ist alles. Einen anderen Aufenthaltsraum gibt
es nicht.

Im Parterre sind die Kochstellen. Man durchquert den ehemaligen Gastraum,


in dem Sportgeräte stehen und Kinderwagen. Unter schweren Gardinen geht
der Blick durch trübes Glas über eine große leere Veranda in den Wald. Hier
gab es einmal Sonnenschirme und Kännchenkaffee. Die ehemalige Hotelkü­
che wirkt wie ausgeweidet. Entlang der Wände stehen Metallgestelle, auf
denen Pressspanplatten liegen. Einige haben sich durch Feuchtigkeit aufge­
worfen. Die drei Kochplatten und der Herd wirken verloren in dem großen
Raum. Über der Spüle die Reste eines Hängeschrankes, ohne Türen, ohne
Einlegeböden, ohne Inhalt. Ein Salatsieb steht vergessen in dem sonst gänz­
lich von Utensilien freien Raum, der eigentümlich trostlos wirkt. Schwer vor­
stellbar, dass hier Menschen etwas so elementar Sinnliches tun wie kochen!
Drei Mal in der Woche gibt es Lebensmittelpakete: Mehl-, Zucker- und H-
Milch-Pakete stapeln sich auf dem Eisschrank in Kxxxxxx Zimmer. Davon
hat er viel zu viel, anderes fehle ihm, so dass er gerade eine befriedigende
Mahlzeit aus einem Paket bereiten könne, berichtet er bitter. Einmal in der
Woche wird Bargeld ausgezahlt: zehn Euro für Erwachsene, fünf für Kinder.
Reportagen ■ 19

Bei der Ankunft bekommt jeder eine Karte des Landkreises mit den Grenzen,
die ohne Genehmigung nicht überschritten werden dürfen. Holzbachtal liegt
am Rande des baden-württembergischen Enzkreises. Sechzig Meter hinter
dem Sammellager verläuft die Landkreisgrenze durch den Wald. Der nächste
größere Ort, Marxzell, liegt im Nachbar-Landkreis, in dem der Aufenthalt
ohne Ausnahmegenehmigung verboten ist. Von Marxzell aus fährt eine S-
Bahn die 19 Kilometer nach Karlsruhe, wo es ausländische Zeitungen, Inter­
net und Beratungsangebote gäbe. Es wäre nicht weit, aber beides, die Fahrt
durch den Nachbarlandkreis, wie auch der Aufenthalt in der kreisfreien Stadt
Karlsruhe ist verboten.

Die größte Stadt im Enzkreis ist Pforzheim. Sie liegt 20 Kilometer entfernt
von Holzbachtal und ist die Kreisstadt, in der sich auch die zuständige Aus­
länderbehörde befindet. Verwaltungstechnisch gehört Pforzheim aber nicht
zum Landkreis, sondern ist wie Karlsruhe kreisfrei. Ohne Sondergenehmi­
gung darf Kebba Kxxxxx hier nur zur Behörde. Will er etwas anderes in
Pforzheim tun, so muss er zunächst auf direktem Weg zur Behörde und die
Erlaubnis für den Aufenthalt in der Stadt beantragen. Nur wenn er sie
bekommt, kann er sich für den genehmigten Zeitraum dort frei bewegen.

Außer Karlsruhe und Pforzheim gibt es noch eine größere Stadt in der Nähe,
Mühlacker. Mühlacker liegt im gleichen Landkreis, aber von Holzbachtal aus
gesehen hinter Pforzheim. Dort kennt Kebba Kxxxxx Landsleute. Um dort­
hin zu gelangen, muss er in Pforzheim umsteigen. Legal geht das nur, wenn er
zunächst mit dem Bus die zwanzig Kilometer nach Pforzheim fährt, zur Aus­
länderbehörde geht und die Erlaubnis beantragt, in Pforzheim nach Mühla­
cker umsteigen zu dürfen. Wenn er in Mühlacker über Nacht bleiben will, und
der Beamte erst die Zieladresse überprüft, dauert es ein paar Tage mit der
Entscheidung. Dann muss er zurückfahren, warten bis die Genehmigung
kommt, um dann wieder los zu fahren, vorausgesetzt, er hat noch Geld für
den Bus. Eine Fahrt nach Pforzheim und zurück kostet sieben Euro.

Absurd? Ohne Frage, aber keine Ausnahme. Es gibt viele solche Transitstre­
cken im Nachwende-Deutschland.

Die Entscheidung, ob und wann jemand zusätzlich zu den wenigen Ausnah­


men, die das Gesetz vorsieht, den Landkreis verlassen darf, trifft die Auslän­
derbehörde. Nach welchen Kriterien erläutert ihr Leiter Herr Müller auf Nach­
frage: „Wir entscheiden einzelfallbezogen. Wenn wir nicht den Eindruck
20 ■ Residenzpflicht

haben, jemand reist in der Weltgeschichte herum, um zum Beispiel Drogen zu


verkaufen, sind wir großzügiger. Wir lassen das dann schon mal zu, dass
jemand den Landkreis verlässt, um Verwandtschaft oder einen Freund zu
besuchen. Das Gesetz verlangt einen ganz besonderen Grund, aber den hat
man ja normalerweise nicht. Nur jemanden besuchen zu wollen, das wäre kein
besonderer Grund. Das Gesetz ist ja ganz streng.“

Kebba Kxxxxx entflieht dem Holzbachtal immer wieder ohne Genehmigung.


Erst ein Jahr ist er in dem ehemaligen Hotel im Wald, als er mit einem langen
Strafregister zu der Haftstrafe verurteilt wird. Das passt nicht zu seinem
Selbstverständnis, nicht zu seiner Biografie. „Ich habe nie im Leben gestoh­
len. Ich habe immer gearbeitet und für meine Familie gesorgt. Ich arbeite
gerne. Ich brauche niemandes Eigentum“, sagt der 42-Jährige. „Wenn man
aber einem Menschen nicht erlaubt zu arbeiten und ihm kein Geld gibt, dann
wird er etwas unternehmen. Ich habe eine Packung Zigaretten gestohlen, den
Zug und Bus nicht bezahlt, wenn ich eine dringende Verabredung hatte und
kein Geld, um hier wegzukommen. Und wenn man mit Erlaubnis fahren will,
dann musst du vier oder sogar sieben Tage vorher wissen, ob du eine Verab­
redung hast. Also fährst du ohne, und dann kommt die Polizei und gibt dir
eine Strafe.“

Die Strafbefehle, die er bekommt, legt er einen auf den anderen und ver­
drängt sie. Eine anwaltliche Vertretung hat er nicht, wovon sollte er sie bezah­
len, und die unabhängigen Beratungsangebote in Karlsruhe kann er wieder
nur mit behördlicher Erlaubnis nach dem beschriebenen bürokratischen Akt
wahrnehmen. Als ihm schließlich die Haftstrafe droht, bekommt er eine
Pflichtverteidigerin. Die Anwältin Johanna Maier hat häufig Asylsuchende
gegen drohende Haftstrafen zu verteidigen, die in ihrer Akte bis zu 40 Straf­
sachen haben. Schwarzfahren, kleine Ladendiebstähle und Verstoß gegen die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung – eine lange Liste von Bagatelldelikten.
„Mich wundert das nicht“, meint sie ähnlich wie Kxxxxx selbst, „denn die
Leute haben kein Geld, und da ist die Versuchung groß, wenn sie mal eine
neue Hose brauchen oder eine andere Kleinigkeit, sich das zu klauen. Und
dass sie gegen die Residenzpflicht verstoßen, ist vorprogrammiert, wenn sie
derart isoliert untergebracht sind.“

Es gibt viele Kontrollen auf den Bahnhöfen, in den Zügen und Bahnen.
Auch auf den Straßen. Es trifft alle, die eine dunkle Haut haben, nicht nur die
Flüchtlinge. Afrikanische Studenten, die in Karlsruhe studieren, wandten sich
Reportagen ■ 21

schon Hilfe suchend an das Menschenrechtszentrum in der Stadt, weil sie auf
einem einzigen Gang durch die Fußgängerzone von der Universität bis zum
anderen Ende der Innenstadt bis zu drei Mal kontrolliert wurden.

„Sie sagen, du könntest ein Illegaler sein, weil du eine dunkle Haut hast“, weiß
Kebba Kxxxxx und berichtet von Taschendurchsuchungen nach dem Zeigen
der Papiere. Ihm ist es noch nicht passiert, aber anderen Asylsuchenden und
Geduldeten schon mehrfach: Alles Bargeld über 40 Euro wurde konfisziert.
Mit einem Nachweis, dass das Geld rechtmäßiger Besitz sei, könne man es
sich wieder abholen, hieß es. Auch das Menschenrechtszentrum kennt solche
Fälle.

Dass Leute nicht arbeiten dürfen, dass sie gezwungen werden, vom Staat
Almosen anzunehmen, das will Kxxxxx nicht in den Kopf. „Die Gesellschaft
kann dir nicht helfen, wenn du so rumsitzen musst, und deinen Teil nicht bei­
tragen kannst. Das alles kostet viel Geld, diese Asylheime, die Leute, die uns
die Lebensmittel bringen. Das ist überflüssig. Im Gefängnis darfst du arbei­
ten, warum hier nicht?“ Die Unsinnigkeit, das vordergründig Irrationale die­
ser Politik und die widersprüchlichen Reaktionen der Umwelt greifen zusätz­
lich zum Wahnsinn dieses eingefrorenen Lebens den Verstand an. „Wenn du
etwas zum Essen stiehlst oder den Landkreis verlässt, und sie erwischen dich,
sagen sie, du bist ein Dieb, ein Krimineller. Aber wenn du ihnen diese ganzen
Probleme erzählst, sagen sie: ‚Oh, das tut mir aber leid!‘ Sie bringen dich ins
Gefängnis und sagen: ‚Sorry, wir wissen, es ist hart, aber Sie dürfen so etwas
nicht tun!‘ Das ist doch nicht richtig.“

Wie Kebba Kxxxxx, so gibt es einige Flüchtlinge aus Gambia, denen Angelika
von Loeper vom Menschenrechtszentrum in Karlsruhe Chancen auf eine
Asyl-Anerkennung einräumt. Trotzdem ist sie skeptisch, denn: „Wir beobach­
ten öfter, dass in dem Moment, in dem auch die Behörde feststellen muss,
hier gelten die Kriterien des Asylrechts und hier müssen wir sie auch anwen­
den, plötzlich irgendwelche Gründe angeführt werden, um zum Beispiel Ver­
fahren liegen zu lassen. Oder es gibt gleich die Verordnung eines Entschei­
dungsstopps aus dem Bundesministerium mit der Begründung, die Situation
in diesen Herkunftsländern könnte sich ja bald ändern.“ Es gibt Flüchtlinge,
die zehn Jahre und länger unter solchen Bedingungen leben müssen.
22 ■ Residenzpflicht

Plauen, Sachsen
Wer den Bahnhof betritt, macht sich schon verdächtig

Die vierjährige Diana ist der


Shooting-Star der tschetscheni­
schen Familie Mxxxxx. „Unsere
Jüngste ist die Einzige, die reisen
darf“, erklärt ihr ältester Bruder,
der 18-jährige Suleiman, den Witz
dieser Absurdität sichtlich genie­
ßend, und verbeugt sich vor der
kichernden Schwester. Er darf es
nach wie vor nicht, erzählt er.
Gestern erst hat er die Gelegen­
heit verpasst, zu einem Wett­
kampf mit nach Brandenburg zu
fahren. Suleiman ist im Kampfsportverein. Donnerstag erfuhr er, dass er in
der Wettkampfliste nachgerückt ist. Sein Trainer hat etwas für die Ausländer­
behörde geschrieben, aber die hat freitags zu, also ist der Verein am Wochen­
ende ohne ihn gefahren.

Diana thront auf dem riesigen Sofa zwischen ihren Eltern, die von dem Dorf
bei Grosny erzählen, in dem Zairan Mxxxxxx Melkerin und ihr Mann Scherip
Traktorist war. Ihrem Asylantrag ist nach fünf Jahren Verfahren stattgegeben
worden, aber der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat einen Beru­
fungsantrag gestellt. „Die Begründung ist so abwegig, dass es offensichtlich
ist, die rechtskräftige Anerkennung soll, wie so oft, verschleppt werden“,
meint der Anwalt Bernward Ostrop. „Es kann Jahre dauern, bis die Anerken­
nung durch die nächste Instanz bestätigt wird.“ Diana kam auf die Welt, als
die Familie schon ein Jahr in Deutschland war. Als ihr Asylantrag gestellt
wird, ist das Amt des Bundesbeauftragten gerade abgeschafft worden. Des­
halb bleibt sie anerkannter Flüchtling, darf sich frei bewegen, bekommt den
normalen Sozialhilfesatz und Bargeld, der Rest der sechsköpfigen Familie
nicht.

Seit 2003 spielt sich das Leben der Mxxxxxs zwischen dem unteren und dem
oberen Bahnhof des hügeligen Plauen ab. Plauen ist das Zentrum des sächsi­
schen Vogtlandkreises. Bis August 2008 war die Stadt kreisfrei, und um das
Reportagen ■ 23

Stadtgebiet herum eine unsichtbare Grenze, die nur Flüchtlinge kannten, weil
nur sie sie einhalten mussten. Wer einen der zwei Bahnhöfe betrat, bekundete
bereits die Absicht, den zugewiesenen Bezirk zu verlassen, wer ohne Verlas­
senserlaubnis in einen Zug stieg, hatte sich schon strafbar gemacht. Frau
Mxxxxxx ist mehrmals aus dem Zug geholt und angezeigt worden. Die Vier­
zigjährige trägt ein nach hinten gebundenes Kopftuch, nicht streng musli­
misch, die Haare bedecken die Stirn, und trotzdem sieht sie fremd genug aus
für die Bahnpolizei, die sie schnell als eine identifizierte, die in keinen Zug
steigen darf. „Sie haben mich dann noch zweimal unterwegs erwischt“, erzählt
sie mit einem Lächeln zwischen Verschwörung und Verlegenheit. Beschä­
mend sei es, wenn die Beamten kommen, die Personalien aufnehmen, einen
aus dem Zug weisen.

Im Juli 2007 bekommt sie einen Bescheid von der Ausländerbehörde. Sie sei
eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik
Deutschland, steht darin, und deshalb sowie aus „spezialpräventiven Grün­
den“ werde sie ausgewiesen. Vorgeworfen werden ihr vier Verstöße gegen die
räumliche Beschränkung und zwei Ladendiebstähle „geringwertiger Sachen“.
„Es liegt daran, dass ich kein Deutsch konnte. Ich konnte nichts erklären“,
meint sie, die sich immer noch nicht vorstellen kann, dass es bei der Bewer­
tung der Verstöße gegen die räumliche Beschränkung auf Motive nicht
ankommt. Gegen die Ausweisung hat sie mit ihrem Anwalt Widerspruch ein­
gelegt.

Die Aktion der Behörde ist überzogen, aber nicht einzigartig, und Zairan
Mxxxxxxx Geschichten sind typisch: Der Einkauf mit einer Zimmernachba­
rin, sie benutzen einen Einkaufswagen gemeinsam. Kurz vor der Kasse merkt
Frau Mxxxxxx, dass sie etwas vergessen hat und geht zurück. Die Nachbarin
kommt an die Kasse, zahlt ihre Waren und schiebt die von Frau Mxxxxxx
unbezahlt weiter. Die beiden können sich nicht erklären. Das Ergebnis:
gemeinschaftlich begangener Diebstahl. Als sie mit der jüngsten Tochter
Diana schwanger war und ins Krankenhaus musste, hat sie tatsächlich einen
Strampler mitgehen lassen. Gefährlich für die Bundesrepublik.

Die Verwandten im Vogtlandkreis könnte sie heute ohne Verlassenserlaubnis


besuchen. Solange Plauen kreisfrei war, brauchte sie aber eine Genehmigung
und die Behörde hat nur drei Tage in der Woche geöffnet. Es gibt auch Ver­
wandte in Berlin und in Schleswig-Holstein. Wenn Mxxxxxs wegen der weiten
Strecke mehre Tage dorthin fahren wollen, müssen die Verwandten dafür eine
24 ■ Residenzpflicht

aktuelle Meldebescheinigung besorgen. Davon will die Behörde eine Kopie,


bevor sie die Erlaubnis erteilt. Für die Verwandten ist das mühselig und für
Mxxxxxs unangenehm.

Mxxxxxs sind die Einzigen in Plauen, die tschetschenisch sprechen. Außer


mit einer russischen Familie im Heim und mit den Russlanddeutschen, mit
denen sie nichts verbindet, können sie mit niemandem in einer ihrer vertrau­
ten Sprachen sprechen. „In Plauen interessiert sich nur die Polizei für uns“,
erzählt Herr Mxxxxx lachend. Er möchte gerne arbeiten und dabei besser
Deutsch lernen. „Es ist anstrengend, immer zu Hause zu sein und zu sitzen“,
sagt er, „man bekommt viele Probleme.“ Er hat eine Stelle gefunden, müsste
aber auf Montage gehen. Dafür bekommt er keine Verlassenserlaubnis, und
eine andere Arbeit findet er nicht. Er unterliegt ja weiter der Vorrangprüfung.

Anfangs waren sie froh, überhaupt irgendwo unter zu kommen. Sie wohnten
zu fünft in einem Zimmer der Sammelunterkunft in der ehemaligen Kranken­
station einer alten russischen Kaserne. Heute haben sie eine Vier-Zimmer-
Wohnung. Herr Mxxxxxx Arzt hat dafür gesorgt. Wegen einer schweren
Kriegsverletzung am Kopf war der Lärm in der Enge des Heimes für ihn die
Hölle. Nebenan wohnt eine alte Frau, die mit ihnen Deutsch spricht. Von der
Küche aus kann man den oberen Bahnhof sehen. Zu Fuß ist man in fünf
Minuten dort und könnte überallhin fahren.

Uckermark, Brandenburg
„Gefährlicher Straftäter gefasst!“ - oder: Der unbedingte
Wille zu kriminalisieren

Ein kurzer Brief erzählt die ganze schäbige Geschichte von der Alltäglichkeit
diskriminierender Polizeikontrollen. „Sehr geehrter Herr El Hxxx, wir führen
zurzeit gegen Sie polizeiliche Ermittlungen“, beginnt das Schreiben. Der Vor­
wurf: Verweigerung der Identitätsfeststellung und Verstoß gegen die räumli­
che Aufenthaltsbeschränkung. „Am 29.12.07 um 15 Uhr wurden Sie auf dem
Bahnhof Prenzlau angehalten und kontrolliert. Erst nach mehrmaliger Auf­
forderung händigten Sie ein Schreiben des Bürgermeisters von Prenzlau
zwecks Identitätsfeststellung aus. Aufgrund eines fehlenden Lichtbildes war
das jedoch nicht möglich. Nach erneuter Aufforderung legten Sie eine Dul­
dung vor. Gegen 15 Uhr 45 wurden Sie im IC 2352 auf Höhe des Bahnhofs
Reportagen ■ 25

Chorin (Landkreis Barnim) erneut angehal­


ten und kontrolliert. Nach mehrmaliger
Aufforderung legten Sie die Duldung vor.
Nachdem Sie aufgefordert wurden, den
Zug zu verlassen, legten Sie eine Erlaubnis
zum Verlassen des Landkreises Uckermark
vor.“

Was ist passiert? In Prenzlau befindet sich


die „Sammelunterkunft für Asylbewerber“
des Landkreises Uckermark. Auf dem
Bahnhof wartet der sudanesische Flücht­
ling El Hxxx auf den Zug. Es kommen
Polizeibeamte und fordern von ihm, sich
auszuweisen. Er tut es, aber widerwillig. 45
Minuten später wird er von den gleichen
Beamten erneut kontrolliert. Diesmal kurz hinter der Landkreisgrenze im Zug
nach Berlin. Ob sie ihm gefolgt sind, in der Erwartung, ihm ein illegales
Übertreten der Landkreisgrenze nachweisen zu können, bleibt unserer Fanta­
sie überlassen. Der Kontrollierte, man kann auch sagen: der Schikanierte,
weist sich wieder unwillig aus, aber er hat alle nötigen Papiere, um legal in den
nächsten Landkreis zu fahren. Das ist auch den Beamten nicht entgangen. Sie
dokumentieren es sogar in dem Schreiben, um dann allerdings nicht nachvoll­
ziehbar fortzufahren: „Somit besteht der Verdacht des Begehens einer Straftat
nach § 95 Abs. … sowie eine Ordnungswidrigkeit nach § 98 Abs …“

El Hxxx hat nie wieder etwas von dieser absurden Geschichte gehört, aber sie
bringt ihn immer noch auf: „Zwei Kontrollen hintereinander! Welcher Deut­
sche würde das akzeptieren? Kein normaler Mensch akzeptiert so was. Wenn
ich solche Sachen erzähle, sagen die Leute: Das ist unglaublich, das kann nicht
stimmen! Aber wenn ich unterwegs bin, treffe ich immer einen Polizisten.
Kontrolle, Ausweis, Kontrolle, Ausweis. Ich habe oft gefragt, warum sie das
so machen. Kontrollen sollten für die Sicherheit von jemandem sein, für die
Sicherheit von einem Land. Das Volk muss etwas davon haben. Aber sie kon­
trollieren, nicht weil jemand gestohlen hat, nicht weil sie Leute schützen wol­
len. Du kannst ein polnischer Verbrecher, ein gefährlicher Deutscher sein,
aber du bist weiß: keine Kontrollen. Sie kommen immer nur zu dir. Sie kom­
men wirklich wegen der Hautfarbe, wegen des Aussehens. Das ist dumm,
auch für die Polizei selbst!“
26 ■ Residenzpflicht

Die Uckermark ist der flächenmäßig größte Landkreis der Bundesrepublik,


eine dünn besiedelte Region im äußersten Nord-Osten Brandenburgs. In
Richtung Berlin grenzt die Uckermark an den Landkreis Barnim. An dieser
Grenze ist ohne Sondergenehmigung die legale Welt für Flüchtlinge, die der
Uckermark zugewiesen wurden, zu Ende.

Als Folge der europäischen Abschottungspolitik kommen kaum noch Schutz­


suchende ins Land, und in den Kreisen werden die Lager zusammengelegt.
Die letzte Sammelunterkunft in der Uckermark liegt am Stadtrand von Prenz­
lau, zwanzig Meter vom Ortsausgangsschild entfernt, mit der verheißungsvol­
len Adresse „Berliner Straße“. An jedem ersten Mittwoch im Monat, wenn die
Sozialhilfe in Form von Warengutscheinen und maximal 40 Euro Bargeld aus­
gezahlt wird, ist das Lager voll, denn wer an diesem Tag nicht erscheint, wird
abgemeldet. An anderen Tagen trifft man hier höchstens zehn Prozent der
angemeldeten BewohnerInnen. Das Wohnen im Heim und die Isolation in
der Stadt sind unerträglich, sagen sie. Fast alle haben mehrere Bußgeldbe­
scheide, Strafbefehle oder Gerichtsvorladungen wegen Verstoßes gegen die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung. Die Erlaubnis, den Landkreis zu verlas­
sen, gebe es längstens für einen Tag, wird beklagt. Aber sie können sich
höchstens ein Zugticket im Monat leisten, also fahren sie ohne Erlaubnis, und
alle erzählen die gleiche Geschichte: Die ersten Kontrollen gibt es immer im
Zug kurz hinter der Landkreisgrenze, bevorzugt an besagtem ersten Mitt­
woch.

Die Sammelunterkunft in der Berliner Straße war früher Wehrmachtskaserne,


dann Internierungslager für Kriegsgefangene, später sowjetische Kaserne. In
langen, düsteren Fluren mit endlos hohen Wänden herrscht die beklem­
mende Atmosphäre alter Anstalten. Für das Gespräch mit El Hxxx schließt
der Heimleiter den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss auf. Der Raum ist gelb
gestrichen, und jemand hat sich bemüht, mit üppigen Vorhängen und Wohn­
zimmerdekoration Gemütlichkeit in das unwirtliche Gebäude zu bringen.

El Hxxx floh in der zweiten Phase des Bürgerkrieges aus dem Sudan nach
Deutschland und wurde im Verteilungsverfahren Prenzlau zugewiesen.
„Wenn du einen Urlaubsschein beantragst, fragen sie auf dem Amt: Habt ihr
zu viel Geld, dass ihr rumreisen müsst? Warum wollt ihr immer weg? Das ist
eine gute Frage. Die Antwort sind die Statistiken. Ausländer werden hier
angegriffen. Selbst wenn du noch kein Deutsch verstehst, siehst du es an den
Gesichtern, an den Gesten, hörst, wie aggressiv sie mit dir sprechen. Und
Reportagen ■ 27

gegenüber vom Heim, an der Bushaltestelle, da standen immer viele Nazis.


Als ich 2003 hierher kam, kannte ich das schon aus Eisenhüttenstadt, auch
dass Leute angegriffen werden, hatte ich da schon erlebt. Wenn du vorher
weißt, du wirst geschlagen, musst du an einem solchen Ort bleiben? Muss ich
mein Auge in der Uckermark lassen?“ 2003 flieht El Hxxx Prenzlau nach den
ersten zwei Monaten, fährt zu einem Landsmann nach Mannheim, verliert
nach einiger Zeit seinen Aufenthaltsstatus und bringt eine lange Odyssee hin­
ter sich, bis er schließlich mit einem neuen Asylantrag wieder in Prenzlau lan­
det.

Im Aufenthaltsraum gibt es gelegentlich Deutsch-Unterricht von Ehrenamtli­


chen. „Wir möchten keine Gutscheine mehr benutzen“, steht an einer Tafel.
Es gibt gerade eine Initiative gegen die Gutscheine. Sie können nur in weni­
gen Geschäften eingelöst werden, und vieles darf man damit nicht kaufen,
nur ‚Waren für den täglichen Bedarf‘. Das Prozedere ist kompliziert. Man hält
den Verkehr an der Kasse auf, zieht sich den Unmut der Verkäuferin und der
anderen Kunden und Kundinnen zu. Diese Art einzukaufen ist demütigend.
Alles, was nur mit Bargeld bezahlt werden kann, muss von den monatlichen
40 Euro bestritten werden. Auch die Geldstrafen wegen unerlaubten Verlas­
sens des Landkreises. Nicht selten sind es Beträge von 500 Euro und mehr,
die in Fünf- oder Zehn-Euro-Raten abgezahlt werden, und nicht selten sind
monatlich mehrere Raten zu zahlen. „Jeder weiß, dass die Gutscheine umge­
tauscht werden. Diese Leute kommen hierher, wenn Zahltag ist, geben den
Flüchtlingen 70 Prozent vom Wert in Bargeld, und gehen mit einem Packen
Gutscheine Zigarettenstangen und Alkohol kaufen. Alle wissen das. Alle
machen mit. Es ist ein Spiel mit uns. Aber wenn wir gegen Regeln verstoßen,
sind wir Verbrecher“, sagt er und zeigt einen Ausschnitt aus der Lokalzeitung,
den Polizeibericht vom 19. April 2008, überschrieben mit „Bundespolizei
fasst gesuchten Straftäter“: „Bei Kontrollen auf dem Angermünder Bahnhof
konnten Bundespolizisten Donnerstagnacht einen gesuchten Straftäter fest­
nehmen. Bei dem Mann handelt es sich um einen 34 Jahre alten Sudanesen,
der wegen Vergehen gegen das Ausländergesetz von der Staatsanwaltschaft
Landau in der Pfalz gesucht wurde, um eine Restersatzstrafe von 17 Tagen zu
verbüßen. Bei der Durchsuchung des Mannes fanden die Beamten 0,8
Gramm Marihuana. Der Mann muss nun in die JVA Wulkow seine Reststrafe
28 ■ Residenzpflicht

absitzen. Zudem wurde gegen ihn Anzeige wegen des Verdachts des Versto­
ßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet.“7

„Warum erwähnen sie 0,8 Gramm Marihuana? Sie müssen wissen, dass fünf Gramm
legal sind! Sie wollen uns unbedingt zu Kriminellen machen!“ Die 17 Tage Haftstrafe
hat er abgesessen, inhaftiert zusammen mit rechten Szenegängern und Kame­
raden, auch solchen, die wegen Überfällen auf Leute wie ihn verurteilt wur­
den. El Hxxx war der einzige Dunkelhäutige in der JVA. Sein Vergehen: ein
offenes Bußgeld für einen unerlaubten Aufenthalt in der Pfalz.

7 Polizeibericht im Uckermark-Kurier, Prenzlauer Bote v. 19.4.2008.


Das Gesetz


Buchstabe und Charakter des Gesetzes

„Die Regelungen zeichnen sich durch Restriktionen


vielfältiger Art aus, die der Beschleunigung des Ver­
fahrens dienen, vor allem aber – zusammen mit anderen
„flankierenden“ Maßnahmen – abschreckend auf potentielle
Asylbewerber wirken sollen.“
(Kommentar zum Ausländerrecht, Renner 2005)

Wer in Deutschland Asyl beantragt, wird nach


einem festgelegten Schlüssel auf die Bundes­
länder verteilt. Wo jemand hin gerät, entschei­ • Zum 31. Dezember 2008 lebten in
det ein computergesteuertes Verteilsystem Deutschland 33.295 Asylsuchende
und 104.945 Menschen mit Dul­
nach Kriterien, auf die die Betroffenen keinen dungsstatus. Sie alle unterlagen
Einfluss haben. Jedes Bundesland hat eine der räumlichen Beschränkung. Die
zentrale Aufnahmestelle. Hier finden das Auf­ gesetzlichen Regelungen finden
nahmeverfahren und die Anhörung statt. Von sich im Asylverfahrensgesetz und
im Aufenthaltsgesetz.
da aus werden die Flüchtlinge nach einigen
Wochen weiter auf die Sammelunterkünfte in • Die Bearbeitungsdauer der Asyl­
den Kreisen verteilt. Während des Anerken­ verfahren, die im Jahr 2007 abge­
nungsverfahrens, das zwischen sechs Monaten schlossen wurden, betrug im
Durchschnitt siebzehn Monate.
und mehreren Jahren dauern kann, erhalten Die längsten Laufzeiten waren 10
die Asylsuchenden eine Aufenthaltsgestattung. Jahre und mehr, die kürzesten 6
Darin steht unter anderem, dass sie sich nur Monate.
in diesem Kreis aufhalten dürfen.
(Angaben des Bundesamtes für Migration
Außer der Bundesrepublik gibt es in der EU und Flüchtlinge)
nur vier weitere Länder, die Asylsuchenden
verbieten, den Ort, an dem sie das Asylverfahren abwarten, selbst zu wählen.
Das Verbot, dieses zugewiesene Gebiet während des gesamten Verfahrens
ohne eine Sondergenehmigung zu verlassen, ist einmalig in der EU.
Im Folgenden hilft der Kommentar zum Ausländerrecht von Günter Renner
(2005) dabei, das Gesetz zu erläutern. Dieser Kommentar, der die Absicht des
Gesetzgebers sowie Grundsatzurteile reflektiert, ist eines der Standardwerke,
die von Behörden und Gerichten zur Gesetzesauslegung genutzt werden. Es
30 ■ Residenzpflicht

geht zunächst um das Asylverfahrensgesetz, die Regelungen im Aufenthalts­


gesetz, das für Geduldete gilt, entsprechen diesem weitgehend.

§§ § 56 Räumliche Beschränkung
(1) Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der
Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme
des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.

Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung ist von ihrem Charakter her ein


Gebietsarrest. Im Kommentar von Renner heißt es:8

Gemeint ist nicht der gewöhnliche Aufenthalt, bei dem man zeitweilig abwesend sein kann,
sondern der Aufenthalt schlechthin. Jedes vorübergehende Verlassen ist grundsätzlich
unzulässig. Es kommt auf Dauer und Zweck nicht an. Also fällt auch kurzfristiges Ver­
lassen des Aufenthaltsbezirks, selbst wenn es sich als dringlich und notwendig erweist, unter
diese Vorschrift und ist somit strafbar, falls es nicht gesetzlich oder behördlich erlaubt ist.

Von dieser strengen Anwesenheitspflicht sieht der Gesetzgeber Ausnahmen


vor. Die Gründe, Ausnahmen überhaupt zuzulassen, verdeutlichen noch ein­
mal den extrem restriktiven Charakter des Gesetzes.

Die Einengung des Aufenthaltes auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt den
Aufenthalt in einer Art und Weise, die nicht nur privaten, sondern auch öffentlichen
Belangen zuwider läuft, weil die administrativen Grenzen oft nicht mit dem natürlichen
Lebensraum übereinstimmen. Daraus resultiert die Ausnahmegenehmigung: öffentliches
Interesse. Die anderen Ausnahmeregelungen zielen darauf ab, die Beschränkung von Frei­
zügigkeit erträglich und sachgerecht zu gestalten, um sie als verfassungsgemäß ansehen zu
können. Gerade die Ausnahmeregelungen belegen den Willen des Gesetzgebers zur grund­
sätzlich vollständigen Durchsetzung der Pflicht zur ausnahmslos ständigen Anwesenheit im
zugewiesenen Aufenthaltsbereich.

8 Im Folgenden sind alle kursiv gesetzten Passagen von Renner übernommen, mit
kleinen sprachlichen Veränderungen, um den Text für juristisch nicht Vorgebildete
lesbarer machen.
Das Gesetz ■ 31

§§ § 58 Verlassen eines zugewiesenen Aufenthaltsbereichs9


(1) Die Ausländerbehörde kann einem Ausländer (…) erlau­
ben, den Geltungsbereich der Aufenthaltsgestattung vorüber­
gehend zu verlassen oder sich allgemein in dem angrenzen­
den Bezirk einer Ausländerbehörde aufzuhalten. Die
Erlaubnis ist zu erteilen, wenn hieran ein dringendes öffentli­
ches Interesse besteht, zwingende Gründe es erfordern oder
die Versagung der Erlaubnis eine unbillige Härte bedeuten
würde. Die Erlaubnis bedarf der Zustimmung der Auslän­
derbehörde, für deren Bezirk der allgemeine Aufenthalt zuge­
lassen wird.
(2) Zur Wahrnehmung von Terminen bei Bevollmächtigten,
beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
und bei Organisationen, die sich mit der Betreuung von
Flüchtlingen befassen, soll die Erlaubnis erteilt werden.
(3) Der Ausländer kann Termine bei Behörden und Gerich­
ten, bei denen sein persönliches Erscheinen erforderlich ist,
ohne Erlaubnis wahrnehmen.

Die Ausnahmen, in denen die Erlaubnis, den Bezirk zu verlassen, erteilt wer­
den soll oder in denen gar keine Erlaubnis erforderlich ist, regelt das Gesetz
in den Absätzen 2 und 3 selbst. Die Begriffe „öffentliches Interesse“, „zwin­
gender Grund“ und „unbillige Härte“ sind Rechtsbegriffe, die einer Ausle­
gung bedürfen, aber gerichtlich überprüfbar sind. Es gibt Ausführungsbestim­
mungen des Bundes und auch spezifische von einigen Bundesländern, die
zum Vergleich in einer Tabelle im Anhang zu finden sind. Außerdem wird den
Ausländerbehörden ein Ermessensspielraum über diese Bedingungen hinaus
zugestanden.

Seit Januar 2005 hat sich einiges verändert. Im Januar trat das neue Zuwande­
rungsgesetz in Kraft, in das die Normen der Europäischen Aufnahmerichtli­
nie eingeflossen sind. Dadurch gibt es jetzt einen Rechtsanspruch auf die
Erteilung einer Erlaubnis, wenn die Kriterien „zwingender Grund“ und Ver­
meidung „unbilliger Härte“ erfüllt sind. Außerdem können die Ausländerbe­
hörden einzelnen Personen dauerhaft den Aufenthalt in einem anderen Land­
kreis gestatten, wenn die dortige Ausländerbehörde dem zustimmt. Bisher

9 Auf § 57, der sich auf die ersten Wochen in den zentralen Aufnahmestellen bezieht,
wird an anderer Stelle eingegangen.
32 ■ Residenzpflicht

haben nur die Innenministerien von Schleswig-Holstein und Niedersachsen


und der Berliner Senat auf die Gesetzesänderung reagiert. Darauf und auf
die Frage, wie Ausländerbehörden mit Ermessenspielräumen umgehen, wird
im zweiten Teil der Broschüre eingegangen. Hier geht es exemplarisch um die
Auslegung der Ausnahmetatbestände „zwingender Grund“ und „unbillige
Härte“, um den willkürlichen Charakter deutlich zu machen, der diesen Rege­
lungen trotz aller Definitionsbemühungen anhaftet.

Zwingende Gründe in der Kommentierung von Renner: Ob ein subjektiver


Wunsch einen objektiv zwingenden Grund abgibt, ist aufgrund einer Interessensabwägung
zu entscheiden. Der Grund muss objektiv von erheblichem Gewicht und für den Asylbewer­
ber besonders bedeutsam sein; seiner Anerkennung dürfen Sinn und Zweck der aufenthalts­
beschränkenden Maßnahmen nicht entgegenstehen.

Sinn und Zweck der Maßnahmen sind in der politischen Absicht des Gesetz­
gebers unter anderem, den Aufenthalt während des Asylverfahrens zur
Abschreckung von Antragstellern und Antragstellerinnen so unangenehm wie
möglich zu gestalten. Das heißt, die Restriktion ist auch Selbstzweck, sie
erfüllt ihren Sinn und Zweck schon darin, dass sie Menschen Beschränkungen
auferlegt. Dieser Geist spricht auch aus folgendem Urteil des Verwaltungsge­
richtes Leipzig: „Ein Asylbewerber hat keinen Anspruch darauf, dass ihm die
zuständige Behörde eine Verlassenserlaubnis des Bereiches seiner räumlichen
Beschränkung zur wöchentlichen Teilnahme an einem Gottesdienst in der
Nachbargemeinde erteilt. Eine Erlaubniserteilung würde letztlich dazu füh­
ren, dass vergleichbare Wünsche bei einer Vielzahl anderer Asylbewerber als
zwingender Grund anzuerkennen wären, mit der untragbaren Folge, dass tat­
sächlich oder auch nur angeblich religiös interessierte Asylbewerber nahezu
beliebig im Bundesgebiet umherreisen könnten, wann immer passende Veran­
staltungen stattfinden. Insoweit würde die Gefahr entstehen, dass die im Asyl­
verfahrensgesetz normierte Aufenthaltsregelung durch missbräuchliche Beru­
fung auf religiöse Gründe ausgehebelt wird.“10

In einigen Bundesländern gilt allerdings der Besuch eines muttersprachlichen


Gottesdienstes per Erlass als zwingender Grund. Ein zwingender Grund ist
zum Beispiel auch der Besuch eines Familienangehörigen, aber nur bei schwe­
rer Krankheit. Auch Beerdigungen oder Hochzeiten sind zwingende Gründe.

10 VG Leipzig, Urteil vom 23.6.2005, Az. A 3 K 30099/05.


Das Gesetz ■ 33

Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist es nicht, es sei denn, spezielle Fertig­
keiten gehen ohne Übung unwiederbringlich verloren. Die Beteiligung an
Sportveranstaltungen von Vereinen zum Beispiel soll nach Renner kein zwin­
gender Grund sein, außer wenn die Erlaubnis hierfür im Rahmen einer Schul­
veranstaltung beantragt wird.

Grundsätzlich gilt: Eine Erlaubnis ist generell nur zu erteilen, wenn das vor­
getragene Bedürfnis nicht im verordneten Aufenthaltsbereich befriedigt wer­
den kann. Der zwingende Grund muss die Erlaubnis erfordern. Das ist dann nicht der
Fall, wenn ihm auch anderweitig unschwer Rechnung getragen werden kann. So kann ein
Asylbewerber unter Umständen auch im Aufenthaltsbezirk eine politische oder kirchliche
Veranstaltung besuchen, eine Operation vornehmen lassen oder sich mit Familienangehöri­
gen treffen.

Ein weiterer Grund für die Versagung der Erlaubnis sind unerwünschte Aus­
wirkungen auf das Asylverfahren. Regelmäßig wird mit dem Verweis auf
mögliche Nachfluchtgründe die Erlaubnis, politische Veranstaltungen zu
besuchen, verweigert. Renner problematisiert den Zusammenhang wie folgt:

Eine besonders sorgfältige Bewertung erfordern politische Aktivitäten. Sie sind einerseits
durch Art. 5 I GG geschützt u. nach Maßgabe des § 47 AufenthG erlaubt, andererseits
wegen der Gefahr der Schaffung nachträglicher Asylgründe unerwünscht. Als verständlich,
aber nicht gleichzeitig zwingend erscheint in der Regel der Wunsch nach Teilnahme an einer
politischen Veranstaltung außerhalb des Aufenthaltsbezirkes. Er kann als zwingend ange­
sehen werden, wenn der Asylbewerber ohne die begehrte Teilnahme seine politische Meinung
nicht weiterbilden und äußern könnte; wenn Engagement und politische Vergangenheit des
Asylbewerbers sowie erhebliche Veränderungen im Heimatstaat die Teilnahme als ganz
gewichtig erscheinen lassen; wenn sich Spitzenfunktionäre zu einer gewichtigen Konferenz
treffen.

In einem Runderlass der Landesregierung Niedersachsen von November


2005 hieß es lapidar: „Für die Teilnahme an Demonstrationen soll grundsätz­
lich keine Verlassenserlaubnis erteilt werden, um die Schaffung von Nach­
fluchtgründen zu verhindern. Die damit mittelbar verbundenen Einschrän­
kungen ihrer Meinungsfreiheit sind hinzunehmen.“11

11 Runderlass des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom


14.10.2005, 45.11-12235/N 55/1 (MBl. 16.11.2005),
34 ■ Residenzpflicht

Unbillige Härten entstehen dann, wenn die persönlichen Interessen der


Asylsuchenden im Verhältnis zum Zweck der Aufenthaltsbeschränkung auf
unangemessen schwere Weise eingeschränkt werden. Beispiele sind Klassen­
fahrten, Verwandtenbesuche und gelegentliche Reisen nach „langer Verfah­
rensdauer“.

§§ § 58 (6) Ausnahme per Rechtsverordnung der Landesre­


gierungen
Um örtlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen, können die
Landesregierungen durch Rechtsverordnung bestimmen,
dass sich Ausländer ohne Erlaubnis vorübergehend in einem
die Bezirke mehrerer Ausländerbehörden umfassenden
Gebiet aufhalten können.

Die Rechtsverordnung ermächtigt die Länder, das Aufenthaltsgebiet zu ver­


größern, wenn die für Asylbewerber verbindlichen kommunalen Grenzen mit
der Lebenswirklichkeit nicht übereinstimmen. Einige Bundesländer haben
davon Gebrauch gemacht und Aufenthaltsgebiete vergrößert. Dazu unten
mehr.

§§ § 59 Durchsetzung der räumlichen Beschränkung


(1) Die Verlassenspflicht nach § 12 Abs. 3 des Aufenthaltsge­
setzes kann, soweit erforderlich, auch ohne Androhung
durch Anwendung unmittelbaren Zwangs durchgesetzt
werden. Reiseweg und Beförderungsmittel sollen vorge­
schrieben werden.
(2) Der Ausländer ist festzunehmen und zur Durchsetzung
der Verlassenspflicht auf richterliche Anordnung in Haft zu
nehmen, wenn die freiwillige Erfüllung der Verlassenspflicht
(…) nicht gesichert ist und andernfalls deren Durchsetzung
wesentlich erschwert oder gefährdet würde.
(3) Zuständig für Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2
sind
1. die Polizeien der Länder,
2. die Grenzbehörde, bei der der Ausländer um Asyl nach­
sucht,
3. die Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich der Auslän­
der aufhält,
Das Gesetz ■ 35

4. die Aufnahmeeinrichtung, in der der Ausländer sich


meldet, sowie
5. die Aufnahmeeinrichtung, die den Ausländer aufgenom­
men hat.

Die Durchsetzung: Durch die räumliche Beschränkung werden alle Kreise


außerhalb des zugewiesenen quasi zum Ausland, die Verlassenserlaubnis zu
einer Art Visum. Wer sich in unerlaubtem Gebiet aufhält, wird im Extremfall
behandelt wie ein Mensch ohne Papiere und in „Verbringungshaft“, eine Art
Abschiebehaft genommen, um später von Polizeibeamten zur zuständigen
Ausländerbehörde transportiert zu werden. Die Kosten für die Zwangsmaß­
nahme muss, wie bei der Abschiebung ins Ausland auch, die „zwangsver­
brachte“ Person tragen. Auf Seite 104 ist ein solcher Fall dokumentiert. Die­
ser Ablauf ist eher die Ausnahme, regelmäßig werden aber von der Polizei die
Ausweispapiere eingezogen, um die Betroffenen zur Rückkehr zu zwingen.

Die Ausländerbehörden erhalten mit dem Gesetz Polizeibefugnisse. Dass


einer Ordnungsbehörde polizeiliche Gewalt verliehen wird, sei ungewöhnlich,
schreibt Renner, aber nicht unstatthaft. Sie kann die Erfüllung der diesen Stellen
sonst obliegenden Aufgaben beeinträchtigen, ist aber durch Bundesgesetz regelbar.

§§ § 85 Sonstige Straftaten
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird
bestraft, wer wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung
zuwiderhandelt.

§ 86 Bußgeldvorschriften
(1) Ordnungswidrig handelt ein Ausländer, der einer Aufent­
haltsbeschränkung nach § 56 zuwiderhandelt.
(2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu
zweitausendfünfhundert Euro geahndet werden.

Die Strafen: Die Sanktionierung der Verstöße gegen die räumliche Aufent­
haltsbeschränkung ist die einzige Ordnungswidrigkeit im deutschen Rechts­
system, bei der aus der Wiederholung eine Straftat wird. Es handelt sich um
eine opferlose Tat, ein Verhalten, das niemandem schadet und überhaupt als
Straftat nur existiert, weil und so lange es den Willen gibt, es zu verfolgen.
36 ■ Residenzpflicht

Das Aufenthaltsgesetz

Die Mehrheit der von diesen Restriktionen Betroffenen sind Geduldete, und
von diesen wiederum sind die meisten Flüchtlinge, die nicht oder nicht mehr
im Asylverfahren und „vollziehbar ausreisepflichtig“ sind. Das heißt, sie sind
nach der engen Definition des deutschen Asylrechts und der vielen Verfah­
renshürden nicht als asylberechtigt anerkannt worden, können aber aus huma­
nitären oder administrativen Gründen nicht abgeschoben werden. Dazu
gehören Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen, genauso wie Men­
schen, die aufgrund ihrer kulturellen, religiösen oder ethnischen Zugehörig­
keit verfolgt werden. Sie unterliegen dem seit 2005 geltenden Aufenthaltsge­
setz. Die räumliche Beschränkung ist in den Paragrafen 12 und 61 geregelt.
Es gelten die gleichen Ausnahmeregelungen wie für Asylsuchende beschrie­
ben. Erst mit dem neuen Gesetz wurde der wiederholte Verstoß gegen die
Beschränkung auch für Geduldete zur Straftat erklärt (geregelt in § 95 Aufent­
haltsgesetz).

Der Aufenthalt für Geduldete ist laut Gesetz auf das Bundesland beschränkt.
Viele Ausländerbehörden engen den Bewegungsraum per Auflage weiter ein,
auf den Landkreis oder, wenn sie verstärkt Druck auf die Betroffenen aus­
üben wollen, um sie zur „freiwilligen“ Ausreise zu bewegen, sogar auf die
Kommune. Sowohl in den Ausländerbehörden, als auch bei den Amtsgerich­
ten und sogar in vielen Beratungsstellen wurde lange davon ausgegangen, dass
auch der wiederholte Verstoß gegen diese Auflagen strafbar ist. Nach mehre­
ren Urteilen von Oberlandesgerichten hat 2009 der Bundesgerichtshof klar­
gestellt, dass nur der wiederholte Verstoß gegen die gesetzliche Beschränkung
auf das Bundesland als Straftat geahndet werden darf. Verstöße gegen die
weitergehenden Auflagen der Ausländerbehörde bleiben auch im Wiederho­
lungsfall Ordnungswidrigkeiten.12

Statt Grundrechten „Urlaubsscheine“


Bei Flüchtlingen und in den Behörden heißt die Verlassenserlaubnis „Urlaub­
schein“. Angesichts der Restriktion hat man tatsächlich den Eindruck, die
Erlaubnis, sich aus dem Kreisgebiet zu entfernen, sei eine Art ‚Hafturlaub‘.
Selbst wer einen Landkreis verlassen darf, kann sich nicht beliebig frei im

12 BGH 1 StR 381/08 – Beschluss vom 17.2.2009 (OLG Bamberg).


Das Gesetz ■ 37

Bundesgebiet bewegen. Die Erlaubnis ist zweckgebunden: Die Zieladresse


wird auf dem Schein vermerkt und die Geltungsdauer, oftmals bis auf die
Stunde genau. Alle Vorhaben außerhalb des Kreises müssen begründet wer­
den, denn das zentrale Element des ganzen Erlaubnis-Regelwerkes ist, dass
der Grund von der Behörde bewertet wird. Dazu gehört auch, dass sie den
Grund für glaubwürdig hält. Wer einen Schein bekommen will, um jemanden
zu besuchen, muss sämtliche Kontaktdaten angeben: Name, Geburtsdatum,
Adresse. Mitunter wird eine Kopie von Personalausweis, Pass oder Meldebe­
stätigung der besuchten Person verlangt. Es gibt keine Spontaneität, keinen
Schutz der Privatsphäre, keine freie Gestaltung der persönlichen oder politi­
schen Kontakte.

„Ein Urteil jenseits der Realität“. Die räumliche Aufent­


haltsbeschränkung vor dem Bundesverfassungsgericht

Seit ihrer Einführung wird die sogenannte Residenzpflicht von Verbänden,


politischen Initiativen, Flüchtlings- und Bürgerrechtsorganisationen scharf
kritisiert und ist auch in der parlamentarischen Arena umstritten. Die Frei­
heitsbeschneidung läuft nicht nur einem subjektiven Rechtsempfinden zuwi­
der und kollidiert mit elementaren Wertvorstellungen, sie verstößt auch gegen
internationale Konventionen, zuallererst gegen die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte. In Artikel 13 heißt es: „Jeder hat das Recht, sich innerhalb
eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen.“ Wird
die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, so wirkt sich das auch auf die Möglich­
keit aus, andere Rechte wahrzunehmen, insbesondere auf Artikel 27: „Jeder
hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen“
und Artikel 20: „Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versam­
meln und zu Vereinigungen zusammenzuschließen.“

Den Menschenrechten wird da, wo sie von der Absichtserklärung zur Norm
staatlichen Handelns werden sollen, regelmäßig die Möglichkeit der Ein­
schränkung zur Seite gestellt, etwa „zum Schutz der nationalen Sicherheit, der
öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit …“, wie es im Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte heißt. Der Maßstab für die Legiti­
mität einer Einschränkung sind ihr Ziel und ihr Zweck, also zum einen die
Frage, ob die Notwendigkeit gegeben ist, und zum anderen die Verhältnismä­
ßigkeit auch in Hinblick darauf, welche anderen Rechte durch die Einschrän­
38 ■ Residenzpflicht

kung nicht mehr wahrgenommen werden können. Das betrifft auch die
Grundrechte im Grundgesetz.

In den 1980er Jahren gab es bereits zwei Versuche des Hattinger Amtsgerich­
tes, die räumliche Aufenthaltsbeschränkung vom Bundesverfassungsgericht
überprüfen zu lassen, die an der Zulassungshürde scheiterten. 1992 erreichte
schließlich das Kirchhainer Amtsgericht, dass eine Vorlage zur Überprüfung
angenommen wurde. Der damalige Jugendrichter Werner Schwamb sollte einen
afghanischen Asylbewerber in einem Jugendstrafverfahren wegen wiederhol­
tem Verstoß gegen die räumliche Beschränkung verurteilen, hatte dabei aber
verfassungsrechtliche Bedenken. Insbesondere war er der Meinung, dass die
Vorschrift13 wie auch die Strafbarkeit des Verstoßes dagegen dem Artikel 2,
Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 1 sowie dem Verhält­
nismäßigkeitsgrundsatz widersprechen.

§§ Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzli­
chen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage
jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der
Gerechtigkeit in der Welt.

Artikel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt
und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)

Der Fall: Der afghanische Jugendliche kam als unbegleiteter minderjähriger


Flüchtling nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Während des Asyl­
verfahrens verließ er seinen Landkreis und besuchte in Frankfurt am Main
Freunde aus seiner Heimat, obwohl ihm bekannt war, dass er nicht ohne
besondere Genehmigung dorthin reisen durfte. In Darmstadt wurde er von
der Bahnpolizei kontrolliert. Dorthin war er von Frankfurt aus gefahren, weil

13 In der damals geltenden Fassung des AsylVfG von 1991 die §§ 19, 20, 25, 34, 35.
Das Gesetz ■ 39

er eine Arbeitsmöglichkeit in einer Pizzeria in Aussicht hatte. In der Haupt­


verhandlung brachte der Angeklagte vor, im räumlichen Bereich seiner Auf­
enthaltsgestattung finde er keine Arbeit und habe dort auch keine Freunde.
Außerdem habe er in Frankfurt ein hinduistisches Gebetshaus besuchen wol­
len. Die Vorschrift, gegen die der Angeklagte mit seiner Reise verstoßen habe,
so die Meinung des Kirchhainer Amtsgerichts, verstoße ihrerseits gegen die
Menschenwürde, und die freie Entfaltung der Persönlichkeit werde in ihrem
Wesensgehalt angetastet.

Aus der Argumentation: Der Angeklagte hatte nach mehr als eineinhalb
Jahren noch keine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten. Auf die für
einen jungen Menschen notwendigen Freiheiten, insbesondere auf Reisen zu
Freunden, musste er allein wegen seiner Eigenschaft als Asylbewerber ver­
zichten. Unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer seien die Aufenthaltsbe­
schränkungen nicht länger zu rechtfertigen, weil sie zwischenmenschliche
Kontakte unnötig behinderten. Sie stellten sich weitgehend als Schikanen dar,
denn auch wenn man den Umstand berücksichtige, dass der Aufenthalt ledig­
lich zur Durchführung des Asylverfahrens diene, werde in natürliche Rechte
unbescholtener Menschen unverhältnismäßig eingegriffen.

Wenn zur Rechtfertigung der Aufenthaltsbeschränkung auf den hohen Anteil


unberechtigter Asylanträge verwiesen wird, denen durch diese und andere
Maßnahmen der Aufenthaltsgestaltung entgegengewirkt werden soll, so sei
eine solche „Generalprävention“ eindeutig verfassungswidrig. Es sei kein
sachlicher Grund dafür erkennbar, dass möglicherweise berechtigte Asylbe­
werber nur zur Abschreckung anderer nicht unerhebliche Freiheitsbeschrän­
kungen hinnehmen müssen. Auch sei völlig unwahrscheinlich, dass der Abbau
von Anreizen durch Grundrechtsbeschränkungen bei der heutigen politischen
Weltlage den Flüchtlingsstrom nach Deutschland beeinflussen könne.

Zu einem reibungslosen Ablauf des Asylverfahrens und der jederzeitigen


Erreichbarkeit der Asylbewerber könnten die Aufenthaltsbeschränkungen
nicht beitragen. Es sei nicht ersichtlich, warum ein Asylbewerber monatelang
in einem Landkreis verharren soll, um auf eine Nachricht der Behörde zu
warten. Seine jederzeitige Erreichbarkeit lasse sich durch weniger einschnei­
dende Maßnahmen sichern. Sofern der Asylbewerber tatsächlich untertauchen
wolle, könne er daran durch die Beschränkung seines Aufenthalts auf einen
Landkreis nicht gehindert werden. Asylbewerber, die durch Doppelanmeldun­
40 ■ Residenzpflicht

gen mehrfach in den Genuss von Sozialhilfe kommen wollen, machten sich
anderweitig strafbar.

Mit den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmeregeln könne den berechtigten


Belangen der Asylbewerber nicht ausreichend Rechnung getragen werden.
Denn für die Erteilung von Ausnahmeerlaubnissen könnten nur zwingende
Gründe oder unbillige Härten berücksichtigt werden. Diese Regelungen wür­
den zudem in der Praxis restriktiv gehandhabt.

Selbst wenn man die Ordnungsvorschrift des Paragrafen in der maßgeblichen


Fassung noch für verfassungsgemäß hielte, verstoße ihre Durchsetzung mit
den Mitteln des Strafrechts gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Gerade
angesichts der Erfahrungen mit dem Unrecht der früheren DDR dürften
Zuwiderhandlungen gegen Reisebeschränkungen, insbesondere das bloß vor­
übergehende Verlassen eines Landkreises oder Regierungsbezirks, mit Blick
auf die Menschenwürde nicht unter Strafe gestellt werden. Deshalb sei
zumindest die Strafbewehrung mit dem Grundgesetz unvereinbar.

Der Beschluss:14 Das Bundesverfassungsgericht stellt fünf Jahre später, am


10. April 1997, fest, dass die überprüften Vorschriften mit dem Grundgesetz
vereinbar wären.

Aus der Argumentation: Das Bundesverfassungsgericht verweist zunächst


auf die Entstehungsgeschichte: „Die Regelungen (…) sind Teil eines Bündels
von Maßnahmen, mit denen der Gesetzgeber auf das Ansteigen der Asylbe­
werberzahlen seit Mitte der 70er Jahre reagiert hat. Einer räumlichen
Beschränkung der Aufenthaltsgestattung maß der Gesetzgeber besondere
sicherheits- und ordnungspolitische, aber auch sozial- und arbeitsmarktpoliti­
sche Bedeutung zu.“ Bezweckt sei eine ständige Erreichbarkeit zur Verfah­
rensbeschleunigung, die gleichmäßige Verteilung der Lasten auf Länder und
Kommunen und die Vermeidung unerwünschter Konzentration von Asylbe­
werbern in den großstädtischen Zentren.

„Die genannten Zwecke“, so das Gericht weiter, „lassen sich nicht durch mil­
dere Mittel genauso wirksam erreichen.“ Die unterschiedliche Behandlung
von kurzem, vorübergehendem Verlassen und längerfristiger Abwesenheit sei

14 BVerfG, 2 BvL 45/92, BVerfGE 96, 10 (10).


Das Gesetz ■ 41

in der Praxis nicht zu überwachen, und eine Meldepflicht, bei der alle mit dem
Verfahren befassten Stellen über den Aufenthalt informiert würden, erfordere
einen zu hohen Verwaltungsaufwand. „Für die anderen Ziele, die mit dem
Gesetz verfolgt werden, gilt: Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit
seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erfor­
derlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder
jedenfalls erreichbar ist; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.“

Damit erklärt das Bundesverfassungsgericht das Gesetz zunächst für zweck­


dienlich. Außerdem kommt es zu dem Schluss, die mit dem Gesetz einherge­
henden Grundrechtseinschränkungen seien zumutbar und den damit verfolg­
ten Zielen angemessen, also verhältnismäßig. „Anhaltspunkte dafür, dass eine
wirksame Durchsetzung schützenswerter persönlicher Interessen der Asylbe­
werber (…) von vorneherein entscheidend erschwert oder gar unmöglich
gemacht wird, sind nicht ersichtlich.“ Mit der Vermeidung „unbilliger Härte“
könne die Ausländerbehörde in ausreichendem Maße auf die besonderen
Umstände des jeweiligen Falles angemessen reagieren.

Es hat dem Gesetzgeber bescheinigt, er


habe sich innerhalb seines Einschätzungs-
„Ein Urteil jenseits der und Beurteilungsspielraums bewegt. Das
Realität“ ist zu wenig. Karlsruhe hätte zumindest
den Zeigefinger heben müssen. Schließlich
Das Karlsruher Ja zur Beschränkung der hat sich die Lage seit 1992 gerichtsbekannt
Reisefreiheit von Asylbewerbern ist jeden­ verändert: Die Zahl der hier lebenden
falls in einem Punkt falsch: im Zeitpunkt. Asylbewerber ist deutlich zurückgegangen,
Zum einen ist der zugrundeliegende, die rechtlichen Hürden sind (mit Karlsru­
zutiefst ehrenwerte Vorlagebeschluss eines her Billigung) dramatisch höher.
Amtsgerichts schon sage und schreibe Geblieben ist das menschliche Elend.
fünf Jahre alt. Zum anderen fällt die Ent­ Nach wie vor leben Freunde und Ver­
scheidung in eine Zeit, in der lebensge­ wandte, auf die Asylbewerber besonders
fährdende Brände in Asylbewerberheimen, angewiesen sind, oft außerhalb des zuge­
wie jetzt in Friedrichshafen, Dresden und wiesenen Kreises. Das Gericht schließt aus
Essen, wieder zunehmen. Je größer die der Existenz von Ausnahmeregeln für Rei­
Angst vor Anschlägen ist, desto schlimmer segenehmigungen, dass schon alles seine
empfinden Asylbewerber ihre „räumlichen Ordnung haben wird. Nach der Praxis
Beschränkungen der Aufenthaltsgestat­ fragt es nicht. Und auch nicht nach den
tung“ auf einen Bezirk als bedrohliche Nöten eines Amtsrichters, der Menschen
Gefangenschaft. wegen wiederholten Reisens einsperren
Das Bundesverfassungsgericht hat sich muss. Ein seltsam kühler Karlsruher
wieder einmal im wesentlichen auf das Beschluss. (ker)
Referieren der kraft Staatsraison bestehen­
den Gründe einer Maßnahme beschränkt. Süddeutsche Zeitung v. 5.6.1997
42 ■ Residenzpflicht

Bleibt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Bestrafung. Dazu wird aus­
geführt: „Das Strafrecht wird (…) eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten
über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für
das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinde­
rung daher besonders dringlich ist“, um dann festzustellen, der wiederholte
Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung erfülle diese Kriterien. Zur
Begründung wird angeführt, die Bestrafung diene dem öffentlichen Interesse,
die Konzentration von Asylbewerbern an bestimmten Orten zu unterbinden
und sicherzustellen, dass „sie sich jederzeit zur Verfügung der Behörden und
Gerichte halten“. „Die strafrechtliche Sanktion ist zur Durchsetzung der ver­
folgten Zwecke nicht nur geeignet und erforderlich; auch der Verhältnismä­
ßigkeitsgrundsatz ist nicht verletzt.“

Interview mit Werner Schwamb


Werner Schwamb ist Richter am Oberlandesgericht in Frankfurt/Main, Mit­
glied der Neuen Richtervereinigung und ehemaliger Jugend- und Familien­
richter am Amtsgericht Kirchhain.

1992 haben Sie die Überprüfung der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung beim Bundes­
verfassungsgericht beantragt. Fünf Jahre hat es bis zur Entscheidung gedauert. In der Zwi­
schenzeit war das Asylverfahrensgesetz neu gefasst und parlamentarisch verabschiedet wor­
den. Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung war vollständig übernommen worden. Nur
die Artikel hatten eine andere Nummer erhalten...

… und das Gesetz war verschärft worden. Die Ausnahmegründe für Asylbe­
werber in Aufnahmezentren wurden eingeschränkt.

Sie haben die zwischenzeitliche Neufassung genutzt, um die Regelung ein Jahr nach dem
ersten Karlsruher Beschluss noch einmal zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorzulegen.15

Ja, in diesem zweiten Fall handelte es sich um einen jungen Kurden, der straf­
rechtlich nie in Erscheinung getreten war, aber – nach einem vorangegange­
nen Bußgeldverfahren – anlässlich eines Wochenendbesuchs bei Verwandten
in Kassel angetroffen wurde, obwohl sein Aufenthalt auf den Regierungsbe­
zirk Gießen beschränkt war. Seit vier Jahren lebte der junge Mann unter den

15 BVerfG, 2 BvL 2/98 vom 26.1.1999.


Das Gesetz ■ 43

Bedingungen der räumlichen Beschränkung. Er hatte keine Gelegenheit, vor


diesem Besuch eine Verlassenserlaubnis zu beantragen, so dass er tatsächlich
seine Interessen nicht legal realisieren konnte. Hier bestand also die Möglich­
keit, das Gericht noch einmal mit seiner Behauptung zu konfrontieren, der
unantastbare Bereich privater Lebensgestaltung sei nicht beeinträchtigt.

Karlsruhe hat die erneute Vorlage nicht angenommen.

Es lag nahe, dass das Bundesverfassungsgericht auf seinen Beschluss von


1997 verweisen würde, weil der Inhalt des Gesetzes trotz neuer parlamentari­
scher Verabschiedung fast gleich geblieben war. Ich bin aber auch heute noch
der Auffassung, die ich damals in der Begründung der erneuten Vorlage ver­
treten habe, dass es sich um Willkür und Schikane handelt, weil das Gesetz
den angegebenen Zwecken nicht dient. Es ist sachlich nicht einzusehen,
warum der Angeklagte in diesem Fall ins 70 Kilometer entfernte Wetzlar rei­
sen durfte, dort möglicherweise über längere Zeit nicht erreichbar gewesen
wäre, aber im 10 Kilometer entfernten Schwalmstadt nicht einmal kurzzeitig
einkaufen gehen durfte. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts
bei der ersten Vorlage ist nicht überzeugend. Warum eine bloße Abmelde­
pflicht einen höheren Verwaltungsaufwand auslösen soll als die komplizierte
Ausnahmeerlaubnispraxis, ist vom Bundesverfassungsgericht nicht nachvoll­
ziehbar begründet worden. Und schließlich: die Asylverfahren wurden durch
diese Auflagen offensichtlich nicht beschleunigt.

Das wird von anderen auch so gesehen. Im Gemeinschaftskommentar zum Asylverfahrens­


gesetz wird eine „zwingende innere Rechtfertigung“ für die räumliche Aufenthaltsbeschrän­
kung in Frage gestellt.

Auch in der Politik ist das so. Ich habe während meiner Zeit als Jugendrichter
immer wieder die Gelegenheit genutzt, auf das Problem hinzuweisen. Sowohl
die ehemalige Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, als auch die rechtspoliti­
sche Sprecherin des grünen Koalitionspartners haben mir damals bestätigt,
dass sie zumindest die Strafbarkeit nicht für sinnvoll halten, haben dann aber
beide auf den jeweils anderen Koalitionspartner verwiesen, der bei einer
Abschaffung der Strafvorschrift mitwirken müsse. Später wollte sich auch
Frau Zypries des Problems annehmen. Warum diese Vorschrift in der Zeit der
rot-grünen Koalition dennoch nicht abgeschafft wurde, ist für mich nicht
nachvollziehbar.
44 ■ Residenzpflicht

Sie schreiben in der Begründung für die erneute Vorlage, es sei gerade auf dem Hinter­
grund der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts „in einem freiheitlichen Rechts­
staat schlicht nicht mehr hinnehmbar, dass die zur Überprüfung gestellte Strafvorschrift
dennoch mit dem Grundgesetz vereinbar sein soll.“

Der Gesetzgeber legt fest, was als strafbare Handlung gelten soll und was
nicht. Dabei hat er einen weiten Ermessensspielraum, der nur durch die Ver­
fassungsgrundsätze begrenzt wird, deren Einhaltung vom Bundesverfassungs­
gericht kontrolliert wird. Das Karlsruher Gericht leitet seine Argumentation
damit ein, dass das Strafrecht nur eingesetzt werden soll, wenn ein bestimmtes
Verhalten nicht nur verboten ist, sondern auch besonders schädlich und uner­
träglich für die Gesellschaft. Wenn aber höchstrichterlich bescheinigt ein
äußerst geringfügiges Ordnungsunrecht wie das bloße Übertreten von Kreis-
oder Bezirksgrenzen ohne behördliche Erlaubnis als „in besonderer Weise
sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen uner­
träglich“ gelten kann und die Anwendung des Strafrechtes verhältnismäßig
sein soll, dann ist kaum noch ein Fall denkbar, in dem das Bundesverfassungs­
gericht den Ermessensspielraum des Gesetzgebers kontrollieren könnte. Die
Definition der Sozialschädlichkeit wird hier so stark relativiert, dass das
Gericht im Bereich des Strafrechts einen Schutz des freiheitlichen Rechtsstaa­
tes nicht mehr gewährleisten kann.

Sehen Sie eine Chance in einer erneuten Verfassungsprüfung?

Ich bin heute nicht mehr für solche Verfahren zuständig, von daher kann ich
das aktuell nicht einschätzen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht im
Jahr 2004 die Verfassungsbeschwerde eines Verurteilten zurückgewiesen mit
dem bloßen Hinweis auf seine Entscheidung vom 10. April 1997 und sie
damit bekräftigt. Und leider hat der daraufhin angerufene Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte den nach meiner Auffassung ganz offen­
sichtlichen Zirkelschluss der Instanzgerichte gebilligt. Ich halte es aber nach
wie vor für einen Akt der politischen Kultur, gerade zu den diesjährigen 20-
Jahr-Feiern des Falls der Mauer zumindest die Strafvorschrift des § 85 Nr. 2
AsylVfG mit einem einfachen Federstrich zu entfernen und damit Richter in
ganz Deutschland nicht mehr länger zu zwingen, Menschen alleine dafür zu
bestrafen, dass sie über unsichtbare innerdeutsche Grenzen fahren.
Das Gesetz ■ 45

Der Straßburger Zirkelschluss. Die Beschwerde beim


Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Im Jahr 2000 findet in Jena zum ersten Mal ein bundesweiter Flüchtlingskon­
gress statt. Allein mit der bloßen Absicht, sich bundesweit zu treffen, ist
schon eine Konfrontation mit dem Gesetz vorprogrammiert. Viele Flücht­
linge bekommen keine Erlaubnis, ihren Landkreis zu verlassen, andere, die
sich darüber hinwegsetzen, werden auf dem Weg von der Polizei kontrolliert
und angezeigt. Aus dieser Situation heraus bildet sich ein „Ad- hoc-Komitee
des zivilen Ungehorsams gegen das Residenzpflicht-Gesetz“.

Im Rahmen der bundesweiten Kampagne führt der nigerianische Flüchtling


Sunny Omwenyeke in den folgenden Jahren eine Klage gegen seine Verurteilung
durch alle gerichtlichen Instanzen. Seine Beschwerde gegen das Gesetz landet
schließlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er
beruft sich dabei auf das Recht auf Freizügigkeit, das in Artikel 2 des Vierten
Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ver­
brieft ist: „Jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates auf­
hält, hat das Recht, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu
wählen.“ Hier geht die EMRK weiter als das deutsche Grundgesetz, in dem
das Recht auf Freizügigkeit an die Staatsangehörigkeit gebunden ist. In Arti­
kel 11 des Grundgesetzes heißt es: „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im
ganzen Bundesgebiet.“ In der EMRK handelt es sich dagegen um ein Jeder­
mannsrecht.

Verhandelt wird in Straßburg im November 2007. Entgegen aller Erwartung


kommt der Gerichtshof zu dem Schluss16, die Beschwerde sei „offensichtlich
unbegründet“ und weist sie zurück. Die verblüffende Argumentation: Außer­
halb des zugewiesenen Bezirks habe sich der Beschwerdeführer nicht recht­
mäßig aufgehalten. Das Recht auf Freizügigkeit käme aber nur Personen zu,
die sich „rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates“ aufhalten, und wann ein
Aufenthalt rechtmäßig ist, richte sich nach den nationalen Gesetzen.

Im folgenden Gespräch kommentiert Marei Pelzer, Juristin und rechtspoliti­


sche Sprecherin von Pro Asyl, das Urteil:

16 EGMR, Entscheidung zur Beschwerde Nr. 44294/04 v. 20.11.2007.


46 ■ Residenzpflicht

Frau Pelzer, für Laien scheint dieses Urteil tautologisch: Es beschwert sich jemand dar­
über, dass er sich nicht im gesamten Staatsgebiet frei bewegen darf und dadurch sein Recht
auf Freizügigkeit eingeschränkt wird und bekommt dann zur Antwort, dass dieses Recht
auf Freizügigkeit ihm nur da zusteht, wo es ihm erlaubt wird, sich zu bewegen. Das ergibt
keinen Sinn.

Ja, es ist im Grunde ein Zirkelschluss. Art. 2 des Vierten Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt zunächst einmal Freizügig­
keit, wenn eine Person sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält.
Ausgehend von diesem Grundsatz sind Einschränkungen unter bestimmten
Voraussetzungen möglich – genannt wird z.B. die Verhütung von Straftaten.
Ob solche Einschränkungen verhältnismäßig sind, soll der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei Beschwerden überprüfen. In
unserem Fall geht der EGMR anders vor und sagt: Das Recht auf Freizügig­
keit gelte nicht im gesamten Staatsgebiet, sondern nur innerhalb des Radius,
in dem der Aufenthalt erlaubt wurde. Es wird also nicht geprüft, ob die Ein­
schränkung der Bewegungsfreiheit gerechtfertigt ist. Vielmehr wird dem Staat
die willkürliche Definitionsmacht zugeschrieben, innerhalb welcher örtlichen
Begrenzungen das Menschenrecht auf Freizügigkeit gilt. Begründet wird die­
ser Ansatz unter anderem damit, dass die Europäische Menschenrechtskon­
vention für Ausländer kein Recht auf Einreise und Aufenthalt vermitteln
würde. Dem ist entgegen zu halten, dass die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
und die Rechtmäßigkeit der Residenzpflicht zwei unterschiedliche Fragen
sind. Nach deutschem Recht ist der Aufenthalt eines Asylbewerbers „im Bun­
desgebiet gestattet“ und damit rechtmäßig. Das Recht auf freie Ortswahl wird
erst im nächsten Schritt beschränkt.

Die EGMR-Entscheidung führt zu dem Ergebnis: Für Asylbewerber und


Ausländer gilt das Menschenrecht auf Freizügigkeit nur in dem Rahmen, in
dem es von den staatlichen Organen gewährt wird. Ein Menschenrecht ohne
Gehalt wäre dies. Das kann nicht sein! Es bleibt aber zu hoffen, dass es zu
neuen Verfahren vor dem EGMR kommt und der Gerichtshof seinen Ansatz
überdenkt.

Ein neues Beschwerdeverfahren wäre also sinnvoll?

In jedem Fall. Denn die Entscheidung vom November 2007 berücksichtigt


auch die EU-Richtlinien im Asylbereich noch nicht. Ob unter den Bedingun­
Das Gesetz ■ 47

gen der EU-Richtlinien die Residenzpflicht zu halten ist – damit hat sich der
EGMR noch nicht beschäftigt.

Hinzu kommt das Problem der Strafbarkeit: Ob die strafrechtliche Sanktio­


nierung von Verstößen gegen die räumliche Beschränkung mit den EU-Richt­
linien vereinbar ist, ist mehr als fraglich. Hier wäre eine Entscheidung durch
das Gericht der EU, dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg, notwen­
dig. Es bleibt also zu hoffen, dass dem Menschenrecht auf Freizügigkeit auch
für Asylbewerber noch zum Durchbruch verholfen wird.


Die Abschreckungsdoktrin und ihre Nachwirkungen

„Im Gegensatz zu den anderen Grundrechten ist


beim Asylrecht der überwiegende Teil der institutiona­
lisierten staatlichen Phantasie und der politischen Schöp­
fungskraft darauf gerichtet, auf seine möglichst geringe
Inanspruchnahme hinzuwirken, es durch flankierende Maß­
nahmen aller Art in seiner Wirksamkeit einzuschnüren, wenn
nicht gar hinwegzumanipulieren, soweit es die Verfassungs­
rechtslage irgendwie erlaubt.“
(Wolfgang Zeidler, ehem. Vizepräsident des Bundesverfassungsge­
richts, im Geleitwort zur ersten Ausgabe der Zeitschrift für Auslän­
derrecht und Ausländerpolitik ZAR 1981)

Bevor es im nächsten Kapitel „Die Behörde“ darum geht, wie Bedienstete der
Ausländerbehörden mit der räumlichen Beschränkung umgehen, ist es wichtig
zu sehen, welche „staatliche Phantasie“ bei dieser Regelung am Werk war und
wie sie bis heute wirkt. Darum soll es im Folgenden gehen.

Die räumliche Beschränkung ist Teil des Asylverfahrensgesetzes, das 1982 in


Kraft trat. Vor 1982 war der Aufenthalt von Asylsuchenden zwar auf einen
zugewiesenen Ort beschränkbar, ein kurzfristiges Verlassen aber ohne Weite­
res erlaubt. Der Hintergrund der Einführung der rigiden räumlichen
Beschränkung ist die Asyldebatte in den Jahren 1978-81. Die Flüchtlingszah­
len waren weltweit stark gestiegen. In der BRD hatten sie sich von 1975 bis
1980 verzehnfacht. Vor dem Hintergrund einer medial aufgeheizten und
populistischen Debatte um „Flüchtlingsschwemme“ und „Scheinasylanten“
wurde zum einen die Visumspflicht stark ausgedehnt, um die Einreise zu
48 ■ Residenzpflicht

erschweren. Zum anderen wurde das Asylverfahrensgesetz zur Verfahrensbe­


schleunigung und zur Abschreckung beschlossen. Seine zentralen Elemente:
Einweisung in Sammellager, Arbeitsverbot, Sozialleistungen in Form von
Sachmitteln und räumliche Beschränkung. Es galt als erwiesen, dass der
größte Teil der Asylanträge zu Unrecht gestellt und dieser Missbrauch durch
die abschreckenden Maßnahmen eingedämmt werde.17 Das Thema Asyl
wurde politisch instrumentalisiert und auch in den folgenden Jahren in Wahl­
kämpfen populistisch eingesetzt. Das Asylrecht wurde Zug um Zug soweit
deformiert, dass es seit dem sogenannten Asylkompromiss 1993 faktisch
nicht mehr existiert.

Das moralisch abwegige Kalkül, Flüchtlinge davon abzubringen, vermeintlich


unbegründete Asylanträge zu stellen, indem man sie schikaniert und so einer
Art Härtetest unterzieht, bzw. weitere Flüchtlinge abzuschrecken, indem man
die, die schon da sind, extrem schlecht behandelt, wird heute nur noch selten
zur Begründung der Maßnahmen angeführt, mit denen man Asylsuchenden
das Leben schwer macht.

Es gibt 2009 nur noch wenige Flüchtlinge, die es schaffen, nach Deutschland
einzureisen, und von diesen werden viele nach der Ankunft in die Durchreise­
länder zurückgeschoben. Das Motiv der Abschreckung taugt angesichts der
Zahlen als Begründung für das Drangsalieren nicht mehr. Inzwischen hat die
Bundesregierung außerdem zugegeben, dass ein abschreckender Effekt nicht
nachweisbar ist. „Wissenschaftliche Untersuchungen darüber, welche Motiva­
tionen jenseits der Furcht vor politischer Verfolgung zur Antragstellung von
Asylsuchenden führen, sind der Bundesregierung nicht bekannt“, heißt es im
April 2008 in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zum Asylbewer­
berleistungsgesetz.18 Die Maßnahmen haben sich trotzdem etabliert. Zum
Beispiel wurde die Absenkung des Regelsatzes auf 30 Prozent unter das
gesetzliche Existenzminimum 1993 eingeführt und galt zunächst für das erste
Jahr des Asylverfahrens. Mit jeder weiteren Gesetzesveränderung wurde der
Zeitraum verlängert, zuletzt auf vier Jahre. Die Bundesregierung begründet

17 Interessant ist die unterschiedliche Interpretation des sprunghaften Anstiegs der


Flüchtlingszahlen vor allem in der ersten Jahreshälfte 1980. Je nach politischem Lager
sahen die einen im hohen Anteil türkischer Asylsuchender (60 Prozent) den Beleg
dafür, das Asylrecht werde missbraucht, um den Anwerbestopp zu unterlaufen,
während die anderen auf den türkischen Militärputsch und seine Folgen verwiesen.
18 http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/090/1609018.pdf.
Das Gesetz ■ 49

das in der erwähnten parlamentarischen Anfrage mit „fehlendem Integrati­


onsbedarf von Personen mit ungewisser Aufenthaltsperspektive“, denen ein
„Ausschluss von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“ für 48 Monate
zuzumuten sei (Originalton Bundesregierung). Die Selbstverständlichkeit, mit
der hier für normal erklärt wird, dass eine Personengruppe vier Jahre lang
gesetzlich verordnet in sozialer Isolation leben soll, ist politisch wie moralisch
noch bestürzender als das Abschreckungsmotiv. Wer abschrecken will, hält die
Maßnahmen immerhin noch für unzumutbar und außergewöhnlich.19

Auch die räumliche Beschränkung wird heute fast durchgängig mit adminis­
trativen Interessen wie der ständigen Erreichbarkeit für Behörden und
Gerichte begründet. Schon während der Debatte über den Gesetzesentwurf
1980 kritisierte der Leiter des deutschen UNHCR-Büros, Joachim Henkel: „Zur
Gewährleistung einer geordneten und zügigen Durchführung des Asylverfah­
rens ist eine derart weitgehende Beschränkung der Bewegungsfreiheit des
Asylsuchenden nicht erforderlich.“20 Das Argument, die gleichmäßige Belas­
tung der Länder und Kommunen könne nur durch Einschränkung der Freizü­
gigkeit gewährleistet werden, lässt Henkel gelten, aber ausschließlich in Bezug
auf die Wohnortwahl. Es ist auch bis heute nicht nachvollziehbar, warum eine
Person, die im Landkreis X Sozialhilfe bezieht, durch den Besuch eines
Deutschkurses im Nachbarkreis Y, ein Verwandtschaftstreffen in der Landes­
hauptstadt oder den Einkauf im angrenzenden Bundesland etc. den kommu­
nalen Lastenausgleich gefährden soll. Selbst die Wohnsitzauflage ist mit einem
Lastenausgleich nicht zwingend begründbar. In Brandenburg werden die
Sozialleistungen der Kommunen in den ersten vier Jahren des Asylverfahrens
aus Landesmitteln erstattet, in Mecklenburg-Vorpommern wird das Umlage­
verfahren sogar während der Gesamtdauer der Zahlungen angewendet und
auch bundesweit wäre ein Umlageverfahren denkbar.21

Als Grund für die räumliche Beschränkung der Duldung wird in den Vorläu­
figen Anwendungshinweisen zum Aufenthaltsgesetz angegeben, „das Unter­

19 Die Leistungen, die Asylsuchende und Geduldete erhalten, liegen inzwischen bei der
Hälfte des normalen Regelsatz, weil es seit 1993 keine Erhöhung mehr gegeben hat.
20 Joachim Henkel, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes über das Asylrecht.
ZAR, 2-3/1981, S. 85-95 (S. 90 f.).
21 Für anerkannte Flüchtlinge wurde bereits höchstrichterlich festgestellt, dass eine
Wohnsitzauflage mit der Begründung des Lastenausgleiches nicht zulässig ist – siehe
Urteil BVerwG 1 C 17.07 v. 15.1.2008.
50 ■ Residenzpflicht

tauchen eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers zu erschweren und


die Erfüllung der Ausreisepflicht besser zu überwachen.“ Interessant ist hier
vor allem die Vorstellung, Menschen könnten durch die Androhung einer
Strafe davon abgehalten werden, sich einer Abschiebung zu entziehen, die sie
als Katastrophe für ihr Leben empfinden.22

Die Annahmen, auf denen die Abschreckungspolitik beruht, wirken aber wei­
ter fort. Sie bestimmen maßgeblich die Handlungsweisen der Bediensteten
der Ausländerbehörden und sind der Hintergrund, auf dem ein Ermessen­
spielraum häufig – in manchen Behörden immer – zu Ungunsten der Flücht­
linge ausgelegt wird.

Genereller Missbrauchsverdacht
Die geringe Anerkennungsquote gilt als Beleg dafür, dass die überwältigende
Mehrheit der Asylanträge missbräuchlich gestellt wird. Ende der 1980er Jahre
lebten 300.000 De-facto-Flüchtlinge23 in Deutschland – Flüchtlinge, die nicht
abgeschoben werden konnten, weil ihnen im Herkunftsland Folter und Ver­
folgung drohten oder weil in ihren Ländern Krieg herrschte. Sie alle wurden
in einem auf Abwehr ausgerichtetem Asylverfahren nicht anerkannt. In den
Folgejahren wurde das Asylrecht weiter eingeschränkt, und im Asylverfahren
noch mehr Hürden aufgebaut. Jedes eingeräumte Recht ist in diesem Gefüge
automatisch mit einem Missbrauchsverdacht und entsprechenden Abwehr­
maßnahmen versehen. Derzeit empören sich die Kirchen zum Beispiel dar­
über, dass zum Christentum Konvertierte, die wegen religiöser Verfolgung
Asyl beantragen, einer Glaubensprüfung unterzogen werden. Ähnlich gelagert
ist die Anweisung, für Demonstrationen keine Reisegenehmigung zu erteilen,
damit keine Nachfluchtgründe geschaffen werden können (womit unbeab­
sichtigt zugegeben wird, dass im Herkunftsland politische Betätigung verfolgt
wird). Die hessische Landesregierung gibt als Grund für die räumliche
Beschränkung an: „Mit dieser Vorschrift soll einem etwaigen Missbrauch des

22 Gefragt nach der Anzahl der Strafverfahren wegen Verstoßes gegen die räumliche
Beschränkung heißt es zum Beispiel aus dem brandenburgischen Landkreis Oder-
Spree, dass es bei den meisten Strafverfahren gegen Geduldete zu keiner Verurteilung
komme, weil sie wegen unbekannten Aufenthaltes der Personen eingestellt würden.
23 Tobias Pieper (2008), Das Lager als Struktur bundesdeutscher Flüchtlingspolitik.
Dissertation am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freie Universität
Berlin, S. 68.
Das Gesetz ■ 51

Asylrechts durch einen unkontrollierten Aufenthalt im Bundesgebiet entge­


gengewirkt werden.“24 Worin der Missbrauch beim unkontrollierten Aufent­
halt bestehen könnte, ist nebulös, ebenso in den Anwendungshinweisen des
niedersächsischen Innenministeriums, in denen es heißt, eine Verlassenser­
laubnis sei in den angegebenen Fällen zu erteilen, „außer bei Missbrauchsver­
dacht“. Der Verdacht verweist auf ein weiteres Ressentiment: Der unterstellte
Asylbetrug korrespondiert mit dem Bild der Armutsflüchtlinge, die herkom­
men, um sich zu bereichern.

Genereller Kriminalitätsverdacht
Als gesetzgeberischer Grund für die räumliche Beschränkung wird im
Gespräch mit Behördenangestellten immer wieder die Verhinderung von
Sozialhilfebetrug angegeben. Dabei sind Mehrfachbeantragungen von Sozial­
hilfe durch die (fragwürdige) biometrische Registrierung von Asylsuchenden
schon seit Jahren technisch unmöglich gemacht. Als weiterer Grund wird auf
die Verhinderung von Kriminalität hingewiesen. Dem entspricht auf der
großen politischen Bühne die Behandlung von Flucht und Migration als
sicherheitspolitisches Thema. Die Verknüpfung von Sicherheitsrisiken und
Kriminalität mit Asylsuchenden ist inzwischen fester Bestandteil des landläu­
figen Vorurteil-Repertoires. Dagegen heißt es sowohl im ersten periodischen
Sicherheitsbericht der Bundesregierung im Jahr 2001 als auch im folgenden
2006: „Asylbewerber begingen vorwiegend Bagatelldelikte, nämlich Verstöße
gegen Residenzpflichten oder andere Normen des Ausländerrechts sowie
Delikte aus Armut (Ladendiebstahl, Schwarzfahren) als Reflex ihrer einge­
schränkten Lebensbedingungen.“25

Unter Druck setzen


In der Vorstellung, abgelehnte Asylsuchende hätten keinen anderen Grund,
die Rückreise nicht anzutreten, als den, dass das Leben in Deutschland beque­
mer ist als im Herkunftsland, wird auf Geduldete enormer Druck ausgeübt.
Im Dezember klagte ein seit Jahren geduldeter Äthiopier, der berufstätig war

24 Drs. 17/615 v. 14.10.2008.


25 BMI & BMJ (2006), Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht (Kurzfassung), S. 64 –
abrufbar unter: http://www.bmj.de/enid/Kriminologie/Zweiter_Periodischer_
Sicherheitsbericht_der_Bundesregierung_131.html; siehe auch BMI & BMJ (2001),
Erster Periodischer Sicherheitsbericht, S. 318 ff.
52 ■ Residenzpflicht

und eine eigene Wohnung finanzierte, gegen die Einweisung in ein Lager, die
Verhängung eines Arbeitsverbotes und die räumliche Beschränkung auf die
Gemeinde – lauter Maßnahmen, die die Ausländerbehörde damit begründete,
sie müsse Druck auf ihn ausüben, damit er sich Ausreisepapiere verschafft
und das Land verlässt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, bei dem er
schließlich seine Beschwerde vorlegte, beschloss, es sei nicht nachvollziehbar,
„warum eine Beschränkung (…) auf den Landkreis geeignet sein soll, die
Beschaffung von Heimreisepapieren zu beschleunigen oder effektiver zu
gestalten. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt im
Landkreis und der Beschaffung von Dokumenten ist nicht ohne weiteres
erkennbar“. Solche Regelungen müssten „die verfassungsrechtlichen Vorga­
ben wahren, was insbesondere dann nicht mehr der Fall ist, wenn sie in erster
Linie Sanktionscharakter haben…“26, so die Richter weiter.

Welcher Geist in den Amtsstuben herrscht, zeigt auch die Begründung eines
Kreisamtes für die weitere Belegung einer besonders schrecklichen Unter­
kunft im brandenburgischen Bahnsdorf: „Zweck der gesetzlich vorgesehenen
Form der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ist unter anderem
der, den Asylbewerbern sowohl für ihre eigene Person als auch in Hinblick
auf mögliche künftige Antragsteller vor Augen zu führen, dass mit dem
Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter vor dessen unanfechtbarer
Stattgabe kein Aufenthalt im Bundesgebiet zu erreichen ist…“27

26 Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss 24 CS 06.2958 v. 21.12.2006.


27 Stellungnahme des Landkreises Oberspreewald-Lausitz zur Klage gegen den Umzug
nach Bahnsdorf v. 20.11.2007.
Isolation, Kontrolle und Rassismus
Interview mit Christopher Nsoh, Flüchtlingsinitiative Brandenburg

Der Sozialwissenschaftler Christopher Nsoh kam als Asylsuchender in die BRD, lebte
fünf Jahre mit diesem Status und den Auflagen der räumlichen Beschränkung. Er ist
Mitbegründer der Flüchtlingsinitiative Brandenburg FIB und beschreibt seine Erfahrungen
mit der ‚Residenzpflicht‘ wie folgt:
Dieses Gesetz hat viele negative Auswirkungen, und es hat viele Asylsu­
chende kriminalisiert. Es liefert sie der Willkür von Polizeibeamten aus, weil
man ohne die Verlassenserlaubnis schon durch die bloße Anwesenheit zum
Straftäter wird. Bei Kontrollen machen die Beamten oft, was sie wollen. Ein
Polizist sagt nicht gegen den anderen aus, und bei Gericht wird immer den
Beamten geglaubt.
Sind die Polizeikontrollen das größte Problem?
Die Kontrollen sind ein Aspekt, ein anderer ist die Isolation. Die meisten
Asylsuchenden sind an Orten untergebracht, an denen sie isoliert sind, sei es
im Wald, in der Nähe der Autobahn oder in Gewerbegebieten. Meistens müs­
sen sie aus dem erlaubten Bereich herausgehen, um Leute zu treffen, sowohl
Deutsche als auch Leute aus ihrem Land. Die Angst davor, kontrolliert zu
werden, Strafen zahlen zu müssen oder gar in Haft zu kommen, die Furcht
vor der Polizei, mit der viele schlechte Erfahrungen gemacht haben – all das
isoliert. Die Residenzpflicht ist ein Instrument des Ausschlusses aus der
Gesellschaft und führt zur Entfremdung von ihr.
Wie reagiert die Gesellschaft?
Dieses Gesetz fördert Rassismus in der Gesellschaft. Es führt dazu, dass Poli­
zisten alle fremdländisch aussehenden Menschen für Asylsuchende halten. Zu
allererst fördert es Stereotypen im Kopf der Beamten. Die Kontrollen finden
in der Öffentlichkeit statt, und sie vermitteln Passanten ein sehr ärmliches
Bild von denen, die da kontrolliert werden. Manche bleiben stehen und fra­
gen: „Warum werden Sie kontrolliert?“ Sie haben eine Art Mitleid. Andere
denken: ‚Siehst du, sie werden kontrolliert, also haben sie etwas Kriminelles
getan.’ Speziell afrikanische Leute, asiatische, indische. Bei ihnen wird von
vornherein angenommen, sie seien kriminell. Die Kontrollen unterstützen
Dominanz- und Überlegenheitsgefühle bei Deutschen. Sie denken: ‚Wir sind
54 ■ Residenzpflicht

die besseren Menschen und müssen unsere Gesellschaft vor denen da schüt­
zen.’ Nationalistische und rassistische Haltungen werden so in die Öffentlich­
keit getragen.

Die negative öffentliche Darstellung ist das eine, der Ausschluss das andere
Thema. Wer ständig Kontrollen befürchten muss, wird von der Öffentlichkeit
ausgeschlossen. Man kann sich nicht frei öffentlich bewegen. Das macht
krank. Entweder bleibt man in der Isolation dieser unwirtlichen Orte, oder
man fühlt sich ständig verfolgt. Man hat dauernd das Gefühl, es ist jemand
hinter einem, spioniert hinter einem her. Ich erinnere mich, dass ich noch ein
halbes Jahr, nachdem ich meine Aufenthaltserlaubnis hatte und nicht mehr im
Lager wohnen musste, das Gefühl hatte, dass ständig jemand hinter mir ist.
Ich war regelrecht psychisch gefoltert dadurch, dass ich fünf Jahre lang stän­
dig kontrolliert worden bin und immer das Gefühl haben musste, jemand ist
hinter mir her. Diese psychische Störung haben viele Asylsuchende. Zusam­
men mit den anderen belastenden Faktoren ist es eine ernsthafte Gefahr,
psychiatrische Probleme zu bekommen.

Neben der Polizei gibt es auch Bürger, die irgendwie mitbekommen, dass du
eine spezielle Erlaubnis brauchst, um dich bewegen zu können. Sie sprechen
dich an: ‚Hey, du bist doch bestimmt ein Asylant! Was machst du hier? Wo ist
deine Erlaubnis, dich hier aufzuhalten?‘ Das ist Mitgliedern der Flüchtlingsini­
tiative mehrmals passiert. Die Ideologie der Unter- und Überlegenheit wird
mit diesem Gesetz transportiert. Das Gesetz ist diese Ideologie. Die Leute
übernehmen die Haltung, dass es nicht das Recht eines jeden Menschen ist,
sich frei zu bewegen, sondern dass sie selbst mehr Rechte haben. Sie haben
dabei nicht das Gefühl, dass sie sich rassistisch oder diskriminierend verhal­
ten, wenn sie mich, weil ich schwarz bin, fragen, ob ich überhaupt das Recht
habe, da zu sein, wo sie sind.

Und die Rolle der Ausländerbehörde?

Die Residenzpflicht hat die absolute Kontrolle zum Ziel, die Möglichkeit,
jederzeit zu wissen, wo Du bist und was Du tust. Es gibt keine Privatsphäre.
Die Ausländerbehörde meint, sie habe das Recht dazu. Die Angestellten ver­
suchen immer, ihre Macht darzustellen, zu zeigen, dass sie entscheiden. Sie
tun Dinge, nur um zu demonstrieren, dass sie sie tun können, auch wenn es
nicht legal ist oder nicht im Sinne des Gesetzes. Letztendlich ist es ein Macht­
kampf, in dem sie dauernd zeigen, dass sie stärker sind.
Die Behörde

Parzellen und Wegezoll


Wenn man die Kreisgrenzen als Linien ein­
zeichnet, sieht die Karte der Bundesrepu­
blik aus, wie ein kompliziertes Puzzlespiel:
413 Teile mit höchst unregelmäßigen
Konturen. Ein parzelliertes Land mit
Grenzverläufen, die man auswendig ler­
nen muss, will man sie einhalten. Für die
meisten Menschen sind diese Grenzen
irrelevant. Sie kennen sie nicht einmal.
Wer weiß schon, wo in Thüringen der
Landkreis Schmalkalden-Meiningen auf­
hört und der Stadtkreis Suhl anfängt? Im
Lager von Zella-Mehlis wissen das alle. Nur
hundert Meter hinter dem Gebäude verläuft
die Grenze zwischen Stadt- und Landkreis, aber wer in
die Stadt will, muss einen 60 Kilometer langen Umweg fahren. So weit ist es
bis zur Ausländerbehörde nach Meiningen und zurück, um die Erlaubnis zu
holen, die hundert Meter nach Suhl laufen zu dürfen. Das brandenburgische
Hennigsdorf liegt ähnlich. Es grenzt direkt an Berlin, die S-Bahn fährt alle
zwanzig Minuten ins Zentrum der Metropole. Wer nach Berlin möchte, muss
aber zunächst zur Ausländerbehörde ins 20 km entfernte Oranienburg und 20
km zurück fahren, um dann die paar Stationen mit der S-Bahn zum eigentli­
chen Ziel zu gelangen.
Auch für Geduldete, die sich innerhalb eines Bundeslandes frei bewegen dür­
fen, können kurze Entfernungen absurd lang oder riskant werden, wenn sie
keine Erlaubnis für das Befahren von Transitstrecken einholen. Wer sich zum
Beispiel in Brandenburg mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Nord nach Süd
oder Ost nach West bewegen will, muss durch ein anderes Bundesland, näm­
lich Berlin, fahren oder dort umsteigen.
In Hessen, dem Land, das an sechs Bundesländer grenzt, kann selbst die
Reise von einem Ort des gleichen Landkreises zum anderen durch Tran­
siträume führen: Wer beispielsweise in die Sammelunterkunft in Hirschhorn
eingewiesen wurde und mit dem Regional-Express in die Kreisstadt Heppen­
56 ■ Residenzpflicht

heim fahren will, durchquert zwangsläufig baden-württembergisches Gebiet


und riskiert eine der Personenkontrollen, die auf der Strecke immer wieder
stattfinden. Die Liste solcher Un-Wegbarkeiten lässt sich beliebig lange fort­
setzen.

„Ein Klient bekam Probleme mit der ‚Residenzpflicht‘, weil er orthopä­


dische Schuhe brauchte. Das nächste Sanitätshaus war eine Bahnstation
entfernt, was ihn freute, schließlich musste er ja mehrmals zur Anprobe.
Untergebracht war er in Neustadt, das liegt im Regierungsbezirk
Gießen. Das Sanitätshaus war im Nachbarlandkreis und im Regierungs­
bezirk Kassel. Um die eine Station zum orthopädischen Schuhmacher zu
fahren, ohne sich strafbar zu machen, hätte der Mensch mit den kranken
Füßen zunächst auf eigene Kosten 70 Kilometer nach Marburg zur
Ausländerbehörde fahren müssen, um eine Verlassenserlaubnis zu bean­
tragen. Das machte er natürlich nicht, sondern fuhr ohne, geriet in eine
Kontrolle und hatte noch Glück, dass er nur ein Bußgeld zahlen
musste.“
(Flüchtlingsberatung Oberhessen)

Nur wenige Bundesländer machen Gebrauch von der gesetzlichen Möglich­


keit, die Bewegungsräume zu vergrößern. Mecklenburg-Vorpommern, Sach­
sen-Anhalt, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben die
Landkreise analog den Regierungsbezirken zusammengelegt. Die Landesregie­
rung in Brandenburg lehnt das mit folgender Gesetzesauslegung ab: „Mit der
Vorschrift werden Fälle erfasst, in denen die kommunalen Grenzen mit der
Lebenswirklichkeit nicht übereinstimmen; wenn etwa Asylbewerber regelmä­
ßig bei der Fahrt zur zuständigen Ausländerbehörde mehrere Behördenbe­
zirke durchqueren müssen. Die Vorschrift dient dagegen nicht dazu, mögli­
cherweise durch die Residenzpflicht als solche empfundene Härten im per­
sönlichen Lebensbereich zu mildern.“28

Gebühren
Passend zur Landkreis-Kleinstaaterei gibt es einen ‚indirekten Wegezoll‘. Viele
Ausländerbehörden verlangen Gebühren für das Ausstellen einer Verlassens­

28 Antwort auf eine parlamentarische Anfrage v. 10.11.2008, LT-Drs. 4/7027, abrufbar


unter http://www.parldok.brandenburg.de/parladoku/w4/drs/ab_7000/7027.pdf.
Die Behörde ■ 57

erlaubnis und schränken die Reisemöglichkeiten dadurch zusätzlich ein. Von


den 40 Euro Bargeld im Monat sollen 10 Euro allein für die Erlaubnis bezahlt
werden, überhaupt reisen zu dürfen, zusätzlich zum Fahrgeld für den Weg zur
Behörde. So bleibt kaum Geld für die Fahrkarte zum Reiseziel übrig. Mehrere
Anträge im Monat zu stellen, ist allein schon deshalb nicht möglich.

„Jugendliche nehmen an Veranstaltungen der Sprachschule im Nachbar­


bezirk nicht teil, weil sie die Gebühr für die Verlassenserlaubnis nicht
bezahlen können. Aktive Sportler fahren ohne Verlassensgenehmigung
mit ihrem Verein, weil sie sonst 2-3 Scheine im Monat nur für die Sport­
veranstaltungen beantragen müssten und die Gebühren nicht zahlen
können.“
(Hephata – Hessisches Diakoniezentrum)

Ob Gebühren rechtmäßig sind oder sogar erhoben werden müssen, wie die
Landesausländerbehörde Saarland auf Nachfrage mitteilt, wird offensichtlich
von den Landesregierungen unterschiedlich eingeschätzt und ist rechtlich
umstritten.29 Bei der Pressestelle des Hamburger Innensenats heißt es zum
Beispiel auf die Frage nach einer Gebührenerhebung: „Für die so genannten
Verlassenserlaubnisse sehen die bundesrechtlichen Gebührenvorschriften kei­
nen Gebührentatbestand vor.“ Das sieht man in insgesamt elf Bundesländern
anders. Entweder flächendeckend oder in einzelnen Landkreisen werden
Gebühren erhoben. Besonders befremdend ist die Staffelung, die einige
Behörden „je nach Anlass“ vornehmen. Ein Verwandtenbesuch ist dort ‚teu­
rer‘ als ein Besuch beim Rechtsanwalt; eine Verlassenserlaubnis, die im öffent­
lichen Interesse liegt, ist ganz gebührenfrei. Wo welche Gebühren erhoben
werden, ist aus der Tabelle auf Seite 137ff. zu entnehmen.

29 Die gebührenerhebenden Behörden verweisen auf das Verwaltungskostengesetz des


jeweiligen Landes oder auf § 47 Abs. 1 Nr. 9 der Aufenthaltsverordnung, nach der
eine Gebühr von 10 Euro zu erheben ist für die „Ausstellung einer Bescheinigung über das
Aufenthaltsrecht oder sonstiger Bescheinigungen auf Antrag“ und im weiteren darauf, dass bei
den Befreiungen im Kontext des Asylbewerberleistungsgesetzes die Verlassenserlaub­
nis nicht aufgeführt ist (siehe Argumentation der Landesregierung Thüringen, doku­
mentiert in: Flüchtlingsrat Thüringen, Info 2/2005, S. 3). Fraglich ist, ob es sich hier
tatsächlich um eine Bescheinigung handelt, weil die Erlaubnis zum Verlassen des
Geltungsbereichs einen eigenen Regelungsinhalt hat. Manche Länder bzw. Behörden
räumen eine Befreiung auf Antrag ein (siehe auch Übersicht im Anhang, S. 137 ff.).
58 ■ Residenzpflicht

Umfassende Befugnisse

Heidi H. lebt in Berlin. Ihr Mann ist Kurde. Er kam als staatenloser Flüchtling
aus dem Irak nach Deutschland und wurde dem Landkreis Stendal zugewiesen. Sie
lernte den Musiker bei einer Veranstaltung kennen.
„Mir ist dieses Gesetz, die Residenzpflicht, nicht neu gewesen. Trotzdem
konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet, wenn eine
Behörde festlegt, wie du leben sollst. Das hat mich ganz wuschig
gemacht. Es ist schwer zu vermitteln, wie sich das anfühlt. Als es noch
die Mauer gab, wurde viel darüber geredet, wie schrecklich es ist, sich
nicht frei bewegen zu können, Freunde und Verwandte nicht besuchen
zu dürfen.
Die Verlassenserlaubnis bekam er zwar für eine Woche am Stück, aber
nur einmal im Monat. ‚Aus Prinzip’, hieß es, ‚wegen der Gleichbehand­
lung’. Es gibt so viele kleine Schikanen. Einmal ist er krank geworden,
als er bei mir in Berlin war, und konnte nicht rechtzeitig zurück nach
Sachsen-Anhalt. Wir haben der Ausländerbehörde eine Krankschreibung
geschickt mit Attestierung der Reiseunfähigkeit. Trotzdem hat das Sozi­
alamt angekündigt, er bekomme die Sozialhilfe nur noch wöchentlich
ausgezahlt, wenn das noch einmal vorkomme.
In dem Heim, in dem er wohnen musste, durften Besucher nur bis 22
Uhr sein. Sie nahmen einem an der Pforte den Personalausweis ab, und
wer bis 22 Uhr nicht wieder auftauchte, wurde geholt. Es ist aber auch
kein Ort, an dem man sich aufhalten möchte. Die Ausländerbehörde hat
mir geraten, ich solle mir doch ein Hotelzimmer nehmen, wenn ich ihn
sehen will. Später bekam er auch schon mal einen längeren Zeitraum
bewilligt. Wenn wir uns aber in der Zeit aus Berlin wegbewegen wollten,
musste er erst wieder nach Stendal fahren und dafür eine gesonderte
Erlaubnis holen.“

An der Durchsetzung der räumlichen Beschränkung sind Ausländerbehörden,


Polizei und Gerichte beteiligt. Den Ausländerbehörden kommt dabei eine
Schlüsselrolle zu. Sie entscheiden nicht nur, ob und wohin jemand fahren
darf, sondern auch darüber, wie das unerlaubte Verlassen des erlaubten
Bereichs sanktioniert wird. Außerdem befinden sie über die aufenthaltsrechtli­
chen Konsequenzen. Angesichts der Schwere des Eingriffs in die Persönlich­
keitsrechte, den die räumliche Beschränkung bedeutet, ist das eine erstaunli­
che Machtkonzentration bei den Bediensteten einer Behörde.
Die Behörde ■ 59

Wer ohne Genehmigung reist und in eine Personenkontrolle gerät, wird von
der Polizei angezeigt. Diese Anzeige leitet die Polizei in der Regel an die Aus­
länderbehörde weiter. Die entscheidet, ob der Verstoß als Straftat oder Ord­
nungswidrigkeit zu werten ist, und stellt entweder Strafanzeige oder veranlasst
einen Bußgeldbescheid, bei dem sie häufig auch die Höhe des Bußgeldes fest­
legt.30 Kommt es nach einer Strafanzeige zu einer Verurteilung durch das
Amtsgericht, so wird wieder die Ausländerbehörde informiert, denn die Ver­
urteilungen gehören zu den Grundlagen für aufenthaltsrechtliche Entschei­
dungen, wie zum Beispiel Ausweisungen oder Bleibe- und Niederlassungs­
rechte nach Abschluss des Asylverfahrens.

Außerdem straft die Behörde auch direkt nach Verurteilungen weiter ab. „Für
Personen, die bereits mehrfach gegen die räumliche Beschränkung verstoßen
haben, gilt im Regelfall eine verstoßfreie Zeit von mindestens sechs Monaten
bis zur nächsten Genehmigung“, heißt es zum Beispiel in der Antwort auf
eine parlamentarische Anfrage im brandenburgischen Kreis Teltow-Fläming.

Die Verweigerung einer Verlassenserlaubnis wird auch als Disziplinierungs­


mittel eingesetzt, wenn die Behörde unterstellt, jemand weigere sich, einen
Identitätsnachweis für die Ausreise zu besorgen. Davon berichten viele
Flüchtlinge. Eine brandenburgische Beratungsstelle beschreibt zum Beispiel
den Fall einer Klientin, die nach Berlin zu einem Termin im Behandlungszen­
trum für Folteropfer wollte. „Sie hatte sich alleine darum gekümmert. Die
Behörde lehnte den Antrag, dorthin fahren zu dürfen, ab, weil sie fehlende
Mitwirkung an der Ausreise unterstellte und weil die Behandlung vorher nicht
aktenkundig geworden war. Eine besondere Härte mochte sie darin nicht
erkennen.“

Behördenangestellte als Ermittelnde


Der Bleiberechtsantrag eines irakischen Flüchtlings wurde 2008 wegen
Straffälligkeit abgelehnt. Er hatte Verurteilungen zu insgesamt mehr als
90 Tagessätzen angehäuft durch Fahren ohne Führerschein und
Verstöße gegen die Aufenthaltsbeschränkung. Eine dieser Verurteilungen
geht auf eine nachträgliche Anzeige der Ausländerbehörde zurück. Der

30 Bericht eines Behördenangestellten. Ausländerbehörden sind Teil der Ordnungsämter.


60 ■ Residenzpflicht

Flüchtling nahm sich einen Anwalt in Frankfurt am Main. Dieser Anwalt


rief nach einem Termin mit seinem Mandanten bei der Ausländerbe­
hörde an, um einen Sachverhalt zu klären. Daraus schloss die Ausländer­
behörde, dass der Mandant ohne Verlassenserlaubnis in Frankfurt
gewesen sein musste, und erstattete Anzeige.
In einem anderen Fall riefen Familienangehörige eines Asylbewerbers
bei der Ausländerbehörde an, um für ihren Verwandten etwas zu klären.
Weil aus dem Gespräch hervorging, dass der Verwandte sie zuvor
besucht haben musste, schaute der Behördenangestellte nach, ob dafür
eine Verlassenserlaubnis erteilt worden war, und erstattete nachträglich
Anzeige.
Quelle: Kirchliche Erwerbsloseninitiative Zschopau / Mittlerer Erzgebirgskreis (MEK,
Sachsen)

Die Erteilung der Verlassenserlaubnis

Einige Bundesländer haben den Behörden Ausführungen an die Hand gege­


ben, in welchen Fällen eine Erlaubnis zu erteilen ist. Sie sind zum Vergleich in
einer Tabelle im Anhang aufgelistet (siehe S. 137 ff.). Wenn solche Vorgaben
überhaupt existieren, so behandeln sie nur einen sehr kleinen Teil der mögli­
chen Fälle, und sie entbinden die Behördenangestellte allgemein nicht von der
individuellen Ermessensentscheidung. Dass diese davon gelegentlich überfor­
dert sind, zeigt sich, sobald sie außerhalb der Behördenroutine dazu befragt
werden, wie in einer Gerichtsverhandlung 2004 vor dem Erfurter Landgericht
deutlich wurde. Angeklagt war ein Aktivist der Flüchtlingsorganisation The
VOICE, Ahmed Sameer, wegen wiederholtem Verstoß gegen die räumliche
Beschränkung. Die Richterin lud mehrere Behördenangestellte als Zeuginnen
vor, um die Praxis der Urlaubsscheinvergabe zu verstehen. Hier Auszüge aus
einer Dokumentation der Verhandlung:
Die Behörde ■ 61

Richterin: Gibt es die Möglichkeit, z. B. von Montag bis Freitag einen Schein zu
bekommen, also für 5 Tage? Sachbearbeiterin: Nur in Ausnahmefällen. |Und
warum? Aus Sicherheitsgründen. |Gibt es denn hierzu eine Verwaltungsricht­
linie? Nein, es wird nur empfohlen. |Wäre es möglich, sagen wir mal, drei mal
pro Monat für zwei Tage einen Urlaubsschein zu kriegen? Grundsätzlich wäre
das kein Problem. Es gibt sogar die Gelegenheit, auf einem einzigen
Schein bis zu drei Genehmigungen zu bekommen. |Gut, das ist also
möglich. Wie funktioniert es aber in der Praxis? In der Regel wird nur eine
Erlaubnis pro Monat erteilt. |Und was passiert, wenn eine Ablehnung erfolgt?
Wie erklären Sie das den Asylbewerbern? Das wird dann gleich am Schalter
mitgeteilt. |Wie mitgeteilt? Mündlich, es wird einfach gleich entschieden
und mitgeteilt.
Zweite Sachbearbeiterin: Wir halten uns eigentlich an die Richtlinien der
Handakte, die Sie einsehen können. Über Urlaub gibt es aber keine
konkrete rechtliche Festlegung, also darüber, wie viele Tage gegeben
werden sollen. Wir erteilen die Urlaubsscheine je nach Fall. Wir hand­
haben das so, dass wir einmal im Monat drei Tage Urlaub geben. |Wer ist
darauf gekommen? Das war eine interne Abmachung. Wir wollten die Asyl­
bewerber gleich behandeln. So können wir ungefähr sagen: nur die drei
Tage. Es steht ja im Gesetz nichts Konkretes drin, wie wir das hand­
haben sollen. |Aus welchem Grund wird abgelehnt? Abgelehnt wird z. B.,
wenn einer schon Urlaub gehabt hat, weil er einen Freund besuchen
wollte, und er kommt acht Tage später und sagt: 'Ich möchte wieder
einen Urlaubsschein haben.' Dann sagen wir: 'Nein, Sie haben schon.'
Das ist Gesetz, und wir müssen das Gesetz vertreten. |Wenn einer einen
Freund besuchen war und möchte eine Woche später an einer politischen Versamm­
lung teilnehmen, wie würden Sie das handhaben? Politische Versammlungen
sollten so gehandhabt werden, dass die Möglichkeiten im Bezirk wahr­
genommen werden. Ansonsten ist es so eine Entscheidungssache, die ich
mit meiner Fachdienstleiterin abspreche – solche speziellen Sachen, über
die drei Tage hinaus. |Wie wird’s denn gehandhabt? Wie würden Sie denn
entscheiden? In so einer speziellen Sache, wie gesagt, spreche ich das ab.
|Und was kommt dann da raus? Meistens eine Ablehnung. Das kann ich
Ihnen sagen, die Fachdienstleiterin sagt nein ...
Quelle: Cord Pagenstecher et al., Residenzpflicht vor Gericht – eine Rekonstruktion. In:
Institut für Nomadologie / Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Mauern, Projektionen,
Reisefreiheit. Berlin – Schengen 1989-2004, Berlin 2005, S. 48-51.
Die Zitate aus der Verhandlungsdokumentation wurden für diesen Text stilistisch leicht
überarbeitet. Der Originalwortlaut ist zu finden unter: www.in-no.org/furthur.html.
62 ■ Residenzpflicht

Abbildung 1: Schriftliche Ablehnung eines Antrags auf eine Verlassenserlaubnis


Die Behörde ■ 63

Die Ablehnung von Anträgen wird allgemein mündlich erteilt. Nach schriftli­
chen Ablehnungen, wie der auf Seite 62 abgedruckten, muss man regelrecht
fahnden. Die Behördenpraxis ist deshalb nur zu erfragen. Berichte von
Flüchtlingen und Beratungsstellen belegen, dass eine behördeninterne Stan­
dardisierung, wie die eben beschriebene, weit verbreitet ist. „Von Betroffenen
hören wir, dass es in einigen Ausländerbehörden offensichtlich irgendwelche
quantitativen Grenzen gibt“, wird von einer Beratungsstelle in Schleswig-Hol­
stein berichtet. „Das schließen die Flüchtlinge aus Äußerungen wie: ‚Das wäre
dann aber schon die 11. private Reise, das geht nur ausnahmsweise. Eigentlich
ist bei 10 im Monat Schluss‘. Aber wir kommen nicht dahinter, ob das interne
Regeln sind oder was auch immer.“ Von einer brandenburgischen Behörde
berichten Flüchtlinge: „Herr Schulz sagt immer, nicht öfter als zwei Mal im
Monat für private Fahrten.“ Von einer Beratungsstelle ist zu erfahren: „Es
gibt 14 Tage im Monat, unter Umständen auch am Stück, aber man muss
jeweils sieben Tage vorher beantragen.“ Eine hessische Beratungsstelle teilt
mit: „Die Behörden unserer Landkreise erteilen höchstens eine Verlassensge­
nehmigung pro Monat. Die Anträge müssen zwei Wochen vorher gestellt wer­
den.“ Auch die Dauer scheint bei einigen Behörden festgelegt zu sein. Aus
mehreren brandenburgischen Landkreisen wird berichtet, es gibt die Erlaub­
nis immer nur für einen Tag.

Abgesehen von solchen internen Standardisierungen erscheint den meisten


Befragten die Praxis der Behörden willkürlich. „Die Ausländerbehörde ist
kooperativ und nutzt ihren Ermessenspielraum zugunsten der Flüchtlinge aus.
Das ist allerdings abhängig vom Verhalten der Antragsteller.“ Diese Aussage
der Mitarbeiterin einer Beratungsstelle ist die schwächere Form des Willkür­
hinweises. Andere formulieren es drastischer: „Ich habe den Eindruck, das
geht nach Lust und Laune und danach, ob dem Beamten das Gesicht des
Antragstellers passt. Manche Leute kriegen problemlos eine Verlassenserlaub­
nis für einen Monat, andere müssen für einen Tag schon kämpfen.“

Ein Hinweis auf willkürliche Entscheidungen ist auch darin zu sehen, dass
durchweg von der Erfahrung berichtet wird, die Chancen, eine Verlassenser­
laubnis zu bekommen, stünden besser, wenn der Antrag in Begleitung einer
‚offiziellen‘ Person gestellt wird. „Am besten ist es“, so eine Beraterin, „wenn
Flüchtlinge eine Ablehnung bekommen haben und zusammen mit der Bera­
tungsstelle eine schriftliche Begründung fordern. Dann dauert es zwar vier
Wochen, bis etwas kommt, aber statt der schriftlichen Ablehnung kommt
erstaunlicherweise meistens eine Genehmigung.“
64 ■ Residenzpflicht

„Einen Tag erlauben sie in der letzten Zeit öfter, aber manchmal steht
sogar die Uhrzeit auf dem Schein. Du darfst von 10 Uhr bis 17 Uhr 30
da und da hin fahren. Ich bin 34 Jahre alt und muss darum bitten,
jemanden besuchen zu dürfen. Sie fragen dich wie ein kleines Kind: ‚Wie
heißt dein Freund? Wo wohnt er? Telefonnummer? Geburtsdatum?‘ Und
wenn du alles aufgeschrieben hast, sagen sie meistens nein, und es kann
dir passieren, dass sie deinen Antrag vor deinen Augen zerknüllen und in
den Müll werfen. Ich habe eine Erlaubnis beantragt, um nach Potsdam
zum Flüchtlingsrat zu fahren. Sie sagten: ‚Nein!‘ Zehn Minuten später
rief jemand vom Flüchtlingsrat bei der Behörde an und beantragte die
Erlaubnis für mich, und sie gaben mir den Schein. Was soll das?“
Mohammed El Hxxx, Prenzlau, Brandenburg

Für Bildung nie!


Eine Verlassenserlaubnis für den Besuch von Deutschkursen werde nie
erteilt, berichten Betroffene aus verschiedenen Landkreisen. „Hier gibt
es kaum Ausländer und keine Deutschschule. Ich habe gefragt, ob ich
nach Berlin fahren darf, um Deutsch zu lernen. Nein, haben sie gesagt.
Dann bin ich ohne Erlaubnis gefahren“, berichtet eine junge Vietna­
mesin. „Am Tag, als ich Prüfung hatte, wollte ich ohne Angst fahren und
habe noch mal gefragt und eine Bescheinigung von der Schule vorgelegt.
Da durfte ich fahren.“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008
Ein Kenianer, der seit sechs Jahren in Brandenburg lebt, suchte sich
einen Platz in einer Schule für Krankenpflege. Drei Mal in der Woche,
ein halbes Jahr lang, wollte er zu einem Kurs für Pflegehilfe nach Berlin
fahren. Er hatte die Zusage und alle Papiere dafür besorgt, aber die
Ausländerbehörde lehnte ab. Er bekomme keine Erlaubnis „für solche
privaten Fahrten“.
Quelle: Opferperspektive Brandenburg e.V.
„Man bekommt keine Verlassenserlaubnis für Bildung. Das stellen wir
bei unseren Beratungen immer wieder fest. Mir ist es auch so gegangen.
Als ich nach Deutschland kam, nach Hennigsdorf bei Berlin, gab es dort
einen Sprachkurs. Aber die Kurse in den Heimen kommen über das
Anfängerniveau nie hinaus. Ich hatte in Kamerun Deutsch bis zum
Abitur gehabt und wollte weiter lernen. Die Lehrerin in Hennigsdorf
ermutigte mich und suchte mir einen Sprachkurs an einer Berliner Volks­
Die Behörde ■ 65

hochschule. Die lag nicht sehr weit vom Heim entfernt. Sie ist mit mir
dorthin zur Anmeldung gegangen, und ich habe den Kurs selbst bezahlt.
Aber ich bekam keine Verlassenserlaubnis, um dorthin zu fahren. Der
Kurs war abends. Ich war eine junge Frau in einem fremden Land und
wollte mich sicher fühlen. Dazu gehört, dass du Schutz bei der Polizei
finden kannst, wenn es nötig ist. Aber das geht nicht, wenn du ohne
Erlaubnis fährst und vor der Polizei Angst haben musst. Ich bin
trotzdem gefahren.“
Florence Sissako – Mitbegründerin der Organisation Women in Exile

Rechtsanspruch? Eine Frage des Glücks

Beim Vorliegen „zwingender Gründe“ und zur Vermeidung „unbilliger Här­


ten“ besteht, wie zuvor geschildert, inzwischen ein Rechtsanspruch auf die
Erteilung einer Verlassenserlaubnis. Das klingt nach Verlässlichkeit und Trans­
parenz. Wer sich unter den Bedingungen der räumlichen Beschränkung wie
und wohin bewegen darf, scheint aber vor allem davon abhängig zu sein, wel­
chem Ort man im Aufnahmeverfahren zugewiesen wurde, also eine Frage von
Glück oder Pech. In Berlin sollen Verlassenserlaubnisse inzwischen per Erlass
nur noch ausnahmsweise verweigert werden. Aus Flensburg oder Kiel wird
berichtet, eine Erlaubnis werde ohne jede Prüfung erteilt. In München, heißt
es, sei es kein Problem, eine Erlaubnis zu bekommen, in Bayreuth dagegen
ausgesprochen schwierig, und die Stadt Kempten vergebe gar keine „Urlaubs­
scheine“ mehr.

Die Selbstauskünfte brandenburgischer Kreisverwaltungen bestätigen das


Bild. Eine Verlassenserlaubnis zum Beispiel für den Einkauf kulturspezifi­
scher Lebensmittel wird in vier Landkreisen als Grund für eine Erlaubnis
angegeben, alle anderen müssen für Weinblätter und Austernsauce illegal nach
Berlin fahren. In der Antwort auf eine kleine Anfrage vertritt zum Beispiel
die Kreisverwaltung Oberspreewald-Lausitz eine sehr enge Gesetzesausle­
gung, in der gar kein Fall vorstellbar ist, in dem es einen einklagbaren Rechts­
anspruch gäbe: „Die Rechtsprechung führt aus, dass ein zwingender Grund
dann nicht vorliegt, wenn der Betroffene etwas tun will, was er objektiv
ebenso gut unterlassen könnte.“ Restriktiv sieht auch die Kreisverwaltung
Teltow-Fläming ihren Auftrag: „Nach der entsprechenden Erlasslage im Land
66 ■ Residenzpflicht

Brandenburg sollen die Ausnahmen von räumlicher Beschränkung auf wenige


begründete Ausnahmefälle beschränkt bleiben.“ Ganz anders der Landkreis
Barnim: „Von den Vorschriften zum Verlassen eines zugewiesenen Aufent­
haltsbereichs macht die Ausländerbehörde großzügig Gebrauch. Eine Versa­
gung sollte dabei grundsätzlich nur ausnahmsweise verfügt werden.“

Kontrollieren und disziplinieren

Der Geist einer Asylpolitik, die alle Flüchtlinge unter Betrugsverdacht stellt,
spiegelt sich in den Belegzwängen wieder, die den Flüchtlingen auferlegt wer­
den.

Landkreis Prignitz: „In der Regel wird eine Erlaubnis erteilt, wenn eine
Eheschließung beabsichtigt ist, für den Besuch eines gemeinsamen Kindes
sowie bei Familienfeiern. Sie wird auch Schwangeren erteilt, um den Kinds­
vater aufzusuchen, oder werdenden Vätern, um sich um die Kindsmutter zu
kümmern. In diesen Fällen werden jedoch Nachweise verlangt (z. B. Vater­
schaftsanerkennungen. Bestätigungen seitens der Standesämter, Einladungen,
Meldebestätigungen, Atteste).“

Stadt Potsdam: „Möchte der Antragsteller beispielsweise Arzttermine wahr­


nehmen oder eine Veranstaltung außerhalb (…) besuchen, genügt die persön­
liche Vorsprache und ein formloser mündlicher Antrag unter Angabe des
Grundes, des Zeitraumes (wann, wie lange) und wohin dieser fahren will.
Hierfür wird in der Regel ein Nachweis wie die Terminbestätigung eines Arzt­
besuches oder eine Einladung verlangt. Bei einer Verlassenserlaubnis für pri­
vate Zwecke (Besuch von Freunden und Familienangehörigen) bedarf es
jedoch eines schriftlichen Antrags. Der Name, die genaue Anschrift des zu
Besuchenden sowie die Dauer und der Grund des Besuchs sind dort anzuge­
ben.“

Landkreis Teltow-Fläming: „In der Regel wird zu den Angaben des


Antragstellers eine telefonische Auskunft eingeholt. Die Erteilung der Geneh­
migung kann dann unmittelbar nach Bestätigung der Angaben erfolgen.“
Die Behörde ■ 67

„Ich habe zwei- oder dreimal einen Urlaubsschein beantragt. Keiner


wurde bewilligt. Ich wollte einfach nur raus, mal was anderes sehen und
musste eine Anschrift angeben. Ich habe mir eine ausgedacht, und das
haben sie gemerkt.“
Vietnamesischer Flüchtling in Brandenburg

Die räumliche Beschränkung ist nicht nur eine konkrete Restriktion, sie ist in
ihrem ganzen Wesen autoritär, unterwerfend und disziplinierend. Das sind
Züge bürokratischen Handelns, die sich auch in anderen Behörden finden,
vor allem in der Sozialverwaltung. Aber hier geht der behördliche Eingriff
über das übliche Maß bürokratischer Machtausübung hinaus und am Ende
droht als letzte Unterwerfung die „aufenthaltsbeendende Maßnahme“.31

Ausweisung
Der Roma Emri A. Reiste 1991 mit seiner Familie aus dem Kosovo nach
Deutschland ein. Der Asylantrag wird abgelehnt. Die Familie kann aber
wegen drohender Staatenlosigkeit nicht abgeschoben werden. Seit elf
Jahren lebt die Familie geduldet, als Emri A. 2006 einen Aufenthaltstitel
nach der Bleiberechtsregelung beantragt. Als Antwort kommt die
Ausweisung. „Ihrer Ausländerakte ist zu entnehmen, dass Sie seit über
zehn Jahren regelmäßig polizeilich aufgefallen sind“, heißt es in der
Begründung. „Ihr bisheriges Verhalten unterstreicht, dass Sie offenbar
nicht gewillt sind, sich an die Rechtsordnung der Bundesrepublik
Deutschland zu halten.“
Herrn A. werden von der Ausländerbehörde vorgehalten: Vier Verurtei­
lungen wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung in den
Jahren 1996 und 1997, ein Strafbefehl wegen Betruges im Jahr 1998 und
ein erneuter Strafbefehl wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschrän­

31 Einen umfassenden Einblick in die Welt der Ausländerbehörden gibt die Dissertation
Thomas Hohlfelds aus dem Jahr 2005: Strategien der Ausschaffung – Eine
Archäologie der Flüchtlingsbürokratie. Fallstudie zur Alltagsarbeit von Verwaltung,
Justiz und Politik am Beispiel der Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien
in Berlin, abrufbar unter http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=988975343.
68 ■ Residenzpflicht

kung im Jahr 2006. Alle Strafen zusammengerechnet ergeben 420 Tages­


sätze, davon entfallen nur 40 auf das Betrugsdelikt, das einzige Delikt,
das Menschen mit deutschem Pass oder mit einer Aufenthaltserlaubnis
ebenfalls hätten begehen können.
In der Ausweisungsbegründung heißt es weiter: „Auch ist Ihre Auswei­
sung aus generalpräventiven Gründen erforderlich, da es nicht hinge­
nommen werden kann, dass abgelehnte Asylbewerber, die ihrer Ausrei­
sepflicht nicht nachkommen, regelmäßig Straftaten in der
Bundesrepublik begehen. Die Ausweisung ist daher ein geeignetes und
erforderliches Mittel, um andere Ausländer von einem ähnlichen
Verhalten abzuhalten. Das Mittel ist auch erforderlich, da ein milderes
Mittel nicht ersichtlich ist. Sollten Sie Ihrer Ausreisepflicht nach­
kommen, so hätten Sie die Möglichkeit, im Rahmen der geltenden
Gesetze abermals in das Bundesgebiet einzureisen. Erneute Straftaten
Ihrerseits könnten somit nicht verhindert werden. Mit der Ausweisung
wird dieses Ziel jedoch erreicht, da kraft Gesetzes eine Wiedereinreise­
sperre besteht.“
Quelle: Flüchtlingsrat Niedersachsen / Landkreis Goslar (Niedersachsen)

Menschen vor und hinter dem Schalter

Fragen an einen Sachbearbeiter


Wie wirkt es sich auf die Beziehung zu den Klienten aus, dass Sie mit der Entscheidung
über Reisemöglichkeiten so weit in deren Privatleben eingreifen?

Man muss sich bei dieser Arbeit mit den Gesetzen identifizieren. Wir machen
ja alles so, wie es im Gesetz steht. Die Politiker werden sich was dabei gedacht
haben. Wahrscheinlich würden alle Asylbewerber in die Städte gehen, und
dann kämen sie nur noch hierher, um die Sozialhilfe abzuholen. Das will man
vermeiden. Das ist keine schöne, aber eine notwendige Maßnahme. Außer­
dem gibt es wesentlich weitreichendere Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, die
wir durchführen müssen, wie zum Beispiel die Beendigung des Aufenthaltes.

Wäre es Ihnen denn lieber, es gäbe wenigstens die Residenzpflicht nicht?


Die Behörde ■ 69

Das Wünschen ist nicht meine Sache. Wir sind ja im Reich der unschönen
Notwendigkeiten. Aber wir sind großzügig, wir bedenken z. B. die Fahrtkos­
ten, geben die Erlaubnis von Wochenende zu Wochenende, wegen des
Wochenendtickets für Besuche bei Freundin und Verwandtschaft. Es darf halt
nur nicht überhand nehmen…, – wenn die alle Nase lang kommen – aber es
gibt keine Regel, das ist Ermessenssache.

Sie sind nicht grundsätzlich unfreundlich. Mit manchen Flüchtlingen


trinken sie sogar Kaffee. Aber wehe jemand widerspricht oder klagt gar
etwas ein! Den drangsalieren sie gnadenlos.
Heidi H.
Einmal habe ich der Frau I. von der Ausländerbehörde gesagt, sie solle
freundlicher sein. Da hat sie mich abgemeldet und mir den Laufzettel
gegeben. So nennen wir das hier. Du kriegst einen Zettel und musst dir
bei allen Behörden, die drauf stehen, einen Stempel holen. Dann meldet
sie dich wieder an. Das sind ganz harte Leute hier! (Frau I. wurde später
auf Drängen der Ausländerbeauftragten versetzt.)
Yagu S., Sudan

Die Position, über die Legitimität von Bedürfnissen und Absichten anderer zu
urteilen bis hin zum Hinterfragen ihrer Motive, haben sonst nur Erwachsene
im Verhältnis zu Kindern. Negative Auswirkungen dieser gravierenden Asym­
metrie auf das Verhältnis der Behördenangestellten zu den Asylsuchenden lie­
gen nahe. Sie verstärkt das Gefühl von Macht und Überlegenheit sowie das
Kontrollbedürfnis, fördert Abwertungen und Ressentiments oder rassistische
Haltungen. Der Zugriff auf alle Lebensbereiche eröffnet zudem ein weites
Feld von Schikanemöglichkeiten. In dem Kontext kann selbst eine Erlaubnis
die Form der Schikane annehmen, wenn zum Beispiel jemand in Braun­
schweig eine Verlassenserlaubnis beantragt, um seine Verlobte in einer Klein­
stadt bei Nürnberg zu besuchen und diese dann für nur einen Tag erteilt wird
(Quelle: Kanzlei Cornelia Prestin, Bremen).

Für die Betroffenen ist die räumliche Beschränkung ein Eingriff, den man
sich kaum schwerer vorstellen kann. Man wird einem Gebiet zugewiesen, das
70 ■ Residenzpflicht

man nicht verlassen darf und kommt für jeden selbst gewählten Kontakt in
die demütigende Situation, sehr private Gründe wie familiäre Angelegenhei­
ten, psychische oder gesundheitliche Probleme, religiöse Handlungen und
politische Interessen einer Behörde gegenüber darlegen und rechtfertigen zu
müssen. Das schafft Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Wut.

Die Macht der Behörde


Die Iranerin Frau D. ist in Bocholt untergebracht und kommt von dort
zur Beratungsstelle der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum. Bocholt
ist etwa 80 km von Bochum entfernt und liegt im Nachbarregierungsbe­
zirk. Aus kulturellen und persönlichen Gründen ist es nicht leicht für sie,
im ersten persönlichen Treffen mit dem Sozialarbeiter über ihre Erleb­
nisse im Gefängnis zu sprechen. Sie möchte, dass ihr Mann sie begleitet.
Der Sachbearbeiter der Ausländerbehörde weigert sich aber, dem Ehe­
mann eine sogenannte „Gebietserweiterungsbescheinigung“, wie die
Verlassenserlaubnis in NRW heißt, zu erteilen. Der Antrag des Ehe­
mannes, sie begleiten zu dürfen, wird mündlich abgelehnt. Danach ruft
der Sozialarbeiter der Flüchtlingshilfe bei der Behörde an und erklärt,
warum der Ehemann seine Frau begleiten soll. Trotzdem weigert sich
der Sachbearbeiter erneut mit der Behauptung, dass Frau D. „ohne
Begleitung ihres Ehemannes die Reise machen kann und muss“. Erst
nach einem schriftlichen Antrag der Flüchtlingshilfe erteilt der Sachbear­
beiter dem Ehemann die Verlassenserlaubnis, um dem Ehepaar den
gemeinsamen Besuch der Beratungsstelle zu ermöglichen.
Im Laufe der Arbeit mit Frau D. stellt die Psychotherapeutin fest, dass
ihre Klientin Ansätze von Initiative entwickelt und erste Zeichen zu
erkennen sind, dass sie aus der Isolation und Depression herauskommt.
Die Behörde wird gebeten, diese positive Entwicklung zu unterstützen.
Frau D.s Aufenthaltsgestattung gilt für den Regierungsbezirk Münster,
der Aufenthalt ihres Mannes ist dagegen auf die Stadt Bocholt begrenzt.
Damit er sie unterstützen kann, zum Beispiel durch die Begleitung zu
Bekannten außerhalb Bochums, bittet die Medizinische Flüchtlingshilfe,
auch seinen Bewegungsspielraum auf den Regierungsbezirk auszu­
dehnen. Die Behörde lehnt ab.
Quelle: Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum / Landkreis Borken, Regierungsbezirk
Münster (Nordrhein-Westfalen)
Die Behörde ■ 71

Es ist eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte und der Würde. Grotesk wird
die Situation, wenn Flüchtlinge sich in dem Zufluchtsland, das international
für Meinungsfreiheit und Demokratie steht, Fahrten zu politischen Versamm­
lungen oder Demonstrationen behördlich genehmigen lassen müssen.

Unzumutbares Verfahren oder: Wie kriminelle


Ausländer gemacht werden

Bei der Befragung der brandenburgischen Landkreise durch eine Kreistags­


fraktion gaben die Ausländerbehörden an, mehrere hundert Anträge im Jahr
zu bearbeiten und davon die meisten zu bewilligen. Im Landkreis Prignitz
zum Beispiel wurden 2006 im Schnitt monatlich 23 Anträge gestellt, davon
einer abgelehnt. Ist die Behördenpraxis also doch besser als ihr Ruf ?

Tatsache ist, dass die meisten Flüchtlinge keinen Antrag stellen, wenn sie
einen negativen Bescheid erwarten. Aber auch in anderen Fällen sind die Hür­
den hoch. Die Behörden sind nicht jeden Tag geöffnet, die Wege oft weit, von
dem minimal verfügbaren Bargeld muss Fahrgeld dorthin bezahlt werden.
Werden Gebühren erhoben, begrenzt das allein schon die Möglichkeit,
Anträge zu stellen. Spontaneität ist grundsätzlich nicht möglich, und die Auf­
lage, Einladungen vorzuweisen oder Anwaltstermine schriftlich zu belegen,
nimmt den letzten Rest zeitnaher Reaktionsmöglichkeit. Freundschaftliche
oder verwandtschaftliche Beziehungen werden durch die Pflicht, Kopien von
Ausweisen oder Meldebescheinigungen beizubringen, belastet, und mit der
Zeit wird durch die geforderten Angaben das gesamte soziale Umfeld der
Flüchtlinge durchleuchtet. Das schreckt viele ab, weil sie „ihre Leute“ diesem
Prozedere nicht aussetzen wollen oder um Kontakte für die Flucht vor einer
möglichen Abschiebung zu schützen oder einfach, weil sie ihren Privatbereich
dem behördlichen Zugriff nicht preisgeben wollen. Diese Angaben machen
zu müssen, widerspricht außerdem zutiefst der Vorstellung von einer demo­
kratischen Gesellschaft, wie sie in der BRD erwartet wird.

Im Rahmen der Interviews zu dieser Recherche gaben in einem brandenbur­


gischen Landkreis, in dem die Erlaubnis grundsätzlich sehr liberal erteilt wird,
viele Flüchtlinge an, Verwandtenbesuche würden nicht erlaubt. Die Erklärung
dafür, die ein Sozialarbeiter gab, der einst selbst als Flüchtling nach Deutsch­
land kam, gibt einen interessanten Einblick in die Flüchtlingsbürokratie:
72 ■

„ „Es liegt daran, dass die Behörde alle Verwandt­


Residenzpflicht

schaftsverhältnisse anzweifelt, die nicht schon bei der


ersten Anhörung im Aufnahmeverfahren angegeben wurden.
Aber viele reisen unter falschem Namen ein. Wer bedroht ist,
geht nicht zur deutschen Botschaft und beantragt ein Visum
unter seinem echten Namen. Das sind wirklichkeitsfremde,
naive Vorstellungen. Wer flieht, kommt nur mit gefälschten
Papieren aus dem Land. Am Anfang bleiben viele bei diesem
angenommenen Namen, weil sie das Befragungsverfahren
nicht einschätzen können. Sie sind eingeschüchtert, gehen
davon aus, dass es ein repressives Verfahren ist, fühlen sich
ausgefragt und verhört, vor allem weil die Fragen nach dem
‚Wie sind Sie hier her gekommen‘ einen breiten Raum
einnehmen. Bei anderen gibt es aus dem gleichen Grund den
Reflex, Verwandte schützen zu wollen, und deshalb, auch
wenn sie ihren wirklichen Namen angegeben haben, den der
Verwandten nicht zu nennen. Noch schlimmer ist es, wenn
die Behörde das spätere Auftauchen von Verwandten bei
Besuchsanträgen zum Anlass nimmt, die Glaubwürdigkeit
des Asylbegehrens in Frage zu stellen, und dem Bundesamt
entsprechende Meldung macht. All das führt dazu, dass bei
unserer Ausländerbehörde kaum jemand legal seine Ver­
wandten besuchen kann.“

Die Lebenssituation in den Sammelunterkünften ist aber so, dass ein Besucht­
werden kaum möglich ist. Angefangen bei Einlasskontrollen in vielen Heimen
bis zu den Zimmern, die von innen nicht verschließbar und oft mit mehreren
Personen belegt sind, gibt es auch hier keine Privatsphäre. Der oft verwahr­
loste Zustand der trostlosen Unterkünfte an abgelegenen Orten empfinden
viele als so diskriminierend, dass sie dort auch keinen Besuch empfangen
möchten.

Zur Arbeitssuche wird für Geduldete, die unter die Bleiberechtsregelung fal­
len, die räumliche Beschränkung in den meisten Bundesländern gelockert, für
alle anderen gilt zusätzlich zur Vorrangigkeitsprüfung, dass sie bei der
Arbeitssuche zeitlich und räumlich so stark eingeschränkt sind, dass legal
keine Chance besteht, Arbeit zu finden. All das führt dazu, dass, wer irgend­
wie kann, das Risiko der Kriminalisierung eingeht und ohne Erlaubnis reist.
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ –
Wirkungen auf Traumatisierte
Interview mit der Psychotherapeutin Ruth Bierich

Anfang 2005 erschien der Abschlussbericht einer Untersuchung32 über die


Häufigkeit von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Asylsu­
chenden, durchgeführt von der Universität Konstanz in Kooperation mit dem
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Bei 40 Prozent der untersuchten
Flüchtlinge stellten die psychiatrischen Fachleute die klinischen Merkmale der
PTBS fest. Zum Vergleich: Für die Bevölkerung wird ansonsten eine Häufig­
keit von einem Prozent angenommen.
Ruth Bierich arbeitet seit 1997 im Berliner Verein Osteuropa Kultur e.V. thera­
peutisch mit bosnischen Kriegsflüchtlingen und seit acht Jahren als franzö­
sischsprachige Therapeutin in der Berliner Einrichtung Xenion – Psychoso­
ziale Hilfen für politisch Verfolgte, die aus Mitteln der EU, des UNHCR und
verschiedener Stiftungen finanziert wird. Im Interview berichtet die Psycho­
therapeutin, die auf die Arbeit mit schwer Traumatisierten spezialisiert ist,
von den Auswirkungen der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung auf ihre
Patienten und Patientinnen.

Welche Hindernisse gibt es für Flüchtlinge, überhaupt bei Xenion in Behandlung zu kom­
men?
Der Kontakt zu uns entsteht in der Regel über Beratungsstellen. Wenn die
Patienten aus den benachbarten Bundesländern kommen, ist die Anreise oft
ein großes Problem, aber alle, die in dem Bereich arbeiten, machen die Erfah­
rung, dass allein die Möglichkeit, einen Gesprächspartner in der Mutterspra­
che oder in der vertrauten Amtssprache des Herkunftslandes zu haben, von

32 Ulrike Gäbel u.a. (2006): Prävalenz der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)


und die Möglichkeiten der Ermittlung in der Asylverfahrenspraxis, Zeitschrift für Klini­
sche Psychologie und Psychotherapie, 35 (Nr. 1/2006).
Zur Weigerung der Bundesregierung, wissenschaftliche Ergebnisse und das Urteil
zugunsten Traumatisierter umzusetzen siehe auch: Hans-Wolfgang Gierlichs (2007),
Traumatisierung bei Flüchtlingen. Antrag abgelehnt, Deutsches Ärzteblatt, 104 (Heft
24/2007), 304; sowie Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der
Fraktion DIE LINKE in BT-Drs. 16/3746 v. 6.12.2006.
74 ■ Residenzpflicht

extremer Wichtigkeit ist. Die Leute nehmen viel dafür auf sich. Wenn sie mer­
ken, wie gut ihnen das tut, und sie dann diese Verlassenserlaubnis nicht
bekommen, ist es wirklich tragisch.

Mit welcher Begründung verweigern die Ausländerbehörden die Verlassenserlaubnis?

Manche halten sich einfach an den Buchstaben des Gesetzes und sagen: Es
gibt kein Recht darauf. Sie weigern sich vollständig, den Ermessensspielraum
wahrzunehmen. Dann haben wir lange Briefwechsel. Zum Beispiel habe ich
eine Patientin aus dem Umland von Berlin, also grad um die Ecke, die keine
Verlassenserlaubnis bekommt. Eine Begründung wurde zunächst gar nicht
gegeben. Wir wiesen dann darauf hin, dass es doch zu würdigen sei, dass sie
ein spezifisches Therapieangebot hat, eines, das die Kommune noch dazu
nichts kostet. Trotzdem besteht die Behörde darauf, sie könne vor Ort Ärzte
aufsuchen. Das ist rational nicht nachvollziehbar. Es kommt sie sogar teurer.

Wir machen aber auch die Erfahrung, dass Verlassenserlaubnisse nach viel
Schriftverkehr schließlich doch gewährt werden. Es ist immer davon abhän­
gig, ob das Argument, die Therapie ist wichtig und sinnvoller, als die Leute in
die Psychiatrie einweisen zu lassen, offene Ohren findet. Und es gibt Fälle, in
denen die Verlassenserlaubnis verweigert wird, wenn wir gleichzeitig die
Übernahme der Fahrtkosten beantragen. Dann wird das im Doppelpack
abgelehnt.

Es fahren ja sehr viele Leute auch ohne diese Erlaubnis.

Ja, das erlebe ich auch seit Jahren, dass die Leute dann unerlaubt fahren und
ganz erhebliche Ängste haben, dass sie kontrolliert werden könnten, zumin­
dest in der ersten Zeit. Ich habe in meiner langen Praxis noch nie Patienten
gehabt, für die Kontrollen, sei es durch Polizei oder andere Uniformierte,
nicht extrem belastend gewesen wären, unabhängig davon, ob sie einen Fahr­
schein und eine Verlassenserlaubnis bei sich hatten oder nicht. Eine Kontrolle
löst jedes Mal tief in den Körper eingegangene Ängste aus. Sie aktiviert Erin­
nerungen an traumatische Erfahrungen mit Soldaten, an Übergriffe, an Folter.
Solche Situationen stellen eine Retraumatisierung dar, auch die Angst davor
wirkt so. Die Beamten sind vermutlich nicht alle gleichgültig demgegenüber,
aber ihnen wird diese Wirkung gar nicht klar sein. Fast alle meine Patienten
wechseln die Straßenseite, wenn ihnen jemand entgegenkommt, der kontrol­
lieren könnte. Es gibt sicherlich auch die, die sich an Kontrollen gewöhnen
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ – Wirkungen auf Traumatisierte ■ 75

und Gelassenheit entwickeln, aber aus meinem Patientenkreis kenne ich das
nicht. Dabei ist bis auf eine kongolesische Patientin aus Nordbrandenburg
noch nie jemand auf dem Weg zu mir erwischt worden.

Werden die Kontrollen als Rassismus erlebt?

Zum Teil absolut ja, zum Teil auch nicht. Diese kongolesische Patientin zum
Beispiel erlebt Kontrollen, von denen nur sie als Dunkelhäutige betroffen ist,
durchaus als Rassismus, aber hauptsächlich erlebt sie sie als beschämend und
als bedrohlich auf dem Hintergrund ihrer Geschichte. Denn sie knüpfen
direkt an traumatische Erfahrungen in ihrem Heimatland an, wo sie von Uni­
formierten brutal misshandelt wurde, ihre Kinder, 10 und 12 Jahre alt, wur­
den vor ihren Augen abgeführt. Sie weiß bis heute nicht, wo sie sind. Diese
Erlebnisse verdichten sich in dem einen kontrollierenden Beamten. Viele
Flüchtlinge waren in ihren Ländern Willkür und Gewalt durch Polizeikräfte
ausgesetzt, so dass Polizei unwillkürlich Ängste auslöst, und ich nehme an, es
ist bei vielen so, dass die Schikane einer Kontrolle als intime, persönliche
Geschichte erlebt und oft nicht dem Rassismus zugeschlagen wird.

Die kongolesische Patientin hat inzwischen mit ihrem Mann eine Wohnung
beziehen dürfen, weil es ihr im Heim so dramatisch schlecht ging. Sowohl im
Heim als auch jetzt in der Wohnung leben sie in einem tendenziell rassisti­
schen Umfeld. Deshalb geht sie allein nicht aus dem Haus, ein übrigens sehr
häufiges Symptom bei Traumatisierten, die nur gezwungenermaßen allein und
nicht ohne Angst unterwegs sind. Das verstärkt sich noch durch eine feindli­
che Umgebung. Beide Eheleute haben Angst, dass ihnen etwas passieren
könnte, weil die Androhung von Gewalt in der Luft liegt und es auch schon
zu gewalttätigen Übergriffen auf andere Asylbewerber kam.

Zur rassistischen Atmosphäre, in der das Ehepaar lebt, tragen auch die
Behördenangestellten in der Kreisstadt bei. Ich hatte mehrere Gespräche mit
verschiedenen Ämtern, die im Ort mit meiner Patientin und ihrem Mann
befasst waren. Ich bekam durch die Art, in der mit mir über sie gesprochen
wurde, den Eindruck, ein sehr abwertender, rassistischer Blick wird als Kon­
sens mit mir als Deutscher vorausgesetzt. Das fand ich ganz verblüffend. Man
kann doch grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Rechtsanwalt oder eine
Psychologin, die jemanden in Therapie hat, parteiisch mit ihrer Klientin ist,
egal wo sie herkommt.
76 ■ Residenzpflicht

Haben Sie häufig Fälle, in denen eine Festschreibung der Traumatisierung durch die
Lebensbedingungen hier stattfindet, also die Umstände, die das Asylverfahrensgesetz vor­
schreibt?

Unbedingt, leider. Eine Traumatisierung erleidet jemand durch ein einschnei­


dendes, das Leben oder die Integrität der Person bedrohendes Ereignis. Wenn
danach nicht in ausreichendem Maß normalisierende, positive Erfahrungen
gemacht werden können und die Person in ein Vakuum um dieses traumati­
sierende Erlebnis herum gezwungen wird, dann ist das in erheblichem Maße
schädigend. Generell werden Menschen mit Traumatisierungen nur selten
geheilt. Aber sie können sich mit therapeutischer Hilfe stabilisieren und von
den Symptomen befreien, indem sie an ihren Ressourcen anknüpfen. Dazu
brauchen sie einen sozialen Rahmen, der sie auffängt, eine positive Beschäfti­
gung, die es ihnen ermöglicht, partiell und temporär das Erlebte zu verdrän­
gen, so dass es zunehmend in den Hintergrund tritt. Sie müssen die Erfah­
rung machen können, dass sie nicht mehr ohnmächtig sind. Asylbewerbern
wird das durch die gesetzlichen Auflagen unmöglich gemacht. Durch das end­
lose Warten auf einen geregelten Aufenthalt und ganz erheblich durch die
Isolation und die verordnete Untätigkeit können sie nicht das entwickeln, was
andere Traumatisierte vor einer Psychose retten kann. Stattdessen werden sie
in eine Chronifizierung getrieben, die durch den fortgesetzten Verlust der
Kontrolle über das eigene Leben und die Verhinderung, eigene Ressourcen zu
aktivieren, potenziert wird. Daran sind alle Elemente der alltäglichen Ein­
schränkungen durch die gesetzlichen Auflagen beteiligt. Auch die räumliche
Begrenzung auf den Landkreis ist ein sehr starker Faktor, weil sie willkürlich
einem Menschen das Recht nimmt, sich frei zu bewegen. In einem fremden
Land versucht man, Orientierung, Anknüpfungspunkte zu finden, und genau
das wird massiv behindert. Man wird gezwungen, irgendwo zu bleiben, wo
man keine Angehörigen, keine Freunde usw. hat. Wir haben häufig Fälle, in
denen Patienten ihre Verwandten nicht besuchen können. Das wird als
extrem schmerzlich, extrem dramatisch erlebt. Für die Patienten und natürlich
für jeden Flüchtling ist es ein zusätzliches, unzumutbares und für mich auch
vom Grund her gar nicht nachvollziehbares belastendes Moment, dass man
sich nicht frei bewegen kann, und die Macht der Behörde, darüber zu ent­
scheiden, welche Beziehungen man pflegen darf und in welcher Form, kann
zum Dreh- und Angelpunkt von psychischer Belastung werden. Ich habe zum
Beispiel einen sehr jungen Patienten, der ist im Land Brandenburg unterge­
bracht. Seine Eltern kamen bei Anschlägen ums Leben, vom einzigen Bruder
weiß er nicht, ob der noch am Leben ist. Die Schwester der Mutter lebt mit
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ – Wirkungen auf Traumatisierte ■ 77

ihrer Familie in Nordrhein-Westfalen. Bisher war es nicht möglich zu errei­


chen, dass die Familie der Schwester ihn bei sich aufnehmen kann.

Ein anderer Patient wollte zur Beerdigung eines Familienangehörigen nach


Holland fahren. Er beantragte dafür eine Genehmigung, die ihm verweigert
wurde. Die Beerdigung des Familienangehörigen war für ihn etwas fundamen­
tal Wichtiges. Er musste und wollte unbedingt daran teilnehmen. Er ist des­
halb ohne Genehmigung gefahren, wurde erwischt und angezeigt.33 Die Aus­
länderbehörde verweigerte ihm anschließend mit Verweis auf den Gesetzes­
verstoß den Aufenthaltstitel, der gerade bewilligt werden sollte, und erteilte
ihn nur seiner Frau.

Ist in dem Zusammenhang die starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Kon­
takte selbst traumatisierend?

Man muss das eher in dem Kontext sehen, den ich oben beschrieben habe:
Diese Aufenthaltsbeschränkung verhindert alle spontanen Versuche, die eige­
nen Ressourcen zu mobilisieren. Ich will das an der Situation der kongolesi­
schen Patientin aus Brandenburg erklären. Sie hätte unbedingt den Kontakt
zu französischsprachigen Leuten gebraucht. Ich habe für sie allein deshalb
eine sehr große Rolle gespielt, weil sie mit mir französisch sprechen konnte.
In der Stadt, der sie im Asylverfahren zugewiesen wurde, gab es nur noch
einen Freund, mit dem sie sprechen konnte, und als der wegzog, nur noch
den Ehemann. Wegen der feindlichen Umgebung ist sie auch nicht mehr raus
gegangen. Sie hat angefangen zu halluzinieren. Sie kam mehrmals in die
Psychiatrie und ist dann schließlich bei uns, bei Xenion angelangt. Diese gra­
vierende Verschlechterung mit dem Auftreten psychotischer Symptomatik ist
aus meiner Sicht vorrangig dem langen isolierten Aufenthalt geschuldet. Sie
hat schließlich über Xenion vermittelt in der Charité die Anbindung an eine
afrikanische Frauengruppe gefunden. Das war ungemein wichtig. Wir haben
versucht zu erreichen, dass sie nach Berlin umverteilt wird, aber das ist
gescheitert. Aus Kostengründen ist es immer sehr schwierig, das zu erreichen.
Also hat sie von Nordbrandenburg aus an der Therapie in der Charité teilge­
nommen, zum Teil ohne Verlassenserlaubnis, weil nicht mal die Charité
erreicht hat, dass sie dauerhaft diese Verlassenserlaubnis bekam. Das hat mich

33 Dazu sei angemerkt, dass die Reise in ein anderes EU-Land nicht strafbar ist, wohl
aber das Durchqueren der deutschen Landkreise auf dem Weg dahin.
78 ■ Residenzpflicht

gewundert, weil immerhin – die Charité ist doch nun wirklich eine Respekt
einflößende Institution.

Eine solche Isolation wie die, mit der die Flüchtlinge hier zurechtkommen
müssen, ist niemandem zuträglich, aber schon gar nicht ihnen in ihrer Situa­
tion. Ohne Kommunikation, ohne selbstverständlichen Kontakt befinden sich
die Leute wie in einem isolierten Raum, in einer künstlichen Blase, abgetrennt
von der Gesellschaft, von allen übrigen Menschen, auch der eigenen Familie,
den Freunden usw. Sie haben nur die, die mit in dieser Blase sind, sozusagen
gemeinsam in einem Boot auf einem weiten, einsamen Meer. Sie sind dauer­
haft abgeschnitten von einer normalen, das heißt sich gegenseitig als Gesell­
schaftsmitglied anerkennenden Kommunikation, was für mich auch erklärt,
warum eine, wenn auch nur kleine therapeutische Anwendung oder allein ein
Gespräch mit anderen Hilfsorganisationen als so extrem wichtig erlebt wird.

Menschen brauchen den Austausch, den freien Austausch, auch gedanklich.


Dass man nicht irgendwohin gehen kann, um diesen Austausch zu suchen,
der Sprachverlust, der daraus folgt, das Verdonnertsein zur Passivität – man
darf nicht arbeiten, nicht studieren, keine Ausbildung machen – , das alles
verweist einen auf eine merkwürdige Weise auf sich selbst. Man kann sich
nicht mal ablenken auf eine normale, würdige Art. Das fördert halluzinations­
ähnliche Zustände, Betäubungssensationen, extreme Leeregefühle im Raum.
Es entstehen psychiatrische Symptome, die möglicherweise sonst so nicht auf­
treten würden.

Menschen, die unter einem starken Trauma leiden, wozu oft auch die Flucht
selbst gehört, können unter diesen Bedingungen häufig jahrelang nicht dar­
über sprechen. Innerhalb der Kleinfamilien, die zusammen hier sind, wird oft
nicht darüber gesprochen, weil dies nur belastend wäre. Ich habe viel mit bos­
nischen Leuten zu tun, die Srebrenica überlebt haben. Sie berichten davon,
dass sie Ticks entwickeln, dass sie mit sich selbst sprechen müssen, weil sie in
keiner anderen Kommunikation mehr stehen. Nicht selten endet diese Isola­
tion in echten Halluzinationen.

In den Heimen leben ja viele Flüchtlinge zusammen. Wieso entschärft das die Isolation
nicht?

Im Gegenteil, die erzwungene Heimunterbringung verschärft die Isolation


und die psychische Belastung. Man gewinnt den Eindruck, die Unterbringung
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ – Wirkungen auf Traumatisierte ■ 79

sei absichtlich so, um die Leute abzuschrecken, durch die Lage der Heime, die
Enge der Unterbringung. Normale Wohnungen sind in der Regel viel billiger,
aber die Leute werden gezwungen, in den Heimen zu bleiben.

Ein Heim ist kein sicherer Ort. Neben dem Lärm, - „dass man es nicht aus­
hält in den Ohren“, wie sich viele ausdrücken, gibt es viele Unsicherheitsfak­
toren wie die häufig langen Flure, die großen Sanitärräume, in denen Frauen
überfallen werden. Aber auch für Männer sind die Heime unsichere, laute,
aggressive Orte. Unter dem Druck wachsen Aggressivität und Kriminalität.
Die Leute sprechen zudem verschiedene Sprachen, haben also nur wenige
Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung. Es passiert immer wieder, dass
jemand sein Zimmer zusammenhaut, es eben nicht mehr ausgehalten hat.
Natürlich gibt es auch Solidarität untereinander. Aber die Bedingungen sind
sehr schlecht. Was ich auch häufig von meinen Patienten höre ist, dass die
Abgelegenheit, die langen Wege entlang wenig befahrener Straßen, womöglich
am Wald entlang, so bedrohlich und belastend wirken, dass sie trotz der Situa­
tion im Heim gar nicht mehr weggehen.

Das heißt Isolation auf vielen verschiedenen Ebenen ...

... und in verschiedenen Formen. Nicht nur, dass man ewig wartet und nicht
weiß, klappt das jetzt, dass ich hier bleiben kann, es wird einem ständig ver­
mittelt, dass man hier unerwünscht ist. Durch das ganze Prozedere wird den
Leuten deutlich gemacht, dass man ihnen nicht glaubt und dass es nicht um
die neutrale Überprüfung eines Rechtsanspruchs geht, sondern dass man sie
in jedem Fall lieber abweisen, zurückweisen, loswerden würde. Das Asylver­
fahren wird auf diesem Hintergrund als Vabanquespiel erlebt.

Was ich ganz häufig beobachte ist, dass das Vertrauen in die europäische
Rechtsstaatlichkeit und das Konzept der Menschenrechte verloren geht durch
die Art des Asylverfahrens und durch Regelungen wie die räumliche Aufent­
haltsbeschränkung oder das Ausbildungs- und Arbeitsverbot. Wenn dann
Erfahrungen mit rassistischer Gewalt dazu kommen, dann verdichtet sich das
zu einem fundamentalen Vertrauensverlust. Es gibt Gott sei Dank auch die
Erfahrung von Unterstützung, nicht alle sind so ablehnend eingestellt. Die
meisten Leute wissen allerdings gar nicht, wie Flüchtlinge hier leben müssen.

Macht das auch einen Teil des Lebensgefühls von Flüchtlingen aus, in einer Blase zu leben,
dass so wenige Menschen wissen oder wissen wollen, wie dieses Leben aussieht?
80 ■ Residenzpflicht

Ja, sicherlich. Wir aus den Helfergruppen machen ja wahrscheinlich auch alle
phasenartig ähnliche Prozesse durch. Vor zehn Jahren war ich völlig scho­
ckiert, dass es solche Dinge hier gibt, und sagte mir, dafür stehe ich mit mei­
nem deutschen Pass nicht ein, für diese Art Politik. Und wir haben bei
Xenion ja nur die Spitze des Eisbergs, die, die es noch relativ gut getroffen
haben, denn sie sind ja in einer Behandlung. Ich habe am Anfang meinen
Freunden viel von der Situation der Flüchtlinge im Asylverfahren erzählt. Das
glaubt einem ja kaum jemand so ohne weiteres. Aber irgendwann nach ein
paar Jahren hört man auf, darüber zu sprechen, weil man die Rolle satt hat,
immer nur diese schrecklichen Geschichten zu erzählen. Am Anfang ist mir
auch nicht gleich aufgefallen, dass das System hat, dass das Asylrecht richtig
untergraben wird durch diese Gesetze und durch die Praxis der Behörden.
Wenn man das Verfahren offen halten und fair gestalten wollte, würde man
mit Menschen nicht so umgehen. Diese Umgangsformen, die ich zunehmend
als Schikanen werte, erinnern von der Struktur her an Mobbing. Das Ganze
scheint der Öffentlichkeit und auch der Polizei dabei zu helfen, das Gefühl
aufrecht zu erhalten, man sollte alle abschieben. Die Politik erteilt die Erlaub­
nis, Menschen als rechtlos zu betrachten, sie betreibt geradezu eine Enttabu­
isierung von Erniedrigung. Ich weiß nicht, wie ich es sonst werten soll. Eine
Gesellschaft muss sich überlegen, ob sie das will und was das mit ihr macht.
Die Polizeikontrolle

Du musst dich entscheiden:


Entweder Du wirst verrückt oder kriminell
„Ich werde kontrolliert, sobald sie meine Hautfarbe sehen. In den letzten
vierzehn Tagen bin ich zweimal kontrolliert worden. Einmal in Berlin,
mitten auf dem Leopoldplatz im Wedding. Wir waren drei Afrikaner und
wollten von der U-Bahn-Station über den Platz gehen. Dort sind immer
Massen von Menschen unterwegs. Wir sind bis zur Verkehrsinsel
gekommen. Mit hundert anderen zusammen sind wir über die Straße
gegangen. Drei Schwarze. Dann sind zwei Beamte hinter uns herge­
laufen und haben uns festgehalten und kontrolliert. Mich haben sie
mitgenommen, weil ich nur die Kopie von meinen Papieren bei mir
hatte. Ich nehme nie das Original mit, weil sie uns die Papiere bei den
Kontrollen immer abnehmen. Auch die Kopien haben sie mir abge­
nommen und mir eine Quittung gegeben. Aber was soll ich mit einer
Quittung? Da ist kein Bild drauf, damit kann ich mich nicht ausweisen.
Sie machen das, damit man zurückfahren muss. Bei allen machen sie das
so.
Die Leute, die die Kontrollen miterleben, sehen uns als Kriminelle an.
Es gibt gar keine Chance, Kontakte zu bekommen. Es ist so abschre­
ckend, wie wir behandelt werden. Ich bin seit sechs Jahren hier. Ich habe
in vier verschiedenen Heimen gewohnt – Orte, die nicht für menschliche
Wesen geeignet sind.
Jetzt bin ich im Osten von Brandenburg, wie immer im Wald. Ich darf
mich in ganz Brandenburg frei bewegen, aber ich muss jedes Mal durch
Berlin und umsteigen. Da werden wir kontrolliert und kriegen Strafen.
Bußgelder, die wir nicht zahlen können, weil wir kein Geld bekommen
und nicht arbeiten dürfen. Das ärgert mich maßlos. Wie kann man von
Menschen, die kein Bargeld bekommen können, verlangen, dass sie
solche Strafen zahlen? Bei jeder Kontrolle muss ich 200,- Euro und
mehr zahlen. In den sechs Jahren, die ich hier bin, bin ich etwa zwölf
Mal angezeigt worden. Ich zahle jetzt 15 Euro im Monat Raten ab für
drei Strafen. Ich frage manchmal in der Kirche oder bei anderen um
Hilfe. In Lichtenberg auf dem Bahnsteig haben sie mich einmal kontrol­
liert und dann in Handschellen abgeführt. Ich hatte eine Strafe nicht
gezahlt. Drei Tage war ich eingesperrt. Eine Freundin hat mich ausge­
löst.
82 ■ Residenzpflicht

Alle kämpfen um psychische Gesundheit, gegen die Isolation, weil man


sich nicht bewegen kann. Die Langeweile ist der Alptraum. Sie warten,
bis du verrückt bist, dann geben sie dir Papiere, aber was sollst du dann
noch damit? Man muss sich also entscheiden zwischen verrückt werden
oder frei als Mensch zu leben und von der Polizei verfolgt zu werden.
Warum behandeln Menschen Menschen so?“
J. aus Kamerun, der seinen Namen nicht nennen will, weil er Schikanen befürchtet, im
Interview 2007

Bei der Befragung von Flüchtlingen in Brandenburg gibt die Mehrheit an,
etwa zweimal im Jahr kontrolliert zu werden. Manche werden gar nicht kon­
trolliert, andere wesentlich häufiger. Dabei hängt die Häufigkeit der Kontrol­
len stark vom Geschlecht und vom Aussehen ab. Je dunkler die Haut, desto
größer die Wahrscheinlichkeit kontrolliert zu werden. Männer werden außer­
dem häufiger kontrolliert als Frauen.

Das fremdländische Aussehen begründet den Anfangsverdacht ‚illegaler Auf­


enthalt‘. In CopZone, einem Online-Chat für Polizisten, schreibt ein Beamter,
der sich über einen Vietnamesen ärgerte, weil dieser bei einer Fahrradkon­
trolle seinen Ausweis nicht zeigen wollte. Dabei wird deutlich, wie selbstver­
ständlich solche Personenkontrollen im polizeilichen Alltag sind. „Die Fahr­
radkontrolle war ja nur der Aufhänger. Sobald ich in der Kontrolle drinstecke,
bemerke ich natürlich, dass mein Gegenüber fernöstlich aussieht und kaum
Deutsch spricht, weswegen ich natürlich erst mal anhand des Passes überprü­
fen möchte, ob er sich legal in Deutschland aufhält.“34

Außer dem Generalverdacht ‚illegaler Aufenthalt‘ spielen spezifische Stereoty­


pen eine Rolle, wie das vom vietnamesischen Zigarettenschmuggler oder vom
afrikanischen Drogendealer. Frauen fallen hier weitgehend heraus. Darauf
verweisen Berichte, denen zufolge sie in Zügen ähnlich oft kontrolliert wer­
den wie Männer, aber in den Städten sehr selten.

34 www.copzone.de/modules.php?name=Forum&file=viewtopic&t=32836, gesichtet im
August 2008.
Die Polizeikontrolle ■ 83

„Zweimal hatte ich schlimme Erlebnisse im letzten Jahr. Einmal in der


Turmstraße in Berlin, vor einem Monat. Wir waren zu zweit und wurden
wie Drogenhändler kontrolliert. Ich finde das schlimm, weil die Poli­
zisten uns ausgesucht haben, nur weil wir schwarz sind. Sie waren gerade
dabei, irgendwelche Leute zu kontrollieren. Als sie uns sahen, unterbra­
chen sie die Kontrolle der Weißen und kontrollierten uns. Die zweite
Kontrolle war im Sommer. Wir waren im Zug auf dem Weg zum Heim
in Luckenwalde. Sie haben direkt uns kontrolliert, obwohl der Zug voller
Menschen war.
Du stehst auf einem Bahnsteig und um dich herum viele, viele Leute,
und sie kommen direkt auf dich zu und sagen: ‚Guten Tag, Ihren
Ausweis bitte.‘ Sie kommen immer nur zu dir. Sie sagen immer ‚Guten
Tag‘. Am Bahnhof Zoo hatte ich mir gerade ein Ticket gekauft. Da
kamen wieder zwei – ‚Guten Tag‘ – auf mich zu, und ich hatte nur eine
Fotokopie von meinem Ausweis dabei. Da haben sie mir die Hände auf
den Rücken gefesselt und mich mit in die Bahnhofswache genommen,
mich zwei Stunden lang festgehalten, fotografiert, Fingerabdrücke
genommen, nach Drogen durchsucht.
Am Anfang in Deutschland, beim ersten Mal, war ich auf dem Weg zum
Rechtsanwalt in Tempelhof. Da wollten sie nur, dass ich unterschreibe,
dass ich im falschen Landkreis bin. Ich hatte keine Ahnung, was ein
Landkreis ist! Warum machen sie das? Ich möchte das gerne verstehen!
Wozu ist das gut?“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008

Neben solchen Klischees gibt es allgemein die Verknüpfung von männlichen


Asylbewerbern mit Kriminalität und hohem Gewaltpotenzial, einem Bild, das
auch Polizeibeamte im Kopf haben. Eine Studie der Deutschen Forschungs­
gesellschaft kommt 2004 zu dem Schluss, „dass Menschen ausländischer Her­
kunft im Brennpunkt polizeilichen Interesses stehen.“ Verstärkte Kontrollen
zielten aber nicht auf den ‚ausländischen Normalbürger‘, sondern „vor allen
anderen auf Asylbewerber“ und andere marginalisierte Gruppen.35 Das ein­

35 Thomas Schweer, Hermann Strasser und Steffen Zdun: „Das da draußen ist ein Zoo,
84 ■ Residenzpflicht

gangs erwähnte Beispiel von den afrikanischen Studierenden, die in Karlsruhe


andauernd kontrolliert wurden, zeigt, dass die Kategorien fließend sind und
rassistisch unterlegt.

Erfolgreich durch Ressentiments

Die folgenden Beispiele veranschaulichen, dass Vorurteile und Ressentiments


bei der Polizei durch die ‚Residenzpflicht‘ verstärkt werden. Das Ressentiment
wird belohnt, selbst wenn, wie hier in den Beispielen, die vietnamesische Ver­
sammlung kein Schmugglertreff war und die afrikanischen Fahrgäste doch
eine Fahrkarte hatten. Es wird belohnt mit dem Erfolg, jemanden beim Ver­
stoß gegen die ‚Residenzpflicht‘ erwischt zu haben, und das wiederum bestä­
tigt: Irgendwas stimmt bei denen immer nicht.

Beispiel 1: Polizeieinsatz in Berlin, Prenzlauer Berg


„Eigentlich wollten sie zur frommen Gedenkfeier für die 117 von Papst
Johannes Paul II. heilig gesprochenen vietnamesischen Märtyrer kommen,
dann wurden sie selbst Opfer einer ungerechten Verfolgung durch die
Polizei“, heißt es in der Pressemitteilung der katholischen Gemeinde Corpus
Christi. Am Sonntag, den 25. November 2007, hatten sich viele Vietnamesen
vor der Kirche in der Nähe der S-Bahn-Station Landsberger Allee versam­
melt, um zum monatlichen katholischen Gottesdienst für Vietnamesen zu
gehen, als plötzlich drei Polizeifahrzeuge vor der Kirche hielten. Die Beamten
drangen in den umzäunten Kirchhof ein und begannen mit einer Ausweis­
kontrolle. Etliche der Gläubigen mussten sich mit erhobenen Händen an die
Backsteinwand der Kirche stellen und wurden durchsucht. Viele flüchteten
aus dieser Szene, liefen in den angrenzenden Park oder suchten Schutz in der
Kirche, in der gerade die Messe beginnen sollte. Die Polizei verfolgte sie,
drang auch in den Kirchenraum ein, um Gläubige zur Kontrolle nach draußen
zu zerren. Das Eingreifen einer Kirchenmitarbeiterin konnte den Übergriffen
ein Ende setzten. Es gelang ihr, die Beamten zum Abzug zu bewegen. Die
vorübergehend festgehaltenen Vietnamesen wurden freigelassen.

und wir sind die Dompteure“. Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten
und sozialen Randgruppen. Duisburg 2008.
Die Polizeikontrolle ■ 85

Der Seelsorger Pater Stefan Taeubner erläutert auf Nachfrage: „Die Razzia
wurde von den Polizisten damit rechtfertigt, dass ihnen die Ansammlung so
vieler Vietnamesen verdächtig vorgekommen sei. Sie vermuteten einen
Umschlagplatz für geschmuggelte Zigaretten. Es waren Revierpolizisten,
denen in ihrer Voreingenommenheit nicht mehr auffiel, dass die ‚verdächtige’
Versammlung vor der Kirche stattfand und das eine vielleicht mit dem ande­
ren zu tun haben könnte.“ Nach massivem Protest der Kirchenleitung ent­
schuldigte sich der Berliner Polizeipräsident für „den unverhältnismäßigen
Einsatz und eine überzogene Reaktion“. Im Rahmen der Razzia wurden Ver­
stöße gegen die Residenzpflicht festgestellt und Personalien aufgenommen
von Personen, die keine Papiere bei sich hatten. Diese Verfahren wurden auf­
grund der Proteste der Kirche nicht weiter verfolgt.

Beispiel 2: Polizeieinsatz in Strausberg, Brandenburg und Berlin-


Lichtenberg
In Strausberg, einer Kleinstadt vierzig Kilometer östlich von Berlin, beobach­
tete am 3. Januar 2007 ein Passant vom Bahnhof-Imbiss aus folgende Szene:
Innerhalb kurzer Zeit zogen sich viele Polizeibeamte in Uniform und Zivil
zusammen und warteten auf den ankommenden Zug aus Osten. Als der Zug
anhielt, bestiegen sie alle Wagons und wiesen die schwarzen Fahrgäste, und
nur diese, aus den verschiedenen Wagen hinaus. Die ca. 10-12 Personen (dar­
unter 3 Frauen) wurden auf dem Bahnhof in einer Art Spalier festgehalten.
Sie protestierten und zeigten ihre Fahrkarten. Die Beamten führten Personen­
kontrollen durch. Der Vorgang dauerte ca. 10 Minuten. In dieser Zeit stand
der Zug, was zu Unmut bei Zugführer und Fahrgästen führte. Dann konnte
ein Teil der Festgesetzten die Weiterfahrt antreten. Fünf Männer wurden wei­
ter festgehalten.

Die Beamten sprachen von „Residenzpflichtbrechern“. Es fand eine Art Ver­


nehmung statt, wo sie denn hinfahren wollten: „Nach Hamburg oder Berlin
zum Schwarzarbeiten?“ Einer der Beamten bestand nun darauf, von allen ein
Foto zu machen, wegen „Wiederholungsgefahr“. Die fünf Personen verwei­
gerten das zuerst, aber der Beamte bestand nachdrücklich darauf, und sie nah­
men es letztendlich gelassen. Als ihre Papiere überprüft waren, konnten sie
gehen.36 Soweit der Bericht des Augenzeugen. Die Nachrecherche beim Poli­
zeipräsidium und der Bahngesellschaft ergab Folgendes: Während der Fahrt

36 http://www.inforiot.de/artikel/notizen-zum-strausberger-polizeieinsatz.
86 ■ Residenzpflicht

hatte die Zugbegleiterin die Polizei gerufen, weil es Ärger mit Afrikanern
gäbe. Die Brandenburg-Tickets, die für fünf Personen gelten, konnte sie nicht
zuordnen und fühlte sich in der Auseinandersetzung darum bedroht. Darauf­
hin setzte die Polizei 16 Beamte ein, um das Problem mit dem Ticket zu
lösen. Man ersetze nun „Schwarze“ durch „Jugendliche“ und lese den Text
noch einmal. Ein solcher Einsatz wäre schwer vorstellbar und nicht zu recht­
fertigen.

Die Geschichte ging weiter. Weil sich in Strausberg zwar alle noch im zuge­
wiesenen Landkreis befanden, aber in Richtung Berlin fuhren, informierte der
Einsatzleiter in Strausberg seine Berliner Kollegen. „Als wir in Berlin-Lichten­
berg ankamen und umsteigen wollten, stand der Bahnsteig wieder voller Poli­
zisten“, berichtet ein Betroffener aus der Personengruppe, die mit dem Zug
hatte weiterfahren dürfen. Dort mussten sie eine Stunde lang auf dem Bahn­
hof stehen, wurden kontrolliert und durchsucht. Zwei Personen wurden
abgeführt, die meisten anderen wegen Verstoß gegen die räumliche Beschrän­
kung angezeigt und ihre Papiere eingezogen.

Beispiel 3: Einsätze in Berlin-Marzahn


Kontrollen finden nicht nur im öffentlichen Raum statt. Während der Recher­
che wurde immer wieder von Kontrollen in Wohnungen berichtet. Das hat
nichts mit kriminellen Milieus zu tun, in denen sich die Leute bewegen, wenn
sie sich in Berlin-Marzahn oder sonst wo aufhalten. Ein Übersetzer erklärte
die Hintergründe von solchen Wohnungskontrollen wie folgt: „Vietnamesi­
sche Landsleute treffen sich am Wochenende häufig in großen Gruppen mit
Verwandten und Freunden. Die deutschen Nachbarn finden das oft störend
wegen der Lautstärke oder der Unruhe und vermutlich auch, weil es ihnen
suspekt ist. Dann rufen sie die Polizei. Den Beamten ist die Ansammlung von
Ausländern ebenfalls suspekt, das heißt, sie kontrollieren erst mal die Perso­
nalien von allen Anwesenden. Wenn sie dabei jemanden ohne Verlassenser­
laubnis finden, waren sie erfolgreich und kommen an den Wochenenden
danach auch ohne nachbarliche Aufforderung vorbei, um zu kontrollieren.“
Die Polizeikontrolle ■ 87

Illegalität, Schleierfahndung und ‚Residenzpflicht‘

Illegale Migration gilt in Innenministerien und Kriminalämtern seit einigen


Jahren als Sicherheitsrisiko Nummer zwei, gleich nach dem internationalen
Terrorismus. Nach ‚Illegalen‘ wird gesucht im Rahmen der sogenannten
Schleierfahndung, das sind verdachtsunabhängige Personenkontrollen durch
die Bundespolizei. Solche Personenkontrollen sind republikweit in überregio­
nalen Zügen, auf Bahnhöfen, Autobahnen und Europastraßen und entlang
der Grenze jederzeit bis 30 Kilometer ins Landesinnere hinein erlaubt. Erklär­
tes Ziel laut Bundespolizeigesetz: vorbeugende Bekämpfung der grenzüber­
schreitenden Kriminalität und die Verhinderung und Unterbindung unerlaub­
ter Einreise. Es liegt nahe, dass gezielt fremdländisch aussehende Personen
kontrolliert werden.

„Die Polizisten kamen auf einem vollen Bahnsteig direkt auf mich zu
und sagten ‚Guten Tag‘, und ich dachte, die wollen mit mir reden. Aber
nein, sie wollten meine Papiere sehen. Da habe ich laut gelacht, und sie
haben gefragt, warum ich lache, und ich hab gesagt: Das ist lustig.
Überall hier sind Leute, aber ihr denkt, weil sie weiß sind, sind sie
deutsch. Aber vielleicht sind es illegale Russen? Aber ihr kommt zu mir,
weil ich schwarz bin. Das ist lustig! Sie sagten: Nein, das hat nichts mit
der Hautfarbe zu tun.“
„Ich bin jetzt 30 Jahre alt. 2000 bin ich aus Vietnam gekommen. Im
letzten Jahr wurde ich viermal kontrolliert und ich denke, das wird so der
Schnitt sein: viermal im Jahr. Im letzten Jahr, das war immer in Berlin
und Brandenburg. Die Kontrollen sind meistens im Zug, in Berlin auch
mal in einer Straßenbahn. Wenn sie dir die Papiere abnehmen, musst du
hinterher zur Ausländerbehörde, sie neu beantragen. Das ist sehr unan­
genehm und dauert manchmal drei Tage, manchmal drei Wochen. Bei
den Kontrollen geben sie dir immer das Gefühl, du bist ein Verbrecher.
Einmal haben sie mir sogar auf dem Bahnsteig Handschellen angelegt,
obwohl ich mich ausweisen konnte. Sie haben mich in ihren Wagen
gebracht, haben dort mit der Ausländerbehörde telefoniert und mich
dann wieder frei gelassen. Am schlimmsten fand ich eine Situation in
Oranienburg. Ich hatte einen Job in Aussicht, und vor dem Vorstellungs­
88 ■ Residenzpflicht

gespräch war keine Zeit, eine Erlaubnis zu beantragen. Beleidigt haben


sie mich und bedroht. Ich musste mit auf die Wache. Der Polizist hatte
meine Duldung schon in der Hand. Ich habe ihm erzählt, was der Grund
ist, warum ich keinen Urlaubsschein habe. Der Polizist hat gesagt: „Du
musst jetzt zurück nach Vietnam.“ Das hat mich echt sauer gemacht,
und ich habe geschimpft. Da ist der aufgestanden, hat mich angeschrieen
und kam auf mich zu, als wollte er mich schlagen. Drei Polizisten waren
in dem Raum. Dann haben sie meine Duldung behalten und mich
weggeschickt.“
„Neulich wurde ich kontrolliert. Am 6. Februar. Das ist ein traditionelles
Fest bei uns Vietnamesen und ich wollte nach Berlin, um Lebensmittel
einzukaufen. Das habe ich mit Händen und Füßen versucht, den Poli­
zisten zu erklären. Ich hatte keinen Schein beantragt, weil ich gleich
zurück wollte und dachte, ich könne das den Polizisten erklären und sie
würden das akzeptieren. Ein anderes Mal bin ich kontrolliert worden, da
wollten Sie mir nicht glauben, dass ich die Person auf der Duldung bin.
Das war am Hauptbahnhof in Berlin. Ich kam gerade vom Fahrkarten­
verkauf. Die Polizisten waren in Zivil. Sie wollten meine Papiere, ich
habe die Duldung gezeigt, und sie haben mir sofort die Daumen auf
dem Rücken mit so einem Kabelbinder zusammengebunden und mich
abgeführt. Alle konnten das sehen. Sie haben mich in die Revierstelle
gebracht und meine Duldung einbehalten. Dann konnte ich gehen.“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008

Bei den ‚Treffern‘ der Schleierfahndung handelt es sich zum größten Teil um
Bagatelldelikte oder um ausländerrechtliche Verstöße. Daran wiederum ist der
Anteil von ‚Residenzpflicht‘-Verstößen regelmäßig so hoch, dass sie erheblich
zur Erfolgsbilanz der Bundespolizei beitragen, auch heute noch, trotz massiv
gesunkener Flüchtlingszahlen. In der folgenden Tabelle sind aktuelle Zahlen
aufgeführt. Zugrunde gelegt ist der Anteil der ‚Residenzpflicht‘-Verstöße an
der Gesamtzahl der ausländerrechtlichen Delikte (illegale Einreise, illegaler
Aufenthalt, Einschleusen etc.), die in der Polizeilichen Kriminalstatistik aufge­
führt sind. Die Zahlen von Berlin und Brandenburg verweisen darauf, dass
die meisten brandenburgischen Flüchtlinge in Berlin ‚erwischt‘ werden.
Die Polizeikontrolle ■ 89

Land 2005 2006 2007

bundesweit 22% 23% 25%

Berlin 50% 43% 38%

Brandenburg 7% 8% 7%
Tabelle 1: Anteil der ‚Residenzpflicht‘-Verstöße an den ausländerrechtlichen Deliktgrup­
pen in der PKS für Berlin, Brandenburg und bundesweit.37

Wie unmittelbar die Existenz dieses Deliktes vom Verfolgungswillen abhängt,


zeigt das Beispiel des Landkreises Uckermark. Die Berichte der Flüchtlinge
von gezielten Kontrollen, nachdem sie die Uckermark verlassen und in den
Landkreis Barnim kommen, sind statistisch sehr eindeutig belegt: Von den 16
brandenburgischen Kreisen fanden 2005–2007 die Hälfte aller „Aufgriffe“ im
Landkreis Barnim statt.

Landkreis 2005 2006 2007

Brandenburg
259 (100%) 340 (100%) 235 (100%)
(alle Landkreise)

Landkreis Barnim 105 (41%) 178 (52%) 113 (48%)

Landkreis
22 (8%) 19 (6%) 21 (9%)
Uckermark
Tabelle 2: Verteilung der ‚Aufgriffe‘ nach Verstößen gegen die ‚Residenzpflicht‘ in ausge­
wählten Landkreisen Brandenburgs.

37 In der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gibt es die Kategorie „Verstoß gegen das
Asylverfahrensgesetz“, die man mit ‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen kann.
Das Gesetz sieht zwar weitere Straftatbestände vor, die seien aber so selten, meinen
Fachleute wie Norbert Wingerter, dass sie statistisch keine Rolle spielen. Für Gedul­
dete ist die räumliche Beschränkung seit 2005 im Aufenthaltsgesetz geregelt. Die
Aufgriff-Zahlen in der Rubrik „Sonstige Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz“ kann
man ebenfalls mit ‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen, da alle anderen statistisch
relevanten Straftatbestände unter anderen Schlüsseln aufgeführt werden.
90 ■ Residenzpflicht

„Einmal hat mich ein Freund eingeladen. Er hatte Geburtstag, rief an


und sagte: ‚Ich feiere morgen und möchte, dass du kommst!‘ Das war
Freitag, und ich konnte nicht mehr zur Behörde. Mein Freund hat
gesagt: ‚Das sind nur fünf Stunden, komm mal!‘ Er wohnt in der Nähe
von Frankfurt. Als ich da aus dem Zug raus bin und auf den Bus
gewartet habe, kam die Polizei und hat meine Papiere verlangt. Ich habe
ihnen alles erklärt, aber es hat sie nicht interessiert. Das zweite Mal war
in Cottbus am Bahnhof. Ich war dort, um einen Freund abzuholen. Da
kam die Polizei und wollte meinen Ausweis sehen. Ich habe gesagt:
‚Nein, das hier ist mein Landkreis.‘ Aber sie wollten ihn trotzdem sehen.
Ich habe gefragt: ‚Warum ich und nicht die anderen?‘ - ‚Wir machen nur
unsere Arbeit‘ sagten sie. ‚Dann macht sie richtig‘ habe ich gesagt und
um mich rum gezeigt auf all die anderen Leute. ‚Das ist nicht deine
Sache‘, sagte der Polizist, nahm meinen Ausweis und telefonierte mit
seinem Boss, dann habe ich ihn wieder bekommen.“
„Ich komme aus Irak, einem Land, wo die Polizei schlimm ist. Aber das
ist eine Diktatur und hier erwarten wir anderes. Hier ist die Polizei
respektlos. Sie hat Angst vor den Ausländern und die Ausländer haben
Angst vor der Polizei.“
„Einmal wartete ich in Berlin am Hauptbahnhof auf den Zug. Da kam
ein Polizist, verlangte meine Papiere, las sie und fragte: ‚Bist du Moslem?‘
Das hat mich aufgeregt. Und dass er nur zu mir kam. Ich habe mich
beschwert und er hat sich entschuldigt.“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008
Die Polizeikontrolle ■ 91

Institutioneller Rassismus
Interview mit Martin Herrnkind

Martin Herrnkind ist Diplomkriminologe, Polizeiforscher, Beamter der


Schutzpolizei und Mitglied in der Fachkommission Polizeirecherche von
Amnesty International.

Welchen Anteil haben Kontrollen wegen der ‚Residenzpflicht‘ an der Häufigkeit der Kon­
trollen von ausländisch aussehenden Menschen überhaupt?

Oh, das ist schwer zu sagen, weil Kontrollen aus unterschiedlichen Motiven
vorgenommen werden. Grundsätzlich geht es bei der Bundespolizei, wenn sie
im Grenzbereich oder überregionalen Verkehrszonen arbeitet, also in den
Intercity-Zügen oder an großen, überregionalen Straßenzügen, hauptsächlich
um ausländerrechtliche Verstöße. Das lässt sich auch an der Begründung der
sogenannten Schleierfahndung ablesen. Wenn man sich die Aufgriff-Zahlen
anschaut, dann liegen die Delikte sehr, sehr häufig im Bereich Residenz­
pflicht. Aber das ist nicht das Motiv der Kontrolle, auch wenn die Aufgriffe
häufig damit zu tun haben.

Denken Sie, Menschen mit dunkler Hautfarbe würden weniger oft kontrolliert, wenn es die
Residenzpflicht nicht gäbe?

In Bereichen mit großen Asylbewerberunterkünften, könnte ich mir vorstel­


len, spielt die Residenzpflicht als Motiv für Kontrollen eine Rolle. In Meck­
lenburg-Vorpommern zum Beispiel gibt es eine große Asylbewerberunter­
kunft. Sechs Kilometer entfernt im benachbarten Schleswig-Holstein liegt die
Kleinstadt Lauenburg. Weil diese Asylbewerberunterkunft sozusagen j.w.d.
liegt, auf dem flachen Land ohne Stadtnähe, gehen viele Leuten zum Einkau­
fen nach Lauenburg und überschreiten dabei die Landesgrenze. Auf der
Straße, das kann man schon behaupten, finden Kontrollen aus eben diesem
Grunde statt.

Aber im großen Maßstab ist der Zusammenhang nicht gegeben. Zumindest


ist das anzunehmen, denn in allen anderen Staaten, in denen schon länger
Polizeiforschung betrieben wird, kommt die Forschung zu dem Schluss, dass
es ein racial profiling gibt, d. h. dass die Kontrollen in erster Linie auf Minder­
heiten fokussiert sind, egal welche es im Einzelfall jeweils sind. Aber nirgends
gibt es diese Aufenthaltsbeschränkung. Insofern glaube ich, kann man sich die
92 ■ Residenzpflicht

Residenzpflicht auch wegdenken und es würde sich an dieser Art institutiona­


lisierter Diskriminierung wahrscheinlich nicht viel verändern.

Es ist aber grundsätzlich so, dass alle Gesetze darauf abzielen, im Sinne der
Institutionen erfolgreich zu sein. Das bedeutet, wenn der Bundesgrenzschutz
– das kann man jeden Tag beobachten – in einem Intercity-Express kontrol­
liert, dann ist das eine Crew von drei Beamten, die gehen durch den Zug und
könnten die Reisenden im Sinne einer Vollkontrolle gar nicht kontrollieren.
Deshalb selektieren sie diejenigen, von denen sie glauben, dass die Wahr­
scheinlichkeit, einen Aufgriff zu haben, am größten ist. In ihrem Verständnis
heißt das: erfolgreich sein. Auch im Verständnis der Institution. Darauf sind
die Gesetze angelegt, und damit sind sie institutionalisierte Diskriminierung,
würde ich sagen, oder institutionalisierter Rassismus. Das Gesetz an sich.

Mit anderen Worten: Wenn wir über Polizeirassismus sprechen, dann haben
wir häufig im Hinterkopf den rassistisch disponierten Beamten, die mit frem­
denfeindlichen Ideen behaftete Beamtin. Ich kann mir aber bei der Ausübung
dieser Tätigkeit der Bundespolizisten im IC-Express einen nicht rassistischen
Beamten vorstellen, der nur versucht, seinen Job erfolgreich zu machen und
sich dabei im Effekt, in der Wahrnehmung der Betroffenen rassistisch verhält.
Es gibt wahrscheinlich Polizistinnen und Polizisten, die rassistisches Gedan­
kengut in sich tragen, aber es gibt auch die, die das nicht tun und trotzdem
durch die Anwendung dieses Gesetzes effektiv rassistisch handeln. Und damit
ist es dann eben nicht mehr ein individueller Rassismus, der sich vom Motiv
des Handelns auf den Einzelnen oder die Einzelne bezieht, sondern es ist
eine institutionalisierte Form des Rassismus. Wenn Sie jetzt feststellen, an
Zahltagen wird in manchen Regionen besonders auf den Strecken, die aus
den Landkreisen heraus führen, kontrolliert, dann könnte man sagen, der
Chef, der das anordnet, ist vielleicht ein Rassist. Zumindest wäre das denkbar,
es kann aber auch sein, dass der einfach nur erfolgreich sein will, gute statisti­
sche Zahlen für seine Dienststelle herausholen will, um damit möglicherweise
sein Personal zu entwickeln. Das klingt jetzt zynisch, aber Erfolgsorientierung
in diesem Sinne produziert eine Form des Rassismus. Jeder Dienststellenleiter
würde aber „Nein“ sagen, „sowas machen wir nicht“, wenn Sie ihn fragen, ob
das so ist.
Die Polizeikontrolle ■ 93

C. ist seit fünf Jahren in Cottbus. Er hat eine Tochter in der Nachbar­
stadt Guben. Beide Orte liegen in der Grenzregion zu Polen. „Wenn ich
in Guben bin, werde ich fast täglich kontrolliert. Ich kenne die Polizisten
alle. Sie behaupten aber immer, sie kennen mich nicht. Sie kontrollieren
mich auch, wenn ich mit meiner dreijährigen Tochter unterwegs bin. Sie
sagen, sie kontrollieren, weil wir im Grenzgebiet sind. Ich sage ihnen
immer: ‚Ihr kontrolliert mich, weil es keine schwarzen Polen gibt‘.“
„Im November 2007 war ich auf dem Bahnhof Beusselstraße in Berlin.
Als ich den Bahnhof verließ, kam Polizei auf mich zu und kontrollierte
mich, obwohl es viele Weiße gab, die sie nicht kontrollierten. Sie haben
mich dann zur Polizeiwache mitgenommen, wo sie mich auszogen, mich
systematisch durchsuchten, in Gegenwart von Hunden und Frauen. Sie
haben aber nichts bei mir gefunden und mich dann in eine Zelle
gesperrt. Zwei Stunden später holten sie mich, nahmen meine Fingerab­
drücke und machten ein Foto. Danach musste ich noch eine Stunde in
die Zelle, bevor sie mich entließen.“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008

Konflikte und Gewalt

Bei Protesten gegen solche Kontrollen kommt es regelmäßig zu Auseinander­


setzungen mit der Polizei, die schnell eskalieren können, wie der unten ste­
hende Fall zeigt. Auch ohne einen Anfangskonflikt wird immer wieder von
Schikanen, Beleidigungen bis hin zu Misshandlungen berichtet.

Im März 2005 wurden vier dunkelhäutige Personen an der Bushaltestelle


in Eisenhüttenstadt gezielt durch die Polizei kontrolliert. An der Halte­
stelle standen auch viele andere, nicht farbige Personen, die nicht
kontrolliert wurden. Auf Nachfrage der Betroffenen, weshalb sie im
Gegensatz zu allen anderen Anwesenden kontrolliert würden, wurde
geantwortet, es gäbe nichts zu fragen oder zu diskutieren, sie würden
kontrolliert, weil sie „illegal aussehen“. Die Betroffenen betonen, dass
sie keine Probleme mit Polizeikontrollen im Allgemeinen, aber mit dieser
94 ■ Residenzpflicht

Form von rassistischen Polizeikontrollen hätten. Es stehe in niemandes


Gesicht geschrieben, ob er illegal sei oder ähnliches. Die Polizisten
wurden nach ihren Namen befragt, aber diese wurden nicht genannt.
Nachdem den Kontrollierten auch die Busfahrt verweigert wurde, eska­
lierte die Situation. Zweien wurden die Hände gefesselt, ein Betroffener
bekam Pfefferspray in die Augen und konnte nichts mehr sehen. Er
spürte, dass die Polizei versuchte, seinen Mund zu öffnen. Instinktiv
versuchte die Person, den Mund geschlossen zu halten. Der Betroffene
hatte große Angst, weil die Absicht der Aktion nicht klar war. Er bekam
dann nach eigenen Aussagen einen Schlag mit dem Walkie-Talkie ab. Die
vier Personen, die sich weigerten, aufgrund dieser aggressiven Art an der
Polizeikontrolle mitzuwirken, wurden gezwungen sich auszuziehen und
dann vorrübergehend inhaftiert. Die Person, die Pfefferspray in die
Augen bekam, wurde acht Stunden lang nicht verarztet und bekam auch
kein Wasser.
Aus einer Presseerklärung des Flüchtlingsrates Brandenburg
Auswirkungen II: „Die Kontrolle ist vor allem
eine psychische“. Zur Situation von Frauen
Interview mit Florence Sissako

Im Durchschnitt wurden in den letzten Jahren 30 Prozent der Asylanträge


von Frauen gestellt. Bei den Verurteilten wegen wiederholten ‚Residenz­
pflicht‘-Verstößen ist der Frauenanteil auffallend niedriger und liegt bei etwa
8 Prozent. Im folgenden Gespräch erläutert die Gesundheitswissenschaftlerin
Florence Sissako, Begründerin der brandenburgischen Organisation Women in
Exile, die geschlechtsspezifischen Unterschiede, wie sie sie selbst als Flücht­
ling erlebte und in der langjährigen Arbeit von Women in Exile kennen
gelernt hat.

Gibt es Unterschiede in den Erfahrungen von Flüchtlingen, die man eindeutig dem
Geschlecht zuordnen kann, besonders im Zusammenhang mit der ‚Residenzpflicht‘?
In den Heimen gibt es viele Probleme mit Gewalt. Die permanente Anspan­
nung, das Leben auf engstem Raum mit reduzierten sprachlichen Möglichkei­
ten und diese Untätigkeit sind ein Nährboden für Gewalt. Darunter leiden
Frauen am meisten. Die Alleinreisenden, seien es nun Frauen mit Kindern
oder ganz Alleinstehende, sind besonders gefährdet, Opfer von Belästigungen
und Übergriffen zu werden, aber es gibt auch die Gewalt in den Familien. Alle
leben unter Druck, die Männer oft mit Depressionen, mit Alkoholismus. Ihre
Rolle ist infrage gestellt, weil sie nicht arbeiten dürfen. Das soll nur erklären,
auf welchem Hintergrund es dazu kommt.
Verschärft sich diese Situation noch durch den Zwang, erst eine Erlaubnis zu beantragen,
um zum Beispiel Verwandte besuchen zu können und dort vielleicht emotionale Unterstüt­
zung zu bekommen?
Ja, aber…, wie soll ich sagen? Einige bekommen eine Genehmigung, andere
nicht. Das ist wie ein Würfelspiel, und ich ermutige immer dazu, sich darüber
hinwegzusetzen. Viele Frauen haben aber keinen Mut z. B. gegen das Resi­
denzpflichtgesetz zu verstoßen und `rauszugehen aus ihrer bedrückenden
Situation. Sie schaffen das nur, um nahe Freundinnen oder Verwandte zu
besuchen. Die meisten haben ja solche Kontakte in Deutschland, deswegen
sind sie hierher gekommen und nicht in ein anderes Land. Wenn man aufbre­
96 ■ Residenzpflicht

chen muss, dann versucht man natürlich dahin zu gehen, wo man Menschen
kennt, die einen unterstützen können. Aber jede Geschichte ist anders.
Viele Männer verlassen die Heime, tauchen dort nur noch einmal im Monat zum Zurück­
melden auf und leben illegal mit allen Konsequenzen der Illegalität in den Städten. Wäre
das für Frauen überhaupt möglich?
Die Frauen, die Kinder haben, müssen unbedingt im Heim bleiben, weil die
Kinder zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Du kannst wirklich nicht
unterwegs sein, wenn du ein Kind hast. Vielleicht zu Besuch an Feiertagen.
Aber auch für Frauen ohne Kinder ist es sehr schwer. Wenn du keine Ver­
wandten oder enge Freunde hast, hast du keinen Schutz.
Aber in den Heimen gibt es ja auch keinen Schutz. Man hört immer wieder, dass sich die
Frauen abends nicht mehr aus den Zimmern trauen, nicht einmal, um auf die Toilette zu
gehen.
Ja, ich selbst, als ich noch in der Situation war, habe etwas in meinem Zimmer
organisiert, um nachts nicht auf diesen schrecklichen Flur zu müssen. Es ist
in den meisten Heimen nichts von innen abschließbar, weder die Zimmer
noch die Toiletten. Man ist die ganze Zeit in einer Art Ausnahmezustand und
Überlebenstraining.
Das heißt, man kann nicht von innen abschließen?
Du hast für das Zimmer einen Schlüssel, aber du kannst nur von außen
abschließen, nicht von innen. Die Toiletten haben gar keine Schlüssel und oft
gibt es auch keine geschlechtsgetrennten Sanitärräume. Das ist zumindest in
den meisten Heimen so. In einigen gibt es abgetrennte Wohnungen, und
natürlich kenne ich nicht alle Heime, aber sehr viele. Dadurch, dass immer
weniger Flüchtlinge ankommen, sind auch die nationalen Communities klei­
ner und der Schutz, den eine solche Community gewährt, geringer oder es
gibt ihn gar nicht mehr. Für Frauen, vor allem die mit Kindern, ist die Hei­
munterbringung ein viel größeres Problem als zum Beispiel die Polizeikon­
trollen.
Frauen, so hat man den Eindruck, werden viel seltener kontrolliert.
Ja, vor allem, wenn sie mit Kindern reisen. Manche reisen in den Ferien mit
den Kindern weit weg zu Verwandten ohne eine einzige Kontrolle. Trotzdem
ist die Angst vor den Kontrollen viel größer. Mit Kindern kannst du nicht
weglaufen, du willst ihnen solche Situationen ersparen, du bist verwundbarer.
Auswirkungen II: Zur Situation von Frauen ■ 97

Auch für Frauen ohne Kinder sind Polizeikontrollen real ein geringeres Pro­
blem als für Männer, aber psychisch ein wesentlich größeres. Die Frauen blei­
ben deshalb länger im Heim als Männer. Das ist eine Tatsache. Sie brauchen
wirklich Monate, bis sie sich trauen, diese schrecklichen Orte zu verlassen.
Aber sie haben auch schlechtere Bedingungen, sich im informellen Sektor
durchzuschlagen. Sie haben meistens sehr viel hinter sich, wenn sie hier
ankommen, hatten diesen Überlebensmut, den Willen sich durchzubeißen.
Aber sie kommen mit der Erwartung: Jetzt bin ich in einem sicheren Land.
Jetzt wird es mir gut gehen. Dann sind sie am Ziel, und plötzlich gibt es
unüberschaubare und nicht nachvollziehbare Verbote und Restriktionen. Ich
glaube, ab diesem Moment setzt eine große Verunsicherung ein, und sie wis­
sen nicht mehr, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie brauchen wirk­
lich viel Zeit, bis sie aus dieser Starre wieder herauskommen.
Es war bei mir so, und ich beobachte es bei anderen Frauen auch. Als ich
hierher kam und mir die elementaren Dinge verboten wurden und ich nicht
verstand, warum, habe ich mir gesagt: ‚Okay, bleib erst mal ruhig!‘ Ich war in
Hennigsdorf bei Berlin und kam dort nicht weg. Ich habe meine Freundin in
Bonn angerufen und sie gefragt: ‚Was sind denn das für Geschichten hier? Ich
darf nicht zu dir kommen, und niemand darf zu mir kommen! Wer mich
besucht, darf nur einen Tag von 9 bis 22 Uhr bleiben, was soll denn das?‘ Sie
wusste es auch nicht, und auch sie hat mir empfohlen: ‚Bleib erst mal ruhig,
du musst erst mal beobachten, was da passiert, wie man damit umgehen
kann.‘ Ich glaube, das ist die psychische Verfassung von vielen Frauen. Män­
ner können einfacher weggehen, sie haben ein anderes Ego und andere Netz­
werke.
Es gibt also diese zwei Ebenen: psychisch sind die Frauen stärker von der
Residenzpflicht betroffen als Männer, aber real sind sie von Kontrollen, vor
allem auf der Straße, und von der Kriminalisierung weniger betroffen.
98 ■ Residenzpflicht

Abbildung 2: Beispiel einer Duldungsbescheinigung



Die Verurteilung
„Das Schlimmste ist, einem Menschen zu verbieten,
sich zu bewegen. Kriminelle kann man bestrafen, aber
wofür bestraft man uns?“
„Ich verstehe das Ganze wirklich nicht. Was habe ich Schlim­
mes gemacht? Ich habe sogar Entschuldigungsschreiben
geschickt. Das hat nichts geholfen. Einmal hatte ich eine
Gerichtsverhandlung wegen fünf Verstößen. 500 Euro
Strafe. Mitgenommen haben sie mich nie. Die Polizisten
waren immer freundlich, glaube ich. Ich verstehe sie ja
nicht.“
(Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg
zu Polizeikontrollen 2008)

In Brandenburg wird die Hälfte aller Asylsuchenden bereits in den ersten drei
Monaten des Asylverfahrens kriminalisiert und zu einer Geldstrafe wegen
Verstoß gegen die räumliche Beschränkung (s.u.) verurteilt. Mit jeder weiteren
Verurteilung steigt das Strafmaß, wie der Anwalt Felix Isensee aus Erfahrung
weiß: „Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn beim ersten Mal
zu 30 Tagessätzen verurteilt wird, dann muss beim zweiten Mal erhöht wer­
den. Irgendwann wird es dann etwas Persönliches, in dem Sinn, dass sich ein
Richter regelrecht provoziert fühlt, wenn jemand zum Beispiel in der Bewäh­
rungszeit wieder erwischt wird. Ich höre aber auch immer wieder, dass ein
Richter das ganze Gesetz absurd findet. Sie verurteilen aber trotzdem.“
Andrea Würdinger, Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und
Anwältevereins (RAV), meint dazu: „Die übliche Systematik des Strafens,
nämlich die Steigerung der Sanktionen, wenn sich die Verurteilten durch Wie­
derholungstaten uneinsichtig zeigen, greift bei den Residenzpflichtverstößen
nicht. Das führt uns zum eigentlichen Kern des Problems: Die Regel selbst
wird von den Betroffenen als falsch empfunden, und ein weiterer Verstoß
lässt sich durch Bestrafen nicht vermeiden anders als bei Eigentums- oder
Gewaltdelikten, bei denen die Norm allgemein akzeptiert wird.“
100 ■ Residenzpflicht

§§ §§ 85 und 86 Asylverfahrensgesetz
Ordnungswidrig handelt ein Ausländer, der einer Aufent­
haltsbeschränkung zuwiderhandelt. Die Ordnungswidrigkeit
kann mit einer Geldbuße bis zu zweitausendfünfhundert
Euro geahndet werden.
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
wird bestraft, wer wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung
zuwiderhandelt.

Ein Strafbefehl nach dem anderen


Flüchtlinge, die im brandenburgischen Fürstenwalde untergebracht sind
und nach Berlin wollen, müssen zunächst 28 km in die eine Richtung zur
Ausländerbehörde, die Verlassenserlaubnis holen, dann zurück und 30
km in die andere Richtung nach Berlin fahren. Ein junger Liberier
musste oft wegen Herzproblemen und Diabetes nach Berlin zum Arzt.
Allein schon wegen der Fahrtkosten für den Weg zur Behörde fuhr er
immer ohne Schein nach Berlin und wurde sehr oft erwischt. Schließlich
nahm ihn die Polizei fest, weil Geldstrafen in Höhe von 1.000 Euro
offen waren. Er war in die Spirale ständig höher werdender Strafen
geraten, weil er die alten nicht zahlen konnte, aber weiter in der gleichen
Sache straffällig wurde. Er kam in Haft, um die Strafe abzusitzen, wurde
aber von Freunden ausgelöst.
Quelle: Caritas Beratungsstelle Fürstenwalde
„Im April letztes Jahr habe ich einen Strafbefehl über 280 Euro
bekommen, den habe ich in 20-Euro-Raten abgezahlt. Ich war gerade
fertig damit, da habe ich den nächsten bekommen, über 348 Euro.
Meinen Anwalt, den ich dringend für die Klärung meines Aufenthaltes
brauche, kann ich nicht mehr bezahlen, weil ich dauernd diese Strafen
zahlen muss.“
J. aus Liberia. (Höchstens dreimal im Monat bekommt er eine Verlassenserlaubnis und
darf dann jeweils für einen Tag Brandenburg an der Havel verlassen.)

Von 1982 bis 2006 gab es bundesweit mindestens 160.000 Verurteilungen


wegen Verstoßes gegen die räumliche Beschränkung. „Mindestens“, weil es
sich bei der Zahl nur um Flüchtlinge im Asylverfahren handelt. ‚Residenz­
Die Verurteilung ■ 101

pflicht‘-Verfahren gegen die viel größere Zahl der Geduldeten sind in der
Strafverfolgungsstatistik nicht zu identifizieren.38

In der folgenden Tabelle handelt es sich ebenfalls nur um Verfahren gegen


Personen, die zum Zeitpunkt der ‚Tat‘ im Asylverfahren waren. Der Rückgang
der Zahlen spiegelt die sinkenden Antragszahlen wieder, die Folge der
Abschottungspolitik sind. In den Jahren 2002 bis 2006 gab es etwa dreimal so
viele Menschen mit Duldungsstatus, die ebenfalls unter die Aufenthaltsbe­
schränkung fallen, aber hier nicht erfasst sind.

Verurteilung: Tagessätze Freiheitsstrafe Anordg.


Jahr Angeklagt Verurteilt
5 - 30 | 31 - 180 (Bewährung) U-Haft

4196
2002 5097 3058 949 186 (145) 60
(82%)

3720
2003 4560 2771 831 117 (90) 35
(82%)

2679
2004 3383 1912 665 99 (76) 46
(79%)

1631
2005 2207 1138 420 70 (62) 16
(74%)

1254
2006 1371 609 261 40 (33) 11
(92%)
Tabelle 3: Auszüge aus den jährlichen Strafverfolgungsstatistiken (Rubrik: AsylVfG).

Beim Strafmaß ist zu bedenken, dass eine Strafe bis 30 Tagessätze als gering­
fügig gilt. Die vielen Verurteilungen zu mehr als 30 Tagessätzen zeigen, dass

38 Geduldete wurden bei Verstoß gegen die räumliche Beschränkung bis 2005 nach dem
Ausländergesetz verurteilt und seit 2005 nach dem Aufenthaltsgesetz. In den Strafver­
folgungsstatistiken sind die Verstöße gegen die ‚Residenzpflicht‘ nicht separat aufge­
führt. Im Übrigen gilt hier das Gleiche wie bei der polizeilichen Kriminalstatistik
(PKS): Es gibt die Kategorie „Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz“, die man mit
‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen kann (siehe Fn. 37), weil alle anderen unter
dieser Rubrik versammelten Delikte statistisch irrelevant sind. Die Zahl 160.000 geht
zurück auf Norbert Wingerter (2006): Möglichkeiten des Betreibens von Wiederauf­
nahmeverfahren gegen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen in Strafverfahren wegen
Verstoßes gegen das Asylverfahrensgesetz, Strafverteidiger Nr. 8, 2006, 496–499.
102 ■ Residenzpflicht

dieses opferlose Bagatelldelikt den Charakter einer bedeutenden Straftat


bekommt.39 Beratungsstellen und Anwaltskanzleien berichten von enormen
Unterschieden zwischen den Gerichten. Bei der ersten Verurteilung gibt es
bereits eine Spanne von zwanzig bis neunzig Tagessätzen. Am folgenden Bei­
spiel eines brandenburgischen Landkreises sieht man sehr deutlich, um wie
viel größer als die bisher genannten Zahlen das tatsächliche Ausmaß der Kri­
minalisierung ist.

2006 2007 2008

Flüchtlinge gesamt 218 156 91


davon im Asylverfahren 24 34 52
davon mit Duldung 194 122 39

Strafanzeigen Residenzpfl.verstöße 19 14 11
davon im Asylverfahren 1 1 1
davon Geduldete 18 13 10

Bußgelder 64 43 24
Tabelle 4: Anzahl der Flüchtlinge sowie der Verstöße gegen die ‚Residenzpflicht‘ für den
Landkreis Spree-Neiße (Quelle: Kleine Anfrage im Kreistag Spree-Neiße und Parlamenta­
rische Anfrage im Landtag Brandenburg, LT-Drs. 4/7027 v. 10.11.2008).

Der Proporz von Flüchtlingen im Asylverfahren und solchen mit Duldungs­


status ist für Brandenburg repräsentativ. Die allermeisten Verurteilten sind
Geduldete.

Wie viele Menschen wegen eines Verhaltens, das für den Rest der Bevölke­
rung selbstverständlich ist, tatsächlich ins Gefängnis kommen, kann man
ebenfalls nur schätzen. Zu den Freiheitsstrafen, die ohne Bewährung verhängt
werden, kommen Fälle, in denen Verurteilte Geldstrafen nicht zahlen (kön­
nen) und diese deshalb in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wird, wie in dem
Beispiel des Flüchtlings aus Liberia in Fürstenwalde. Dazu kommen widerru­
fene Bewährungen.

39 Das Strafrecht sieht Geld- oder Freiheitsstrafen vor. Geldstrafen werden als Tages­
sätze verhängt. Die Anzahl der Tagessätze gibt die Schwere der Schuld an, die vom
Gericht für die Tat zuerkannt wurden. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes kann von
einem Euro bis zu mehreren hundert Euro gehen, abhängig vom durchschnittlichen
Tageseinkommen der Verurteilten.
Die Verurteilung ■ 103

Es gibt eine Strafgefangenen-Statistik, die man als Ausgangspunkt für eine


Schätzung nehmen kann. Die Gefangenenzahl wird jährlich aber nur am
Stichtag 31. März erhoben. Weil es sich bei ‚Residenzpflicht‘-Verstößen in der
Regel um Haftstrafen von wenigen Monaten handelt, wird davon an diesem
Stichtag nur ein geringer Teil erfasst. Außerdem gilt auch hier, dass sich diese
Zahlen nur auf Verstöße gegen das Asylverfahrensgesetz beziehen. Geduldete
sind nicht dabei. Alles in allem kann man die Zahl aus der Strafgefangenensta­
tistik mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens vervierfachen, um ein
Gesamtbild zu bekommen.

Strafgefangene 2003 2004 2005 2006 2007 2008

Ist-Bestand zum
45 27 26 27 28 19
Stichtag 31.3.

Hochrechnung
ca. 180 ca. 108 ca. 104 ca. 108 ca. 112 ca. 76
für Gesamtjahr
Tabelle 5: Anzahl der Strafgefangenen, die am jeweiligen Stichtag (31.März) eine Haft­
strafe wegen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung verbüßten (bundesweit)
(Quelle: Auszüge aus den jährlichen Strafgefangenenstatistiken, Rubrik AsylVfG)

In der Tabelle 1 erstaunt besonders die häufige Anordnung von Untersu­


chungshaft, die bei einem solchen Bagatelldelikt völlig ungewöhnlich ist. Die
Begründung ist fast ausnahmslos Fluchtgefahr. Üblicherweise geht man nur
von Fluchtgefahr aus, wenn höhere Strafen zu erwarten sind. In dem folgen­
den Beispiel wird die Fluchtgefahr aus der räumlichen Beschränkung selbst
abgeleitet nach der Logik: Weil sich die Person nicht an dem Ort aufhält, an
dem sie sich aufhalten muss, besteht die Gefahr, dass sie sich auch weiterhin
nicht dort aufhält und der Aufenthaltsort nicht zu ermitteln sein wird. Daran
schließt sich ein Beispiel für „Zwangsverbringung“ mit Haft an, die einer
Abschiebung mit Abschiebehaft im Inland gleichkommt.

Untersuchungshaft
Mourad O.* reist 2002 aus dem Libanon in die Bundesrepublik ein und
beantragt Asyl. Ein Jahr später wird der Antrag abgelehnt. Danach hat er
den Status der Duldung und wird ins Lager in Bramsche eingewiesen.
104 ■ Residenzpflicht

Herr O. hat eine Freundin in Leipzig. Im Jahr 2005 erwarten sie ein
gemeinsames Kind. Er besucht sie oft und fährt auch schon mal mit
Freunden nach Bayern. Bei diesen Reisen wird er mehrmals ohne Verlas­
senserlaubnis für Niedersachsen erwischt. Wegen Verstoß gegen die
Aufenthaltsbeschränkung hat er bereits eine dreimonatige Freiheitsstrafe
auf Bewährung, als er wieder erwischt wird. Dieses Mal ordnet das
zuständige Amtsgericht eine Untersuchungshaft an wegen „Fluchtge­
fahr“. In dem Beschluss heißt es: „Der Verurteilte ist nicht mehr in
seiner Aufnahmeeinrichtung aufhältig. Sein Aufenthalt ist unbekannt.“
Im Anschluss an die Untersuchungshaft wird Abschiebehaft angeordnet,
obwohl keinerlei Abschiebeabsichten vorliegen. Im Jahr 2009 ist Mourad
O. immer noch in Deutschland, weil die libanesischen Behörden nach
wie vor keine Papiere für ihn ausstellen. In all den Jahren hat es keine
Abschiebebestrebungen gegeben.
In Anschluss an die drei Monate Untersuchungs- und Abschiebehaft
muss Mourad O. noch sechs Monate in Haft für seine Reisen nach
Leipzig und Bayern, Strafen aus der neuen Verurteilung und aus der
Aufhebung der Bewährung.
*Name geändert / Quelle: RA Neuhoff, Osnabrück

Verbringungs-Haft
M. C. aus Sierra Leone kommt 1999 als 15-jähriger Flüchtling ohne
Familie nach Deutschland. Seit Jahren muss er in Brandenburg in völlig
abgelegenen Unterkünften leben, wo er es nicht aushält. In Hamburg hat
er Freunde. Fünfmal wird er in den vergangenen Jahren ohne Verlassens­
erlaubnis dort angetroffen, davon mehrmals bei einer Polizeikontrolle in
der dortigen Sammelunterkunft. Silvester 2007 verbringt er ohne
Erlaubnis bei einem Freund in Hamburg. Morgens früh kommen zwei
Polizeibeamte zur Wohnung des Freundes, weil er eine Geldstrafe nicht
gezahlt hat. Die Beamten wollen auch die Papiere von C. sehen. Er gibt
seine Daten an, aber seine Papiere hat er nicht dabei. Er ist geduldet,
offiziell bei der Ausländerbehörde im brandenburgischen Seelow regis­
triert und im Lager in Garzau polizeilich gemeldet. Sie nehmen ihn
trotzdem mit und inhaftieren ihn. Am nächsten Tag wird er einem
Richter vorgeführt, der ihn, so versteht es C., zu zwei Wochen Haft
verurteilt. Nach einer Woche wird er, so versteht er es, wegen guter
Führung aus der Haft entlassen und von Mitarbeitern der Hamburger
Ausländerbehörde zu ‚seiner‘ Ausländerbehörde in Seelow, nahe der
polnischen Grenze gebracht. Für den Transport und die Haft stellt ihm
Die Verurteilung ■ 105

die Stadt Hamburg anschließend 1681,20 € in Rechnung. „Da Sie sich


ohne erforderliche Erlaubnis in Hamburg aufhielten, wurde diese
Maßnahme notwendig“, heißt es im Kostenbescheid lapidar. Kosten für
einen Dolmetscher sind auf dem Formblatt mit Null beziffert. Es wurde
keiner hinzugezogen. Eine anwaltliche Vertretung hatte C. auch nicht.
Im Juni 2008 wird er in Frankfurt/Oder vorgeladen. Gegen ihn läuft ein
Ermittlungsverfahren wegen illegalen Aufenthaltes am 31.12.2007 in
Hamburg.
Quelle: Kirchenkreis Oranienburg / Hamburg und Brandenburg

Kriminalisierte Flüchtlinge – Beispiel Brandenburg

Die ersten sechs bis zwölf Wochen verbringen Asylsuchende in den Zentra­
len Aufnahmestellen. In Brandenburg ist die Erstaufnahmeeinrichtung in
Eisenhüttenstadt. Die Anzahl der „Personen mit Straftatbestand“ wegen Ver­
stoß gegen die räumliche Beschränkung ist hier regelmäßig halb so hoch wie
die Zahl der Flüchtlinge. Das heißt, die Hälfte der Asylsuchenden ist bereits
kriminalisiert, wenn sie von der Erstaufnahme in die Sammelunterkünfte der
Landkreise eingewiesen werden.

2004 2005 2006 2007

Asylsuchende 1279 740 671 565

davon mit Straftatbestand


absolut 618 385 353 304
prozentual 48% 52% 52% 53%
Tabelle 6: Kriminalisierungsrate der Insassen in der Erstaufnahmestelle Eisenhüttenstadt
(Quelle: Parlamentarische Anfrage im Landtag Brandenburg, LT-Drs. 4/7027 v.
10.11.2008)

Diese hohen Zahlen sind nicht repräsentativ für die gesamte Dauer des Asyl­
verfahrens oder die Zeit mit einem Duldungsstatus. Der Bewegungsradius ist
nämlich ausgerechnet in der ersten Zeit nach der Flucht, in der das Bedürfnis
groß ist, sich zu orientieren, Verwandte oder Bekannte aus dem Herkunfts­
land zu treffen, auf die Kommune beschränkt. Dazu kommt, dass der gesetz­
106 ■ Residenzpflicht

liche Rahmen für die Erteilung einer Verlassenserlaubnis wesentlich enger ist
(§ 57 AsylVfG: Ausnahmen nur bei „öffentlichem Interesse“ und „zwingen­
dem Grund“), als später im Asylverfahren. Manche Ausländerbehörden der
Landkreise, denen die Betroffenen zugewiesen werden, zählen diese Vorstra­
fen aus der Erstaufnahmezeit nicht und fangen wieder bei Null an, bei den
anderen dreht sich die Kriminalisierungsspirale von Anfang an schneller.

Aus den Landkreisen ist vollständiges Zahlenmaterial schwer zu bekommen,


weil nur wenige Ausländerbehörden die Anzeigen wegen ‚Residenzpflicht‘-
Verstößen gesondert dokumentieren. Der Leiter der brandenburgischen Aus­
länderbehörde im Landkreis Dahme-Spree nimmt aufgrund seiner Erfahrung
an, dass jede geduldete Person drei bis fünf Mal in ihrem „Duldungsleben“
erwischt wird, häufig auch in Zusammenhang mit anderen Bagatelldelikten.
Die Einschätzung dieser Häufigkeit deckt sich mit dem Bild, das bei der
Befragung von Betroffenen entstand.

Druck von allen Seiten


Von hier drückt die Polizei, von da die Ausländerbehörde, von hier
drücken die Leute in der Stadt, von da drückt ein Minister und wir Asyl­
bewerber sind in der Mitte. Die Ausländerbehörde gibt keinen Urlaubs­
scheinschein, die Polizei versteht keinen Spaß: Kein Urlaubsschein, egal
wo du hin willst, du kriegst eine Strafe. Der Richter hat keine Ahnung.
Sorry, ich meine das nicht beleidigend, aber die denken: Wegen der
Ausländer haben wir viel Ärger! Und sie machen keinen Unterschied.
Wie kann ich, Herr Richter, als Asylbewerber mit 41 € im Monat eine
Strafe bezahlen? Wie? Das Sozialamt gibt es mir von rechts und das
Gericht nimmt es mir von links. Und logisch, wir können nicht bezahlen
oder vergessen es oder sind es müde zu bezahlen, so wie viele deutsche
Bürger hier, verstehst du, was ich meine? Für die Ratenzahlungen
braucht man auch Geduld, und vergiss einmal zu bezahlen, dann siehst
du Mahnungen, siehst du Drohungen, kommst du in den Knast. Ach,
diese Leute denken nicht!
Mohammed El Hxxx, Prenzlau (Brandenburg)
Die Verurteilung ■ 107

Überforderte Gerichte

Der Heilbronner Rechtsanwalt Norbert Wingerter hatte 1998 einen Mandan­


ten, der auf einer falschen Grundlage verurteilt worden war. Er beantragte
beim zuständigen Landgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens. Dem
Antrag wurde stattgegeben, was ausgesprochen selten ist. Davon angeregt
begann er, Urteile, die ihm zugesandt wurden, zu untersuchen. In den folgen­
den zehn Jahren erreichte er in 551 Fällen die Wiederaufnahme des Verfah­
rens. Ähnlich sein Kollege Peter Fahlbusch in Hannover, der ein paar Jahre
später begann, Urteile auf Fehler hin zu überprüfen, und in 150 Fällen die
Wiederaufnahme erreichte. Die beiden Anwälte schätzen, dass 30-40 Prozent
aller Verurteilungen fachlich falsch sind und zu einer Wiederaufnahme führen
könnten. Diese hohe Quote ist um so problematischer, als die Verurteilungen
gravierende Spätfolgen für die Betroffenen haben können und sie in der Regel
der deutschen Sprache nicht mächtig sind, aber auch kein Geld für einen
Rechtsbeistand haben.

Die Gründe für die hohe Fehlerquote sind vielfältig. Erst einmal handelt es
sich um Massenverfahren, die die Gerichte selbst bei sinkenden Fallzahlen
belasten. In der Regel werden sie so abgehandelt: Die Staatsanwaltschaft
beantragt beim Amtsgericht einen Strafbefehl und der Richter oder die Rich­
terin zeichnet ihn ab. Die Angeklagten haben zwei Wochen Zeit, Einspruch
zu erheben, tun das aber meistens aus Unkenntnis nicht oder schlicht, weil sie
die ganze Sache nicht verstehen und die Bedeutung nicht einschätzen können.

Die Fehler kommen einerseits durch diese Art der Erledigung zustande, bei
der nichts überprüft wird; andererseits dadurch, dass es im Asyl- und Aufent­
haltsrecht sehr viele Sonderbestimmungen gibt, in die sich die Amtsrichter
und -richterinnen speziell einarbeiten müssten. Ausländerrecht ist ein hoch
kompliziertes Verwaltungsrecht, das an den Amtsgerichten ansonsten nicht
angewandt wird.
108 ■ Residenzpflicht

Wiederaufnahmeverfahren: Ohne Anwalt völlig ausgeliefert


O. kommt aus Kenia und hat gerade Arbeit gefunden. Nach Meinung
seines Anwalts besteht eine realistische Chance, dass er eine Aufenthalts­
genehmigung bekommt, wenn es gelingt, die vielen Verurteilungen, die
ohne anwaltliche Vertretung zustande kamen, rückgängig zu machen.
Anfang 2004 reist der junge Mann mit falschen Papieren nach Deutsch­
land ein. Wegen der Verfolgung männlicher Homosexualität in Kenia
will er Asyl beantragen. Bevor er dazu kommt, gerät er in eine Personen­
kontrolle. Bei sich hat er noch die falschen Identitätspapiere, mit denen
er eingereist ist. Deshalb wird er festgenommen und im März 2004
wegen illegaler Einreise, illegalem Aufenthalt und Urkundenfälschung
durch das Amtsgericht Hamburg zu fünf Monaten Freiheitsstrafe verur­
teilt, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt werden.
Dieses Urteil ist rechtskräftig und auch nicht mehr angreifbar, obwohl
eine anwaltliche Vertretung die Einstellung oder eine geringe Geldstrafe
erreicht hätte. Dafür hatte der Verurteilte aber weder damals noch in den
nächsten Jahren die Mittel.
Ein Jahr später – er hat inzwischen Asyl beantragt und wurde dem bran­
denburgischen Landkreis Teltow-Fläming zugewiesen – wird er ohne
Verlassenserlaubnis in Berlin kontrolliert und durch das Amtsgericht
Zossen zu 30 Tagessätzen verurteilt. „Das Urteil ist eine absolute Kata­
strophe“, meint der Anwalt. „Die Akte des Angeklagten wurde nicht
hinzugezogen, es wurde kaum ermittelt. Der Richter verurteilte nach
Aufenthaltsgesetz, obwohl der Angeklagte zur Tatzeit im Asylverfahren
war, also das Asylverfahrensgesetz zur Anwendung hätte kommen
müssen und dergleichen mehr.“ Im Dezember 2005 kommt es wieder zu
einer Verurteilung wegen Verstoß gegen die räumliche Aufenthaltsbe­
schränkung, diesmal zu 50 Tagessätzen. Die Urteilsmängel seien in etwa
die gleichen wie bei der vorherigen Verurteilung. In beiden Fällen hat der
Anwalt Antrag auf Wiederaufnahme gestellt.
Im November 2006, kurz bevor die Bewährungszeit aus dem ersten
Hamburger Urteil abläuft, beschließt das Amtsgericht Zossen, diese
Bewährung um ein Jahr zu verlängern. Ein halbes Jahr später gerät O.
wieder in eine Personenkontrolle, und der nächste Verstoß gegen die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung wird festgestellt. Nun widerruft das
Amtsgericht die Bewährung und ordnet fünf Monate Haft an. O. ist
aber inzwischen nicht mehr im Asylverfahren, sondern geduldet. Das
heißt, wegen des veränderten Aufenthaltsstatus handelt es sich nicht um
Die Verurteilung ■ 109

eine Wiederholung der Straftat. Die Verstöße müssten von vorne gezählt
werden.
Gegen die Haftanordnung hat der Anwalt eine sofortige Beschwerde
eingelegt, einem der zwei Wiederaufnahmeanträge wurde im September
2008 stattgegeben, der andere ist noch anhängig.
Quelle: RA Gerloff, Berlin

Abzahlen von Geldstrafen

„Viele Leute haben hohe Strafen von 100 bis 500 € zu zahlen“, berichtet eine Mitar­
beiterin der Caritas Beratungsstelle im brandenburgischen Fürstenwalde. „Das
Gericht lässt sich nicht auf Stundung ein, nur auf Ratenzahlung. Nun haben die Leute
aber kein Bankkonto und müssen immer jemanden finden, über dessen Konto sie einzahlen
oder eine hohe Gebühr bezahlen. Grundsätzlich könnten die Strafen auch über gemeinnüt­
zige Arbeit abgegolten werden. Das nehmen aus verschiedenen Gründen nur wenige in
Anspruch. Würden alle gemeinnützige Arbeit leisten wollen, wären aber gar nicht genug
Möglichkeiten vorhanden.“

Den Gerichten ist die Lebenssituation von Geduldeten und Asylsuchenden in


der Regel fremd. Das äußert sich unter anderem bei der Veranschlagung der
Tagessätze, die oft bei fünf bis zehn Euro liegen, in der Annahme, man
könne vom normalen Sozialhilfesatz ausgehen. Im Juli 2007 entschied das
Oberlandesgericht Celle40, dass der Tagessatz bei Beschuldigten, die nur Sach­
leistungen oder Gutscheine bekommen, also über gar kein Bargeld verfügen,
einen Euro nicht überschreiten darf. Solche Urteile werden in Fachpublika­
tionen für Ausländerrecht veröffentlicht, die aber von den Bediensteten der
Amtsgerichte kaum gelesen werden, weil sie außer bei diesen
‚Residenzpflicht‘-Verfahren und einigen anderen seltenen Fällen in ihrem
Berufsalltag mit dem Ausländerrecht nichts zu tun haben.

40 OLG Celle, 32 Ss 205/07 (I 61) 10.7.2007.


110 ■ Residenzpflicht

Teure Hilfsbereitschaft
„Ich habe einen Freund zum Flughafen begleitet. Er kannte sich nicht
gut aus, musste nach Schönefeld, um seine Freundin abzuholen. Also bin
ich mit und musste später 80 Euro Strafe zahlen, weil ich keine
Erlaubnis hatte. Ich kriege nur Gutscheine und musste sie tauschen. Ich
habe Leute gefunden, die sie mir 1:1 umgetauscht haben. Das war
Glück.“
Flüchtling in Cottbus

„Ich nenne das Sklaverei“


Yagu S. kommt aus dem Sudan. Sie kam als unbegleitete Minderjährige.
Zuerst war sie in Celle im Frauenhaus untergebracht. Von da kam sie
nach Eisenhüttenstadt und dann mit 16 Jahren in die Sammelunterkunft
nach Perleberg. Bei dem Gespräch 2004 ist sie 18 Jahre alt. Sie soll
ausreisen. Ihre Duldung wird immer nur für einen Monat verlängert, und
sie bekommt kein Bargeld mehr, um Druck auf sie auszuüben. Das
macht sie ziemlich fertig, und sie kann sich in der Schule nicht mehr
konzentrieren. Ihre Erfahrungen mit Verurteilungen wegen ‚Residenz­
pflicht‘-Verstößen systematisiert sie so: „Beim ersten Mal musst du 68
Euro zahlen, beim zweiten Mal 93 Euro, und da nehmen sie dir die
Papiere ab. Beim dritten Mal nehmen sie dich mit auf die Wache und du
zahlst 118 Euro. Wenn man nicht bezahlen kann, wird die Geldstrafe in
eine Haftstrafe umgewandelt. Ich soll jetzt 118 Euro zahlen, in Fünf-
Euro-Monatsraten, obwohl ich gar kein Bargeld mehr kriege. Jeden
Monat, den ich nicht zahlen kann, kommen zwei Euro dazu. Ich
verkaufe jetzt mit viel Verlust meine Gutscheine. Ich nenne das Skla­
verei.“
Yagu S., Sudan

Spätfolgen der Kriminalisierung: Verweigerte


Aufenthaltsrechte und Ausweisung

Die schwerwiegendste Folge der Kriminalisierung ist die Ausweisung und


Abschiebung. Zur Ausweisung können Verurteilungen führen, die „nicht nur
vereinzelt“ und „nicht geringfügig“ sind. Als geringfügig gelten nur Geldstra­
Die Verurteilung ■ 111

fen bis zu 30 Tagessätzen.41 Auf dem Hintergrund des bisher zusammenge­


tragenen Materials kann man zugespitzt sagen, dass die räumliche Aufent­
haltsbeschränkung geradezu darauf ausgelegt ist, zu einer Ausweisung zu füh­
ren. Die Beschränkung ist nicht ohne gravierende soziale und psychische
Beeinträchtigungen einzuhalten, und das Gesetz widerspricht außerdem
jedem spontanen Rechtsempfinden, verstärkt dadurch, dass es eine offen­
sichtlich diskriminierende Auflage ist, der sonst niemand unterliegt. Bezieht
man die Hürden bei der Antragstellung auf Verlassenserlaubnis noch mit ein,
hat man den Eindruck, hier werden Menschen systematisch in eine Kriminali­
sierungsspirale getrieben.

Tatsächlich werden aber relativ selten Ausweisungen wegen dieser Verurtei­


lungen ausgesprochen, denn vollzogen werden können sie sowieso nur, wenn
das Asylverfahren abschlägig abgeschlossen ist und keine Abschiebehinder­
nisse vorliegen. Sie könnten aber jederzeit ausgesprochen werden. Sie sind
sozusagen der Joker der Behörden.

Die Konsequenz einer Ausweisung ist, dass die Ausgewiesenen von allen Auf­
enthaltsregelungen ausgeschlossen werden und nach der Durchsetzung der
Ausweisung nie wieder einreisen können. Ausweisungen werden oft erst aus­
gesprochen, wenn Geduldete Aufenthaltsrechte in Anspruch nehmen wollen,
etwa Niederlassungsrechte nach Eheschließung bzw. Verpartnerung oder eine
Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Bleiberechtsregelung. Plötzlich werden
Verurteilungen wegen ‚Residenzpflicht‘-Verstößen, die Jahre her sind, zum
Verhängnis.

Aus der Bleiberechtsregelung fallen alle heraus, die zu Strafen über 50 Tages­
sätzen oder, bei ausländerrechtlichen Verstößen, über 90 Tagessätzen verur­
teilt wurden. Die Strafen werden aufaddiert. Die Anwältin Andrea Würdinger
stellt dazu fest: „Dass addierte Strafbefehle die Anzahl von 50 oder 90 Tages­
sätzen überschreiten und damit zum Ausschluss führen, ist in der anwaltli­
chen Praxis nichts Ungewöhnliches.“ Außerdem gilt, dass wenn ein Familien­
mitglied wegen Straffälligkeit keinen Anspruch hat, auch alle andern Mitglie­
der unter diesen Ausschluss fallen.42

41 S. § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG und Vorläufige Anwendungshinweise des BMI.


42 Im brandenburgischen Bernau weigerte sich ein Jugendschöffengericht, wegen dieser
‚Sippenhaftung‘ einen Jugendlichen zu verurteilen. Dokumentiert in: Zeitschrift für
Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ), Heft 4/2007, 418.
112 ■ Residenzpflicht

Mohamed B. lebt seit neun Jahren in Deutschland. Mit 16 Jahren flieht


der heute 25-Jährige aus dem Bürgerkrieg in Sierra Leone und landet in
einer Sammelunterkunft in Bitterfeld (Sachsen-Anhalt). Freunde seiner
Familie leben in München. Er besucht sie oft, um Einsamkeit, Ratlosig­
keit und Zukunftsängsten zu entkommen, und wird am Münchner
Hauptbahnhof mehrmals ohne Verlassenserlaubnis erwischt. Es
summieren sich Strafbefehle auf knapp über 90 Tagessätze mit dem
Ergebnis, dass er als „krimineller Ausländer“ von der Bleiberechtsrege­
lung ausgeschlossen wird. Anfang 2009 soll er abgeschoben werden,
obwohl er alle Bedingungen erfüllt: Er spricht deutsch und bestreitet
seinen Lebensunterhalt selbst.
Quelle: Jugendliche Ohne Grenzen
Ein Libanese reist 1998 in Deutschland ein und lebt mit seiner Familie
geduldet in Berlin. Er beantragt eine Aufenthaltserlaubnis nach der Blei­
berechtsregelung, erhält aber stattdessen die Ausreiseaufforderung mit
Abschiebeandrohung. Grund: fünf Verurteilungen wegen Verstoß gegen
die Aufenthaltsbeschränkung zu einer Gesamtstrafe von 120 Tages­
sätzen. Nach diesem Bescheid verlässt er seine Familie, um einen
Aufenthaltstitel für die minderjährigen Töchter nicht zu gefährden.
Quelle: RA Klinggraeff, Berlin
Die aus der Türkei geflohene kurdische Familie B. lebt seit 1996 in der
BRD und fällt unter die Bleiberechtsregelung. Beide Elternteile haben
Arbeit, die drei Kinder gehen zur Schule, kein Familienmitglied ist jemals
auffällig geworden. Es gibt aber lange zurückliegende Verurteilungen des
Vaters wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung. Bei insgesamt
vier Verstößen in zwölf Jahren wurde zweimal Bußgeld verhängt, dann
ein Strafbefehl und beim vierten Mal, im Jahr 2001, eine kurze Freiheits­
strafe auf Bewährung. In keinem der Fälle gab es eine anwaltliche
Vertretung.
Die Ausländerbehörde hat bereits angekündigt, die Bleiberechtsanträge
der ganzen Familie abzulehnen. Das Bundeszentralregister verweigert
die vorzeitige Löschung des Eintrags. Das drohende Herausfallen der
ganzen Familie aus der Altfallregelung sei kein Grund, der das Register
etwas anginge.
Quelle: RA Moritz, Berlin
Die bosnische Familie B. lebt seit 1999 in Deutschland. Die älteren
Töchter haben einen eigenständigen Aufenthaltstitel, die Eltern mit den
drei jüngeren Kindern erfüllen die Kriterien der Bleiberechtsregelung,
Die Verurteilung ■ 113

bekommen aber einen ablehnenden Bescheid mit Abschiebeandrohung


und der Aufforderung, sofort auszureisen. Grund: Der Familienvater hat
in den ersten Jahren nach 1999 ein Auto nutzen können und wurde
mehrmals wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung verurteilt.
Daraufhin wendet sich die Familie an die Härtefallkommission, weil der
Familienvater schwer diabeteskrank ist und seit einem Unfall stark
gehbehindert. Aber die Härtefallkommission nimmt den Fall ebenfalls
wegen der Vorstrafen nicht an, bei denen es sich ausschließlich um
Verstöße gegen die räumliche Beschränkung handelt.
Quelle: Kirchliche Erwerbsloseninitiative Zschopau, Sachsen
Ein iranischer Flüchtling lebt seit 1995 in Deutschland. Seine zwei
Töchter sind mit Hilfe der deutschen Botschaft in Teheran nachge­
kommen. Der Asylantrag wird jedoch abgelehnt. Im Rahmen der Bleibe­
rechtsregelung beantragt der Mann eine Aufenthaltserlaubnis, erhält aber
eine Ausweisung mit Abschiebeandrohung. Grund sind auch hier Verur­
teilungen wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung. Seine
inzwischen volljährigen Töchter bekommen wegen dauerhafter Abschie­
behindernisse eine Aufenthaltserlaubnis.
Quelle: Kirchliche Erwerbsloseninitiative Zschopau, Sachsen

Alle anderen Möglichkeiten, eine Aufenthaltserlaubnis nach der Ablehnung


des Asylantrages zu bekommen, sind ebenfalls abhängig von Vorstrafen. Zum
Aufenthalt aus humanitären Gründen heißt es im Aufenthaltsgesetz, Aus­
schlussgrund ist eine Straftat „von erheblicher Bedeutung“. Die Härtefall­
kommissionen der meisten Bundesländer sehen als Ausschlussgrund „Strafta­
ten von erheblichem Gewicht“ oder „vorsätzliche Straftaten ab 180 Tagessät­
zen“, andere bereits ab 90 Tagessätzen, und in fast allen Ländern sind
Ausweisungen ein Ausschlussgrund. In all diesen Fällen wirkt sich für die
Flüchtlinge nachteilig aus, was im Strafrecht allgemein zugunsten der Verur­
teilten eingesetzt wird, nämlich das Zusammenziehen mehrerer Strafen zu
einer Gesamtstrafe, die niedriger ist, als es die Summe der einzelnen Strafen
wäre. Diese Gesamtstrafen liegen aber schnell über 100 Tagessätzen und
dadurch im Bereich der Straftat „von erheblichem Gewicht“. Zu den aufent­
haltsrechtlichen Spätfolgen kommen weitere Konsequenzen hinzu, die Vor­
strafen allgemein mit sich bringen. Verstöße gegen die Residenzpflicht kön­
114 ■ Residenzpflicht

nen auch unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen, wie das folgende Beispiel
zeigt:

Leider keine Polemik


Im Sommer des Jahres 2005 betritt ein junger Inder auf seiner Flugroute
kurz deutschen Boden, um die Maschine zu wechseln, und wird vom
Flughafen weg in Haft genommen. Man denkt an internationale Terror­
netzwerke oder zumindest Drogenhandel und irrt. Der junge Mann
hatte Jahre vorher in Deutschland Asyl beantragt und war dem branden­
burgischen Landkreis Potsdam-Mittelmark zugewiesen worden. Statt
sich an die räumliche Beschränkung zu halten, bewegte er sich frei im
Land und wurde dafür zu mehreren Freiheitsstrafen von schließlich
einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Zwei Drittel der Haftstrafe hatte
er im Juli 2002 abgesessen, wurde frühzeitig entlassen und die Reststrafe
auf Bewährung ausgesetzt. Er verließ danach das unwirtliche Land, ohne
eine Anschrift zu hinterlassen. Das verstößt gegen die Bewährungsauf­
lagen, so dass die Bewährung in seiner Abwesenheit widerrufen wird.
Drei Jahre später, in besagtem Sommer 2005, wird er deshalb auf der
Durchreise im Flughafen festgenommen und für die Reststrafe von fünf
Monaten inhaftiert.
AG Brandenburg a. d. Havel: AZ. 23 DS 401/99; AZ. 23 DS 271/0; AZ. 23
DS 102/0 gefunden in: Juliane Wetendorf (2006), Die Räumliche Beschränkung von
Flüchtlingen in der Diskussion. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Evangelische Hochschule
für Soziale Arbeit Dresden
Auswirkungen III:


Gefangen im Umfeld der Täter
Opfer rassistischer und häuslicher Gewalt
„Diese Restriktionen behindern unsere Arbeit als
Opferberatungsstelle, und sie machen uns unglaub­
würdig, weil wir schließlich beim Elementarsten nicht helfen
können: dass ein Mensch den Ort der Traumatisierung ver­
lassen darf.“
(Judith Porath, Opferperspektive Brandenburg e.V.)

Ein Flüchtling wird mit einer Glasscherbe angegriffen. Seine Reaktion: Er


wäscht sich das Blut in einem Brunnen ab, eilt sofort zum Bahnhof und ver­
lässt fluchtartig die Stadt. Er will absolut nicht an diesen Ort zurück und
macht sich nur durch das Fortbleiben strafbar. So die aktuelle Problemlage
eines Klienten des Vereins Opferperspektive Brandenburg. Kay Bolick von
der Partnerorganisation Lobbi in Mecklenburg erläutert: „Um die selbstver­
ständlichen Dinge zu tun, die man in solch einer Situation tut, etwa die Nähe
von Menschen suchen, die einem emotionalen Rückhalt geben, müssen
Flüchtlinge einer offiziellen Person, von der sie abhängig sind, berichten, dass
sie zum Opfer gemacht wurden. Das allein ist schon eine große Hürde und
Belastung.“
In den neuen Bundesländern gibt es spezialisierte Beratungsstellen für Opfer
rechter Gewalt. Ein großer Anteil der Klientinnen und Klienten sind Flücht­
linge. Die ‚Residenzpflicht‘ kriminalisiert nicht nur die spontanen Reaktionen,
sondern erschwert oder verhindert den Zugang zu Hilfsangeboten, ähnlich
wie es Ruth Bierich im Interview über die Auswirkungen auf Traumatisierte
beschreibt.43 Vor jedem Hilfsangebot steht ein Verwaltungsakt. Das macht alle
Wege kompliziert und schränkt Hilfsmöglichkeiten stark ein. Ein großer Teil
der Anstrengungen muss darauf verwendet werden, Verlassenserlaubnisse zu
bekommen.
Besonders unerträglich ist die Situation, wenn die Täter in der gleichen
Region, im gleichen Ort wohnen. Die ständige Konfrontation bzw. die
Gefahr, ihnen jederzeit begegnen zu können, stellt eine enorme psychische

43 Siehe Interview ab Seite 73.


116 ■ Residenzpflicht

Belastung dar und ist außerdem eine reale Gefährdung. Umverteilungsanträge


in andere Landkreise oder in die größeren Städte werden regelmäßig abge­
lehnt.

Die gleiche Erfahrung machen die Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern. Für


Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, sind vor allem die Wohn­
ortauflage und die Verweigerung von Umverteilungen ein großes Problem.
„Auf die Einhaltung der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung pocht hier nie­
mand mehr, das hat sich 'rumgesprochen, und es gibt auch entsprechende
Anweisungen für den Aufenthalt im Frauenhaus“, meint Angelika Damm
vom Zweiten Frauenhaus in Hamburg.

Allerdings ist auch hier jeder Schritt, ein Hilfsangebot oder eine Zuflucht­
stätte in Anspruch zu nehmen, mit der Offenbarung gegenüber einer
Behörde verbunden, zu der in der Regel kein Vertrauensverhältnis besteht.
Ist die Unterbringung in Frauenhäusern meist mit einigem Verwaltungsauf­
wand möglich, so wird die räumliche Beschränkung für die ambulante Beglei­
tung und Unterstützung zum großen Problem.
Auswirkungen auf die Gesellschaft


Der Staat als Negativ-Vorbild

„Wir erkennen an, dass Fremdenfeindlichkeit gegen­


über Nichtstaatsangehörigen, insbesondere Migran­
ten, Flüchtlingen und Asylsuchenden, eine der Hauptursa­
chen des zeitgenössischen Rassismus ist und dass es im Zuge
diskriminierender, fremdenfeindlicher und rassistischer Prak­
tiken häufig zu Menschenrechtsverletzungen gegenüber
Angehörigen dieser Gruppen kommt.“
(Abschlusserklärung der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus 2001
in Durban, Nummer 16)

Nachdem Rassismus jahrzehntelang in der internationalen Öffentlichkeit vor


allem mit der südafrikanischen Apartheid und der Diskriminierung von
Schwarzen in den USA verknüpft war, lenkt die UN jetzt den Blick auf die
Diskriminierung von Zugewanderten, auf Fremdenfeindlichkeit und Rassis­
mus gegen „die Ausländer“ und damit auch in Richtung Europa.
Zur Umsetzung der Beschlüsse von Durban haben sich die nationalen Regie­
rungen verpflichtet, Aktionspläne zu erarbeiten. Erst seit 2007 liegt der Natio­
nale Aktionsplan der Bundesrepublik Deutschland zur Bekämpfung von Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und darauf bezogene Intoleranz vor. Darin heißt
es: „Die strukturelle Einbindung der demokratisch orientierten Zivilgesell­
schaft ist einer der maßgeblichen Faktoren, die über Erfolg oder Misserfolg
von Bekämpfungsstrategien entscheiden.“

Einen Keil zwischen Einheimische und Flüchtlinge


getrieben
Laman M. ist 24 Jahre alt, ihr Ehemann Ulvi T. zwanzig. 2007 sind sie
aus politischen Gründen von Aserbaidschan nach Deutschland
geflohen. Sie wurden im Asylverfahren dem Land Thüringen, Landkreis
und Ort Sonnenberg zugewiesen. Vor ihrer Flucht haben die jungen
118 ■ Residenzpflicht

Leute Leistungssport betrieben und auf internationalem Niveau an


Taekwondo-Wettkämpfen teilgenommen. Da ihnen der Sport fehlt und
sie für den lokalen Taekwondo-Verein im Nachbarort eine Bereicherung
sind, stellt eine Mitarbeiterin der Sozialberatungsstelle einen Kontakt her.
Von da an nehmen die beiden zwei Mal in der Woche am Training teil,
das sie allerdings unterfordert. Die Kinder, die trainiert werden, profi­
tieren mehr von ihnen als umgekehrt. Deshalb meldet der Trainer die
beiden zu einem eintägigen Lehrgang beim Bundestrainer in Gera an.
Frau M. geht mit der Anmeldeliste zur Ausländerbehörde, um eine
Verlassenserlaubnis zu beantragen, die ihr aber mit der Begründung
verweigert wird, es sei zum Beantragen zu spät. Sie wird außerdem
harsch angegangen und gefragt, was das Ganze solle, wenn sie Sport
machen wolle, könne sie ins Fitness-Studio im Ort gehen. Anschließend
erhält der Trainer einen Anruf von der Ausländerbehörde, in dem ihm
mitgeteilt wird, dass die beiden nicht mitfahren dürfen und sich strafbar
machen, wenn sie trotzdem fahren. Auch den Trainer weist die Behör­
denangestellte zurecht: warum er sich mit diesen Leuten einlasse und für
so einen Lehrgang gäbe es grundsätzlich keine Verlassenserlaubnis. Der
Trainer versteht die Welt nicht mehr und ist zunächst sehr verunsichert,
weil die Behörde bei ihm den Eindruck hinterlässt, dass er etwas
Unrechtmäßiges tut. Er lässt sich aber von der Sozialberatungsstelle
aufklären. Zum nächsten Lehrgang werden Laman M. und Ulvi T.
wieder angemeldet. Diesmal geht die Sozialberaterin mit zur Ausländer­
behörde und erreicht die Bewilligung der Verlassenserlaubnis. „Die
haben richtig versucht, einen Keil zwischen die Aserbaidschaner und die
Familie, die das Training organisiert, zu treiben“, meint die Sozialbera­
terin in ihrem Bericht.

Appelle an die ‚Zivilgesellschaft‘, an die ‚Zivilcourage‘ der Einzelnen, die Auf­


forderung zu Toleranz und zum freundlichen Miteinander sind bereits seit
Jahren routinierter Bestandteil vieler Reden, die üblicherweise von politischen
Funktionsträgern und -trägerinnen gehalten werden, wenn es um das Thema
Fremdenfeindlichkeit oder rassistische Gewalt geht. All diese Reden und die
entsprechenden Programme stehen in scharfem Kontrast zu dem Signal, das
von der staatlichen Umgangsweise mit Asylsuchenden ausgeht, die in den
neuen Bundesländern den größten Teil der ‚Fremden‘ ausmachen und bun­
desweit seit den 1980er Jahren zu einem zentralen Kristallisationspunkt xeno­
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 119

phober Abwehrhaltung geworden sind. Statt Kontakt und Teilhabe am gesell­


schaftlichen Leben, demonstrative Ausgrenzung und Stigmatisierung.

„Im Landkreis gibt es viele Initiativen, um Integration positiv zu beeinflussen


und rassistischen Auswüchsen entgegenzutreten“, heißt es in einem Schreiben
der Barnimer Kampagne aus Brandenburg an den Petitionsausschuss der
Bundesregierung „Aber an zwei zentralen Punkten, die Flüchtlinge als am
meisten diskriminierend benennen, hat sich seit 15 Jahren nichts geändert, am
Gutscheinsystem und an der Residenzpflicht.“ Als deren Auswirkung wird u.
a. kritisiert: „Soziale Kontakte werden behindert, Kinder und Jugendliche aus
Flüchtlingsfamilien können mit gleichaltrigen aus nah gelegenen Städten nicht
zusammentreffen.“

Die Integrationsbeauftragten der neuen Bundesländer wiesen 2002 in einem Memo­


randum auf die Schwierigkeiten hin, die durch die Sondergesetze für Flücht­
linge entstehen: „Gerade in ländlichen Gebieten leben nur vereinzelt Migran­
ten. Neue Zuwanderer kommen in der Regel auf Zuweisung und leben in
Gemeinschaftsunterkünften.“ Positive Erfahrungen durch Begegnung könn­
ten im Alltag nicht entstehen, weil sie „... zur Passivität gezwungen sind und
nicht in der alltäglichen Verrichtung Kontakt bekommen.“ Einschränkungen
durch das Asylbewerberleistungsgesetz und die Residenzpflicht erschwerten
zusätzlich das Alltagsleben, und diese Rahmenbedingungen „sind die Grund­
lage für Missverständnisse und Fehlvorstellungen, die in weiten Teilen der
Mehrheitsgesellschaft das Bild von Zuwanderung prägen.“44

Die Leute schimpfen über die Asylbewerber. Die kämen nur hierher, um
Sozialhilfe zu kassieren, und müssten nicht mal selbst kochen. Wenn ich
ihnen dann erzähle, wie die Situation wirklich ist und warum sie hier
sind, dann sind sie ganz betroffen und bringen am nächsten Tag Spiel­
zeug für die Kinder im Heim vorbei.
Bärbel Schmidt, frühere Ausländerbeauftragte, Landkreis Prignitz, Brandenburg

44 Redaktionsgruppe Memorandum (2002): Zuwanderung und Integration in den neuen


Bundesländern. Chancen. Risiken. Aufgaben, abrufbar unter http://www.brandenburg.de/
media/1333/memorandum.pdf.
120 ■ Residenzpflicht

Wenn wir das Gutscheinsystem und die Residenzpflicht mit ihren


Auswirkungen erläutern, empören sich Mitschüler/innen, Verwandte
und Bekannte über dieses krasse Unrecht. Viele glauben uns zuerst
nicht, weil sie denken, dass es so einengende Regelungen fast 20 Jahre
nach dem Mauerfall nicht mehr geben könne.
Barnimer Kampagne „Light me Amadeu“ (Brandenburg)

Die Integrationsbeauftragten beschreiben ihre Aufgabe in besagtem Memo­


randum als Quadratur des Kreises. Es stehe die „Integrationspolitik in den
neuen Bundesländern vor dem grundlegenden Problem, dass ein Großteil der
Zugewanderten nicht integrationsberechtigt ist.“ Die oft als eine spezifische
Ursache der Xenophobie in Ostdeutschland kritisierte Ausländerpolitik der
DDR, deren Ziel die Verhinderung des Kontaktes zur Bevölkerung und die
Kontrolle der „ausländischen Gäste“ in separierten Unterkünften war, wird
nahtlos fortgesetzt und im Wesen noch verschärft, weil nicht einmal die
Begegnung im Arbeitsleben stattfindet.

Die staatliche Politik macht die asylsuchenden ‚Fremden‘ einerseits unsicht­


bar, verweist sie auf Behausungen am Rand oder weit außerhalb der Orte.
Andererseits geraten sie negativ exponiert ins Zentrum der Wahrnehmung, als
Stigmatisierte, die mit Gutscheinen einkaufen müssen oder von der Polizei
kontrolliert werden.

Aber nur da, wo Flüchtlinge in das normale Alltagsleben integriert leben,


kann das „tolerante Miteinander“ entstehen. Nicht selten muss sich allerdings
die staatlich geforderte Zivilcourage gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassis­
mus nicht gegen rechte Kameraden, sondern gegen staatliche Stellen richten,
um das weitere Zusammenleben zu verteidigen. Im brandenburgischen Belzig
blockierten vor ein paar Jahren Mitschülerinnen und Klassenkameraden den
Wohnungseingang der bosnischen Familie Memic, um deren Abschiebung zu
verhindern. Es gelang ihnen nicht, aber Engagierte holten wenigstens den
Schulkameraden nach der Abschiebung wieder zurück. Im niedersächsischen
Dransfeld sollte die algerische Familie Sardi abgeschoben werden. 2000
Unterschriften hat eine Bürgerinitiative dagegen im Februar 2008 an den
Landrat geschickt, mit der Aufforderung, der Familie ein dauerhaftes Bleibe­
recht zu erteilen. In Westfalen mobilisiert ein Initiativkreis „Bürgerinnen und
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 121

Bürger des Kreises Steinfurt für Humanität und Bleiberecht“ zahlreiche Pros­
testierende gegen die Abschiebung der Bosnierin Aljitis und im nahe gelege­
nen Altenbergen kämpft eine Schulklasse gegen die Abschiebung einer Mit­
schülerin und ihrer Familie. Ein Runder Tisch in Peine schaffte es, die junge
Vietnamesin Tha Nga Van nach ihrer Abschiebung wieder zurückzuholen.

Es gibt viele ähnliche Beispiele, und die Tatsache, dass die Teilnahme an Klas­
senfahrten oder Wettkämpfen im Sportverein in fast allen Bundesländern
Befreiungsgründe von der räumlichen Beschränkung sind, verweist darauf,
dass die gesetzliche Ausgrenzung in dem Moment, in dem Beziehungen ent­
stehen, gesellschaftlich nur noch schwer vermittelbar ist. Es entsteht der Ver­
dacht, dass u. a. die Verhinderung solcher Beziehungen, die zu einer Integra­
tion oder, im Amtsdeutsch formuliert, zur „Verfestigung des Aufenthaltes“
führen könnten, ein Ziel der Maßnahmen ist.

Im vergangenen Jahr fiel mir auf, dass diese Freiheitsbeschränkung,


welche eigentlich nur gegen Ausländer und Ausländerinnen gerichtet ist,
auch mich trifft, denn ich bin mit etlichen Leuten befreundet, mit denen
ich ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde zum Beispiel keine Fahrrad­
tour über die Landesgrenzen hinweg machen kann. Ich bin unmittelbar
betroffen und sehr sauer darauf, wie stark meine persönliche Freiheit
beschnitten wird, mir meinen Freundeskreis aussuchen und mit ihm
Reisen unternehmen zu dürfen.
Thomas Aleschwesky, Sozialarbeiter aus Kassel (Hessen)
Es ist einige Zeit her, da hatten Privatpersonen organisiert, dass zwei
marokkanische Kinder für eine Operation nach Brandenburg kommen
konnten. Sie wohnten in unserem Nachbar-Landkreis Uckermark.
Operiert wurden die Kinder aber bei uns im Landkreis Barnim, im
Eberswalder Krankenhaus. Danach wohnten sie wieder bei ihren Gastel­
tern in der Uckermark. Wir wollten sie nach der Operation dort
zusammen mit einem arabisch sprechenden Flüchtling, der sich im
Krankenhaus um die Kinder gekümmert hatte und auch als Dolmetscher
fungierte, besuchen. Er war sehr daran interessiert, die Kinder nach der
OP zu sehen und ihnen kleine Geschenke zu bringen. Wir hatten für ihn
eine Verlassenserlaubnis organisiert, doch dann stand er Freitag, als wir
gegen 13.00 Uhr dorthin fahren wollten, mit seiner Frau und den
Kindern vor meiner Bürotür. Sie wollten natürlich alle mitfahren. Die
122 ■ Residenzpflicht

Ausländerbehörde war schon geschlossen. Es wurde zwar ein sehr netter


Nachmittag, aber ich war die ganze Zeit angespannt und danach sehr
erleichtert, wieder zurück zu sein. Was hätten wir der Polizei bei einer
Kontrolle sagen sollen?
Marieta Böttger, Ausländerbeauftragte im Landkreis Barnim (Brandenburg)

Von den staatlichen Stellen und der offiziellen Politik gehen fortgesetzt para­
doxe Botschaften aus. Das betrifft auch die Antidiskriminierungspolitik.
Betriebe dürfen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz niemanden
aufgrund der Herkunft diskriminieren, müssen sich aber an das diskriminie­
rende System der Arbeitserlaubnisvergabe halten oder können jemanden nicht
beschäftigen, weil er oder sie den Landkreis nicht dauerhaft verlassen darf.
Innerhalb der EU gibt es Bestrebungen, solche Widersprüche aufzuheben.
Das 12. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention sieht
vor, dass alle gesetzlich niedergelegten Rechte jedermann zu gewähren sind,
ohne Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft oder eines „sonstigen
Status“. Die Bundesregierung verweigert jedoch die Ratifizierung, weil sie
befürchtet, dass insbesondere das Asyl- und Ausländerrecht dann verändert
werden müssten.45

45 BT-Drs. 16/6314 v. 6.9.2007.


Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 123


Die Polizei gibt Stigmatisierungszeichen

„Die UN-Weltkonferenz fordert die Staaten nach­


drücklich auf, wirksame Maßnahmen zu konzipieren,
anzuwenden und durchzusetzen, um das Phänomen der Er­
mittlungen und Kontrollen auf der Basis der ‚Rasse‘ zu besei­
tigen, bei dem Polizisten und andere mit dem Gesetzesvollzug
betraute Beamte in einem bestimmten Grad Hautfarbe,
Abstammung oder nationale oder ethnische Herkunft als
Grundlage für Ermittlungen gegen Personen … heranziehen.“
(Abschlusserklärung der UN-Weltkonferenz gegen Rassismus 2001
in Durban, Aktionsprogramm Nr. 72)

Wie oben beschrieben gehören selektive Personenkontrollen nach Kriterien


der Hautfarbe, der nationalen oder ethnischen Herkunft, international als
racial profiling bezeichnet, zum Berufsalltag auch der deutschen Polizei, insbe­
sondere der Bundespolizei. Die Polizeiforschung beschäftigt sich schon länger
mit diesem Fakt, aber die Bundesregierung leugnet ihn und argumentiert in
einer parlamentarischen Anfrage zum Thema46 getreu dem Motto, dass nicht
sein kann, was nicht sein darf: „Der Begriff racial profiling ist in den USA
bekannt. In der Bundesrepublik verbietet sich eine solche Vorgehensweise
schon aufgrund des Grundgesetzes und des rechtsstaatlichen Systems. Daher
bedienen sich weder das Bundeskriminalamt noch die Bundespolizei eines
solchen Instruments.“ Nicht „äußerliche Merkmale, sondern ausschließlich
Lageerkenntnis und (grenz-)polizeiliche Erfahrung“ seien Ausgangspunkt
polizeilicher Maßnahmen.

Im folgenden Interview erläutert der Politologe Hajo Funke den Zusammen­


hang zwischen diskriminierenden Polizeikontrollen und rassistischer Gewalt.
Der Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin hat in ver­
schiedenen Publikationen die Wechselwirkung zwischen etablierter Politik und
extrem rechten Einstellungen in der Bevölkerung analysiert.

46 BT-Drs. 16/8849 v. 18.4.2008.


124 ■ Residenzpflicht

Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen den selektiven Polizeikontrollen in Zügen und
auf Bahnhöfen und fremdenfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung?

Der Zusammenhang ist indirekt. Natürlich gibt es nicht Rechtsextremismus,


weil es solche Polizeikontrollen gibt, aber die Sonderbehandlung und Isolie­
rung von Bevölkerungsgruppen wird immer wieder benutzt als Ausweis des­
sen, dass diese Leute nicht hier hingehören. Dass sie weg sollen. Dass man
gegen sie aggressiv vorgehen darf. Selektive Personenkontrollen dokumentie­
ren, dass diese Gruppe nicht integriert ist in die Gesellschaft. Rechtspopulis­
ten verweisen wiederum systematisch auf fehlende Integration, auf „Auslän­
derkriminalität“ und mobilisieren im Zweifelsfall auch einen autoritären Mob.
Analog zur Rhetorik rechter Populisten bietet sich die Isolierung und Diskri­
minierung von Gruppen durch die Polizei für ein autoritäres, rechts orientier­
tes Publikum als Gelegenheit an, die Repräsentanten der Staatsgewalt nach­
zuahmen und ihr Verhalten zu radikalisieren. Insofern gibt es eine nicht
direkte, aber indirekte Verantwortung des Staates für rassistisches Verhalten
und die Eskalation von Gewalt durch solche Gruppen oder Individuen.

Und wie sehen Sie den Einfluss zum Beispiel von asylbewerberfeindlichen Einstellungen in
der Verwaltung auf die Stimmung, die in den Kommunen gegenüber Ausländern und
Ausländerinnen insgesamt vorherrscht?

Auch dieser Zusammenhang ist nur indirekt, weil mehrere Faktoren zusam­
menkommen. Nicht nur die ausländerfeindliche oder ausländerdistante Hal­
tung einer Verwaltung, sondern die Haltung von Autoritäten allgemein beein­
flussen die Stimmung in der Öffentlichkeit. Der Anlass für unsere Studie über
Oranienburg47, die nunmehr zehn Jahre alt ist, war eine Amtsperson, die als
Reaktion auf rassistische Übergriffe öffentlich behauptet hatte, die Ausländer­
kriminalität läge um eine Potenz höher als die Summe der Gewaltdelikte von
Deutschen gegen Ausländer. Solche Gleichsetzungen und die Zahlen, mit
denen da jongliert wurde, sind reine Ideologie, und man muss sich nicht wun­
dern, dass in so einer Kommune die mehrheitliche Haltung der Bevölkerung
ausländerfeindlich ist, zumal wenn dann auch noch die fast einzigen Auslän­
der vor Ort, nämlich die Asylbewerber, isoliert in Lagern am Rande der Stadt

47 Markus Klemper, Harald Klier und Hajo Funke: „Ich will mich nicht daran
gewöhnen.“ Fremdenfeindlichkeit in Oranienburg, Berlin 1998.
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 125

untergebracht werden. Heute spricht von den Honoratioren dort niemand


mehr so, aber die Asylbewerber werden immer noch in Lagern isoliert.

Solche Äußerungen und solche Unterbringungsformen sind eine indirekte


Aufforderung zur Ausländerdistanz oder mehr. Wenn es zu Übergriffen
kommt, wird natürlich gesagt, so etwas wollen wir nicht, wir sind ja für den
Rechtsstaat. Aber gesellschaftlich wird damit das Klima dafür befördert. Das
Klima in einer Stadt ist einer der drei entscheidenden Gründe dafür, ob es ein
Mehr an Rechtsextremismus oder entsprechenden Einstellungen und Verhal­
tensweisen gibt oder nicht. Das zweite neben dem Klima ist natürlich die
soziale Lage, ob man Ausbildungs- und sonstige Perspektiven bietet und auf
die Leute zugeht. Das dritte ist die Verbindung von Sozialem mit aktiver Ein­
beziehung in politische Prozesse, also aktive Demokratie. Das sind keine
unmittelbaren Wenn-Dann-Korrelationen, die man in Umfragen feststellt.
Aber diese drei Faktoren haben sich in all meinen Analysen als so wichtig her­
ausgestellt, dass sie, wissenschaftlich gesprochen, als positiv wie negativ rele­
vant angesehen werden müssen. Wenn man sich nicht um die Leute kümmert,
ist das der Nährboden, und wenn dann auch noch Demokratie nicht erfahrbar
ist, verstärkt das die Frustration und die Ausgrenzungserfahrung von rechts­
extrem Orientierten. Und wenn ihnen dann auch noch Autoritäten Sünden­
böcke anbieten, dann erscheint es moralisch erlaubt zuzuschlagen.

Könnte man das z. B. so auch für das folgende Szenario sagen? Am Bahnsteig stehen lau­
ter weiße, nach dem Klischee deutsch aussehende Leute und ein einziger Mensch mit einer
dunkleren Haut oder einem anderen ‚fremdländischen‘ Attribut. Einige Polizeibeamte
kommen auf den Bahnsteig, gehen direkt zu diesem fremdländisch aussehenden Menschen,
kontrollieren ihn und führen ihn womöglich auch noch ab.

Das heißt: es wird nach Hautfarbe, nach Phänotyp selektiert. Das ist Rassis­
mus, in dem Fall institutionell ausgeübt von Vertretern der Staatsgewalt. Von
ihnen geht ein pro-rassistisches Signal aus: Ich sehe eine Gruppe von 50 Leu­
ten, einer ist schwarz, den hole ich raus. Natürlich fördert das Rassismus, und
im Zweifel ist es auch ein rassistischer Akt.

Das heißt praktisch, die Bevölkerung bekommt in dem Fall ein...

...Stigmatisierungszeichen. Braun oder schwarz, das Aussehen der Person wird


von der staatlichen Autorität zu einem extrem abwertenden Stigmatisierungs­
zeichen. Und die Zuschauer vermuten, dass dieser andere, dieser Schwarze,
126 ■ Residenzpflicht

dieser Ausländer, diese mit Kopftuch oder wie auch immer, tatsächlich krimi­
nell ist und bestraft werden soll. Und damit haben sie einen rassistischen
Kontext ausgebreitet, an den politisch angeknüpft und der radikalisiert wer­
den kann.

Bei den Interviews, die in der Oranienburg-Studie dokumentiert sind, wird von den extrem
rechts Eingestellten immer wieder auf den Zusammenhang von Afrikanern und Drogen­
handel verwiesen. Das würde mit solchen selektiven Kontrollen auch genährt?

Jede Form von Vorurteil, die die Rechten sich ausdenken und erspinnen, wird
durch entsprechende ungenaue, generalisierende Äußerungen bzw. stigmati­
sierende Handlungen bestärkt. Es ist immer ungenau, Gruppen der Gewalt
oder einem bestimmten Strafverhalten zuzuordnen. Es gibt dieses gängige
Argumentationsmuster: Ja, die Kriminalitätsrate von Ausländern ist doch so
und so hoch, obwohl vieles davon spezifische, auf die Ausländer gemünzte
Sondertatbestände sind, die man, nebenbei gesagt, abschaffen sollte. Wenn
solche Zuordnungen in Zahlen auftauchen, dann folgt daraus immer ein
generalisierender Verdacht, der eine ganze Gruppe trifft. In dieser Generali­
sierung liegt das Potenzial für Rassismus. Wenn Verstöße gegen die verschie­
denen Gesetze, die nur Ausländer betreffen, in den Statistiken gesondert aus­
gewiesen werden, so ist das ein Fortschritt, allerdings nur dann, wenn die
Zahlen auch so differenziert präsentiert werden. Die Aussagefähigkeit von
Kriminalstatistiken ist aber überhaupt hoch umstritten und sehr fragwürdig.

Lässt sich zusammenfassend sagen, es wäre im Sinne der Förderung eines offenen gesell­
schaftlichen Klimas notwendig, das Asylverfahrensgesetz von allen stigmatisierenden Rege­
lungen, wie zum Beispiel die Zwangsunterbringung in sog. Sammelunterkünften und die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung zu befreien?

Ja, das ist überfällig, und wir wissen genau, dass stigmatisierende Verwaltungs­
praxis für die Entwicklung des Rechtsextremismus von großer Bedeutung
war. Alles, was in der vereinigten Bundesrepublik an militantem Rechtsextre­
mismus und neuem Rassismus existiert, fing an mit der dramatischen Situa­
tion Anfang der 1990er Jahre, nämlich dem Pogromversuch in Rostock-Lich­
tenhagen. Dieser ist nur denkbar gewesen, weil die Behörden durch die Art
der Abfertigung von Asylbewerbern systematisch eine Situation herbeigeführt
haben, die zur Eskalation führte.48

48 Zur Erläuterung sei hier zitiert aus Hajo Funke: Paranoia und Politik – Rechtsextremismus
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 127

Das Gerede von der ‚Asylantenschwemme‘, die die Bevölkerung überfordere,


eine Rhetorik, die mit Schuldzuschreibung gegen den parteipolitischen Geg­
ner eingesetzt wurde, hat diese Pogromversuche legitimiert und den Leuten
das Gefühl gegeben: Wir tun nur, was die Politiker sagen, aber nicht umset­
zen. Wir schlagen die raus. In dem Kontext konstituierte sich eine rechtsex­
treme Szene, deren außerordentliche Gewaltbereitschaft in der EU einzigartig
ist.

Das heißt, Sie sehen eine wesentliche Ursache für den neuen Nach-Vereinigungs-Rechtsex­
tremismus in der Asylpolitik?

Das ist ein, wenn nicht der zentrale Faktor zusätzlich zu den sozioökonomi­
schen Verwerfungen, die einen Nährboden für diese Bereitschaft zu fremden­
feindlichen Handlungen darstellen. Vor all den schönen Programmen gegen
Rechtsextremismus ist die Politik angehalten, jedes stigmatisierende Verwal­
tungshandeln zu unterbinden und entsprechende Gesetze und Verordnungen
abzuschaffen.

in der Berliner Republik, S. 54 ff.: „Schon zum Vorlauf der Unruhen gehörte, dass trotz
der Warnungen des damaligen Oberbürgermeisters von Rostock bereits mehr als ein
Jahr vor den Unruhen im August 1992 bis zu 300 Asylbewerber, vor allem Roma aus
Rumänien, rund um die Asylaufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen lagerten, ohne,
trotz des Verlangens der Hilfsorganisationen, auf sanitäre Einrichtungen und Koch­
gelegenheiten zurückgreifen zu können. Sie wurden vielfach gleich für mehrere Tage
abgewiesen und mussten auf die Asylantragsbearbeitung warten. Solange aber gab es
weder Verpflegung noch Unterkunft, es fehlten selbst die erbetenen, aber immer
wieder abgelehnten Toilettenwagen. Durch diese eklatanten Verwaltungsmängel, die
bezeichnenderweise nach den Unruhen innerhalb weniger Tage behoben werden
konnten, waren die Asylbewerber gezwungen, draußen zu nächtigen, ihre Notdurft zu
verrichten und sich das Notwendigste an Nahrung zu besorgen. Genau dies aber
waren die Handlungen, die zu den Hassausbrüchen eines Teils der Bevölkerung führ­
ten. Sehenden Auges wurde so durch lokale Politiker, vor allem aber durch die zustän­
digen politisch Verantwortlichen des Landes (aber auch des Bundes) das Vorurteil
gegen Fremde bekräftigt, ja neu produziert. So erschienen dann die dort Lagernden
als schmutzig und faul: auf Kosten der Deutschen bekämen sie Wohnung und Brot
und vielleicht noch einen Mercedes. Sie ‚pissen in die Regale‘ der Kaufhalle, so einer
der Anwohner, auch wenn niemand der vier Sicherheitsbeamten dies dort bestätigte.
Sie ‚betatschten Kindergärtnerinnen, bumsten unter freiem Himmel‘ und ‚schissen
überall hin‘, so Nachbarn in Zeitungen.“
128 ■ Residenzpflicht


Ein Lackmustest für die Demokratie

„Institutioneller Rassismus ist letztlich der Lackmus­


test für die Demokratie einer Gesellschaft“
(A. Sivanandan, Institute of Race Relations, London)

Als ich hierher gekommen bin, wusste ich ehrlich gesagt nicht, was
Rassismus ist. Ich habe davon in Büchern gelesen, es im Fernsehen
gesehen, aber ich wusste nicht, was das heißt. Und dann habe ich es hier
erlebt: Rassismus. Meine Erwartung an Deutschland war anders. Ich
dachte: Das ist ein demokratisches Land. Wenn man in Afrika ist, sind
die europäischen Länder Vorbild. Man denkt an Menschenrechte und
dass sie dort gelten. Ich habe erwartet, dass in Deutschland das Gesetz
jeden schützt und dass man Rechte hat, auch wenn man arm ist. Aber
ich habe hier etwas ganz anderes gesehen und erlebt. Wie soll ich mit
Worten erklären, was passiert ist? Ich habe keinen Traum mehr.
Nico Pehounde, Flüchtlingsinitiative Brandenburg
Als ich in Deutschland Asyl suchte, hätte ich niemals erwartet, dass ich
Bedingungen unterworfen sein würde, die denen ähneln, aus denen ich
geflohen bin. Hier brauche ich sogar eine schriftliche Erlaubnis, um
einen Arzt außerhalb meines Landkreises zu sehen. Mein ganzes Leben
lang habe ich niemals an einem Ort gewohnt, wo mein Recht als
menschliches Wesen respektiert worden wäre, ich habe immer dagegen
angekämpft. (…) Die Residenzpflicht entmenschlicht und kriminalisiert
mich nicht nur, sondern hält mich davon ab, die interessierte Öffentlich­
keit über die Situation in den besetzten Gebieten der Westbank und des
Gazastreifens zu informieren
Ahmed Sameer, The VOICE, in einer Prozesserklärung

Im Jahr 2000 fand in Jena der erste Flüchtlingskongress in Deutschland statt.


Wie eingangs bereits beschreiben, war allein dorthin zu kommen für viele ein
großes Problem. Es gab mehr verweigerte als erteilte Verlassensgestattungen,
und es wurde von Drohungen berichtet, Abschiebungen würden beschleunigt
wegen der Teilnahme am Kongress. Sich frei bewegen und versammeln zu
können ist seitdem ein zentrales Thema der Flüchtlingsorganisationen, weil es
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 129

die Voraussetzung für jede weitere Interessensvertretung ist. Ein Jahr später
organisierte ein Bündnis von u. a. The VOICE Refugee Forum, der Flücht­
lingsinitiative Brandenburg und der Migranten- und Migrantinnenorganisation
Karawane zusammen mit antirassistischen Gruppen Aktionstage in Berlin.
Auf dem Schlossplatz entstand ein großes Zeltlager. Über drei Tage kamen
mehrere hundert Flüchtlinge aus den isolierten Sammelunterkünften und
campierten in der Mitte der Hauptstadt, um gegen die ‚Residenzpflicht‘ zu
protestieren. 3.000 Menschen kamen zur Abschlussdemonstration für Bewe­
gungsfreiheit. Auf dem Weg nach Berlin waren Busse von der Polizei aufge­
halten und wegen Verletzung der ‚Residenzpflicht‘ zurückgewiesen worden,
aber die Demonstration blieb unbehelligt.

Es gelang erstmals, das Thema breit in die deutsche Öffentlichkeit zu bringen.


Der Nachhall spiegelte sich in Resolutionen verschiedenster Organisationen
wider und nicht zuletzt in den Empfehlungen der Integrationsbeauftragten an
die Bundesregierung, das Gesetz abzuschaffen.

Der Aufbruch verlor sich im Getöse des 11. September 2001 und seinen
erschreckenden Folgen, zu denen auch eine weitere Verschärfung der europäi­
schen Abschottungspolitik gehört. Andere Themen wurden wichtig, und die
Flüchtlingsorganisationen führen den Kampf gegen das Gesetz seitdem allein
weiter, unterstützt nur von flüchtlingspolitischen Kreisen und kirchlichen
Gruppen. Es gibt allerdings auch nach wie vor immer wieder parlamentari­
sche Initiativen einzelner Abgeordneter oder von Parteigremien. Die Berliner
Koalition aus SPD und Die Linke hat zum Beispiel eine Bundesratsinitiative
zur Abschaffung der räumlichen Beschränkung als gemeinsames Vorhaben in
den Koalitionsvertrag geschrieben, aber bisher nicht realisiert.

Im Zentrum des Kampfes gegen die ‚Residenzpflicht‘ steht die Kampagne


des zivilen Ungehorsams. Die Flüchtlingsorganisationen versuchen dabei, eine
Praxis zu politisieren, die für viele Flüchtlinge allein schon aus psychischer
Überlebensnotwendigkeit zum Alltag gehört. Cornelius Yufanyi, Ahmed Sameer,
Sunny Omwenyeke, Nico Pehounde, um nur einige Namen zu nennen, nutzten
Prozesse wegen Verstoß gegen die ‚Residenzpflicht‘ für Öffentlichkeitsarbeit.

„Die Residenzpflicht ist das größte Problem für unsere Mobilisierung“, meint
Osaren Igbinoba, Sprecher der Flüchtlingsorganisation The VOICE, die ihren
Schwerpunkt auf deren Bekämpfung legt. „Es ist heute vor allem die Frage,
was macht die deutsche Gesellschaft nach so vielen Jahren des Kampfes von
130 ■ Residenzpflicht

Flüchtlingen und Migranten? Unsere Arbeit hat Kontinuität, aber die deut­
sche Öffentlichkeit ist sprunghaft. Wir führen eine Kampagne für Bewe­
gungsfreiheit, aber das ist keine Kampagne nur für unsere Rechte, es ist auch
eine für die deutsche Gesellschaft, denn wenn es gelingt, diese inneren Grenz­
ziehungen abzuschaffen, dann heißt das auch, dass die deutsche Gesellschaft
sich entschieden hat, eine offene Gesellschaft zu werden. Das ist ihr bisher
nicht gelungen. Wir führen einen Kampf gegen die Kultur des Ausschlusses,
des Rassismus, der Diskriminierung. Wir betteln nicht darum, von einem
Landkreis in den anderen zu dürfen, denn man kann nicht darum bitten, sich
frei bewegen zu dürfen. Das wäre, als würde man darum bitten, geboren zu
werden. Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist etwas Natürliches. Wir sind
keine Bittsteller, sondern wir wollen erreichen, dass in Deutschland begriffen
wird: Das ist keine offene Gesellschaft.“

Mit der ‚Residenzpflicht‘ wurde ein Gesetz geschaffen, das einer Gruppe von
Menschen nicht nur das Recht auf Freizügigkeit, sondern auch den Schutz
der Privatsphäre nimmt und ihnen das Recht auf Versammlungsfreiheit und
die Möglichkeit der Interessenvertretung verweigert. Es ist ein undemokrati­
sches Gesetz, denn es negiert die Grundelemente der Demokratie, und es ist
ein antidemokratisches, denn diese Negation wirkt auf vielfache Weise auf die
Gesellschaft zurück. Eine einmal etablierte Praxis lässt sich nur schwer wieder
aus der Welt schaffen und wird früher oder später auf andere Gruppen über­
tragen. Gelingt es nicht, die diskriminierenden Gesetze für Flüchtlinge abzu­
schaffen, besteht die Gefahr, dass dieses gesetzliche Un-Recht auch das
Leben anderer Gruppen repressiv gestaltet: dass auch ALG-II-Empfängerin­
nen und -Empfänger gezwungen werden, in Sammelunterkünften zu leben,
dass weitere Gruppen definiert werden, denen man keinen „Integrationsbe­
darf“ zugesteht, weshalb man ihre Bezüge auf weit unter das Existenzmini­
mum drücken kann, ihnen Bargeld verweigert und, wenn sie ohne Erlaubnis
des Amtes den Wohnsitz verlassen, nicht nur ihre Bezüge kürzt, wie es heute
schon üblich ist, sondern sie zu Straftäterinnen und -tätern macht.

Antidemokratisch ist dieses Gesetz auch, weil es Intoleranz und Stigmatisie­


rung fördert, Rassismus und rassistische Gewalt begünstigt und jeder Antidis­
kriminierungs- und Integrationspolitik zuwider läuft.

Schon als die räumliche Aufenthaltsbeschränkung 1982 Gesetz wurde, war sie
umstritten. Lässt man sich, wie im ersten Kapitel, auf die verschiedenen
Argumente ein, mit denen die Regelung immer noch von politischen Funktio­
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 131

nären und Mandatsträgerinnen als notwendige Maßnahme dargestellt wird, so


stellt man fest, dass jedes einzelne Argument selbst innerhalb der technokrati­
schen Logik leicht zu widerlegen ist und am Ende nur der politische Wille
übrig bleibt, dass es so sein soll. Mit einem beeindruckenden bürokratischen
Aufwand werden Menschen einem realitätsfremden und lebensfeindlichen
Gesetz unterworfen und mehrere Berufsgruppen und Institutionen mit den
Folgen der daraus resultierenden Kriminalisierung beschäftigt und belastet.
Die Willkür, wie sie im Umgang der Behörden mit den Ausnahmeregelungen
deutlich wurde, ist nicht nur einzelnen Behördenangestellten geschuldet, son­
dern sie haftet zwangsläufig einem Gesetz an, das derart weitreichend die Per­
sönlichkeitsrechte beschränkt und derart tief in die Privatsphäre eingreift. Wer
kann sich anmaßen zu entscheiden, welcher versagte Kontakt für einen Men­
schen eine „unbillige Härte“ darstellt?

„Recht findet nicht im luftleeren Raum statt“, schreibt der Asylrechts-Anwalt


Hubert Heinhold, „es wird durch die gesellschaftlichen Realitäten geformt.“ Die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung geht zurück auf eine Politik der Abschot­
tung, der doppelten Standards und der Entrechtung. Diese Realität gilt es im
Interesse einer offenen Gesellschaft zu verändern.

Vom ‚Recht auf Rechte‘


Gespräch mit der Psychologin und Gesellschaftstheoretikerin
Birgit Rommelspacher

2009 jährt sich der Mauerfall zum zwanzigsten Mal. Mit der Mauer verschwand auch
der Begriff ‚Fluchthelfer’, eine ehrenwerte Bezeichnung für alle, die beim Grenzübertritt
von Ost nach West halfen, egal, ob es sich dabei um routinierte Geschäftemacher oder um
passionierte Menschenfreunde handelte. Seitdem es die Systemkonkurrenz nicht mehr gibt,
sind aus Fluchthelfern ausnahmslos ‚Schlepper‘ und ‚organisierte Kriminelle‘ geworden.
Wie ist das zu deuten?

Flucht wurde im Kontext des Ost-West-Gegensatzes ganz anders thematisiert


als heute. In den 1970er Jahren sind bis zu 70 Prozent als Flüchtlinge aner­
kannt worden. Die Anerkennungsquote heute liegt unter fünf Prozent. Die
Fluchtgründe sind mit Sicherheit nicht weniger ernst zu nehmen, aber man
sieht daran, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, woher die Flücht­
132 ■ Residenzpflicht

linge kommen bzw. wie sie ins Weltbild und zum politischen Interesse passen.
Flüchtlinge aus der Sowjetunion und ihren ‚Bruderstaaten’ wurden willkom­
men geheißen, weil sie Beweis für das repressive System des politischen Geg­
ners waren. Deswegen wurden sie auch generell als politische Flüchtlinge
anerkannt. Es gab teilweise sogar Prämien, um die Flucht finanziell zu unter­
stützten. Die Flüchtlinge heute symbolisieren dagegen Armut und das Wohl­
standsgefälle zwischen Norden und Süden bzw. Westen und Osten. Dadurch
bekommen sie eine vollkommen andere symbolische Bedeutung. Vielfach
wird suggeriert, hinter jedem stünden Millionen andere, die darauf aus seien,
hierher zu kommen. Sie werden als Bedrohung erlebt, die es abzuwehren gilt.
In den letzten zwanzig Jahren sind das Asylrecht und seine Anwendungspra­
xis immer restriktiver geworden. Sie zielen auf Abschreckung und Ablehnung
mit dem Ergebnis, dass dieses Recht kaum noch in Anspruch genommen
werden kann.

Wie passt diese restriktive Politik gegenüber Flüchtlingen damit zusammen, dass das
Engagement in der Flüchtlingsarbeit immer wieder mit hohen Auszeichnungen honoriert
wird?

Ich denke, es gibt einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Abschot­


tungs- und Diskriminierungspolitik einerseits und andererseits dem Anspruch
bzw. Selbstbild, demokratisch und gerecht zu sein und die Menschenrechte zu
vertreten. Diese gelten ja gewissermaßen als Markenzeichen der so genannten
westlichen Kultur und auch der deutschen Gesellschaft. Insofern muss man
auch immer wieder diesem Anspruch genügen. Der Widerspruch ist kein nur
ideologischer, er verweist auf eine echte Spannung zwischen dem national­
staatlichen Interesse, auszuwählen, wen man hereinlässt und wen nicht, und
den allgemeinen Prinzipien der Gerechtigkeit und der Menschenrechte, die
man sich auf die Fahnen geschrieben und zur Grundlage der eigenen Gesell­
schaft erklärt hat.

Nun sind seit dem europäischen Kolonialismus aber die Lebensverhältnisse in


der Welt voneinander abhängig und die Armut der Einen nicht ohne den
Reichtum der Anderen zu begreifen. Wir leben nicht auf einer Insel, und wir
stehen in der Verantwortung für unsere Privilegien und die ausbeuterischen
Beziehungen, mit denen sie einhergehen. In der Auseinandersetzung um das
Bild der Flüchtlinge geht es immer auch um die Zuweisung von Verantwor­
tung für die ungleichen Lebensverhältnisse. Aber es geht auch um die Abwehr
von Konflikten, zum Beispiel dem, wie das positive Selbstbild einer humanen,
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 133

liberalen und weltoffenen Gesellschaft aufrecht erhalten werden kann, ohne


die eigenen Privilegien und die eigene Vormachtstellung in Frage stellen zu
müssen. In diesem Zusammenhang nährt die Abschottungspolitik regressive
Fantasien: Wenn die Mauer nur hoch genug ist, wird schon alles gut. Wenn ich
wie ein Kind die Augen verschließe, gibt es die andere Seite der Welt nicht
mehr. Zu dieser Regression gehört es, die Verursachung der Probleme den
Anderen anzulasten und sie für ‚rückständig’ und ‚unfähig’ zu erklären, um
sich einzureden, dass es in der Welt gerecht zugeht, auch wenn das Unrecht
offensichtlich ist.

Eine andere Möglichkeit des Umgangs wäre, sich den Widersprüchen zu stel­
len, zu sehen, wie die Probleme miteinander zusammenhängen, die Ambiva­
lenzen anzunehmen und in einem Aushandlungsprozess miteinander zu ver­
suchen, den unterschiedlichen Ansprüchen möglichst weitgehend gerecht zu
werden.

Die deutsche Asyl-Praxis stellt alle Asylsuchenden unter den Generalverdacht des Asylbe­
trugs. Ihnen wird regelmäßig nicht geglaubt. In dem Wissen, dass es aber sehr wohl Flucht­
gründe gibt, versuchen Angestellte in der Flüchtlingsbürokratie Orientierungspunkte zu fin­
den. Einer ist die oft formulierte Annahme, Flüchtlinge erkenne man an der Dankbarkeit,
was letztendlich heißt, an der Billigung der Restriktionen, die ihnen auferlegt werden.

Mir fällt dazu ein, wie eine bosnische Frau über ihre Flucht nach England
erzählte, dass ihr vorher in Bosnien gesagt wurde, sie solle möglichst ärmliche
Kleidung tragen, sonst würde ihr nicht geglaubt, dass sie ein Flüchtling sei.
Die Flüchtlinge müssen also möglichst auch den Bildern entsprechen, die sich
die Mehrheitsgesellschaft von ihnen macht. Die Dankbarkeit als vermeintli­
ches Erkennungsmerkmal beschreibt die psychologische und symbolische
Rolle, die den Flüchtlingen zugewiesen wird. Dem entspricht das Verständnis
von Asyl als ein karitatives, großzügiges Gewähren im Gegensatz zu einem
politischen Konzept der Rechte, die jemand hat. Der Andere als Rechtssub­
jekt wird nicht anerkannt und muss selbst die schäbigsten Lebensbedingungen
als gnädig gewährte Hilfe anerkennen. Flüchtlinge werden nicht als politische
Subjekte oder als Menschen gesehen, die Interessen haben, die sich entfalten
wollen und die dieser Gesellschaft etwas geben können und mitzuteilen
haben. Im Gegenteil, man drängt sie aus der Gesellschaft hinaus und verweist
sie auf die untersten sozialen Ränge. Aufgrund dieser elenden und gewalttäti­
gen Lebensbedingungen gleichen sie auch zunehmend dem Bild des rückstän­
digen, armen, und kriminellen Anderen. Das heißt der Rassismus schafft
134 ■ Residenzpflicht

Lebensverhältnisse, die ihn wiederum bestätigen. Man könnte also all die
Maßnahmen, die den Flüchtlingen ein solches Leben aufzwingen. als eine
unbewusste Inszenierung rassistischer Fantasien interpretieren.

Wie wirkt das in die Gesellschaft zurück?

Die Herabsetzung der Anderen durch die äußeren Grenzziehungen der


Abschottungspolitik wird fortgeführt durch innere Grenzziehungen in Form
von Entrechtung und forcierter sozialer Ausgrenzung. Es fragt sich, welchen
Stellenwert Prinzipien wie soziale Gerechtigkeit und Gleichheit in dieser
Gesellschaft haben, wenn amtlicherseits unterschiedliche Minimalstandards
für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen wie in einem Kastensystem festge­
legt werden. Mit dem Akzeptieren dieser Politik akzeptiert unsere Gesell­
schaft, dass es wie selbstverständlich Menschen zweiter Klasse gibt, denen
gesetzlich ein Leben unter dem Existenzminimum verordnet werden kann
und deren medizinische Versorgung auf die Lebenserhaltung reduziert wird.
Sie akzeptiert, dass es zur Normalität wird, bestimmten Menschen per Dekret
Grundrechte zu entziehen. Wenn einer Gruppe von Menschen das Recht auf
Bewegungsfreiheit systematisch verweigert wird, wenn sie sich nur an
bestimmten Orten aufhalten dürfen, dann stellt das die Grundlagen der
Demokratie in Frage. Eine solche Politik unterhöhlt die demokratische Ver­
fasstheit unserer Gesellschaft und führt zu einer Erosion der politischen Kul­
tur. Und wenn man bedenkt, dass Deutschland das einzige Land in Europa
ist, das eine räumliche Beschränkung, die sogenannte Residenzpflicht, in die­
ser Form verhängt, dann muss man sich fragen, inwieweit da etwas fortge­
führt wird, was wir aus dem Nationalsozialismus kennen. Warum diese Uner­
bittlichkeit und dieses Übermaß an Restriktion und Repression? Das finde
ich, verweist auf eine fatale Tradition.

Um zurückzukommen auf den Konflikt zwischen nationalstaatlichem Eigen­


interesse und der Verpflichtung gegenüber den Grundprinzipien der Gerech­
tigkeit: Die Negierung dieser Eigeninteressen ist unrealistisch, weil dies nicht
dem gesellschaftlichen Selbstverständnis und nicht den individuellen Lebens­
perspektiven der Menschen entspricht. Aber die heutige Politik der Abschot­
tung verabsolutiert dieses Eigeninteresse. Sie bezieht sich so gut wie nicht
auch auf die Interessen der Anderen und unterläuft in dieser Einseitigkeit
grundlegende Prinzipien, die nicht ohne Schaden für die gesamte politische
Gemeinschaft missachtet werden können.
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 135

Auf dem Hintergrund einer Politik, die im Namen von Globalisierung den
freien Waren- und Geldverkehr propagiert und Mobilität über alles stellt, las­
sen sich heute nationale Abschottungsbedürfnisse weniger denn je rechtferti­
gen, ebenso wenig, wie sich die Zuerkennung von Rechten alleine an den
Besitz der Staatsangehörigkeit binden lässt. Jeder Mensch muss, mit Hannah
Arendt gesprochen, ein „Recht auf Rechte“ haben im Sinne universal gültiger
Menschenrechte und dazu gehört elementar das Recht auf Freizügigkeit.
Anhang

Umsetzung der ‚Residenzpflicht‘ in Bund und Ländern

Bundesland Ausführungs­ Gründe für eine Verlassenserlaubnis &


(Aufenthalts- vorschrift Gebühren
beschränkung auf)

Bund Vorläufige Anwen­ 12.5.2.2 Zwingend sind nur Gründe von


dungshinweise des erheblichem Gewicht. Sie können famili­
Bundes vom ärer, religiöser, gesundheitlicher oder politi­
Dezember 2004 scher Natur sein. In Betracht kommen etwa
der Besuch eines Facharztes, dringende
familiäre Angelegenheiten, z. B. Besuch
schwer kranker Familienmitglieder, Teil­
nahme an bedeutenden religiösen Riten
und Festen.
12.5.2.3 Unbillige Härten sind Beeinträchti­
gungen persönlicher Belange, die im Ver­
gleich zu den betroffenen öffentlichen
Interessen und im Hinblick auf den vom
Gesetz vorausgesetzten Zweck der Aufent­
haltsbeschränkung als unangemessen
schwer anzusehen sind. Es handelt sich um
einen gerichtlich voll überprüfbaren unbe­
stimmten Rechtsbegriff. Persönliche Inter­
essen des Ausländers können stärker
berücksichtigt werden als beim Begriff des
zwingenden Grundes.

Baden-Württem­ Verweis auf Bund „Erlaubnis von privaten Reisen nur für ein­
berg & interner Einzel­ grenzbare Ziele, Termine und Aufenthalts­
erlass orte; Schulausflüge; Fahrt zu einer konkre­
(Landkreise) ten Arbeitsstelle; angemessene persönliche
Gründe.“ / Verweis auf Einzelfallentschei­
dung
Gebühren: Freiburg/Breisgau-Hoch­
schwarzwald für private Fahrten 5-10 €,
offizielle Termine umsonst; Mannheim &
Karlsruhe 10 € ; alle anderen Kreise keine1

Bayern Verweis auf Bund „Der ausländerbehördliche Vollzug orien­


(Landkreise, … tiert sich an den gesetzlichen Vorschriften.“
138 ■ Residenzpflicht

Bundesland Ausführungs­ Gründe für eine Verlassenserlaubnis &


(Aufenthalts- vorschrift Gebühren
beschränkung auf)

Ausnahme: Stadt­ Gebühren:


kreis München & 10 €, Kinder 5 € 1
München-Land)

Berlin Vorläufige Anwen­ „Eine Versagung zum vorübergehenden


dungshinweise des Verlassen sollte grundsätzlich nur aus­
(Stadtgebiet) Senats 2008 nahmsweise verfügt werden, etwa wenn
(öffentlich zugäng­ Erkenntnisse vorliegen, dass der Betroffene
lich) nicht nach Berlin zurückkehren wird oder
beabsichtigt, sich strafbar zu machen.“

Brandenburg Organisationserlass Eine Verlassenserlaubnis ist zu erteilen für:


von 1997 Erwerbstätigkeit, allerdings nur bei täglicher
(Landkreise, (öffentlich zugäng­ Rückkehr; Arztbesuche und Krankenhaus­
Ausnahme: Freizü­ lich) aufenthalte, die als erforderlich bescheinigt
gigkeit zwischen sind; Veranstaltungsbesuch als Mitglied
Landkreisen einer Sportmannschaft, Musikkapelle, Hilfs­
Potsdam, Potsdam- organisation o. ä.; Teilnahme an kirchlichen
Mittelmark & Bran­ oder religiösen Veranstaltungen (Teilnahme
denburg a. d. Havel an Gottesdiensten nur, wenn innerhalb des
wegen gemeinsam. zugewiesenen Aufenthaltsbereichs keine
Verkehrsnetz) Möglichkeit); Besuche wegen Hochzeit,
Tod, besondere Geburtstage naher Ver­
wandter (Ehegatte, Eltern, Kinder,
Geschwister, Großeltern, Enkel); Schul­
landheimaufenthalt bzw. Studienfahrt;
Besuch von Angehörigen in Abschiebehaft.

Bremen Verweis auf Bund


(Bremen Stadt &
Bremerhaven)

Hamburg Verweis auf Bund „Wird im Einzelfall entschieden.“


(Stadtgebiet, außer & Einzelerlasse Erlass zur Teilnahme an Klassenfahrten
Lageraußenstelle (öffentlich zugäng­
Nostorf/Horst. lich)
(dort: Hamburg &
Landkreis Ludwigs­
lust, Mecklenburg)
Anhang ■ 139

Bundesland Ausführungs­ Gründe für eine Verlassenserlaubnis &


(Aufenthalts- vorschrift Gebühren
beschränkung auf)

Hessen Verweis auf Einzelfallprüfung und Verwal­


(3 Regierungsbe­ tungsverfahrensgesetz § 40: „Ist die
zirke) Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen
zu handeln, hat sie ihr Ermessen entspre­
chend dem Zweck der Ermächtigung aus­
zuüben und die gesetzlichen Grenzen des
Ermessens einzuhalten.“ „Die Entschei­
dungen beruhen auf der Abwägung der
Interessen der Antragsteller (…) und der
Aufrechterhaltung der räumlichen
Beschränkung.“
Gebühren: lt. Regierungspräsidien würden
keine Gebühren erhoben; etliche Auslän­
derbehörden verlangen 10 € für Erwach­
sene und 5 € für Kinder ab 6 Jahren
(Ermessensspielraum bei den Kindern)1

Mecklenburg- Verweis auf Bund Gebühren


Vorpommern Wismar: 5 € für private Fahrten
(4 Aufenth.zonen) Bad Doberan, Rügen, Schwerin: 10 €

Niedersachsen Verwaltungsvor­ Außer bei Missbrauchsverdacht: notwend.


schrift zum Aufent­ medizinische Behandlung, Begleitung von
(Landkreise, aber: haltsgesetz Kindern und Besuch enger Angehöriger im
Neu eingereiste Krankenhaus; überregionale religiöse Ver­
Flüchtlinge für anstaltungen, Gottesdienste (soweit vor Ort
Dauer des Verfah­ nicht möglich); Teilnahme an Sportveran­
rens in der ZAAB* staltungen oder Begleitung eines aktiven
untergebracht und Kindes; aktive Teilnahme an überregionalen
Aufenthalt auf Kulturveranstaltungen; Schulausflüge, Klas­
Braunschweig senfahrt, Jugendfreizeit, Sportverein;
beschränkt.) Geburten, Hochzeiten, Todesfälle in der
Verwandtschaft.
Gebühren: vereinzelt zwischen 10-30 €1

NRW Verweis auf Bund Gebühren: „Über Gebühren wird einzel­


(5 Regierungsbe­ fallbezogen durch die Behörde entschie­
zirke) den.“ / Standard: 10 €2

Rheinland-Pfalz interne Verwal­ Gebühren: 10 €2


(3 Aufenth.zonen) tungsvorschriften
140 ■ Residenzpflicht

Bundesland Ausführungs­ Gründe für eine Verlassenserlaubnis &


(Aufenthalts- vorschrift Gebühren
beschränkung auf)

Saarland Verweis auf Bund Verweis auf Einzelfallprüfung und „groß­


(Bundesland) zügiges Ermessen bei religiösen Festen“
Gebühren: 10 €

Sachsen interne Verwal­ Gebühren: 10 €2


(Landkreise) tungsvorschriften

Sachsen-Anhalt Verweis auf Bund Gebühren:


(3 Aufenth.zonen) in manchen Landkreisen 10 €1

Schleswig-Holstein interner Erlass Ermessen soll „grundsätzlich zugunsten


(Landkreise, teilw. 2007 der Antragsteller ausgeübt werden“
Erweiterungen zum
Einkaufen; Mit­
gliedschaft in Ham­
burger Sportverei­
nen möglich)

Thüringen interne Handakte Gebühren: Stadt Gera, Kreise Sömmerda


(Landkreise) & Sonnenberg 10 € bei Erwerbstätigen;
Weimarer Land 2,50 € bei Nachprüfung der
Zieladressen; Nordhausen abhängig vom
Sachverhalt 10 €
Tabelle 7: Umsetzung der Aufenthaltsbeschränkungen sowie Gebühren für Verlassenser­
laubnisse in Bund und Ländern (Quellen: Angaben von Pressestellen der Innenministe­
rien; 1: Berichte von Betroffenen, Beratungsstellen, Sozialarbeiter/innen, Flüchtlingsräten,
Integrationsbeauftragten oder Ausländerbeiräten; 2: Juliane Wetendorf (2006): Die Räumli­
che Beschränkung von Flüchtlingen in der Diskussion. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Evangeli­
sche Hochschule für Soziale Arbeit Dresden).
*
ZAAB = Zentrale Aufnahme- und Ausländerbehörde
Flüchtlingsrat Brandenburg

Der Flüchtlingsrat Brandenburg ist ein offenes Netzwerk von Initiativen, Ein­
zelpersonen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Flüchtlingen, VertreterInnen kom­
munaler Verwaltungen, haupt- und ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit Täti­
gen. Neben diesem Gremium gibt es einen Förderverein, über den die Pro­
jektfinanzierung abgewickelt wird. Die Arbeit wird zurzeit größtenteils
ehrenamtlich verrichtet. Zu den Arbeitsschwerpunkten gehören:

· Wir beraten und unterstützen in der Flüchtlingsarbeit Tätige und Interessierte


· Wir geben Hilfestellung in der Arbeit vor Ort
· Wir betreiben Öffentlichkeitsarbeit zur Situation der Flüchtlinge in Branden­
burg und zu Herkunftsländern.
· Wir führen Gespräche mit Brandenburger Behörden, Parteien, Politikern zur
Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen
· Wir unterstützen die Selbstorganisation von Flüchtlingen
· Wir bieten vierteljährliche öffentliche Sitzungen zu flüchtlingsrelevanten
Themen und geben Inforundbriefe heraus
· Wir bieten die Möglichkeit, Archiv und Arbeitsplatz im FR zu nutzen
· Wir haben einen kleinen Rechts-Nothilfefond eingerichtet.
· Wir schulen Ehren- und Hauptamtliche sowie interessierte Flüchtlinge im
Rahmen eines EU-Projektes.
· Wir beschäftigen uns mit der europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik.
· Wir arbeiten mit anderen Flüchtlingsräten, Pro Asyl, Wohlfahrtsverbänden,
Kirchen, NGOs, Gewerkschaften, UNHCR etc. zusammen.

Als Anerkennung für unsere Arbeit haben wir 2001 den Julius-Rumpf-Preis
der Martin-Niemöller- Stiftung erhalten.

Flüchtlingsrat Brandenburg
Rudolf-Breitscheid-Str. 164
14482 Potsdam
Tel/Fax: 0331 / 716 499
E-Mail: info@fluechtlingsrat-brandenburg.de
Humanistische Union

emanzipatorisch...
Die Humanistische Union e.V. (HU) ist eine bundesweit tätige Bürgerrechts­
organisation für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Seit 1961
haben wir viele politische Debatten geprägt: Widerstand gegen die Notstands­
gesetze und die Volkszählung, Berufsverbote, Lauschangriff, Telefonüberwa­
chungen, aber auch die Kritik am § 218, den Lebensbedingungen in Gefäng­
nissen und der Psychiatrie.

radikaldemokratisch...
Die HU setzt sich ein für das Recht auf Meinungsfreiheit, Datenschutz und
Akteneinsichtsrecht, mehr direktdemokratische Mitbestimmung, die Gleich­
stellung von Frauen und für die Trennung von Staat und Kirche - kurz: für
mehr Selbstbestimmung der Menschen in ihrer sozialen Verantwortung.

unabhängig...
Die HU ist überparteilich und unabhängig, wir finanzieren uns ausschließlich
aus Beiträgen und Spenden. Wir arbeiten mit zahlreichen Menschen- und
Bürgerrechtsorganisationen zusammen, geben mit ihnen jährlich einen alter­
nativen Verfassungsschutzbericht (Grundrechte-Report) und die Zeitschrift
vorgänge heraus.

Humanistische Union e.V.


Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin
Telefon: 030 / 20 45 02 56
Telefax: 030 / 20 45 02 57
info@humanistische-union.de
http://www.humanistische-union.de

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