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Keine Bewegung!
Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge –
Bestandsaufnahme und Kritik
Beate Selders: Keine Bewegung! Die ‚Residenzpflicht‘ für Flüchtlinge – Bestandsaufnahme und
Kritik. Hrsg. von Flüchtlingsrat Brandenburg & Humanistische Union. Eigenverlag, Berlin 2009
2. korrigierte Auflage
ISBN: 978-3-930416-25-7
Die Erstellung dieser Broschüre wurde finanziell gefördert durch Aktion Mensch, Pro Asyl,
Amadeu-Antonio-Stiftung und Doris-Wuppermann-Stiftung. Wir danken für die freundliche
Unterstützung. Eine umfassende Falldokumentation sowie weitere Informationen zum Thema
sind zu finden auf der Webseite www.residenzpflicht.info.
© Die Inhalte dieser Broschüre unterliegen der Creative Commons License Version 3.0. Die
Texte und Grafiken dürfen für nicht-kommerzielle Zwecke bei Nennung der Autorin und der
Herausgeber frei verwendet werden. (Weitere Informationen zur Lizenz siehe:
http://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/3.0/de/.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung................................................................................................................................................5
Vorwort der Humanistischen Union.......................................................................................5
Vorwort des Flüchtlingsrats Brandenburg...........................................................................7
Einführung in das Thema...........................................................................................................9
Reportagen...........................................................................................................................................17
Enzkreis, Baden-Württemberg: „Die Leute denken, wir kommen hierhin,
müssen nicht arbeiten und kriegen alles geschenkt. Die wissen gar nicht,
was los ist!“...................................................................................................................................17
Plauen, Sachsen: Wer den Bahnhof betritt, macht sich schon verdächtig..............22
Uckermark, Brandenburg: „Gefährlicher Straftäter gefasst!“ - oder:
Der unbedingte Wille zu kriminalisieren ............................................................................24
Das Gesetz............................................................................................................................................29
Buchstabe und Charakter des Gesetzes.............................................................................29
„Ein Urteil jenseits der Realität“. Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung
vor dem Bundesverfassungsgericht.....................................................................................37
Interview mit Richter Werner Schwamb............................................................................42
Der Straßburger Zirkelschluss. Die Beschwerde beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte..........................................................................................45
Interview mit Marei Pelzer (Pro Asyl).................................................................................46
Die Abschreckungsdoktrin und ihre Nachwirkungen ....................................................47
Die Behörde..........................................................................................................................................55
Parzellen und Wegezoll...........................................................................................................55
Umfassende Befugnisse...........................................................................................................58
Die Erteilung der Verlassenserlaubnis.................................................................................60
Rechtsanspruch? Eine Frage des Glücks.............................................................................65
Kontrollieren und disziplinieren............................................................................................66
Menschen vor und hinter dem Schalter.............................................................................68
Unzumutbares Verfahren oder: Wie kriminelle Ausländer gemacht werden.........71
4■ Residenzpflicht
Die Polizeikontrolle............................................................................................................................81
Erfolgreich durch Ressentiments ........................................................................................84
Illegalität, Schleierfahndung und ‚Residenzpflicht‘........................................................87
Institutioneller Rassismus. Interview mit Martin Herrnkind.......................................91
Konflikte und Gewalt...............................................................................................................93
Auswirkungen II: „Die Kontrolle ist vor allem eine psychische“. Zur Situation
von Frauen. Interview mit Florence Sissako (Women in Exile)...................................95
Die Verurteilung..................................................................................................................................99
Kriminalisierte Flüchtlinge – Beispiel Brandenburg.....................................................105
Überforderte Gerichte............................................................................................................107
Abzahlen von Geldstrafen....................................................................................................109
Spätfolgen der Kriminalisierung: Verweigerte Aufenthaltsrechte und
Ausweisung...............................................................................................................................110
Auswirkungen III:
Gefangen im Umfeld der Täter...........................................................................................115
Anhang................................................................................................................................................137
Umsetzung der ‚Residenzpflicht‘ in Bund und Ländern..............................................137
Flüchtlingsrat Brandenburg ................................................................................................141
Humanistische Union ..........................................................................................................143
Einleitung
Beate Selders auf die praktische Anwendung der Residenzpflicht durch Aus
länder- und Polizeibehörden ein. Dabei wird deutlich, dass die gesetzlichen
Grundlagen der Residenzpflicht zu einem alltäglichen Rassismus verleiten,
ihre Durchsetzung jenen diskriminierenden Blick fördert, den der Staat
andernorts aufwändig zu bekämpfen sucht. Durch die vielschichtige Darstel
lung wird die Residenzpflicht nicht nur als Problem der Betroffenen, sondern
auch als grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft im Umgang mit Asyl
suchenden thematisiert. Die Interviews und Reportagen von Beate Selders
machen deutlich, dass wir nicht untätig bleiben dürfen.
Die Humanistische Union versteht die Broschüre auch als Beitrag zu den
immer wiederkehrenden migrations- und kriminalpolitischen Diskussionen
um die sog. Ausländerkriminalität: Manche Vorurteile und Ressentiments
gegen „kriminelle Ausländer“ finden ihren rationalen Kern in Straftaten, die
eben nur Asylsuchende begehen können – wie die Verstöße gegen die Aufent
haltsbeschränkungen des Asylverfahrensgesetzes oder des Aufenthaltsgeset
zes. Verstöße gegen die sog. Residenzpflicht sind aber kein Beleg für „krimi
nelle Ausländer“, sondern vielmehr Ausdruck menschenunwürdiger Lebens
bedingungen für Asylsuchende in Deutschland. Mit der Broschüre wollen die
Herausgeber eine aus ihrer Sicht dringend notwendige Debatte über diese
Lebensbedingungen anregen. Das Recht auf freie Bewegung muss endlich für
die in Deutschland lebenden Migranten eingelöst werden.
Die vorliegende Broschüre stellt das Material bereit, das nötig ist, um zu
sehen, was die Residenzpflicht ist: eine Menschenrechtsverletzung, die eine
weitere Hinnahme nicht duldet. Wir wünschen ihr eine möglichst große Ver
breitung und Stärkung der Kampagne zur Abschaffung der Residenzpflicht.
Auf eine Verleihung des „Denkzettels für strukturellen und systemimmanen
ten Rassismus“ wird angesichts der Vielzahl möglicher Adressaten im Falle
der Residenzpflicht im Jahr 2009 verzichtet.
Kay Wendel
Einführung in das Thema
Für diese radikale Beschneidung der Bewegungsfreiheit ist der Begriff Resi
denzpflicht ein Euphemismus. Mit der Aufenthaltsbeschränkung wird nicht
nur das Wohnen, sondern das gesamte Alltagsleben der Betroffenen einer
Sonderbehandlung unterworfen, die sie durch kein Verschulden zu verantwor
ten haben und der sie mit eigener Anstrengung nicht entkommen können.
Genau so lässt sich soziologisch das Wesen von Diskriminierung beschreiben.
2 Falldokumentation s. www.residenzpflicht.info.
Einleitung ■ 11
wenn man sie im Zusammenhang mit den anderen Auflagen für Flüchtlinge
im Asylverfahren betrachtet.
Wer in Deutschland Asyl beantragt, befindet sich oft auf Jahre in einer Art
Paralleluniversum, einem virtuellen Transitraum, in dem die Erlaubnis, über
haupt anwesend zu sein, überprüft wird. Dieses Paralleluniversum besteht aus
der Unterbringung in Sammelunterkünften, in denen jeder Person abhängig
vom Bundesland zwischen 4,5 und 6 Quadratmeter Raum zugestanden wer
den, meist in alten Kasernen, leer stehenden Pensionen oder Containern an
abgelegenen Orten, weit weg von der Wohnbevölkerung, bevorzugt in Indus
triegebieten oder im Wald. In der Regel wird von Heimen gesprochen, die
Zwangseinweisung und die Lage legen jedoch den Begriff Lager nahe.
„
gramms der xenophoben Republikaner, die in ihrem Kommunalwahlpro
gramm 1996 forderten:
In den Jahren 2000 bis 2002 gibt es eine breite Protestbewegung gegen die
sog. Residenzpflicht. Im fünften Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundes
republik Deutschland 2002 bezieht sich die damalige Ausländerbeauftragte
Marie-Luise Beck auf diese Proteste und die von vielen gesellschaftlichen
Gruppen getragene Kritik an der Aufenthaltsbeschränkung und empfiehlt der
Bundesregierung, die gesetzlichen Bestimmungen zu revidieren. So könnten
die EU-Verhandlungen über die Richtlinien für die Flüchtlingsaufnahme
erleichtert werden, weil bis dato die Bundesrepublik das einzige Land ist, das
eine solche Freiheitsbeschränkung praktiziert.
Niederlage in Straßburg
Teil der oben erwähnten Protestbewegung von Flüchtlingen gegen die sog.
Residenzpflicht war die Weigerung, die Bußgelder wegen Verstoß gegen das
bekämpfte Gesetz zu zahlen. Es folgte ein Prozess nach dem anderen. Doku
mentiert sind diese Prozesse und die Kampagne des zivilen Ungehorsams in
einer Broschüre der Flüchtlingsorganisation The VOICE Refugee Forum.5 Eines
der Verfahren konnte bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschen
rechte (EUGMR) in Straßburg gebracht werden. Seit November 2007 liegt die
Entscheidung vor. Der EUGMR hält in dem vorgetragenen Fall die räumliche
Aufenthaltsbeschränkung für vereinbar mit der Europäischen Menschen
rechtskonvention. Diese Entscheidung ist nach der erfolglosen Vorlage des
Gesetzes beim Bundesverfassungsgericht im Jahr 1997 eine erneute Nieder
lage für Menschen- und Bürgerrechte.
Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, eine Bestandsaufnahme der Recht
spraxis zu unternehmen, um erneut eine breite gesellschaftliche Diskussion
und Initiative gegen diese gravierende Beschränkung der Bewegungsfreiheit
anzuregen. Es geht dabei nicht nur um die vielfältigen Auswirkungen auf die
unmittelbar Betroffenen, sondern auch um die Auswirkungen auf die gesamte
Gesellschaft: die Förderung von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus durch
das ausgrenzende Gesetz und die Übertragung dieser repressiven Praxis auf
andere gesellschaftliche Gruppen.
„Flüchtlinge gibt es hier nicht! Flüchtlinge, die hatten wir nach '45“
So reagierte der Leiter einer brandenburgischen Kreisbehörde auf die Frage
nach baulichen Veränderungen am „Flüchtlingsheim“. Flüchtlinge gibt es
sprachlich in Deutschland nicht mehr, seit sich das Unwort Asylant etabliert
hat. Wer die abfällige Konnotation vermeiden möchte, spricht von Asylbewer
bern oder geschlechtsneutral von Asylsuchenden. Juristisch korrekt ist nur als
Flüchtling zu bezeichnen, wer amtlich anerkannt wurde oder den Status nach
der Genfer Konvention zuerkannt bekam. Damit wird allen anderen ein legiti
mer Fluchtgrund abgesprochen. Die Tatsache, dass 2007 zum Beispiel jeder
dritte irakische Flüchtling in der EU anerkannt wurde, in der Bundesrepublik
dagegen nicht einmal vier von Hundert6 zeigt, dass die Anerkennungsquote
wenig mit den Fluchtgründen zu tun hat. Im vorliegenden Text wird deshalb
wahlweise von Flüchtlingen oder Asylsuchenden gesprochen bzw. von Flücht
lingen im Asylverfahren.
Zur Sprachregelung sei auch noch erwähnt, dass mit dem Begriff Residenz
pflicht im Kontext der Asylpolitik mehrere Umstände beschrieben werden:
Neben der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung die Verpflichtung in Sam
mellagern zu wohnen, das heißt, nicht nur an einem bestimmten Ort, sondern
in einer bestimmten Art leben zu müssen, und die Wohnortauflage für den
Fall, das eine Unterbringung in Wohnungen zugelassen wurde. Diese verschie
denen Bedeutungen führen oft zu Missverständnissen. In diesem Text ist
immer nur die räumliche Beschränkung gemeint.
Am Anfang stehen drei Reportagen, in den Kapiteln finden sich immer wie
der Beispiele zu den speziellen Aspekten. Eine weitere bundesweite Falldoku
mentation mit Beispielen aus unterschiedlichen Quellen findet sich auf
www.residenzpflicht.info.
Enzkreis, Baden-Württemberg
„Die Leute denken, wir kommen hierhin, müssen nicht
arbeiten und kriegen alles geschenkt. Die wissen gar nicht,
was los ist!“
Holzbachtal im Schwarzwald.
Ein Bach, ein Sägewerk, acht
Häuser und Wald. Viel Wald. Für
Touristen mag es idyllisch gewe
sen sein, als sie noch kamen und
die zwei Hotels des Weilers
bevölkerten. Das eine ist jetzt
ein Wohnhaus, an dem anderen
hängt neben dem Eingang das
Landeswappen mit den drei
Staufer-Löwen und ein Schild:
Staatliche Sammelunterkunft für
Asylbewerber.
„Es ist sehr hart hier, verstehen Sie? Man sieht hier keinen Menschen. Es ist
total ruhig. Hier ist nichts. Wenn ich telefonieren oder Zigaretten kaufen will,
gehe ich eine Stunde hin und eine Stunde zurück. Zwei Stunden. Es fährt
auch ein Bus. Das kostet zwei Euro hin und zwei Euro zurück. Wir bekom
men zehn Euro in der Woche. Viele, die hier wohnen müssen, verschwinden
irgendwohin. Sie wollen nie wiederkommen.“
Es ist Ende Oktober 2008, und auch Kebba Kxxxxx ist erst seit einer Woche
wieder da. Fünf Monate war er in Schönborn, dem offenen Strafvollzug für
Kurzstrafer der Justizvollzugsanstalt Bruchsal, und verbüßte eine Haftstrafe
wegen wiederholtem Verstoß gegen die räumliche Aufenthaltsbeschränkung.
„Das Gefängnis war okay“, resümiert er, „ich habe den ganzen Tag gearbeitet,
war unter Menschen. Hier, in Holzbachtal, das ist das eigentliche Gefängnis.
Du darfst nicht arbeiten, du hast keinen Kontakt mit Leuten. Du schläfst, bist
wach, schläfst, bist wach, du versuchst dir etwas zu essen zu machen. Dann
sitzt du, dann schläfst du und wachst wieder auf. Verstehen Sie? Niemand
18 ■ Residenzpflicht
mag so ein Leben. Es gibt keine Zukunft. Viele hier sind schon kaputt. Auf
die eine oder andere Art wirst du verrückt.“
Kebba Kxxxxx kommt aus Gambia. Im Juli 2007 hat er Asyl beantragt. Er
spricht Englisch, durchsetzt mit prägnanten deutschen Worten wie „Strafe“,
„kaputt“ und „Landkreis“. Systematisch Deutsch zu lernen, dazu hatte er
keine Gelegenheit. Für einen Kurs im nahen Karlsruhe bekam er keine Ver
lassenserlaubnis. „They said no, because I have too many Strafe.“
Bei der Ankunft bekommt jeder eine Karte des Landkreises mit den Grenzen,
die ohne Genehmigung nicht überschritten werden dürfen. Holzbachtal liegt
am Rande des baden-württembergischen Enzkreises. Sechzig Meter hinter
dem Sammellager verläuft die Landkreisgrenze durch den Wald. Der nächste
größere Ort, Marxzell, liegt im Nachbar-Landkreis, in dem der Aufenthalt
ohne Ausnahmegenehmigung verboten ist. Von Marxzell aus fährt eine S-
Bahn die 19 Kilometer nach Karlsruhe, wo es ausländische Zeitungen, Inter
net und Beratungsangebote gäbe. Es wäre nicht weit, aber beides, die Fahrt
durch den Nachbarlandkreis, wie auch der Aufenthalt in der kreisfreien Stadt
Karlsruhe ist verboten.
Die größte Stadt im Enzkreis ist Pforzheim. Sie liegt 20 Kilometer entfernt
von Holzbachtal und ist die Kreisstadt, in der sich auch die zuständige Aus
länderbehörde befindet. Verwaltungstechnisch gehört Pforzheim aber nicht
zum Landkreis, sondern ist wie Karlsruhe kreisfrei. Ohne Sondergenehmi
gung darf Kebba Kxxxxx hier nur zur Behörde. Will er etwas anderes in
Pforzheim tun, so muss er zunächst auf direktem Weg zur Behörde und die
Erlaubnis für den Aufenthalt in der Stadt beantragen. Nur wenn er sie
bekommt, kann er sich für den genehmigten Zeitraum dort frei bewegen.
Außer Karlsruhe und Pforzheim gibt es noch eine größere Stadt in der Nähe,
Mühlacker. Mühlacker liegt im gleichen Landkreis, aber von Holzbachtal aus
gesehen hinter Pforzheim. Dort kennt Kebba Kxxxxx Landsleute. Um dort
hin zu gelangen, muss er in Pforzheim umsteigen. Legal geht das nur, wenn er
zunächst mit dem Bus die zwanzig Kilometer nach Pforzheim fährt, zur Aus
länderbehörde geht und die Erlaubnis beantragt, in Pforzheim nach Mühla
cker umsteigen zu dürfen. Wenn er in Mühlacker über Nacht bleiben will, und
der Beamte erst die Zieladresse überprüft, dauert es ein paar Tage mit der
Entscheidung. Dann muss er zurückfahren, warten bis die Genehmigung
kommt, um dann wieder los zu fahren, vorausgesetzt, er hat noch Geld für
den Bus. Eine Fahrt nach Pforzheim und zurück kostet sieben Euro.
Absurd? Ohne Frage, aber keine Ausnahme. Es gibt viele solche Transitstre
cken im Nachwende-Deutschland.
Die Strafbefehle, die er bekommt, legt er einen auf den anderen und ver
drängt sie. Eine anwaltliche Vertretung hat er nicht, wovon sollte er sie bezah
len, und die unabhängigen Beratungsangebote in Karlsruhe kann er wieder
nur mit behördlicher Erlaubnis nach dem beschriebenen bürokratischen Akt
wahrnehmen. Als ihm schließlich die Haftstrafe droht, bekommt er eine
Pflichtverteidigerin. Die Anwältin Johanna Maier hat häufig Asylsuchende
gegen drohende Haftstrafen zu verteidigen, die in ihrer Akte bis zu 40 Straf
sachen haben. Schwarzfahren, kleine Ladendiebstähle und Verstoß gegen die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung – eine lange Liste von Bagatelldelikten.
„Mich wundert das nicht“, meint sie ähnlich wie Kxxxxx selbst, „denn die
Leute haben kein Geld, und da ist die Versuchung groß, wenn sie mal eine
neue Hose brauchen oder eine andere Kleinigkeit, sich das zu klauen. Und
dass sie gegen die Residenzpflicht verstoßen, ist vorprogrammiert, wenn sie
derart isoliert untergebracht sind.“
Es gibt viele Kontrollen auf den Bahnhöfen, in den Zügen und Bahnen.
Auch auf den Straßen. Es trifft alle, die eine dunkle Haut haben, nicht nur die
Flüchtlinge. Afrikanische Studenten, die in Karlsruhe studieren, wandten sich
Reportagen ■ 21
schon Hilfe suchend an das Menschenrechtszentrum in der Stadt, weil sie auf
einem einzigen Gang durch die Fußgängerzone von der Universität bis zum
anderen Ende der Innenstadt bis zu drei Mal kontrolliert wurden.
„Sie sagen, du könntest ein Illegaler sein, weil du eine dunkle Haut hast“, weiß
Kebba Kxxxxx und berichtet von Taschendurchsuchungen nach dem Zeigen
der Papiere. Ihm ist es noch nicht passiert, aber anderen Asylsuchenden und
Geduldeten schon mehrfach: Alles Bargeld über 40 Euro wurde konfisziert.
Mit einem Nachweis, dass das Geld rechtmäßiger Besitz sei, könne man es
sich wieder abholen, hieß es. Auch das Menschenrechtszentrum kennt solche
Fälle.
Dass Leute nicht arbeiten dürfen, dass sie gezwungen werden, vom Staat
Almosen anzunehmen, das will Kxxxxx nicht in den Kopf. „Die Gesellschaft
kann dir nicht helfen, wenn du so rumsitzen musst, und deinen Teil nicht bei
tragen kannst. Das alles kostet viel Geld, diese Asylheime, die Leute, die uns
die Lebensmittel bringen. Das ist überflüssig. Im Gefängnis darfst du arbei
ten, warum hier nicht?“ Die Unsinnigkeit, das vordergründig Irrationale die
ser Politik und die widersprüchlichen Reaktionen der Umwelt greifen zusätz
lich zum Wahnsinn dieses eingefrorenen Lebens den Verstand an. „Wenn du
etwas zum Essen stiehlst oder den Landkreis verlässt, und sie erwischen dich,
sagen sie, du bist ein Dieb, ein Krimineller. Aber wenn du ihnen diese ganzen
Probleme erzählst, sagen sie: ‚Oh, das tut mir aber leid!‘ Sie bringen dich ins
Gefängnis und sagen: ‚Sorry, wir wissen, es ist hart, aber Sie dürfen so etwas
nicht tun!‘ Das ist doch nicht richtig.“
Wie Kebba Kxxxxx, so gibt es einige Flüchtlinge aus Gambia, denen Angelika
von Loeper vom Menschenrechtszentrum in Karlsruhe Chancen auf eine
Asyl-Anerkennung einräumt. Trotzdem ist sie skeptisch, denn: „Wir beobach
ten öfter, dass in dem Moment, in dem auch die Behörde feststellen muss,
hier gelten die Kriterien des Asylrechts und hier müssen wir sie auch anwen
den, plötzlich irgendwelche Gründe angeführt werden, um zum Beispiel Ver
fahren liegen zu lassen. Oder es gibt gleich die Verordnung eines Entschei
dungsstopps aus dem Bundesministerium mit der Begründung, die Situation
in diesen Herkunftsländern könnte sich ja bald ändern.“ Es gibt Flüchtlinge,
die zehn Jahre und länger unter solchen Bedingungen leben müssen.
22 ■ Residenzpflicht
Plauen, Sachsen
Wer den Bahnhof betritt, macht sich schon verdächtig
Diana thront auf dem riesigen Sofa zwischen ihren Eltern, die von dem Dorf
bei Grosny erzählen, in dem Zairan Mxxxxxx Melkerin und ihr Mann Scherip
Traktorist war. Ihrem Asylantrag ist nach fünf Jahren Verfahren stattgegeben
worden, aber der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat einen Beru
fungsantrag gestellt. „Die Begründung ist so abwegig, dass es offensichtlich
ist, die rechtskräftige Anerkennung soll, wie so oft, verschleppt werden“,
meint der Anwalt Bernward Ostrop. „Es kann Jahre dauern, bis die Anerken
nung durch die nächste Instanz bestätigt wird.“ Diana kam auf die Welt, als
die Familie schon ein Jahr in Deutschland war. Als ihr Asylantrag gestellt
wird, ist das Amt des Bundesbeauftragten gerade abgeschafft worden. Des
halb bleibt sie anerkannter Flüchtling, darf sich frei bewegen, bekommt den
normalen Sozialhilfesatz und Bargeld, der Rest der sechsköpfigen Familie
nicht.
Seit 2003 spielt sich das Leben der Mxxxxxs zwischen dem unteren und dem
oberen Bahnhof des hügeligen Plauen ab. Plauen ist das Zentrum des sächsi
schen Vogtlandkreises. Bis August 2008 war die Stadt kreisfrei, und um das
Reportagen ■ 23
Stadtgebiet herum eine unsichtbare Grenze, die nur Flüchtlinge kannten, weil
nur sie sie einhalten mussten. Wer einen der zwei Bahnhöfe betrat, bekundete
bereits die Absicht, den zugewiesenen Bezirk zu verlassen, wer ohne Verlas
senserlaubnis in einen Zug stieg, hatte sich schon strafbar gemacht. Frau
Mxxxxxx ist mehrmals aus dem Zug geholt und angezeigt worden. Die Vier
zigjährige trägt ein nach hinten gebundenes Kopftuch, nicht streng musli
misch, die Haare bedecken die Stirn, und trotzdem sieht sie fremd genug aus
für die Bahnpolizei, die sie schnell als eine identifizierte, die in keinen Zug
steigen darf. „Sie haben mich dann noch zweimal unterwegs erwischt“, erzählt
sie mit einem Lächeln zwischen Verschwörung und Verlegenheit. Beschä
mend sei es, wenn die Beamten kommen, die Personalien aufnehmen, einen
aus dem Zug weisen.
Im Juli 2007 bekommt sie einen Bescheid von der Ausländerbehörde. Sie sei
eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik
Deutschland, steht darin, und deshalb sowie aus „spezialpräventiven Grün
den“ werde sie ausgewiesen. Vorgeworfen werden ihr vier Verstöße gegen die
räumliche Beschränkung und zwei Ladendiebstähle „geringwertiger Sachen“.
„Es liegt daran, dass ich kein Deutsch konnte. Ich konnte nichts erklären“,
meint sie, die sich immer noch nicht vorstellen kann, dass es bei der Bewer
tung der Verstöße gegen die räumliche Beschränkung auf Motive nicht
ankommt. Gegen die Ausweisung hat sie mit ihrem Anwalt Widerspruch ein
gelegt.
Die Aktion der Behörde ist überzogen, aber nicht einzigartig, und Zairan
Mxxxxxxx Geschichten sind typisch: Der Einkauf mit einer Zimmernachba
rin, sie benutzen einen Einkaufswagen gemeinsam. Kurz vor der Kasse merkt
Frau Mxxxxxx, dass sie etwas vergessen hat und geht zurück. Die Nachbarin
kommt an die Kasse, zahlt ihre Waren und schiebt die von Frau Mxxxxxx
unbezahlt weiter. Die beiden können sich nicht erklären. Das Ergebnis:
gemeinschaftlich begangener Diebstahl. Als sie mit der jüngsten Tochter
Diana schwanger war und ins Krankenhaus musste, hat sie tatsächlich einen
Strampler mitgehen lassen. Gefährlich für die Bundesrepublik.
Anfangs waren sie froh, überhaupt irgendwo unter zu kommen. Sie wohnten
zu fünft in einem Zimmer der Sammelunterkunft in der ehemaligen Kranken
station einer alten russischen Kaserne. Heute haben sie eine Vier-Zimmer-
Wohnung. Herr Mxxxxxx Arzt hat dafür gesorgt. Wegen einer schweren
Kriegsverletzung am Kopf war der Lärm in der Enge des Heimes für ihn die
Hölle. Nebenan wohnt eine alte Frau, die mit ihnen Deutsch spricht. Von der
Küche aus kann man den oberen Bahnhof sehen. Zu Fuß ist man in fünf
Minuten dort und könnte überallhin fahren.
Uckermark, Brandenburg
„Gefährlicher Straftäter gefasst!“ - oder: Der unbedingte
Wille zu kriminalisieren
Ein kurzer Brief erzählt die ganze schäbige Geschichte von der Alltäglichkeit
diskriminierender Polizeikontrollen. „Sehr geehrter Herr El Hxxx, wir führen
zurzeit gegen Sie polizeiliche Ermittlungen“, beginnt das Schreiben. Der Vor
wurf: Verweigerung der Identitätsfeststellung und Verstoß gegen die räumli
che Aufenthaltsbeschränkung. „Am 29.12.07 um 15 Uhr wurden Sie auf dem
Bahnhof Prenzlau angehalten und kontrolliert. Erst nach mehrmaliger Auf
forderung händigten Sie ein Schreiben des Bürgermeisters von Prenzlau
zwecks Identitätsfeststellung aus. Aufgrund eines fehlenden Lichtbildes war
das jedoch nicht möglich. Nach erneuter Aufforderung legten Sie eine Dul
dung vor. Gegen 15 Uhr 45 wurden Sie im IC 2352 auf Höhe des Bahnhofs
Reportagen ■ 25
El Hxxx hat nie wieder etwas von dieser absurden Geschichte gehört, aber sie
bringt ihn immer noch auf: „Zwei Kontrollen hintereinander! Welcher Deut
sche würde das akzeptieren? Kein normaler Mensch akzeptiert so was. Wenn
ich solche Sachen erzähle, sagen die Leute: Das ist unglaublich, das kann nicht
stimmen! Aber wenn ich unterwegs bin, treffe ich immer einen Polizisten.
Kontrolle, Ausweis, Kontrolle, Ausweis. Ich habe oft gefragt, warum sie das
so machen. Kontrollen sollten für die Sicherheit von jemandem sein, für die
Sicherheit von einem Land. Das Volk muss etwas davon haben. Aber sie kon
trollieren, nicht weil jemand gestohlen hat, nicht weil sie Leute schützen wol
len. Du kannst ein polnischer Verbrecher, ein gefährlicher Deutscher sein,
aber du bist weiß: keine Kontrollen. Sie kommen immer nur zu dir. Sie kom
men wirklich wegen der Hautfarbe, wegen des Aussehens. Das ist dumm,
auch für die Polizei selbst!“
26 ■ Residenzpflicht
El Hxxx floh in der zweiten Phase des Bürgerkrieges aus dem Sudan nach
Deutschland und wurde im Verteilungsverfahren Prenzlau zugewiesen.
„Wenn du einen Urlaubsschein beantragst, fragen sie auf dem Amt: Habt ihr
zu viel Geld, dass ihr rumreisen müsst? Warum wollt ihr immer weg? Das ist
eine gute Frage. Die Antwort sind die Statistiken. Ausländer werden hier
angegriffen. Selbst wenn du noch kein Deutsch verstehst, siehst du es an den
Gesichtern, an den Gesten, hörst, wie aggressiv sie mit dir sprechen. Und
Reportagen ■ 27
absitzen. Zudem wurde gegen ihn Anzeige wegen des Verdachts des Versto
ßes gegen das Betäubungsmittelgesetz eingeleitet.“7
„Warum erwähnen sie 0,8 Gramm Marihuana? Sie müssen wissen, dass fünf Gramm
legal sind! Sie wollen uns unbedingt zu Kriminellen machen!“ Die 17 Tage Haftstrafe
hat er abgesessen, inhaftiert zusammen mit rechten Szenegängern und Kame
raden, auch solchen, die wegen Überfällen auf Leute wie ihn verurteilt wur
den. El Hxxx war der einzige Dunkelhäutige in der JVA. Sein Vergehen: ein
offenes Bußgeld für einen unerlaubten Aufenthalt in der Pfalz.
„
Buchstabe und Charakter des Gesetzes
§§ § 56 Räumliche Beschränkung
(1) Die Aufenthaltsgestattung ist räumlich auf den Bezirk der
Ausländerbehörde beschränkt, in dem die für die Aufnahme
des Ausländers zuständige Aufnahmeeinrichtung liegt.
Gemeint ist nicht der gewöhnliche Aufenthalt, bei dem man zeitweilig abwesend sein kann,
sondern der Aufenthalt schlechthin. Jedes vorübergehende Verlassen ist grundsätzlich
unzulässig. Es kommt auf Dauer und Zweck nicht an. Also fällt auch kurzfristiges Ver
lassen des Aufenthaltsbezirks, selbst wenn es sich als dringlich und notwendig erweist, unter
diese Vorschrift und ist somit strafbar, falls es nicht gesetzlich oder behördlich erlaubt ist.
Die Einengung des Aufenthaltes auf den Bezirk der Ausländerbehörde beschränkt den
Aufenthalt in einer Art und Weise, die nicht nur privaten, sondern auch öffentlichen
Belangen zuwider läuft, weil die administrativen Grenzen oft nicht mit dem natürlichen
Lebensraum übereinstimmen. Daraus resultiert die Ausnahmegenehmigung: öffentliches
Interesse. Die anderen Ausnahmeregelungen zielen darauf ab, die Beschränkung von Frei
zügigkeit erträglich und sachgerecht zu gestalten, um sie als verfassungsgemäß ansehen zu
können. Gerade die Ausnahmeregelungen belegen den Willen des Gesetzgebers zur grund
sätzlich vollständigen Durchsetzung der Pflicht zur ausnahmslos ständigen Anwesenheit im
zugewiesenen Aufenthaltsbereich.
8 Im Folgenden sind alle kursiv gesetzten Passagen von Renner übernommen, mit
kleinen sprachlichen Veränderungen, um den Text für juristisch nicht Vorgebildete
lesbarer machen.
Das Gesetz ■ 31
Die Ausnahmen, in denen die Erlaubnis, den Bezirk zu verlassen, erteilt wer
den soll oder in denen gar keine Erlaubnis erforderlich ist, regelt das Gesetz
in den Absätzen 2 und 3 selbst. Die Begriffe „öffentliches Interesse“, „zwin
gender Grund“ und „unbillige Härte“ sind Rechtsbegriffe, die einer Ausle
gung bedürfen, aber gerichtlich überprüfbar sind. Es gibt Ausführungsbestim
mungen des Bundes und auch spezifische von einigen Bundesländern, die
zum Vergleich in einer Tabelle im Anhang zu finden sind. Außerdem wird den
Ausländerbehörden ein Ermessensspielraum über diese Bedingungen hinaus
zugestanden.
Seit Januar 2005 hat sich einiges verändert. Im Januar trat das neue Zuwande
rungsgesetz in Kraft, in das die Normen der Europäischen Aufnahmerichtli
nie eingeflossen sind. Dadurch gibt es jetzt einen Rechtsanspruch auf die
Erteilung einer Erlaubnis, wenn die Kriterien „zwingender Grund“ und Ver
meidung „unbilliger Härte“ erfüllt sind. Außerdem können die Ausländerbe
hörden einzelnen Personen dauerhaft den Aufenthalt in einem anderen Land
kreis gestatten, wenn die dortige Ausländerbehörde dem zustimmt. Bisher
9 Auf § 57, der sich auf die ersten Wochen in den zentralen Aufnahmestellen bezieht,
wird an anderer Stelle eingegangen.
32 ■ Residenzpflicht
Sinn und Zweck der Maßnahmen sind in der politischen Absicht des Gesetz
gebers unter anderem, den Aufenthalt während des Asylverfahrens zur
Abschreckung von Antragstellern und Antragstellerinnen so unangenehm wie
möglich zu gestalten. Das heißt, die Restriktion ist auch Selbstzweck, sie
erfüllt ihren Sinn und Zweck schon darin, dass sie Menschen Beschränkungen
auferlegt. Dieser Geist spricht auch aus folgendem Urteil des Verwaltungsge
richtes Leipzig: „Ein Asylbewerber hat keinen Anspruch darauf, dass ihm die
zuständige Behörde eine Verlassenserlaubnis des Bereiches seiner räumlichen
Beschränkung zur wöchentlichen Teilnahme an einem Gottesdienst in der
Nachbargemeinde erteilt. Eine Erlaubniserteilung würde letztlich dazu füh
ren, dass vergleichbare Wünsche bei einer Vielzahl anderer Asylbewerber als
zwingender Grund anzuerkennen wären, mit der untragbaren Folge, dass tat
sächlich oder auch nur angeblich religiös interessierte Asylbewerber nahezu
beliebig im Bundesgebiet umherreisen könnten, wann immer passende Veran
staltungen stattfinden. Insoweit würde die Gefahr entstehen, dass die im Asyl
verfahrensgesetz normierte Aufenthaltsregelung durch missbräuchliche Beru
fung auf religiöse Gründe ausgehebelt wird.“10
Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist es nicht, es sei denn, spezielle Fertig
keiten gehen ohne Übung unwiederbringlich verloren. Die Beteiligung an
Sportveranstaltungen von Vereinen zum Beispiel soll nach Renner kein zwin
gender Grund sein, außer wenn die Erlaubnis hierfür im Rahmen einer Schul
veranstaltung beantragt wird.
Grundsätzlich gilt: Eine Erlaubnis ist generell nur zu erteilen, wenn das vor
getragene Bedürfnis nicht im verordneten Aufenthaltsbereich befriedigt wer
den kann. Der zwingende Grund muss die Erlaubnis erfordern. Das ist dann nicht der
Fall, wenn ihm auch anderweitig unschwer Rechnung getragen werden kann. So kann ein
Asylbewerber unter Umständen auch im Aufenthaltsbezirk eine politische oder kirchliche
Veranstaltung besuchen, eine Operation vornehmen lassen oder sich mit Familienangehöri
gen treffen.
Ein weiterer Grund für die Versagung der Erlaubnis sind unerwünschte Aus
wirkungen auf das Asylverfahren. Regelmäßig wird mit dem Verweis auf
mögliche Nachfluchtgründe die Erlaubnis, politische Veranstaltungen zu
besuchen, verweigert. Renner problematisiert den Zusammenhang wie folgt:
Eine besonders sorgfältige Bewertung erfordern politische Aktivitäten. Sie sind einerseits
durch Art. 5 I GG geschützt u. nach Maßgabe des § 47 AufenthG erlaubt, andererseits
wegen der Gefahr der Schaffung nachträglicher Asylgründe unerwünscht. Als verständlich,
aber nicht gleichzeitig zwingend erscheint in der Regel der Wunsch nach Teilnahme an einer
politischen Veranstaltung außerhalb des Aufenthaltsbezirkes. Er kann als zwingend ange
sehen werden, wenn der Asylbewerber ohne die begehrte Teilnahme seine politische Meinung
nicht weiterbilden und äußern könnte; wenn Engagement und politische Vergangenheit des
Asylbewerbers sowie erhebliche Veränderungen im Heimatstaat die Teilnahme als ganz
gewichtig erscheinen lassen; wenn sich Spitzenfunktionäre zu einer gewichtigen Konferenz
treffen.
§§ § 85 Sonstige Straftaten
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird
bestraft, wer wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung
zuwiderhandelt.
§ 86 Bußgeldvorschriften
(1) Ordnungswidrig handelt ein Ausländer, der einer Aufent
haltsbeschränkung nach § 56 zuwiderhandelt.
(2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße bis zu
zweitausendfünfhundert Euro geahndet werden.
Die Strafen: Die Sanktionierung der Verstöße gegen die räumliche Aufent
haltsbeschränkung ist die einzige Ordnungswidrigkeit im deutschen Rechts
system, bei der aus der Wiederholung eine Straftat wird. Es handelt sich um
eine opferlose Tat, ein Verhalten, das niemandem schadet und überhaupt als
Straftat nur existiert, weil und so lange es den Willen gibt, es zu verfolgen.
36 ■ Residenzpflicht
Das Aufenthaltsgesetz
Die Mehrheit der von diesen Restriktionen Betroffenen sind Geduldete, und
von diesen wiederum sind die meisten Flüchtlinge, die nicht oder nicht mehr
im Asylverfahren und „vollziehbar ausreisepflichtig“ sind. Das heißt, sie sind
nach der engen Definition des deutschen Asylrechts und der vielen Verfah
renshürden nicht als asylberechtigt anerkannt worden, können aber aus huma
nitären oder administrativen Gründen nicht abgeschoben werden. Dazu
gehören Flüchtlinge aus Kriegs- und Bürgerkriegsregionen, genauso wie Men
schen, die aufgrund ihrer kulturellen, religiösen oder ethnischen Zugehörig
keit verfolgt werden. Sie unterliegen dem seit 2005 geltenden Aufenthaltsge
setz. Die räumliche Beschränkung ist in den Paragrafen 12 und 61 geregelt.
Es gelten die gleichen Ausnahmeregelungen wie für Asylsuchende beschrie
ben. Erst mit dem neuen Gesetz wurde der wiederholte Verstoß gegen die
Beschränkung auch für Geduldete zur Straftat erklärt (geregelt in § 95 Aufent
haltsgesetz).
Der Aufenthalt für Geduldete ist laut Gesetz auf das Bundesland beschränkt.
Viele Ausländerbehörden engen den Bewegungsraum per Auflage weiter ein,
auf den Landkreis oder, wenn sie verstärkt Druck auf die Betroffenen aus
üben wollen, um sie zur „freiwilligen“ Ausreise zu bewegen, sogar auf die
Kommune. Sowohl in den Ausländerbehörden, als auch bei den Amtsgerich
ten und sogar in vielen Beratungsstellen wurde lange davon ausgegangen, dass
auch der wiederholte Verstoß gegen diese Auflagen strafbar ist. Nach mehre
ren Urteilen von Oberlandesgerichten hat 2009 der Bundesgerichtshof klar
gestellt, dass nur der wiederholte Verstoß gegen die gesetzliche Beschränkung
auf das Bundesland als Straftat geahndet werden darf. Verstöße gegen die
weitergehenden Auflagen der Ausländerbehörde bleiben auch im Wiederho
lungsfall Ordnungswidrigkeiten.12
Den Menschenrechten wird da, wo sie von der Absichtserklärung zur Norm
staatlichen Handelns werden sollen, regelmäßig die Möglichkeit der Ein
schränkung zur Seite gestellt, etwa „zum Schutz der nationalen Sicherheit, der
öffentlichen Ordnung, der Volksgesundheit …“, wie es im Internationalen
Pakt über bürgerliche und politische Rechte heißt. Der Maßstab für die Legiti
mität einer Einschränkung sind ihr Ziel und ihr Zweck, also zum einen die
Frage, ob die Notwendigkeit gegeben ist, und zum anderen die Verhältnismä
ßigkeit auch in Hinblick darauf, welche anderen Rechte durch die Einschrän
38 ■ Residenzpflicht
kung nicht mehr wahrgenommen werden können. Das betrifft auch die
Grundrechte im Grundgesetz.
In den 1980er Jahren gab es bereits zwei Versuche des Hattinger Amtsgerich
tes, die räumliche Aufenthaltsbeschränkung vom Bundesverfassungsgericht
überprüfen zu lassen, die an der Zulassungshürde scheiterten. 1992 erreichte
schließlich das Kirchhainer Amtsgericht, dass eine Vorlage zur Überprüfung
angenommen wurde. Der damalige Jugendrichter Werner Schwamb sollte einen
afghanischen Asylbewerber in einem Jugendstrafverfahren wegen wiederhol
tem Verstoß gegen die räumliche Beschränkung verurteilen, hatte dabei aber
verfassungsrechtliche Bedenken. Insbesondere war er der Meinung, dass die
Vorschrift13 wie auch die Strafbarkeit des Verstoßes dagegen dem Artikel 2,
Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 1 sowie dem Verhält
nismäßigkeitsgrundsatz widersprechen.
§§ Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten
und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzli
chen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage
jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der
Gerechtigkeit in der Welt.
Artikel 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt
und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland)
13 In der damals geltenden Fassung des AsylVfG von 1991 die §§ 19, 20, 25, 34, 35.
Das Gesetz ■ 39
Aus der Argumentation: Der Angeklagte hatte nach mehr als eineinhalb
Jahren noch keine Entscheidung über seinen Asylantrag erhalten. Auf die für
einen jungen Menschen notwendigen Freiheiten, insbesondere auf Reisen zu
Freunden, musste er allein wegen seiner Eigenschaft als Asylbewerber ver
zichten. Unter Berücksichtigung der Verfahrensdauer seien die Aufenthaltsbe
schränkungen nicht länger zu rechtfertigen, weil sie zwischenmenschliche
Kontakte unnötig behinderten. Sie stellten sich weitgehend als Schikanen dar,
denn auch wenn man den Umstand berücksichtige, dass der Aufenthalt ledig
lich zur Durchführung des Asylverfahrens diene, werde in natürliche Rechte
unbescholtener Menschen unverhältnismäßig eingegriffen.
gen mehrfach in den Genuss von Sozialhilfe kommen wollen, machten sich
anderweitig strafbar.
„Die genannten Zwecke“, so das Gericht weiter, „lassen sich nicht durch mil
dere Mittel genauso wirksam erreichen.“ Die unterschiedliche Behandlung
von kurzem, vorübergehendem Verlassen und längerfristiger Abwesenheit sei
in der Praxis nicht zu überwachen, und eine Meldepflicht, bei der alle mit dem
Verfahren befassten Stellen über den Aufenthalt informiert würden, erfordere
einen zu hohen Verwaltungsaufwand. „Für die anderen Ziele, die mit dem
Gesetz verfolgt werden, gilt: Ein Mittel ist bereits dann geeignet, wenn mit
seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann. Es ist nicht erfor
derlich, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder
jedenfalls erreichbar ist; die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt.“
Bleibt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Bestrafung. Dazu wird aus
geführt: „Das Strafrecht wird (…) eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten
über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für
das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinde
rung daher besonders dringlich ist“, um dann festzustellen, der wiederholte
Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung erfülle diese Kriterien. Zur
Begründung wird angeführt, die Bestrafung diene dem öffentlichen Interesse,
die Konzentration von Asylbewerbern an bestimmten Orten zu unterbinden
und sicherzustellen, dass „sie sich jederzeit zur Verfügung der Behörden und
Gerichte halten“. „Die strafrechtliche Sanktion ist zur Durchsetzung der ver
folgten Zwecke nicht nur geeignet und erforderlich; auch der Verhältnismä
ßigkeitsgrundsatz ist nicht verletzt.“
1992 haben Sie die Überprüfung der räumlichen Aufenthaltsbeschränkung beim Bundes
verfassungsgericht beantragt. Fünf Jahre hat es bis zur Entscheidung gedauert. In der Zwi
schenzeit war das Asylverfahrensgesetz neu gefasst und parlamentarisch verabschiedet wor
den. Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung war vollständig übernommen worden. Nur
die Artikel hatten eine andere Nummer erhalten...
… und das Gesetz war verschärft worden. Die Ausnahmegründe für Asylbe
werber in Aufnahmezentren wurden eingeschränkt.
Sie haben die zwischenzeitliche Neufassung genutzt, um die Regelung ein Jahr nach dem
ersten Karlsruher Beschluss noch einmal zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorzulegen.15
Ja, in diesem zweiten Fall handelte es sich um einen jungen Kurden, der straf
rechtlich nie in Erscheinung getreten war, aber – nach einem vorangegange
nen Bußgeldverfahren – anlässlich eines Wochenendbesuchs bei Verwandten
in Kassel angetroffen wurde, obwohl sein Aufenthalt auf den Regierungsbe
zirk Gießen beschränkt war. Seit vier Jahren lebte der junge Mann unter den
Auch in der Politik ist das so. Ich habe während meiner Zeit als Jugendrichter
immer wieder die Gelegenheit genutzt, auf das Problem hinzuweisen. Sowohl
die ehemalige Justizministerin, Frau Däubler-Gmelin, als auch die rechtspoliti
sche Sprecherin des grünen Koalitionspartners haben mir damals bestätigt,
dass sie zumindest die Strafbarkeit nicht für sinnvoll halten, haben dann aber
beide auf den jeweils anderen Koalitionspartner verwiesen, der bei einer
Abschaffung der Strafvorschrift mitwirken müsse. Später wollte sich auch
Frau Zypries des Problems annehmen. Warum diese Vorschrift in der Zeit der
rot-grünen Koalition dennoch nicht abgeschafft wurde, ist für mich nicht
nachvollziehbar.
44 ■ Residenzpflicht
Sie schreiben in der Begründung für die erneute Vorlage, es sei gerade auf dem Hinter
grund der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts „in einem freiheitlichen Rechts
staat schlicht nicht mehr hinnehmbar, dass die zur Überprüfung gestellte Strafvorschrift
dennoch mit dem Grundgesetz vereinbar sein soll.“
Der Gesetzgeber legt fest, was als strafbare Handlung gelten soll und was
nicht. Dabei hat er einen weiten Ermessensspielraum, der nur durch die Ver
fassungsgrundsätze begrenzt wird, deren Einhaltung vom Bundesverfassungs
gericht kontrolliert wird. Das Karlsruher Gericht leitet seine Argumentation
damit ein, dass das Strafrecht nur eingesetzt werden soll, wenn ein bestimmtes
Verhalten nicht nur verboten ist, sondern auch besonders schädlich und uner
träglich für die Gesellschaft. Wenn aber höchstrichterlich bescheinigt ein
äußerst geringfügiges Ordnungsunrecht wie das bloße Übertreten von Kreis-
oder Bezirksgrenzen ohne behördliche Erlaubnis als „in besonderer Weise
sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen uner
träglich“ gelten kann und die Anwendung des Strafrechtes verhältnismäßig
sein soll, dann ist kaum noch ein Fall denkbar, in dem das Bundesverfassungs
gericht den Ermessensspielraum des Gesetzgebers kontrollieren könnte. Die
Definition der Sozialschädlichkeit wird hier so stark relativiert, dass das
Gericht im Bereich des Strafrechts einen Schutz des freiheitlichen Rechtsstaa
tes nicht mehr gewährleisten kann.
Ich bin heute nicht mehr für solche Verfahren zuständig, von daher kann ich
das aktuell nicht einschätzen. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht im
Jahr 2004 die Verfassungsbeschwerde eines Verurteilten zurückgewiesen mit
dem bloßen Hinweis auf seine Entscheidung vom 10. April 1997 und sie
damit bekräftigt. Und leider hat der daraufhin angerufene Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte den nach meiner Auffassung ganz offen
sichtlichen Zirkelschluss der Instanzgerichte gebilligt. Ich halte es aber nach
wie vor für einen Akt der politischen Kultur, gerade zu den diesjährigen 20-
Jahr-Feiern des Falls der Mauer zumindest die Strafvorschrift des § 85 Nr. 2
AsylVfG mit einem einfachen Federstrich zu entfernen und damit Richter in
ganz Deutschland nicht mehr länger zu zwingen, Menschen alleine dafür zu
bestrafen, dass sie über unsichtbare innerdeutsche Grenzen fahren.
Das Gesetz ■ 45
Im Jahr 2000 findet in Jena zum ersten Mal ein bundesweiter Flüchtlingskon
gress statt. Allein mit der bloßen Absicht, sich bundesweit zu treffen, ist
schon eine Konfrontation mit dem Gesetz vorprogrammiert. Viele Flücht
linge bekommen keine Erlaubnis, ihren Landkreis zu verlassen, andere, die
sich darüber hinwegsetzen, werden auf dem Weg von der Polizei kontrolliert
und angezeigt. Aus dieser Situation heraus bildet sich ein „Ad- hoc-Komitee
des zivilen Ungehorsams gegen das Residenzpflicht-Gesetz“.
Frau Pelzer, für Laien scheint dieses Urteil tautologisch: Es beschwert sich jemand dar
über, dass er sich nicht im gesamten Staatsgebiet frei bewegen darf und dadurch sein Recht
auf Freizügigkeit eingeschränkt wird und bekommt dann zur Antwort, dass dieses Recht
auf Freizügigkeit ihm nur da zusteht, wo es ihm erlaubt wird, sich zu bewegen. Das ergibt
keinen Sinn.
Ja, es ist im Grunde ein Zirkelschluss. Art. 2 des Vierten Zusatzprotokolls zur
Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt zunächst einmal Freizügig
keit, wenn eine Person sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält.
Ausgehend von diesem Grundsatz sind Einschränkungen unter bestimmten
Voraussetzungen möglich – genannt wird z.B. die Verhütung von Straftaten.
Ob solche Einschränkungen verhältnismäßig sind, soll der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bei Beschwerden überprüfen. In
unserem Fall geht der EGMR anders vor und sagt: Das Recht auf Freizügig
keit gelte nicht im gesamten Staatsgebiet, sondern nur innerhalb des Radius,
in dem der Aufenthalt erlaubt wurde. Es wird also nicht geprüft, ob die Ein
schränkung der Bewegungsfreiheit gerechtfertigt ist. Vielmehr wird dem Staat
die willkürliche Definitionsmacht zugeschrieben, innerhalb welcher örtlichen
Begrenzungen das Menschenrecht auf Freizügigkeit gilt. Begründet wird die
ser Ansatz unter anderem damit, dass die Europäische Menschenrechtskon
vention für Ausländer kein Recht auf Einreise und Aufenthalt vermitteln
würde. Dem ist entgegen zu halten, dass die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts
und die Rechtmäßigkeit der Residenzpflicht zwei unterschiedliche Fragen
sind. Nach deutschem Recht ist der Aufenthalt eines Asylbewerbers „im Bun
desgebiet gestattet“ und damit rechtmäßig. Das Recht auf freie Ortswahl wird
erst im nächsten Schritt beschränkt.
gen der EU-Richtlinien die Residenzpflicht zu halten ist – damit hat sich der
EGMR noch nicht beschäftigt.
„
Die Abschreckungsdoktrin und ihre Nachwirkungen
Bevor es im nächsten Kapitel „Die Behörde“ darum geht, wie Bedienstete der
Ausländerbehörden mit der räumlichen Beschränkung umgehen, ist es wichtig
zu sehen, welche „staatliche Phantasie“ bei dieser Regelung am Werk war und
wie sie bis heute wirkt. Darum soll es im Folgenden gehen.
Es gibt 2009 nur noch wenige Flüchtlinge, die es schaffen, nach Deutschland
einzureisen, und von diesen werden viele nach der Ankunft in die Durchreise
länder zurückgeschoben. Das Motiv der Abschreckung taugt angesichts der
Zahlen als Begründung für das Drangsalieren nicht mehr. Inzwischen hat die
Bundesregierung außerdem zugegeben, dass ein abschreckender Effekt nicht
nachweisbar ist. „Wissenschaftliche Untersuchungen darüber, welche Motiva
tionen jenseits der Furcht vor politischer Verfolgung zur Antragstellung von
Asylsuchenden führen, sind der Bundesregierung nicht bekannt“, heißt es im
April 2008 in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zum Asylbewer
berleistungsgesetz.18 Die Maßnahmen haben sich trotzdem etabliert. Zum
Beispiel wurde die Absenkung des Regelsatzes auf 30 Prozent unter das
gesetzliche Existenzminimum 1993 eingeführt und galt zunächst für das erste
Jahr des Asylverfahrens. Mit jeder weiteren Gesetzesveränderung wurde der
Zeitraum verlängert, zuletzt auf vier Jahre. Die Bundesregierung begründet
Auch die räumliche Beschränkung wird heute fast durchgängig mit adminis
trativen Interessen wie der ständigen Erreichbarkeit für Behörden und
Gerichte begründet. Schon während der Debatte über den Gesetzesentwurf
1980 kritisierte der Leiter des deutschen UNHCR-Büros, Joachim Henkel: „Zur
Gewährleistung einer geordneten und zügigen Durchführung des Asylverfah
rens ist eine derart weitgehende Beschränkung der Bewegungsfreiheit des
Asylsuchenden nicht erforderlich.“20 Das Argument, die gleichmäßige Belas
tung der Länder und Kommunen könne nur durch Einschränkung der Freizü
gigkeit gewährleistet werden, lässt Henkel gelten, aber ausschließlich in Bezug
auf die Wohnortwahl. Es ist auch bis heute nicht nachvollziehbar, warum eine
Person, die im Landkreis X Sozialhilfe bezieht, durch den Besuch eines
Deutschkurses im Nachbarkreis Y, ein Verwandtschaftstreffen in der Landes
hauptstadt oder den Einkauf im angrenzenden Bundesland etc. den kommu
nalen Lastenausgleich gefährden soll. Selbst die Wohnsitzauflage ist mit einem
Lastenausgleich nicht zwingend begründbar. In Brandenburg werden die
Sozialleistungen der Kommunen in den ersten vier Jahren des Asylverfahrens
aus Landesmitteln erstattet, in Mecklenburg-Vorpommern wird das Umlage
verfahren sogar während der Gesamtdauer der Zahlungen angewendet und
auch bundesweit wäre ein Umlageverfahren denkbar.21
Als Grund für die räumliche Beschränkung der Duldung wird in den Vorläu
figen Anwendungshinweisen zum Aufenthaltsgesetz angegeben, „das Unter
19 Die Leistungen, die Asylsuchende und Geduldete erhalten, liegen inzwischen bei der
Hälfte des normalen Regelsatz, weil es seit 1993 keine Erhöhung mehr gegeben hat.
20 Joachim Henkel, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes über das Asylrecht.
ZAR, 2-3/1981, S. 85-95 (S. 90 f.).
21 Für anerkannte Flüchtlinge wurde bereits höchstrichterlich festgestellt, dass eine
Wohnsitzauflage mit der Begründung des Lastenausgleiches nicht zulässig ist – siehe
Urteil BVerwG 1 C 17.07 v. 15.1.2008.
50 ■ Residenzpflicht
Die Annahmen, auf denen die Abschreckungspolitik beruht, wirken aber wei
ter fort. Sie bestimmen maßgeblich die Handlungsweisen der Bediensteten
der Ausländerbehörden und sind der Hintergrund, auf dem ein Ermessen
spielraum häufig – in manchen Behörden immer – zu Ungunsten der Flücht
linge ausgelegt wird.
Genereller Missbrauchsverdacht
Die geringe Anerkennungsquote gilt als Beleg dafür, dass die überwältigende
Mehrheit der Asylanträge missbräuchlich gestellt wird. Ende der 1980er Jahre
lebten 300.000 De-facto-Flüchtlinge23 in Deutschland – Flüchtlinge, die nicht
abgeschoben werden konnten, weil ihnen im Herkunftsland Folter und Ver
folgung drohten oder weil in ihren Ländern Krieg herrschte. Sie alle wurden
in einem auf Abwehr ausgerichtetem Asylverfahren nicht anerkannt. In den
Folgejahren wurde das Asylrecht weiter eingeschränkt, und im Asylverfahren
noch mehr Hürden aufgebaut. Jedes eingeräumte Recht ist in diesem Gefüge
automatisch mit einem Missbrauchsverdacht und entsprechenden Abwehr
maßnahmen versehen. Derzeit empören sich die Kirchen zum Beispiel dar
über, dass zum Christentum Konvertierte, die wegen religiöser Verfolgung
Asyl beantragen, einer Glaubensprüfung unterzogen werden. Ähnlich gelagert
ist die Anweisung, für Demonstrationen keine Reisegenehmigung zu erteilen,
damit keine Nachfluchtgründe geschaffen werden können (womit unbeab
sichtigt zugegeben wird, dass im Herkunftsland politische Betätigung verfolgt
wird). Die hessische Landesregierung gibt als Grund für die räumliche
Beschränkung an: „Mit dieser Vorschrift soll einem etwaigen Missbrauch des
22 Gefragt nach der Anzahl der Strafverfahren wegen Verstoßes gegen die räumliche
Beschränkung heißt es zum Beispiel aus dem brandenburgischen Landkreis Oder-
Spree, dass es bei den meisten Strafverfahren gegen Geduldete zu keiner Verurteilung
komme, weil sie wegen unbekannten Aufenthaltes der Personen eingestellt würden.
23 Tobias Pieper (2008), Das Lager als Struktur bundesdeutscher Flüchtlingspolitik.
Dissertation am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaften der Freie Universität
Berlin, S. 68.
Das Gesetz ■ 51
Genereller Kriminalitätsverdacht
Als gesetzgeberischer Grund für die räumliche Beschränkung wird im
Gespräch mit Behördenangestellten immer wieder die Verhinderung von
Sozialhilfebetrug angegeben. Dabei sind Mehrfachbeantragungen von Sozial
hilfe durch die (fragwürdige) biometrische Registrierung von Asylsuchenden
schon seit Jahren technisch unmöglich gemacht. Als weiterer Grund wird auf
die Verhinderung von Kriminalität hingewiesen. Dem entspricht auf der
großen politischen Bühne die Behandlung von Flucht und Migration als
sicherheitspolitisches Thema. Die Verknüpfung von Sicherheitsrisiken und
Kriminalität mit Asylsuchenden ist inzwischen fester Bestandteil des landläu
figen Vorurteil-Repertoires. Dagegen heißt es sowohl im ersten periodischen
Sicherheitsbericht der Bundesregierung im Jahr 2001 als auch im folgenden
2006: „Asylbewerber begingen vorwiegend Bagatelldelikte, nämlich Verstöße
gegen Residenzpflichten oder andere Normen des Ausländerrechts sowie
Delikte aus Armut (Ladendiebstahl, Schwarzfahren) als Reflex ihrer einge
schränkten Lebensbedingungen.“25
und eine eigene Wohnung finanzierte, gegen die Einweisung in ein Lager, die
Verhängung eines Arbeitsverbotes und die räumliche Beschränkung auf die
Gemeinde – lauter Maßnahmen, die die Ausländerbehörde damit begründete,
sie müsse Druck auf ihn ausüben, damit er sich Ausreisepapiere verschafft
und das Land verlässt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, bei dem er
schließlich seine Beschwerde vorlegte, beschloss, es sei nicht nachvollziehbar,
„warum eine Beschränkung (…) auf den Landkreis geeignet sein soll, die
Beschaffung von Heimreisepapieren zu beschleunigen oder effektiver zu
gestalten. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt im
Landkreis und der Beschaffung von Dokumenten ist nicht ohne weiteres
erkennbar“. Solche Regelungen müssten „die verfassungsrechtlichen Vorga
ben wahren, was insbesondere dann nicht mehr der Fall ist, wenn sie in erster
Linie Sanktionscharakter haben…“26, so die Richter weiter.
Welcher Geist in den Amtsstuben herrscht, zeigt auch die Begründung eines
Kreisamtes für die weitere Belegung einer besonders schrecklichen Unter
kunft im brandenburgischen Bahnsdorf: „Zweck der gesetzlich vorgesehenen
Form der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften ist unter anderem
der, den Asylbewerbern sowohl für ihre eigene Person als auch in Hinblick
auf mögliche künftige Antragsteller vor Augen zu führen, dass mit dem
Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter vor dessen unanfechtbarer
Stattgabe kein Aufenthalt im Bundesgebiet zu erreichen ist…“27
Der Sozialwissenschaftler Christopher Nsoh kam als Asylsuchender in die BRD, lebte
fünf Jahre mit diesem Status und den Auflagen der räumlichen Beschränkung. Er ist
Mitbegründer der Flüchtlingsinitiative Brandenburg FIB und beschreibt seine Erfahrungen
mit der ‚Residenzpflicht‘ wie folgt:
Dieses Gesetz hat viele negative Auswirkungen, und es hat viele Asylsu
chende kriminalisiert. Es liefert sie der Willkür von Polizeibeamten aus, weil
man ohne die Verlassenserlaubnis schon durch die bloße Anwesenheit zum
Straftäter wird. Bei Kontrollen machen die Beamten oft, was sie wollen. Ein
Polizist sagt nicht gegen den anderen aus, und bei Gericht wird immer den
Beamten geglaubt.
Sind die Polizeikontrollen das größte Problem?
Die Kontrollen sind ein Aspekt, ein anderer ist die Isolation. Die meisten
Asylsuchenden sind an Orten untergebracht, an denen sie isoliert sind, sei es
im Wald, in der Nähe der Autobahn oder in Gewerbegebieten. Meistens müs
sen sie aus dem erlaubten Bereich herausgehen, um Leute zu treffen, sowohl
Deutsche als auch Leute aus ihrem Land. Die Angst davor, kontrolliert zu
werden, Strafen zahlen zu müssen oder gar in Haft zu kommen, die Furcht
vor der Polizei, mit der viele schlechte Erfahrungen gemacht haben – all das
isoliert. Die Residenzpflicht ist ein Instrument des Ausschlusses aus der
Gesellschaft und führt zur Entfremdung von ihr.
Wie reagiert die Gesellschaft?
Dieses Gesetz fördert Rassismus in der Gesellschaft. Es führt dazu, dass Poli
zisten alle fremdländisch aussehenden Menschen für Asylsuchende halten. Zu
allererst fördert es Stereotypen im Kopf der Beamten. Die Kontrollen finden
in der Öffentlichkeit statt, und sie vermitteln Passanten ein sehr ärmliches
Bild von denen, die da kontrolliert werden. Manche bleiben stehen und fra
gen: „Warum werden Sie kontrolliert?“ Sie haben eine Art Mitleid. Andere
denken: ‚Siehst du, sie werden kontrolliert, also haben sie etwas Kriminelles
getan.’ Speziell afrikanische Leute, asiatische, indische. Bei ihnen wird von
vornherein angenommen, sie seien kriminell. Die Kontrollen unterstützen
Dominanz- und Überlegenheitsgefühle bei Deutschen. Sie denken: ‚Wir sind
54 ■ Residenzpflicht
die besseren Menschen und müssen unsere Gesellschaft vor denen da schüt
zen.’ Nationalistische und rassistische Haltungen werden so in die Öffentlich
keit getragen.
Die negative öffentliche Darstellung ist das eine, der Ausschluss das andere
Thema. Wer ständig Kontrollen befürchten muss, wird von der Öffentlichkeit
ausgeschlossen. Man kann sich nicht frei öffentlich bewegen. Das macht
krank. Entweder bleibt man in der Isolation dieser unwirtlichen Orte, oder
man fühlt sich ständig verfolgt. Man hat dauernd das Gefühl, es ist jemand
hinter einem, spioniert hinter einem her. Ich erinnere mich, dass ich noch ein
halbes Jahr, nachdem ich meine Aufenthaltserlaubnis hatte und nicht mehr im
Lager wohnen musste, das Gefühl hatte, dass ständig jemand hinter mir ist.
Ich war regelrecht psychisch gefoltert dadurch, dass ich fünf Jahre lang stän
dig kontrolliert worden bin und immer das Gefühl haben musste, jemand ist
hinter mir her. Diese psychische Störung haben viele Asylsuchende. Zusam
men mit den anderen belastenden Faktoren ist es eine ernsthafte Gefahr,
psychiatrische Probleme zu bekommen.
Neben der Polizei gibt es auch Bürger, die irgendwie mitbekommen, dass du
eine spezielle Erlaubnis brauchst, um dich bewegen zu können. Sie sprechen
dich an: ‚Hey, du bist doch bestimmt ein Asylant! Was machst du hier? Wo ist
deine Erlaubnis, dich hier aufzuhalten?‘ Das ist Mitgliedern der Flüchtlingsini
tiative mehrmals passiert. Die Ideologie der Unter- und Überlegenheit wird
mit diesem Gesetz transportiert. Das Gesetz ist diese Ideologie. Die Leute
übernehmen die Haltung, dass es nicht das Recht eines jeden Menschen ist,
sich frei zu bewegen, sondern dass sie selbst mehr Rechte haben. Sie haben
dabei nicht das Gefühl, dass sie sich rassistisch oder diskriminierend verhal
ten, wenn sie mich, weil ich schwarz bin, fragen, ob ich überhaupt das Recht
habe, da zu sein, wo sie sind.
Die Residenzpflicht hat die absolute Kontrolle zum Ziel, die Möglichkeit,
jederzeit zu wissen, wo Du bist und was Du tust. Es gibt keine Privatsphäre.
Die Ausländerbehörde meint, sie habe das Recht dazu. Die Angestellten ver
suchen immer, ihre Macht darzustellen, zu zeigen, dass sie entscheiden. Sie
tun Dinge, nur um zu demonstrieren, dass sie sie tun können, auch wenn es
nicht legal ist oder nicht im Sinne des Gesetzes. Letztendlich ist es ein Macht
kampf, in dem sie dauernd zeigen, dass sie stärker sind.
Die Behörde
Gebühren
Passend zur Landkreis-Kleinstaaterei gibt es einen ‚indirekten Wegezoll‘. Viele
Ausländerbehörden verlangen Gebühren für das Ausstellen einer Verlassens
Ob Gebühren rechtmäßig sind oder sogar erhoben werden müssen, wie die
Landesausländerbehörde Saarland auf Nachfrage mitteilt, wird offensichtlich
von den Landesregierungen unterschiedlich eingeschätzt und ist rechtlich
umstritten.29 Bei der Pressestelle des Hamburger Innensenats heißt es zum
Beispiel auf die Frage nach einer Gebührenerhebung: „Für die so genannten
Verlassenserlaubnisse sehen die bundesrechtlichen Gebührenvorschriften kei
nen Gebührentatbestand vor.“ Das sieht man in insgesamt elf Bundesländern
anders. Entweder flächendeckend oder in einzelnen Landkreisen werden
Gebühren erhoben. Besonders befremdend ist die Staffelung, die einige
Behörden „je nach Anlass“ vornehmen. Ein Verwandtenbesuch ist dort ‚teu
rer‘ als ein Besuch beim Rechtsanwalt; eine Verlassenserlaubnis, die im öffent
lichen Interesse liegt, ist ganz gebührenfrei. Wo welche Gebühren erhoben
werden, ist aus der Tabelle auf Seite 137ff. zu entnehmen.
Umfassende Befugnisse
Heidi H. lebt in Berlin. Ihr Mann ist Kurde. Er kam als staatenloser Flüchtling
aus dem Irak nach Deutschland und wurde dem Landkreis Stendal zugewiesen. Sie
lernte den Musiker bei einer Veranstaltung kennen.
„Mir ist dieses Gesetz, die Residenzpflicht, nicht neu gewesen. Trotzdem
konnte ich mir nicht wirklich vorstellen, was es bedeutet, wenn eine
Behörde festlegt, wie du leben sollst. Das hat mich ganz wuschig
gemacht. Es ist schwer zu vermitteln, wie sich das anfühlt. Als es noch
die Mauer gab, wurde viel darüber geredet, wie schrecklich es ist, sich
nicht frei bewegen zu können, Freunde und Verwandte nicht besuchen
zu dürfen.
Die Verlassenserlaubnis bekam er zwar für eine Woche am Stück, aber
nur einmal im Monat. ‚Aus Prinzip’, hieß es, ‚wegen der Gleichbehand
lung’. Es gibt so viele kleine Schikanen. Einmal ist er krank geworden,
als er bei mir in Berlin war, und konnte nicht rechtzeitig zurück nach
Sachsen-Anhalt. Wir haben der Ausländerbehörde eine Krankschreibung
geschickt mit Attestierung der Reiseunfähigkeit. Trotzdem hat das Sozi
alamt angekündigt, er bekomme die Sozialhilfe nur noch wöchentlich
ausgezahlt, wenn das noch einmal vorkomme.
In dem Heim, in dem er wohnen musste, durften Besucher nur bis 22
Uhr sein. Sie nahmen einem an der Pforte den Personalausweis ab, und
wer bis 22 Uhr nicht wieder auftauchte, wurde geholt. Es ist aber auch
kein Ort, an dem man sich aufhalten möchte. Die Ausländerbehörde hat
mir geraten, ich solle mir doch ein Hotelzimmer nehmen, wenn ich ihn
sehen will. Später bekam er auch schon mal einen längeren Zeitraum
bewilligt. Wenn wir uns aber in der Zeit aus Berlin wegbewegen wollten,
musste er erst wieder nach Stendal fahren und dafür eine gesonderte
Erlaubnis holen.“
Wer ohne Genehmigung reist und in eine Personenkontrolle gerät, wird von
der Polizei angezeigt. Diese Anzeige leitet die Polizei in der Regel an die Aus
länderbehörde weiter. Die entscheidet, ob der Verstoß als Straftat oder Ord
nungswidrigkeit zu werten ist, und stellt entweder Strafanzeige oder veranlasst
einen Bußgeldbescheid, bei dem sie häufig auch die Höhe des Bußgeldes fest
legt.30 Kommt es nach einer Strafanzeige zu einer Verurteilung durch das
Amtsgericht, so wird wieder die Ausländerbehörde informiert, denn die Ver
urteilungen gehören zu den Grundlagen für aufenthaltsrechtliche Entschei
dungen, wie zum Beispiel Ausweisungen oder Bleibe- und Niederlassungs
rechte nach Abschluss des Asylverfahrens.
Außerdem straft die Behörde auch direkt nach Verurteilungen weiter ab. „Für
Personen, die bereits mehrfach gegen die räumliche Beschränkung verstoßen
haben, gilt im Regelfall eine verstoßfreie Zeit von mindestens sechs Monaten
bis zur nächsten Genehmigung“, heißt es zum Beispiel in der Antwort auf
eine parlamentarische Anfrage im brandenburgischen Kreis Teltow-Fläming.
Richterin: Gibt es die Möglichkeit, z. B. von Montag bis Freitag einen Schein zu
bekommen, also für 5 Tage? Sachbearbeiterin: Nur in Ausnahmefällen. |Und
warum? Aus Sicherheitsgründen. |Gibt es denn hierzu eine Verwaltungsricht
linie? Nein, es wird nur empfohlen. |Wäre es möglich, sagen wir mal, drei mal
pro Monat für zwei Tage einen Urlaubsschein zu kriegen? Grundsätzlich wäre
das kein Problem. Es gibt sogar die Gelegenheit, auf einem einzigen
Schein bis zu drei Genehmigungen zu bekommen. |Gut, das ist also
möglich. Wie funktioniert es aber in der Praxis? In der Regel wird nur eine
Erlaubnis pro Monat erteilt. |Und was passiert, wenn eine Ablehnung erfolgt?
Wie erklären Sie das den Asylbewerbern? Das wird dann gleich am Schalter
mitgeteilt. |Wie mitgeteilt? Mündlich, es wird einfach gleich entschieden
und mitgeteilt.
Zweite Sachbearbeiterin: Wir halten uns eigentlich an die Richtlinien der
Handakte, die Sie einsehen können. Über Urlaub gibt es aber keine
konkrete rechtliche Festlegung, also darüber, wie viele Tage gegeben
werden sollen. Wir erteilen die Urlaubsscheine je nach Fall. Wir hand
haben das so, dass wir einmal im Monat drei Tage Urlaub geben. |Wer ist
darauf gekommen? Das war eine interne Abmachung. Wir wollten die Asyl
bewerber gleich behandeln. So können wir ungefähr sagen: nur die drei
Tage. Es steht ja im Gesetz nichts Konkretes drin, wie wir das hand
haben sollen. |Aus welchem Grund wird abgelehnt? Abgelehnt wird z. B.,
wenn einer schon Urlaub gehabt hat, weil er einen Freund besuchen
wollte, und er kommt acht Tage später und sagt: 'Ich möchte wieder
einen Urlaubsschein haben.' Dann sagen wir: 'Nein, Sie haben schon.'
Das ist Gesetz, und wir müssen das Gesetz vertreten. |Wenn einer einen
Freund besuchen war und möchte eine Woche später an einer politischen Versamm
lung teilnehmen, wie würden Sie das handhaben? Politische Versammlungen
sollten so gehandhabt werden, dass die Möglichkeiten im Bezirk wahr
genommen werden. Ansonsten ist es so eine Entscheidungssache, die ich
mit meiner Fachdienstleiterin abspreche – solche speziellen Sachen, über
die drei Tage hinaus. |Wie wird’s denn gehandhabt? Wie würden Sie denn
entscheiden? In so einer speziellen Sache, wie gesagt, spreche ich das ab.
|Und was kommt dann da raus? Meistens eine Ablehnung. Das kann ich
Ihnen sagen, die Fachdienstleiterin sagt nein ...
Quelle: Cord Pagenstecher et al., Residenzpflicht vor Gericht – eine Rekonstruktion. In:
Institut für Nomadologie / Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Mauern, Projektionen,
Reisefreiheit. Berlin – Schengen 1989-2004, Berlin 2005, S. 48-51.
Die Zitate aus der Verhandlungsdokumentation wurden für diesen Text stilistisch leicht
überarbeitet. Der Originalwortlaut ist zu finden unter: www.in-no.org/furthur.html.
62 ■ Residenzpflicht
Die Ablehnung von Anträgen wird allgemein mündlich erteilt. Nach schriftli
chen Ablehnungen, wie der auf Seite 62 abgedruckten, muss man regelrecht
fahnden. Die Behördenpraxis ist deshalb nur zu erfragen. Berichte von
Flüchtlingen und Beratungsstellen belegen, dass eine behördeninterne Stan
dardisierung, wie die eben beschriebene, weit verbreitet ist. „Von Betroffenen
hören wir, dass es in einigen Ausländerbehörden offensichtlich irgendwelche
quantitativen Grenzen gibt“, wird von einer Beratungsstelle in Schleswig-Hol
stein berichtet. „Das schließen die Flüchtlinge aus Äußerungen wie: ‚Das wäre
dann aber schon die 11. private Reise, das geht nur ausnahmsweise. Eigentlich
ist bei 10 im Monat Schluss‘. Aber wir kommen nicht dahinter, ob das interne
Regeln sind oder was auch immer.“ Von einer brandenburgischen Behörde
berichten Flüchtlinge: „Herr Schulz sagt immer, nicht öfter als zwei Mal im
Monat für private Fahrten.“ Von einer Beratungsstelle ist zu erfahren: „Es
gibt 14 Tage im Monat, unter Umständen auch am Stück, aber man muss
jeweils sieben Tage vorher beantragen.“ Eine hessische Beratungsstelle teilt
mit: „Die Behörden unserer Landkreise erteilen höchstens eine Verlassensge
nehmigung pro Monat. Die Anträge müssen zwei Wochen vorher gestellt wer
den.“ Auch die Dauer scheint bei einigen Behörden festgelegt zu sein. Aus
mehreren brandenburgischen Landkreisen wird berichtet, es gibt die Erlaub
nis immer nur für einen Tag.
Ein Hinweis auf willkürliche Entscheidungen ist auch darin zu sehen, dass
durchweg von der Erfahrung berichtet wird, die Chancen, eine Verlassenser
laubnis zu bekommen, stünden besser, wenn der Antrag in Begleitung einer
‚offiziellen‘ Person gestellt wird. „Am besten ist es“, so eine Beraterin, „wenn
Flüchtlinge eine Ablehnung bekommen haben und zusammen mit der Bera
tungsstelle eine schriftliche Begründung fordern. Dann dauert es zwar vier
Wochen, bis etwas kommt, aber statt der schriftlichen Ablehnung kommt
erstaunlicherweise meistens eine Genehmigung.“
64 ■ Residenzpflicht
„Einen Tag erlauben sie in der letzten Zeit öfter, aber manchmal steht
sogar die Uhrzeit auf dem Schein. Du darfst von 10 Uhr bis 17 Uhr 30
da und da hin fahren. Ich bin 34 Jahre alt und muss darum bitten,
jemanden besuchen zu dürfen. Sie fragen dich wie ein kleines Kind: ‚Wie
heißt dein Freund? Wo wohnt er? Telefonnummer? Geburtsdatum?‘ Und
wenn du alles aufgeschrieben hast, sagen sie meistens nein, und es kann
dir passieren, dass sie deinen Antrag vor deinen Augen zerknüllen und in
den Müll werfen. Ich habe eine Erlaubnis beantragt, um nach Potsdam
zum Flüchtlingsrat zu fahren. Sie sagten: ‚Nein!‘ Zehn Minuten später
rief jemand vom Flüchtlingsrat bei der Behörde an und beantragte die
Erlaubnis für mich, und sie gaben mir den Schein. Was soll das?“
Mohammed El Hxxx, Prenzlau, Brandenburg
hochschule. Die lag nicht sehr weit vom Heim entfernt. Sie ist mit mir
dorthin zur Anmeldung gegangen, und ich habe den Kurs selbst bezahlt.
Aber ich bekam keine Verlassenserlaubnis, um dorthin zu fahren. Der
Kurs war abends. Ich war eine junge Frau in einem fremden Land und
wollte mich sicher fühlen. Dazu gehört, dass du Schutz bei der Polizei
finden kannst, wenn es nötig ist. Aber das geht nicht, wenn du ohne
Erlaubnis fährst und vor der Polizei Angst haben musst. Ich bin
trotzdem gefahren.“
Florence Sissako – Mitbegründerin der Organisation Women in Exile
Der Geist einer Asylpolitik, die alle Flüchtlinge unter Betrugsverdacht stellt,
spiegelt sich in den Belegzwängen wieder, die den Flüchtlingen auferlegt wer
den.
Landkreis Prignitz: „In der Regel wird eine Erlaubnis erteilt, wenn eine
Eheschließung beabsichtigt ist, für den Besuch eines gemeinsamen Kindes
sowie bei Familienfeiern. Sie wird auch Schwangeren erteilt, um den Kinds
vater aufzusuchen, oder werdenden Vätern, um sich um die Kindsmutter zu
kümmern. In diesen Fällen werden jedoch Nachweise verlangt (z. B. Vater
schaftsanerkennungen. Bestätigungen seitens der Standesämter, Einladungen,
Meldebestätigungen, Atteste).“
Die räumliche Beschränkung ist nicht nur eine konkrete Restriktion, sie ist in
ihrem ganzen Wesen autoritär, unterwerfend und disziplinierend. Das sind
Züge bürokratischen Handelns, die sich auch in anderen Behörden finden,
vor allem in der Sozialverwaltung. Aber hier geht der behördliche Eingriff
über das übliche Maß bürokratischer Machtausübung hinaus und am Ende
droht als letzte Unterwerfung die „aufenthaltsbeendende Maßnahme“.31
Ausweisung
Der Roma Emri A. Reiste 1991 mit seiner Familie aus dem Kosovo nach
Deutschland ein. Der Asylantrag wird abgelehnt. Die Familie kann aber
wegen drohender Staatenlosigkeit nicht abgeschoben werden. Seit elf
Jahren lebt die Familie geduldet, als Emri A. 2006 einen Aufenthaltstitel
nach der Bleiberechtsregelung beantragt. Als Antwort kommt die
Ausweisung. „Ihrer Ausländerakte ist zu entnehmen, dass Sie seit über
zehn Jahren regelmäßig polizeilich aufgefallen sind“, heißt es in der
Begründung. „Ihr bisheriges Verhalten unterstreicht, dass Sie offenbar
nicht gewillt sind, sich an die Rechtsordnung der Bundesrepublik
Deutschland zu halten.“
Herrn A. werden von der Ausländerbehörde vorgehalten: Vier Verurtei
lungen wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschränkung in den
Jahren 1996 und 1997, ein Strafbefehl wegen Betruges im Jahr 1998 und
ein erneuter Strafbefehl wegen Verstoß gegen die Aufenthaltsbeschrän
31 Einen umfassenden Einblick in die Welt der Ausländerbehörden gibt die Dissertation
Thomas Hohlfelds aus dem Jahr 2005: Strategien der Ausschaffung – Eine
Archäologie der Flüchtlingsbürokratie. Fallstudie zur Alltagsarbeit von Verwaltung,
Justiz und Politik am Beispiel der Kriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien
in Berlin, abrufbar unter http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=988975343.
68 ■ Residenzpflicht
Man muss sich bei dieser Arbeit mit den Gesetzen identifizieren. Wir machen
ja alles so, wie es im Gesetz steht. Die Politiker werden sich was dabei gedacht
haben. Wahrscheinlich würden alle Asylbewerber in die Städte gehen, und
dann kämen sie nur noch hierher, um die Sozialhilfe abzuholen. Das will man
vermeiden. Das ist keine schöne, aber eine notwendige Maßnahme. Außer
dem gibt es wesentlich weitreichendere Eingriffe in die Bewegungsfreiheit, die
wir durchführen müssen, wie zum Beispiel die Beendigung des Aufenthaltes.
Das Wünschen ist nicht meine Sache. Wir sind ja im Reich der unschönen
Notwendigkeiten. Aber wir sind großzügig, wir bedenken z. B. die Fahrtkos
ten, geben die Erlaubnis von Wochenende zu Wochenende, wegen des
Wochenendtickets für Besuche bei Freundin und Verwandtschaft. Es darf halt
nur nicht überhand nehmen…, – wenn die alle Nase lang kommen – aber es
gibt keine Regel, das ist Ermessenssache.
Die Position, über die Legitimität von Bedürfnissen und Absichten anderer zu
urteilen bis hin zum Hinterfragen ihrer Motive, haben sonst nur Erwachsene
im Verhältnis zu Kindern. Negative Auswirkungen dieser gravierenden Asym
metrie auf das Verhältnis der Behördenangestellten zu den Asylsuchenden lie
gen nahe. Sie verstärkt das Gefühl von Macht und Überlegenheit sowie das
Kontrollbedürfnis, fördert Abwertungen und Ressentiments oder rassistische
Haltungen. Der Zugriff auf alle Lebensbereiche eröffnet zudem ein weites
Feld von Schikanemöglichkeiten. In dem Kontext kann selbst eine Erlaubnis
die Form der Schikane annehmen, wenn zum Beispiel jemand in Braun
schweig eine Verlassenserlaubnis beantragt, um seine Verlobte in einer Klein
stadt bei Nürnberg zu besuchen und diese dann für nur einen Tag erteilt wird
(Quelle: Kanzlei Cornelia Prestin, Bremen).
Für die Betroffenen ist die räumliche Beschränkung ein Eingriff, den man
sich kaum schwerer vorstellen kann. Man wird einem Gebiet zugewiesen, das
70 ■ Residenzpflicht
man nicht verlassen darf und kommt für jeden selbst gewählten Kontakt in
die demütigende Situation, sehr private Gründe wie familiäre Angelegenhei
ten, psychische oder gesundheitliche Probleme, religiöse Handlungen und
politische Interessen einer Behörde gegenüber darlegen und rechtfertigen zu
müssen. Das schafft Gefühle des Ausgeliefertseins, der Ohnmacht und Wut.
Es ist eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte und der Würde. Grotesk wird
die Situation, wenn Flüchtlinge sich in dem Zufluchtsland, das international
für Meinungsfreiheit und Demokratie steht, Fahrten zu politischen Versamm
lungen oder Demonstrationen behördlich genehmigen lassen müssen.
Tatsache ist, dass die meisten Flüchtlinge keinen Antrag stellen, wenn sie
einen negativen Bescheid erwarten. Aber auch in anderen Fällen sind die Hür
den hoch. Die Behörden sind nicht jeden Tag geöffnet, die Wege oft weit, von
dem minimal verfügbaren Bargeld muss Fahrgeld dorthin bezahlt werden.
Werden Gebühren erhoben, begrenzt das allein schon die Möglichkeit,
Anträge zu stellen. Spontaneität ist grundsätzlich nicht möglich, und die Auf
lage, Einladungen vorzuweisen oder Anwaltstermine schriftlich zu belegen,
nimmt den letzten Rest zeitnaher Reaktionsmöglichkeit. Freundschaftliche
oder verwandtschaftliche Beziehungen werden durch die Pflicht, Kopien von
Ausweisen oder Meldebescheinigungen beizubringen, belastet, und mit der
Zeit wird durch die geforderten Angaben das gesamte soziale Umfeld der
Flüchtlinge durchleuchtet. Das schreckt viele ab, weil sie „ihre Leute“ diesem
Prozedere nicht aussetzen wollen oder um Kontakte für die Flucht vor einer
möglichen Abschiebung zu schützen oder einfach, weil sie ihren Privatbereich
dem behördlichen Zugriff nicht preisgeben wollen. Diese Angaben machen
zu müssen, widerspricht außerdem zutiefst der Vorstellung von einer demo
kratischen Gesellschaft, wie sie in der BRD erwartet wird.
Die Lebenssituation in den Sammelunterkünften ist aber so, dass ein Besucht
werden kaum möglich ist. Angefangen bei Einlasskontrollen in vielen Heimen
bis zu den Zimmern, die von innen nicht verschließbar und oft mit mehreren
Personen belegt sind, gibt es auch hier keine Privatsphäre. Der oft verwahr
loste Zustand der trostlosen Unterkünfte an abgelegenen Orten empfinden
viele als so diskriminierend, dass sie dort auch keinen Besuch empfangen
möchten.
Zur Arbeitssuche wird für Geduldete, die unter die Bleiberechtsregelung fal
len, die räumliche Beschränkung in den meisten Bundesländern gelockert, für
alle anderen gilt zusätzlich zur Vorrangigkeitsprüfung, dass sie bei der
Arbeitssuche zeitlich und räumlich so stark eingeschränkt sind, dass legal
keine Chance besteht, Arbeit zu finden. All das führt dazu, dass, wer irgend
wie kann, das Risiko der Kriminalisierung eingeht und ohne Erlaubnis reist.
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ –
Wirkungen auf Traumatisierte
Interview mit der Psychotherapeutin Ruth Bierich
Welche Hindernisse gibt es für Flüchtlinge, überhaupt bei Xenion in Behandlung zu kom
men?
Der Kontakt zu uns entsteht in der Regel über Beratungsstellen. Wenn die
Patienten aus den benachbarten Bundesländern kommen, ist die Anreise oft
ein großes Problem, aber alle, die in dem Bereich arbeiten, machen die Erfah
rung, dass allein die Möglichkeit, einen Gesprächspartner in der Mutterspra
che oder in der vertrauten Amtssprache des Herkunftslandes zu haben, von
extremer Wichtigkeit ist. Die Leute nehmen viel dafür auf sich. Wenn sie mer
ken, wie gut ihnen das tut, und sie dann diese Verlassenserlaubnis nicht
bekommen, ist es wirklich tragisch.
Manche halten sich einfach an den Buchstaben des Gesetzes und sagen: Es
gibt kein Recht darauf. Sie weigern sich vollständig, den Ermessensspielraum
wahrzunehmen. Dann haben wir lange Briefwechsel. Zum Beispiel habe ich
eine Patientin aus dem Umland von Berlin, also grad um die Ecke, die keine
Verlassenserlaubnis bekommt. Eine Begründung wurde zunächst gar nicht
gegeben. Wir wiesen dann darauf hin, dass es doch zu würdigen sei, dass sie
ein spezifisches Therapieangebot hat, eines, das die Kommune noch dazu
nichts kostet. Trotzdem besteht die Behörde darauf, sie könne vor Ort Ärzte
aufsuchen. Das ist rational nicht nachvollziehbar. Es kommt sie sogar teurer.
Wir machen aber auch die Erfahrung, dass Verlassenserlaubnisse nach viel
Schriftverkehr schließlich doch gewährt werden. Es ist immer davon abhän
gig, ob das Argument, die Therapie ist wichtig und sinnvoller, als die Leute in
die Psychiatrie einweisen zu lassen, offene Ohren findet. Und es gibt Fälle, in
denen die Verlassenserlaubnis verweigert wird, wenn wir gleichzeitig die
Übernahme der Fahrtkosten beantragen. Dann wird das im Doppelpack
abgelehnt.
Ja, das erlebe ich auch seit Jahren, dass die Leute dann unerlaubt fahren und
ganz erhebliche Ängste haben, dass sie kontrolliert werden könnten, zumin
dest in der ersten Zeit. Ich habe in meiner langen Praxis noch nie Patienten
gehabt, für die Kontrollen, sei es durch Polizei oder andere Uniformierte,
nicht extrem belastend gewesen wären, unabhängig davon, ob sie einen Fahr
schein und eine Verlassenserlaubnis bei sich hatten oder nicht. Eine Kontrolle
löst jedes Mal tief in den Körper eingegangene Ängste aus. Sie aktiviert Erin
nerungen an traumatische Erfahrungen mit Soldaten, an Übergriffe, an Folter.
Solche Situationen stellen eine Retraumatisierung dar, auch die Angst davor
wirkt so. Die Beamten sind vermutlich nicht alle gleichgültig demgegenüber,
aber ihnen wird diese Wirkung gar nicht klar sein. Fast alle meine Patienten
wechseln die Straßenseite, wenn ihnen jemand entgegenkommt, der kontrol
lieren könnte. Es gibt sicherlich auch die, die sich an Kontrollen gewöhnen
Auswirkungen I: „Es ist wie Mobbing“ – Wirkungen auf Traumatisierte ■ 75
und Gelassenheit entwickeln, aber aus meinem Patientenkreis kenne ich das
nicht. Dabei ist bis auf eine kongolesische Patientin aus Nordbrandenburg
noch nie jemand auf dem Weg zu mir erwischt worden.
Zum Teil absolut ja, zum Teil auch nicht. Diese kongolesische Patientin zum
Beispiel erlebt Kontrollen, von denen nur sie als Dunkelhäutige betroffen ist,
durchaus als Rassismus, aber hauptsächlich erlebt sie sie als beschämend und
als bedrohlich auf dem Hintergrund ihrer Geschichte. Denn sie knüpfen
direkt an traumatische Erfahrungen in ihrem Heimatland an, wo sie von Uni
formierten brutal misshandelt wurde, ihre Kinder, 10 und 12 Jahre alt, wur
den vor ihren Augen abgeführt. Sie weiß bis heute nicht, wo sie sind. Diese
Erlebnisse verdichten sich in dem einen kontrollierenden Beamten. Viele
Flüchtlinge waren in ihren Ländern Willkür und Gewalt durch Polizeikräfte
ausgesetzt, so dass Polizei unwillkürlich Ängste auslöst, und ich nehme an, es
ist bei vielen so, dass die Schikane einer Kontrolle als intime, persönliche
Geschichte erlebt und oft nicht dem Rassismus zugeschlagen wird.
Die kongolesische Patientin hat inzwischen mit ihrem Mann eine Wohnung
beziehen dürfen, weil es ihr im Heim so dramatisch schlecht ging. Sowohl im
Heim als auch jetzt in der Wohnung leben sie in einem tendenziell rassisti
schen Umfeld. Deshalb geht sie allein nicht aus dem Haus, ein übrigens sehr
häufiges Symptom bei Traumatisierten, die nur gezwungenermaßen allein und
nicht ohne Angst unterwegs sind. Das verstärkt sich noch durch eine feindli
che Umgebung. Beide Eheleute haben Angst, dass ihnen etwas passieren
könnte, weil die Androhung von Gewalt in der Luft liegt und es auch schon
zu gewalttätigen Übergriffen auf andere Asylbewerber kam.
Zur rassistischen Atmosphäre, in der das Ehepaar lebt, tragen auch die
Behördenangestellten in der Kreisstadt bei. Ich hatte mehrere Gespräche mit
verschiedenen Ämtern, die im Ort mit meiner Patientin und ihrem Mann
befasst waren. Ich bekam durch die Art, in der mit mir über sie gesprochen
wurde, den Eindruck, ein sehr abwertender, rassistischer Blick wird als Kon
sens mit mir als Deutscher vorausgesetzt. Das fand ich ganz verblüffend. Man
kann doch grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Rechtsanwalt oder eine
Psychologin, die jemanden in Therapie hat, parteiisch mit ihrer Klientin ist,
egal wo sie herkommt.
76 ■ Residenzpflicht
Haben Sie häufig Fälle, in denen eine Festschreibung der Traumatisierung durch die
Lebensbedingungen hier stattfindet, also die Umstände, die das Asylverfahrensgesetz vor
schreibt?
Ist in dem Zusammenhang die starke Einschränkung der Bewegungsfreiheit und der Kon
takte selbst traumatisierend?
Man muss das eher in dem Kontext sehen, den ich oben beschrieben habe:
Diese Aufenthaltsbeschränkung verhindert alle spontanen Versuche, die eige
nen Ressourcen zu mobilisieren. Ich will das an der Situation der kongolesi
schen Patientin aus Brandenburg erklären. Sie hätte unbedingt den Kontakt
zu französischsprachigen Leuten gebraucht. Ich habe für sie allein deshalb
eine sehr große Rolle gespielt, weil sie mit mir französisch sprechen konnte.
In der Stadt, der sie im Asylverfahren zugewiesen wurde, gab es nur noch
einen Freund, mit dem sie sprechen konnte, und als der wegzog, nur noch
den Ehemann. Wegen der feindlichen Umgebung ist sie auch nicht mehr raus
gegangen. Sie hat angefangen zu halluzinieren. Sie kam mehrmals in die
Psychiatrie und ist dann schließlich bei uns, bei Xenion angelangt. Diese gra
vierende Verschlechterung mit dem Auftreten psychotischer Symptomatik ist
aus meiner Sicht vorrangig dem langen isolierten Aufenthalt geschuldet. Sie
hat schließlich über Xenion vermittelt in der Charité die Anbindung an eine
afrikanische Frauengruppe gefunden. Das war ungemein wichtig. Wir haben
versucht zu erreichen, dass sie nach Berlin umverteilt wird, aber das ist
gescheitert. Aus Kostengründen ist es immer sehr schwierig, das zu erreichen.
Also hat sie von Nordbrandenburg aus an der Therapie in der Charité teilge
nommen, zum Teil ohne Verlassenserlaubnis, weil nicht mal die Charité
erreicht hat, dass sie dauerhaft diese Verlassenserlaubnis bekam. Das hat mich
33 Dazu sei angemerkt, dass die Reise in ein anderes EU-Land nicht strafbar ist, wohl
aber das Durchqueren der deutschen Landkreise auf dem Weg dahin.
78 ■ Residenzpflicht
gewundert, weil immerhin – die Charité ist doch nun wirklich eine Respekt
einflößende Institution.
Eine solche Isolation wie die, mit der die Flüchtlinge hier zurechtkommen
müssen, ist niemandem zuträglich, aber schon gar nicht ihnen in ihrer Situa
tion. Ohne Kommunikation, ohne selbstverständlichen Kontakt befinden sich
die Leute wie in einem isolierten Raum, in einer künstlichen Blase, abgetrennt
von der Gesellschaft, von allen übrigen Menschen, auch der eigenen Familie,
den Freunden usw. Sie haben nur die, die mit in dieser Blase sind, sozusagen
gemeinsam in einem Boot auf einem weiten, einsamen Meer. Sie sind dauer
haft abgeschnitten von einer normalen, das heißt sich gegenseitig als Gesell
schaftsmitglied anerkennenden Kommunikation, was für mich auch erklärt,
warum eine, wenn auch nur kleine therapeutische Anwendung oder allein ein
Gespräch mit anderen Hilfsorganisationen als so extrem wichtig erlebt wird.
Menschen, die unter einem starken Trauma leiden, wozu oft auch die Flucht
selbst gehört, können unter diesen Bedingungen häufig jahrelang nicht dar
über sprechen. Innerhalb der Kleinfamilien, die zusammen hier sind, wird oft
nicht darüber gesprochen, weil dies nur belastend wäre. Ich habe viel mit bos
nischen Leuten zu tun, die Srebrenica überlebt haben. Sie berichten davon,
dass sie Ticks entwickeln, dass sie mit sich selbst sprechen müssen, weil sie in
keiner anderen Kommunikation mehr stehen. Nicht selten endet diese Isola
tion in echten Halluzinationen.
In den Heimen leben ja viele Flüchtlinge zusammen. Wieso entschärft das die Isolation
nicht?
sei absichtlich so, um die Leute abzuschrecken, durch die Lage der Heime, die
Enge der Unterbringung. Normale Wohnungen sind in der Regel viel billiger,
aber die Leute werden gezwungen, in den Heimen zu bleiben.
Ein Heim ist kein sicherer Ort. Neben dem Lärm, - „dass man es nicht aus
hält in den Ohren“, wie sich viele ausdrücken, gibt es viele Unsicherheitsfak
toren wie die häufig langen Flure, die großen Sanitärräume, in denen Frauen
überfallen werden. Aber auch für Männer sind die Heime unsichere, laute,
aggressive Orte. Unter dem Druck wachsen Aggressivität und Kriminalität.
Die Leute sprechen zudem verschiedene Sprachen, haben also nur wenige
Möglichkeiten zur Konfliktbewältigung. Es passiert immer wieder, dass
jemand sein Zimmer zusammenhaut, es eben nicht mehr ausgehalten hat.
Natürlich gibt es auch Solidarität untereinander. Aber die Bedingungen sind
sehr schlecht. Was ich auch häufig von meinen Patienten höre ist, dass die
Abgelegenheit, die langen Wege entlang wenig befahrener Straßen, womöglich
am Wald entlang, so bedrohlich und belastend wirken, dass sie trotz der Situa
tion im Heim gar nicht mehr weggehen.
... und in verschiedenen Formen. Nicht nur, dass man ewig wartet und nicht
weiß, klappt das jetzt, dass ich hier bleiben kann, es wird einem ständig ver
mittelt, dass man hier unerwünscht ist. Durch das ganze Prozedere wird den
Leuten deutlich gemacht, dass man ihnen nicht glaubt und dass es nicht um
die neutrale Überprüfung eines Rechtsanspruchs geht, sondern dass man sie
in jedem Fall lieber abweisen, zurückweisen, loswerden würde. Das Asylver
fahren wird auf diesem Hintergrund als Vabanquespiel erlebt.
Was ich ganz häufig beobachte ist, dass das Vertrauen in die europäische
Rechtsstaatlichkeit und das Konzept der Menschenrechte verloren geht durch
die Art des Asylverfahrens und durch Regelungen wie die räumliche Aufent
haltsbeschränkung oder das Ausbildungs- und Arbeitsverbot. Wenn dann
Erfahrungen mit rassistischer Gewalt dazu kommen, dann verdichtet sich das
zu einem fundamentalen Vertrauensverlust. Es gibt Gott sei Dank auch die
Erfahrung von Unterstützung, nicht alle sind so ablehnend eingestellt. Die
meisten Leute wissen allerdings gar nicht, wie Flüchtlinge hier leben müssen.
Macht das auch einen Teil des Lebensgefühls von Flüchtlingen aus, in einer Blase zu leben,
dass so wenige Menschen wissen oder wissen wollen, wie dieses Leben aussieht?
80 ■ Residenzpflicht
Ja, sicherlich. Wir aus den Helfergruppen machen ja wahrscheinlich auch alle
phasenartig ähnliche Prozesse durch. Vor zehn Jahren war ich völlig scho
ckiert, dass es solche Dinge hier gibt, und sagte mir, dafür stehe ich mit mei
nem deutschen Pass nicht ein, für diese Art Politik. Und wir haben bei
Xenion ja nur die Spitze des Eisbergs, die, die es noch relativ gut getroffen
haben, denn sie sind ja in einer Behandlung. Ich habe am Anfang meinen
Freunden viel von der Situation der Flüchtlinge im Asylverfahren erzählt. Das
glaubt einem ja kaum jemand so ohne weiteres. Aber irgendwann nach ein
paar Jahren hört man auf, darüber zu sprechen, weil man die Rolle satt hat,
immer nur diese schrecklichen Geschichten zu erzählen. Am Anfang ist mir
auch nicht gleich aufgefallen, dass das System hat, dass das Asylrecht richtig
untergraben wird durch diese Gesetze und durch die Praxis der Behörden.
Wenn man das Verfahren offen halten und fair gestalten wollte, würde man
mit Menschen nicht so umgehen. Diese Umgangsformen, die ich zunehmend
als Schikanen werte, erinnern von der Struktur her an Mobbing. Das Ganze
scheint der Öffentlichkeit und auch der Polizei dabei zu helfen, das Gefühl
aufrecht zu erhalten, man sollte alle abschieben. Die Politik erteilt die Erlaub
nis, Menschen als rechtlos zu betrachten, sie betreibt geradezu eine Enttabu
isierung von Erniedrigung. Ich weiß nicht, wie ich es sonst werten soll. Eine
Gesellschaft muss sich überlegen, ob sie das will und was das mit ihr macht.
Die Polizeikontrolle
Bei der Befragung von Flüchtlingen in Brandenburg gibt die Mehrheit an,
etwa zweimal im Jahr kontrolliert zu werden. Manche werden gar nicht kon
trolliert, andere wesentlich häufiger. Dabei hängt die Häufigkeit der Kontrol
len stark vom Geschlecht und vom Aussehen ab. Je dunkler die Haut, desto
größer die Wahrscheinlichkeit kontrolliert zu werden. Männer werden außer
dem häufiger kontrolliert als Frauen.
34 www.copzone.de/modules.php?name=Forum&file=viewtopic&t=32836, gesichtet im
August 2008.
Die Polizeikontrolle ■ 83
35 Thomas Schweer, Hermann Strasser und Steffen Zdun: „Das da draußen ist ein Zoo,
84 ■ Residenzpflicht
und wir sind die Dompteure“. Polizisten im Konflikt mit ethnischen Minderheiten
und sozialen Randgruppen. Duisburg 2008.
Die Polizeikontrolle ■ 85
Der Seelsorger Pater Stefan Taeubner erläutert auf Nachfrage: „Die Razzia
wurde von den Polizisten damit rechtfertigt, dass ihnen die Ansammlung so
vieler Vietnamesen verdächtig vorgekommen sei. Sie vermuteten einen
Umschlagplatz für geschmuggelte Zigaretten. Es waren Revierpolizisten,
denen in ihrer Voreingenommenheit nicht mehr auffiel, dass die ‚verdächtige’
Versammlung vor der Kirche stattfand und das eine vielleicht mit dem ande
ren zu tun haben könnte.“ Nach massivem Protest der Kirchenleitung ent
schuldigte sich der Berliner Polizeipräsident für „den unverhältnismäßigen
Einsatz und eine überzogene Reaktion“. Im Rahmen der Razzia wurden Ver
stöße gegen die Residenzpflicht festgestellt und Personalien aufgenommen
von Personen, die keine Papiere bei sich hatten. Diese Verfahren wurden auf
grund der Proteste der Kirche nicht weiter verfolgt.
36 http://www.inforiot.de/artikel/notizen-zum-strausberger-polizeieinsatz.
86 ■ Residenzpflicht
hatte die Zugbegleiterin die Polizei gerufen, weil es Ärger mit Afrikanern
gäbe. Die Brandenburg-Tickets, die für fünf Personen gelten, konnte sie nicht
zuordnen und fühlte sich in der Auseinandersetzung darum bedroht. Darauf
hin setzte die Polizei 16 Beamte ein, um das Problem mit dem Ticket zu
lösen. Man ersetze nun „Schwarze“ durch „Jugendliche“ und lese den Text
noch einmal. Ein solcher Einsatz wäre schwer vorstellbar und nicht zu recht
fertigen.
Die Geschichte ging weiter. Weil sich in Strausberg zwar alle noch im zuge
wiesenen Landkreis befanden, aber in Richtung Berlin fuhren, informierte der
Einsatzleiter in Strausberg seine Berliner Kollegen. „Als wir in Berlin-Lichten
berg ankamen und umsteigen wollten, stand der Bahnsteig wieder voller Poli
zisten“, berichtet ein Betroffener aus der Personengruppe, die mit dem Zug
hatte weiterfahren dürfen. Dort mussten sie eine Stunde lang auf dem Bahn
hof stehen, wurden kontrolliert und durchsucht. Zwei Personen wurden
abgeführt, die meisten anderen wegen Verstoß gegen die räumliche Beschrän
kung angezeigt und ihre Papiere eingezogen.
„Die Polizisten kamen auf einem vollen Bahnsteig direkt auf mich zu
und sagten ‚Guten Tag‘, und ich dachte, die wollen mit mir reden. Aber
nein, sie wollten meine Papiere sehen. Da habe ich laut gelacht, und sie
haben gefragt, warum ich lache, und ich hab gesagt: Das ist lustig.
Überall hier sind Leute, aber ihr denkt, weil sie weiß sind, sind sie
deutsch. Aber vielleicht sind es illegale Russen? Aber ihr kommt zu mir,
weil ich schwarz bin. Das ist lustig! Sie sagten: Nein, das hat nichts mit
der Hautfarbe zu tun.“
„Ich bin jetzt 30 Jahre alt. 2000 bin ich aus Vietnam gekommen. Im
letzten Jahr wurde ich viermal kontrolliert und ich denke, das wird so der
Schnitt sein: viermal im Jahr. Im letzten Jahr, das war immer in Berlin
und Brandenburg. Die Kontrollen sind meistens im Zug, in Berlin auch
mal in einer Straßenbahn. Wenn sie dir die Papiere abnehmen, musst du
hinterher zur Ausländerbehörde, sie neu beantragen. Das ist sehr unan
genehm und dauert manchmal drei Tage, manchmal drei Wochen. Bei
den Kontrollen geben sie dir immer das Gefühl, du bist ein Verbrecher.
Einmal haben sie mir sogar auf dem Bahnsteig Handschellen angelegt,
obwohl ich mich ausweisen konnte. Sie haben mich in ihren Wagen
gebracht, haben dort mit der Ausländerbehörde telefoniert und mich
dann wieder frei gelassen. Am schlimmsten fand ich eine Situation in
Oranienburg. Ich hatte einen Job in Aussicht, und vor dem Vorstellungs
88 ■ Residenzpflicht
Bei den ‚Treffern‘ der Schleierfahndung handelt es sich zum größten Teil um
Bagatelldelikte oder um ausländerrechtliche Verstöße. Daran wiederum ist der
Anteil von ‚Residenzpflicht‘-Verstößen regelmäßig so hoch, dass sie erheblich
zur Erfolgsbilanz der Bundespolizei beitragen, auch heute noch, trotz massiv
gesunkener Flüchtlingszahlen. In der folgenden Tabelle sind aktuelle Zahlen
aufgeführt. Zugrunde gelegt ist der Anteil der ‚Residenzpflicht‘-Verstöße an
der Gesamtzahl der ausländerrechtlichen Delikte (illegale Einreise, illegaler
Aufenthalt, Einschleusen etc.), die in der Polizeilichen Kriminalstatistik aufge
führt sind. Die Zahlen von Berlin und Brandenburg verweisen darauf, dass
die meisten brandenburgischen Flüchtlinge in Berlin ‚erwischt‘ werden.
Die Polizeikontrolle ■ 89
Brandenburg 7% 8% 7%
Tabelle 1: Anteil der ‚Residenzpflicht‘-Verstöße an den ausländerrechtlichen Deliktgrup
pen in der PKS für Berlin, Brandenburg und bundesweit.37
Brandenburg
259 (100%) 340 (100%) 235 (100%)
(alle Landkreise)
Landkreis
22 (8%) 19 (6%) 21 (9%)
Uckermark
Tabelle 2: Verteilung der ‚Aufgriffe‘ nach Verstößen gegen die ‚Residenzpflicht‘ in ausge
wählten Landkreisen Brandenburgs.
37 In der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gibt es die Kategorie „Verstoß gegen das
Asylverfahrensgesetz“, die man mit ‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen kann.
Das Gesetz sieht zwar weitere Straftatbestände vor, die seien aber so selten, meinen
Fachleute wie Norbert Wingerter, dass sie statistisch keine Rolle spielen. Für Gedul
dete ist die räumliche Beschränkung seit 2005 im Aufenthaltsgesetz geregelt. Die
Aufgriff-Zahlen in der Rubrik „Sonstige Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz“ kann
man ebenfalls mit ‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen, da alle anderen statistisch
relevanten Straftatbestände unter anderen Schlüsseln aufgeführt werden.
90 ■ Residenzpflicht
Institutioneller Rassismus
Interview mit Martin Herrnkind
Welchen Anteil haben Kontrollen wegen der ‚Residenzpflicht‘ an der Häufigkeit der Kon
trollen von ausländisch aussehenden Menschen überhaupt?
Oh, das ist schwer zu sagen, weil Kontrollen aus unterschiedlichen Motiven
vorgenommen werden. Grundsätzlich geht es bei der Bundespolizei, wenn sie
im Grenzbereich oder überregionalen Verkehrszonen arbeitet, also in den
Intercity-Zügen oder an großen, überregionalen Straßenzügen, hauptsächlich
um ausländerrechtliche Verstöße. Das lässt sich auch an der Begründung der
sogenannten Schleierfahndung ablesen. Wenn man sich die Aufgriff-Zahlen
anschaut, dann liegen die Delikte sehr, sehr häufig im Bereich Residenz
pflicht. Aber das ist nicht das Motiv der Kontrolle, auch wenn die Aufgriffe
häufig damit zu tun haben.
Denken Sie, Menschen mit dunkler Hautfarbe würden weniger oft kontrolliert, wenn es die
Residenzpflicht nicht gäbe?
Es ist aber grundsätzlich so, dass alle Gesetze darauf abzielen, im Sinne der
Institutionen erfolgreich zu sein. Das bedeutet, wenn der Bundesgrenzschutz
– das kann man jeden Tag beobachten – in einem Intercity-Express kontrol
liert, dann ist das eine Crew von drei Beamten, die gehen durch den Zug und
könnten die Reisenden im Sinne einer Vollkontrolle gar nicht kontrollieren.
Deshalb selektieren sie diejenigen, von denen sie glauben, dass die Wahr
scheinlichkeit, einen Aufgriff zu haben, am größten ist. In ihrem Verständnis
heißt das: erfolgreich sein. Auch im Verständnis der Institution. Darauf sind
die Gesetze angelegt, und damit sind sie institutionalisierte Diskriminierung,
würde ich sagen, oder institutionalisierter Rassismus. Das Gesetz an sich.
Mit anderen Worten: Wenn wir über Polizeirassismus sprechen, dann haben
wir häufig im Hinterkopf den rassistisch disponierten Beamten, die mit frem
denfeindlichen Ideen behaftete Beamtin. Ich kann mir aber bei der Ausübung
dieser Tätigkeit der Bundespolizisten im IC-Express einen nicht rassistischen
Beamten vorstellen, der nur versucht, seinen Job erfolgreich zu machen und
sich dabei im Effekt, in der Wahrnehmung der Betroffenen rassistisch verhält.
Es gibt wahrscheinlich Polizistinnen und Polizisten, die rassistisches Gedan
kengut in sich tragen, aber es gibt auch die, die das nicht tun und trotzdem
durch die Anwendung dieses Gesetzes effektiv rassistisch handeln. Und damit
ist es dann eben nicht mehr ein individueller Rassismus, der sich vom Motiv
des Handelns auf den Einzelnen oder die Einzelne bezieht, sondern es ist
eine institutionalisierte Form des Rassismus. Wenn Sie jetzt feststellen, an
Zahltagen wird in manchen Regionen besonders auf den Strecken, die aus
den Landkreisen heraus führen, kontrolliert, dann könnte man sagen, der
Chef, der das anordnet, ist vielleicht ein Rassist. Zumindest wäre das denkbar,
es kann aber auch sein, dass der einfach nur erfolgreich sein will, gute statisti
sche Zahlen für seine Dienststelle herausholen will, um damit möglicherweise
sein Personal zu entwickeln. Das klingt jetzt zynisch, aber Erfolgsorientierung
in diesem Sinne produziert eine Form des Rassismus. Jeder Dienststellenleiter
würde aber „Nein“ sagen, „sowas machen wir nicht“, wenn Sie ihn fragen, ob
das so ist.
Die Polizeikontrolle ■ 93
C. ist seit fünf Jahren in Cottbus. Er hat eine Tochter in der Nachbar
stadt Guben. Beide Orte liegen in der Grenzregion zu Polen. „Wenn ich
in Guben bin, werde ich fast täglich kontrolliert. Ich kenne die Polizisten
alle. Sie behaupten aber immer, sie kennen mich nicht. Sie kontrollieren
mich auch, wenn ich mit meiner dreijährigen Tochter unterwegs bin. Sie
sagen, sie kontrollieren, weil wir im Grenzgebiet sind. Ich sage ihnen
immer: ‚Ihr kontrolliert mich, weil es keine schwarzen Polen gibt‘.“
„Im November 2007 war ich auf dem Bahnhof Beusselstraße in Berlin.
Als ich den Bahnhof verließ, kam Polizei auf mich zu und kontrollierte
mich, obwohl es viele Weiße gab, die sie nicht kontrollierten. Sie haben
mich dann zur Polizeiwache mitgenommen, wo sie mich auszogen, mich
systematisch durchsuchten, in Gegenwart von Hunden und Frauen. Sie
haben aber nichts bei mir gefunden und mich dann in eine Zelle
gesperrt. Zwei Stunden später holten sie mich, nahmen meine Fingerab
drücke und machten ein Foto. Danach musste ich noch eine Stunde in
die Zelle, bevor sie mich entließen.“
Quelle: Anonymisierte Befragung des Flüchtlingsrates Brandenburg zu Polizeikontrollen
2008
Gibt es Unterschiede in den Erfahrungen von Flüchtlingen, die man eindeutig dem
Geschlecht zuordnen kann, besonders im Zusammenhang mit der ‚Residenzpflicht‘?
In den Heimen gibt es viele Probleme mit Gewalt. Die permanente Anspan
nung, das Leben auf engstem Raum mit reduzierten sprachlichen Möglichkei
ten und diese Untätigkeit sind ein Nährboden für Gewalt. Darunter leiden
Frauen am meisten. Die Alleinreisenden, seien es nun Frauen mit Kindern
oder ganz Alleinstehende, sind besonders gefährdet, Opfer von Belästigungen
und Übergriffen zu werden, aber es gibt auch die Gewalt in den Familien. Alle
leben unter Druck, die Männer oft mit Depressionen, mit Alkoholismus. Ihre
Rolle ist infrage gestellt, weil sie nicht arbeiten dürfen. Das soll nur erklären,
auf welchem Hintergrund es dazu kommt.
Verschärft sich diese Situation noch durch den Zwang, erst eine Erlaubnis zu beantragen,
um zum Beispiel Verwandte besuchen zu können und dort vielleicht emotionale Unterstüt
zung zu bekommen?
Ja, aber…, wie soll ich sagen? Einige bekommen eine Genehmigung, andere
nicht. Das ist wie ein Würfelspiel, und ich ermutige immer dazu, sich darüber
hinwegzusetzen. Viele Frauen haben aber keinen Mut z. B. gegen das Resi
denzpflichtgesetz zu verstoßen und `rauszugehen aus ihrer bedrückenden
Situation. Sie schaffen das nur, um nahe Freundinnen oder Verwandte zu
besuchen. Die meisten haben ja solche Kontakte in Deutschland, deswegen
sind sie hierher gekommen und nicht in ein anderes Land. Wenn man aufbre
96 ■ Residenzpflicht
chen muss, dann versucht man natürlich dahin zu gehen, wo man Menschen
kennt, die einen unterstützen können. Aber jede Geschichte ist anders.
Viele Männer verlassen die Heime, tauchen dort nur noch einmal im Monat zum Zurück
melden auf und leben illegal mit allen Konsequenzen der Illegalität in den Städten. Wäre
das für Frauen überhaupt möglich?
Die Frauen, die Kinder haben, müssen unbedingt im Heim bleiben, weil die
Kinder zur Schule oder in den Kindergarten gehen. Du kannst wirklich nicht
unterwegs sein, wenn du ein Kind hast. Vielleicht zu Besuch an Feiertagen.
Aber auch für Frauen ohne Kinder ist es sehr schwer. Wenn du keine Ver
wandten oder enge Freunde hast, hast du keinen Schutz.
Aber in den Heimen gibt es ja auch keinen Schutz. Man hört immer wieder, dass sich die
Frauen abends nicht mehr aus den Zimmern trauen, nicht einmal, um auf die Toilette zu
gehen.
Ja, ich selbst, als ich noch in der Situation war, habe etwas in meinem Zimmer
organisiert, um nachts nicht auf diesen schrecklichen Flur zu müssen. Es ist
in den meisten Heimen nichts von innen abschließbar, weder die Zimmer
noch die Toiletten. Man ist die ganze Zeit in einer Art Ausnahmezustand und
Überlebenstraining.
Das heißt, man kann nicht von innen abschließen?
Du hast für das Zimmer einen Schlüssel, aber du kannst nur von außen
abschließen, nicht von innen. Die Toiletten haben gar keine Schlüssel und oft
gibt es auch keine geschlechtsgetrennten Sanitärräume. Das ist zumindest in
den meisten Heimen so. In einigen gibt es abgetrennte Wohnungen, und
natürlich kenne ich nicht alle Heime, aber sehr viele. Dadurch, dass immer
weniger Flüchtlinge ankommen, sind auch die nationalen Communities klei
ner und der Schutz, den eine solche Community gewährt, geringer oder es
gibt ihn gar nicht mehr. Für Frauen, vor allem die mit Kindern, ist die Hei
munterbringung ein viel größeres Problem als zum Beispiel die Polizeikon
trollen.
Frauen, so hat man den Eindruck, werden viel seltener kontrolliert.
Ja, vor allem, wenn sie mit Kindern reisen. Manche reisen in den Ferien mit
den Kindern weit weg zu Verwandten ohne eine einzige Kontrolle. Trotzdem
ist die Angst vor den Kontrollen viel größer. Mit Kindern kannst du nicht
weglaufen, du willst ihnen solche Situationen ersparen, du bist verwundbarer.
Auswirkungen II: Zur Situation von Frauen ■ 97
Auch für Frauen ohne Kinder sind Polizeikontrollen real ein geringeres Pro
blem als für Männer, aber psychisch ein wesentlich größeres. Die Frauen blei
ben deshalb länger im Heim als Männer. Das ist eine Tatsache. Sie brauchen
wirklich Monate, bis sie sich trauen, diese schrecklichen Orte zu verlassen.
Aber sie haben auch schlechtere Bedingungen, sich im informellen Sektor
durchzuschlagen. Sie haben meistens sehr viel hinter sich, wenn sie hier
ankommen, hatten diesen Überlebensmut, den Willen sich durchzubeißen.
Aber sie kommen mit der Erwartung: Jetzt bin ich in einem sicheren Land.
Jetzt wird es mir gut gehen. Dann sind sie am Ziel, und plötzlich gibt es
unüberschaubare und nicht nachvollziehbare Verbote und Restriktionen. Ich
glaube, ab diesem Moment setzt eine große Verunsicherung ein, und sie wis
sen nicht mehr, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie brauchen wirk
lich viel Zeit, bis sie aus dieser Starre wieder herauskommen.
Es war bei mir so, und ich beobachte es bei anderen Frauen auch. Als ich
hierher kam und mir die elementaren Dinge verboten wurden und ich nicht
verstand, warum, habe ich mir gesagt: ‚Okay, bleib erst mal ruhig!‘ Ich war in
Hennigsdorf bei Berlin und kam dort nicht weg. Ich habe meine Freundin in
Bonn angerufen und sie gefragt: ‚Was sind denn das für Geschichten hier? Ich
darf nicht zu dir kommen, und niemand darf zu mir kommen! Wer mich
besucht, darf nur einen Tag von 9 bis 22 Uhr bleiben, was soll denn das?‘ Sie
wusste es auch nicht, und auch sie hat mir empfohlen: ‚Bleib erst mal ruhig,
du musst erst mal beobachten, was da passiert, wie man damit umgehen
kann.‘ Ich glaube, das ist die psychische Verfassung von vielen Frauen. Män
ner können einfacher weggehen, sie haben ein anderes Ego und andere Netz
werke.
Es gibt also diese zwei Ebenen: psychisch sind die Frauen stärker von der
Residenzpflicht betroffen als Männer, aber real sind sie von Kontrollen, vor
allem auf der Straße, und von der Kriminalisierung weniger betroffen.
98 ■ Residenzpflicht
In Brandenburg wird die Hälfte aller Asylsuchenden bereits in den ersten drei
Monaten des Asylverfahrens kriminalisiert und zu einer Geldstrafe wegen
Verstoß gegen die räumliche Beschränkung (s.u.) verurteilt. Mit jeder weiteren
Verurteilung steigt das Strafmaß, wie der Anwalt Felix Isensee aus Erfahrung
weiß: „Es ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wenn beim ersten Mal
zu 30 Tagessätzen verurteilt wird, dann muss beim zweiten Mal erhöht wer
den. Irgendwann wird es dann etwas Persönliches, in dem Sinn, dass sich ein
Richter regelrecht provoziert fühlt, wenn jemand zum Beispiel in der Bewäh
rungszeit wieder erwischt wird. Ich höre aber auch immer wieder, dass ein
Richter das ganze Gesetz absurd findet. Sie verurteilen aber trotzdem.“
Andrea Würdinger, Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und
Anwältevereins (RAV), meint dazu: „Die übliche Systematik des Strafens,
nämlich die Steigerung der Sanktionen, wenn sich die Verurteilten durch Wie
derholungstaten uneinsichtig zeigen, greift bei den Residenzpflichtverstößen
nicht. Das führt uns zum eigentlichen Kern des Problems: Die Regel selbst
wird von den Betroffenen als falsch empfunden, und ein weiterer Verstoß
lässt sich durch Bestrafen nicht vermeiden anders als bei Eigentums- oder
Gewaltdelikten, bei denen die Norm allgemein akzeptiert wird.“
100 ■ Residenzpflicht
§§ §§ 85 und 86 Asylverfahrensgesetz
Ordnungswidrig handelt ein Ausländer, der einer Aufent
haltsbeschränkung zuwiderhandelt. Die Ordnungswidrigkeit
kann mit einer Geldbuße bis zu zweitausendfünfhundert
Euro geahndet werden.
Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
wird bestraft, wer wiederholt einer Aufenthaltsbeschränkung
zuwiderhandelt.
pflicht‘-Verfahren gegen die viel größere Zahl der Geduldeten sind in der
Strafverfolgungsstatistik nicht zu identifizieren.38
4196
2002 5097 3058 949 186 (145) 60
(82%)
3720
2003 4560 2771 831 117 (90) 35
(82%)
2679
2004 3383 1912 665 99 (76) 46
(79%)
1631
2005 2207 1138 420 70 (62) 16
(74%)
1254
2006 1371 609 261 40 (33) 11
(92%)
Tabelle 3: Auszüge aus den jährlichen Strafverfolgungsstatistiken (Rubrik: AsylVfG).
Beim Strafmaß ist zu bedenken, dass eine Strafe bis 30 Tagessätze als gering
fügig gilt. Die vielen Verurteilungen zu mehr als 30 Tagessätzen zeigen, dass
38 Geduldete wurden bei Verstoß gegen die räumliche Beschränkung bis 2005 nach dem
Ausländergesetz verurteilt und seit 2005 nach dem Aufenthaltsgesetz. In den Strafver
folgungsstatistiken sind die Verstöße gegen die ‚Residenzpflicht‘ nicht separat aufge
führt. Im Übrigen gilt hier das Gleiche wie bei der polizeilichen Kriminalstatistik
(PKS): Es gibt die Kategorie „Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz“, die man mit
‚Residenzpflicht‘-Verstößen gleichsetzen kann (siehe Fn. 37), weil alle anderen unter
dieser Rubrik versammelten Delikte statistisch irrelevant sind. Die Zahl 160.000 geht
zurück auf Norbert Wingerter (2006): Möglichkeiten des Betreibens von Wiederauf
nahmeverfahren gegen zu Unrecht erfolgte Verurteilungen in Strafverfahren wegen
Verstoßes gegen das Asylverfahrensgesetz, Strafverteidiger Nr. 8, 2006, 496–499.
102 ■ Residenzpflicht
Strafanzeigen Residenzpfl.verstöße 19 14 11
davon im Asylverfahren 1 1 1
davon Geduldete 18 13 10
Bußgelder 64 43 24
Tabelle 4: Anzahl der Flüchtlinge sowie der Verstöße gegen die ‚Residenzpflicht‘ für den
Landkreis Spree-Neiße (Quelle: Kleine Anfrage im Kreistag Spree-Neiße und Parlamenta
rische Anfrage im Landtag Brandenburg, LT-Drs. 4/7027 v. 10.11.2008).
Wie viele Menschen wegen eines Verhaltens, das für den Rest der Bevölke
rung selbstverständlich ist, tatsächlich ins Gefängnis kommen, kann man
ebenfalls nur schätzen. Zu den Freiheitsstrafen, die ohne Bewährung verhängt
werden, kommen Fälle, in denen Verurteilte Geldstrafen nicht zahlen (kön
nen) und diese deshalb in eine Freiheitsstrafe umgewandelt wird, wie in dem
Beispiel des Flüchtlings aus Liberia in Fürstenwalde. Dazu kommen widerru
fene Bewährungen.
39 Das Strafrecht sieht Geld- oder Freiheitsstrafen vor. Geldstrafen werden als Tages
sätze verhängt. Die Anzahl der Tagessätze gibt die Schwere der Schuld an, die vom
Gericht für die Tat zuerkannt wurden. Die Höhe des einzelnen Tagessatzes kann von
einem Euro bis zu mehreren hundert Euro gehen, abhängig vom durchschnittlichen
Tageseinkommen der Verurteilten.
Die Verurteilung ■ 103
Ist-Bestand zum
45 27 26 27 28 19
Stichtag 31.3.
Hochrechnung
ca. 180 ca. 108 ca. 104 ca. 108 ca. 112 ca. 76
für Gesamtjahr
Tabelle 5: Anzahl der Strafgefangenen, die am jeweiligen Stichtag (31.März) eine Haft
strafe wegen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung verbüßten (bundesweit)
(Quelle: Auszüge aus den jährlichen Strafgefangenenstatistiken, Rubrik AsylVfG)
Untersuchungshaft
Mourad O.* reist 2002 aus dem Libanon in die Bundesrepublik ein und
beantragt Asyl. Ein Jahr später wird der Antrag abgelehnt. Danach hat er
den Status der Duldung und wird ins Lager in Bramsche eingewiesen.
104 ■ Residenzpflicht
Herr O. hat eine Freundin in Leipzig. Im Jahr 2005 erwarten sie ein
gemeinsames Kind. Er besucht sie oft und fährt auch schon mal mit
Freunden nach Bayern. Bei diesen Reisen wird er mehrmals ohne Verlas
senserlaubnis für Niedersachsen erwischt. Wegen Verstoß gegen die
Aufenthaltsbeschränkung hat er bereits eine dreimonatige Freiheitsstrafe
auf Bewährung, als er wieder erwischt wird. Dieses Mal ordnet das
zuständige Amtsgericht eine Untersuchungshaft an wegen „Fluchtge
fahr“. In dem Beschluss heißt es: „Der Verurteilte ist nicht mehr in
seiner Aufnahmeeinrichtung aufhältig. Sein Aufenthalt ist unbekannt.“
Im Anschluss an die Untersuchungshaft wird Abschiebehaft angeordnet,
obwohl keinerlei Abschiebeabsichten vorliegen. Im Jahr 2009 ist Mourad
O. immer noch in Deutschland, weil die libanesischen Behörden nach
wie vor keine Papiere für ihn ausstellen. In all den Jahren hat es keine
Abschiebebestrebungen gegeben.
In Anschluss an die drei Monate Untersuchungs- und Abschiebehaft
muss Mourad O. noch sechs Monate in Haft für seine Reisen nach
Leipzig und Bayern, Strafen aus der neuen Verurteilung und aus der
Aufhebung der Bewährung.
*Name geändert / Quelle: RA Neuhoff, Osnabrück
Verbringungs-Haft
M. C. aus Sierra Leone kommt 1999 als 15-jähriger Flüchtling ohne
Familie nach Deutschland. Seit Jahren muss er in Brandenburg in völlig
abgelegenen Unterkünften leben, wo er es nicht aushält. In Hamburg hat
er Freunde. Fünfmal wird er in den vergangenen Jahren ohne Verlassens
erlaubnis dort angetroffen, davon mehrmals bei einer Polizeikontrolle in
der dortigen Sammelunterkunft. Silvester 2007 verbringt er ohne
Erlaubnis bei einem Freund in Hamburg. Morgens früh kommen zwei
Polizeibeamte zur Wohnung des Freundes, weil er eine Geldstrafe nicht
gezahlt hat. Die Beamten wollen auch die Papiere von C. sehen. Er gibt
seine Daten an, aber seine Papiere hat er nicht dabei. Er ist geduldet,
offiziell bei der Ausländerbehörde im brandenburgischen Seelow regis
triert und im Lager in Garzau polizeilich gemeldet. Sie nehmen ihn
trotzdem mit und inhaftieren ihn. Am nächsten Tag wird er einem
Richter vorgeführt, der ihn, so versteht es C., zu zwei Wochen Haft
verurteilt. Nach einer Woche wird er, so versteht er es, wegen guter
Führung aus der Haft entlassen und von Mitarbeitern der Hamburger
Ausländerbehörde zu ‚seiner‘ Ausländerbehörde in Seelow, nahe der
polnischen Grenze gebracht. Für den Transport und die Haft stellt ihm
Die Verurteilung ■ 105
Die ersten sechs bis zwölf Wochen verbringen Asylsuchende in den Zentra
len Aufnahmestellen. In Brandenburg ist die Erstaufnahmeeinrichtung in
Eisenhüttenstadt. Die Anzahl der „Personen mit Straftatbestand“ wegen Ver
stoß gegen die räumliche Beschränkung ist hier regelmäßig halb so hoch wie
die Zahl der Flüchtlinge. Das heißt, die Hälfte der Asylsuchenden ist bereits
kriminalisiert, wenn sie von der Erstaufnahme in die Sammelunterkünfte der
Landkreise eingewiesen werden.
Diese hohen Zahlen sind nicht repräsentativ für die gesamte Dauer des Asyl
verfahrens oder die Zeit mit einem Duldungsstatus. Der Bewegungsradius ist
nämlich ausgerechnet in der ersten Zeit nach der Flucht, in der das Bedürfnis
groß ist, sich zu orientieren, Verwandte oder Bekannte aus dem Herkunfts
land zu treffen, auf die Kommune beschränkt. Dazu kommt, dass der gesetz
106 ■ Residenzpflicht
liche Rahmen für die Erteilung einer Verlassenserlaubnis wesentlich enger ist
(§ 57 AsylVfG: Ausnahmen nur bei „öffentlichem Interesse“ und „zwingen
dem Grund“), als später im Asylverfahren. Manche Ausländerbehörden der
Landkreise, denen die Betroffenen zugewiesen werden, zählen diese Vorstra
fen aus der Erstaufnahmezeit nicht und fangen wieder bei Null an, bei den
anderen dreht sich die Kriminalisierungsspirale von Anfang an schneller.
Überforderte Gerichte
Die Gründe für die hohe Fehlerquote sind vielfältig. Erst einmal handelt es
sich um Massenverfahren, die die Gerichte selbst bei sinkenden Fallzahlen
belasten. In der Regel werden sie so abgehandelt: Die Staatsanwaltschaft
beantragt beim Amtsgericht einen Strafbefehl und der Richter oder die Rich
terin zeichnet ihn ab. Die Angeklagten haben zwei Wochen Zeit, Einspruch
zu erheben, tun das aber meistens aus Unkenntnis nicht oder schlicht, weil sie
die ganze Sache nicht verstehen und die Bedeutung nicht einschätzen können.
Die Fehler kommen einerseits durch diese Art der Erledigung zustande, bei
der nichts überprüft wird; andererseits dadurch, dass es im Asyl- und Aufent
haltsrecht sehr viele Sonderbestimmungen gibt, in die sich die Amtsrichter
und -richterinnen speziell einarbeiten müssten. Ausländerrecht ist ein hoch
kompliziertes Verwaltungsrecht, das an den Amtsgerichten ansonsten nicht
angewandt wird.
108 ■ Residenzpflicht
eine Wiederholung der Straftat. Die Verstöße müssten von vorne gezählt
werden.
Gegen die Haftanordnung hat der Anwalt eine sofortige Beschwerde
eingelegt, einem der zwei Wiederaufnahmeanträge wurde im September
2008 stattgegeben, der andere ist noch anhängig.
Quelle: RA Gerloff, Berlin
„Viele Leute haben hohe Strafen von 100 bis 500 € zu zahlen“, berichtet eine Mitar
beiterin der Caritas Beratungsstelle im brandenburgischen Fürstenwalde. „Das
Gericht lässt sich nicht auf Stundung ein, nur auf Ratenzahlung. Nun haben die Leute
aber kein Bankkonto und müssen immer jemanden finden, über dessen Konto sie einzahlen
oder eine hohe Gebühr bezahlen. Grundsätzlich könnten die Strafen auch über gemeinnüt
zige Arbeit abgegolten werden. Das nehmen aus verschiedenen Gründen nur wenige in
Anspruch. Würden alle gemeinnützige Arbeit leisten wollen, wären aber gar nicht genug
Möglichkeiten vorhanden.“
Teure Hilfsbereitschaft
„Ich habe einen Freund zum Flughafen begleitet. Er kannte sich nicht
gut aus, musste nach Schönefeld, um seine Freundin abzuholen. Also bin
ich mit und musste später 80 Euro Strafe zahlen, weil ich keine
Erlaubnis hatte. Ich kriege nur Gutscheine und musste sie tauschen. Ich
habe Leute gefunden, die sie mir 1:1 umgetauscht haben. Das war
Glück.“
Flüchtling in Cottbus
Die Konsequenz einer Ausweisung ist, dass die Ausgewiesenen von allen Auf
enthaltsregelungen ausgeschlossen werden und nach der Durchsetzung der
Ausweisung nie wieder einreisen können. Ausweisungen werden oft erst aus
gesprochen, wenn Geduldete Aufenthaltsrechte in Anspruch nehmen wollen,
etwa Niederlassungsrechte nach Eheschließung bzw. Verpartnerung oder eine
Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Bleiberechtsregelung. Plötzlich werden
Verurteilungen wegen ‚Residenzpflicht‘-Verstößen, die Jahre her sind, zum
Verhängnis.
Aus der Bleiberechtsregelung fallen alle heraus, die zu Strafen über 50 Tages
sätzen oder, bei ausländerrechtlichen Verstößen, über 90 Tagessätzen verur
teilt wurden. Die Strafen werden aufaddiert. Die Anwältin Andrea Würdinger
stellt dazu fest: „Dass addierte Strafbefehle die Anzahl von 50 oder 90 Tages
sätzen überschreiten und damit zum Ausschluss führen, ist in der anwaltli
chen Praxis nichts Ungewöhnliches.“ Außerdem gilt, dass wenn ein Familien
mitglied wegen Straffälligkeit keinen Anspruch hat, auch alle andern Mitglie
der unter diesen Ausschluss fallen.42
nen auch unvorhersehbare Folgen nach sich ziehen, wie das folgende Beispiel
zeigt:
„
Gefangen im Umfeld der Täter
Opfer rassistischer und häuslicher Gewalt
„Diese Restriktionen behindern unsere Arbeit als
Opferberatungsstelle, und sie machen uns unglaub
würdig, weil wir schließlich beim Elementarsten nicht helfen
können: dass ein Mensch den Ort der Traumatisierung ver
lassen darf.“
(Judith Porath, Opferperspektive Brandenburg e.V.)
Allerdings ist auch hier jeder Schritt, ein Hilfsangebot oder eine Zuflucht
stätte in Anspruch zu nehmen, mit der Offenbarung gegenüber einer
Behörde verbunden, zu der in der Regel kein Vertrauensverhältnis besteht.
Ist die Unterbringung in Frauenhäusern meist mit einigem Verwaltungsauf
wand möglich, so wird die räumliche Beschränkung für die ambulante Beglei
tung und Unterstützung zum großen Problem.
Auswirkungen auf die Gesellschaft
„
Der Staat als Negativ-Vorbild
Die Leute schimpfen über die Asylbewerber. Die kämen nur hierher, um
Sozialhilfe zu kassieren, und müssten nicht mal selbst kochen. Wenn ich
ihnen dann erzähle, wie die Situation wirklich ist und warum sie hier
sind, dann sind sie ganz betroffen und bringen am nächsten Tag Spiel
zeug für die Kinder im Heim vorbei.
Bärbel Schmidt, frühere Ausländerbeauftragte, Landkreis Prignitz, Brandenburg
Bürger des Kreises Steinfurt für Humanität und Bleiberecht“ zahlreiche Pros
testierende gegen die Abschiebung der Bosnierin Aljitis und im nahe gelege
nen Altenbergen kämpft eine Schulklasse gegen die Abschiebung einer Mit
schülerin und ihrer Familie. Ein Runder Tisch in Peine schaffte es, die junge
Vietnamesin Tha Nga Van nach ihrer Abschiebung wieder zurückzuholen.
Es gibt viele ähnliche Beispiele, und die Tatsache, dass die Teilnahme an Klas
senfahrten oder Wettkämpfen im Sportverein in fast allen Bundesländern
Befreiungsgründe von der räumlichen Beschränkung sind, verweist darauf,
dass die gesetzliche Ausgrenzung in dem Moment, in dem Beziehungen ent
stehen, gesellschaftlich nur noch schwer vermittelbar ist. Es entsteht der Ver
dacht, dass u. a. die Verhinderung solcher Beziehungen, die zu einer Integra
tion oder, im Amtsdeutsch formuliert, zur „Verfestigung des Aufenthaltes“
führen könnten, ein Ziel der Maßnahmen ist.
Von den staatlichen Stellen und der offiziellen Politik gehen fortgesetzt para
doxe Botschaften aus. Das betrifft auch die Antidiskriminierungspolitik.
Betriebe dürfen nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz niemanden
aufgrund der Herkunft diskriminieren, müssen sich aber an das diskriminie
rende System der Arbeitserlaubnisvergabe halten oder können jemanden nicht
beschäftigen, weil er oder sie den Landkreis nicht dauerhaft verlassen darf.
Innerhalb der EU gibt es Bestrebungen, solche Widersprüche aufzuheben.
Das 12. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention sieht
vor, dass alle gesetzlich niedergelegten Rechte jedermann zu gewähren sind,
ohne Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft oder eines „sonstigen
Status“. Die Bundesregierung verweigert jedoch die Ratifizierung, weil sie
befürchtet, dass insbesondere das Asyl- und Ausländerrecht dann verändert
werden müssten.45
„
Die Polizei gibt Stigmatisierungszeichen
Wie sehen Sie den Zusammenhang zwischen den selektiven Polizeikontrollen in Zügen und
auf Bahnhöfen und fremdenfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung?
Und wie sehen Sie den Einfluss zum Beispiel von asylbewerberfeindlichen Einstellungen in
der Verwaltung auf die Stimmung, die in den Kommunen gegenüber Ausländern und
Ausländerinnen insgesamt vorherrscht?
Auch dieser Zusammenhang ist nur indirekt, weil mehrere Faktoren zusam
menkommen. Nicht nur die ausländerfeindliche oder ausländerdistante Hal
tung einer Verwaltung, sondern die Haltung von Autoritäten allgemein beein
flussen die Stimmung in der Öffentlichkeit. Der Anlass für unsere Studie über
Oranienburg47, die nunmehr zehn Jahre alt ist, war eine Amtsperson, die als
Reaktion auf rassistische Übergriffe öffentlich behauptet hatte, die Ausländer
kriminalität läge um eine Potenz höher als die Summe der Gewaltdelikte von
Deutschen gegen Ausländer. Solche Gleichsetzungen und die Zahlen, mit
denen da jongliert wurde, sind reine Ideologie, und man muss sich nicht wun
dern, dass in so einer Kommune die mehrheitliche Haltung der Bevölkerung
ausländerfeindlich ist, zumal wenn dann auch noch die fast einzigen Auslän
der vor Ort, nämlich die Asylbewerber, isoliert in Lagern am Rande der Stadt
47 Markus Klemper, Harald Klier und Hajo Funke: „Ich will mich nicht daran
gewöhnen.“ Fremdenfeindlichkeit in Oranienburg, Berlin 1998.
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 125
Könnte man das z. B. so auch für das folgende Szenario sagen? Am Bahnsteig stehen lau
ter weiße, nach dem Klischee deutsch aussehende Leute und ein einziger Mensch mit einer
dunkleren Haut oder einem anderen ‚fremdländischen‘ Attribut. Einige Polizeibeamte
kommen auf den Bahnsteig, gehen direkt zu diesem fremdländisch aussehenden Menschen,
kontrollieren ihn und führen ihn womöglich auch noch ab.
Das heißt: es wird nach Hautfarbe, nach Phänotyp selektiert. Das ist Rassis
mus, in dem Fall institutionell ausgeübt von Vertretern der Staatsgewalt. Von
ihnen geht ein pro-rassistisches Signal aus: Ich sehe eine Gruppe von 50 Leu
ten, einer ist schwarz, den hole ich raus. Natürlich fördert das Rassismus, und
im Zweifel ist es auch ein rassistischer Akt.
dieser Ausländer, diese mit Kopftuch oder wie auch immer, tatsächlich krimi
nell ist und bestraft werden soll. Und damit haben sie einen rassistischen
Kontext ausgebreitet, an den politisch angeknüpft und der radikalisiert wer
den kann.
Bei den Interviews, die in der Oranienburg-Studie dokumentiert sind, wird von den extrem
rechts Eingestellten immer wieder auf den Zusammenhang von Afrikanern und Drogen
handel verwiesen. Das würde mit solchen selektiven Kontrollen auch genährt?
Jede Form von Vorurteil, die die Rechten sich ausdenken und erspinnen, wird
durch entsprechende ungenaue, generalisierende Äußerungen bzw. stigmati
sierende Handlungen bestärkt. Es ist immer ungenau, Gruppen der Gewalt
oder einem bestimmten Strafverhalten zuzuordnen. Es gibt dieses gängige
Argumentationsmuster: Ja, die Kriminalitätsrate von Ausländern ist doch so
und so hoch, obwohl vieles davon spezifische, auf die Ausländer gemünzte
Sondertatbestände sind, die man, nebenbei gesagt, abschaffen sollte. Wenn
solche Zuordnungen in Zahlen auftauchen, dann folgt daraus immer ein
generalisierender Verdacht, der eine ganze Gruppe trifft. In dieser Generali
sierung liegt das Potenzial für Rassismus. Wenn Verstöße gegen die verschie
denen Gesetze, die nur Ausländer betreffen, in den Statistiken gesondert aus
gewiesen werden, so ist das ein Fortschritt, allerdings nur dann, wenn die
Zahlen auch so differenziert präsentiert werden. Die Aussagefähigkeit von
Kriminalstatistiken ist aber überhaupt hoch umstritten und sehr fragwürdig.
Lässt sich zusammenfassend sagen, es wäre im Sinne der Förderung eines offenen gesell
schaftlichen Klimas notwendig, das Asylverfahrensgesetz von allen stigmatisierenden Rege
lungen, wie zum Beispiel die Zwangsunterbringung in sog. Sammelunterkünften und die
räumliche Aufenthaltsbeschränkung zu befreien?
Ja, das ist überfällig, und wir wissen genau, dass stigmatisierende Verwaltungs
praxis für die Entwicklung des Rechtsextremismus von großer Bedeutung
war. Alles, was in der vereinigten Bundesrepublik an militantem Rechtsextre
mismus und neuem Rassismus existiert, fing an mit der dramatischen Situa
tion Anfang der 1990er Jahre, nämlich dem Pogromversuch in Rostock-Lich
tenhagen. Dieser ist nur denkbar gewesen, weil die Behörden durch die Art
der Abfertigung von Asylbewerbern systematisch eine Situation herbeigeführt
haben, die zur Eskalation führte.48
48 Zur Erläuterung sei hier zitiert aus Hajo Funke: Paranoia und Politik – Rechtsextremismus
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 127
Das heißt, Sie sehen eine wesentliche Ursache für den neuen Nach-Vereinigungs-Rechtsex
tremismus in der Asylpolitik?
Das ist ein, wenn nicht der zentrale Faktor zusätzlich zu den sozioökonomi
schen Verwerfungen, die einen Nährboden für diese Bereitschaft zu fremden
feindlichen Handlungen darstellen. Vor all den schönen Programmen gegen
Rechtsextremismus ist die Politik angehalten, jedes stigmatisierende Verwal
tungshandeln zu unterbinden und entsprechende Gesetze und Verordnungen
abzuschaffen.
in der Berliner Republik, S. 54 ff.: „Schon zum Vorlauf der Unruhen gehörte, dass trotz
der Warnungen des damaligen Oberbürgermeisters von Rostock bereits mehr als ein
Jahr vor den Unruhen im August 1992 bis zu 300 Asylbewerber, vor allem Roma aus
Rumänien, rund um die Asylaufnahmestelle in Rostock-Lichtenhagen lagerten, ohne,
trotz des Verlangens der Hilfsorganisationen, auf sanitäre Einrichtungen und Koch
gelegenheiten zurückgreifen zu können. Sie wurden vielfach gleich für mehrere Tage
abgewiesen und mussten auf die Asylantragsbearbeitung warten. Solange aber gab es
weder Verpflegung noch Unterkunft, es fehlten selbst die erbetenen, aber immer
wieder abgelehnten Toilettenwagen. Durch diese eklatanten Verwaltungsmängel, die
bezeichnenderweise nach den Unruhen innerhalb weniger Tage behoben werden
konnten, waren die Asylbewerber gezwungen, draußen zu nächtigen, ihre Notdurft zu
verrichten und sich das Notwendigste an Nahrung zu besorgen. Genau dies aber
waren die Handlungen, die zu den Hassausbrüchen eines Teils der Bevölkerung führ
ten. Sehenden Auges wurde so durch lokale Politiker, vor allem aber durch die zustän
digen politisch Verantwortlichen des Landes (aber auch des Bundes) das Vorurteil
gegen Fremde bekräftigt, ja neu produziert. So erschienen dann die dort Lagernden
als schmutzig und faul: auf Kosten der Deutschen bekämen sie Wohnung und Brot
und vielleicht noch einen Mercedes. Sie ‚pissen in die Regale‘ der Kaufhalle, so einer
der Anwohner, auch wenn niemand der vier Sicherheitsbeamten dies dort bestätigte.
Sie ‚betatschten Kindergärtnerinnen, bumsten unter freiem Himmel‘ und ‚schissen
überall hin‘, so Nachbarn in Zeitungen.“
128 ■ Residenzpflicht
„
Ein Lackmustest für die Demokratie
Als ich hierher gekommen bin, wusste ich ehrlich gesagt nicht, was
Rassismus ist. Ich habe davon in Büchern gelesen, es im Fernsehen
gesehen, aber ich wusste nicht, was das heißt. Und dann habe ich es hier
erlebt: Rassismus. Meine Erwartung an Deutschland war anders. Ich
dachte: Das ist ein demokratisches Land. Wenn man in Afrika ist, sind
die europäischen Länder Vorbild. Man denkt an Menschenrechte und
dass sie dort gelten. Ich habe erwartet, dass in Deutschland das Gesetz
jeden schützt und dass man Rechte hat, auch wenn man arm ist. Aber
ich habe hier etwas ganz anderes gesehen und erlebt. Wie soll ich mit
Worten erklären, was passiert ist? Ich habe keinen Traum mehr.
Nico Pehounde, Flüchtlingsinitiative Brandenburg
Als ich in Deutschland Asyl suchte, hätte ich niemals erwartet, dass ich
Bedingungen unterworfen sein würde, die denen ähneln, aus denen ich
geflohen bin. Hier brauche ich sogar eine schriftliche Erlaubnis, um
einen Arzt außerhalb meines Landkreises zu sehen. Mein ganzes Leben
lang habe ich niemals an einem Ort gewohnt, wo mein Recht als
menschliches Wesen respektiert worden wäre, ich habe immer dagegen
angekämpft. (…) Die Residenzpflicht entmenschlicht und kriminalisiert
mich nicht nur, sondern hält mich davon ab, die interessierte Öffentlich
keit über die Situation in den besetzten Gebieten der Westbank und des
Gazastreifens zu informieren
Ahmed Sameer, The VOICE, in einer Prozesserklärung
die Voraussetzung für jede weitere Interessensvertretung ist. Ein Jahr später
organisierte ein Bündnis von u. a. The VOICE Refugee Forum, der Flücht
lingsinitiative Brandenburg und der Migranten- und Migrantinnenorganisation
Karawane zusammen mit antirassistischen Gruppen Aktionstage in Berlin.
Auf dem Schlossplatz entstand ein großes Zeltlager. Über drei Tage kamen
mehrere hundert Flüchtlinge aus den isolierten Sammelunterkünften und
campierten in der Mitte der Hauptstadt, um gegen die ‚Residenzpflicht‘ zu
protestieren. 3.000 Menschen kamen zur Abschlussdemonstration für Bewe
gungsfreiheit. Auf dem Weg nach Berlin waren Busse von der Polizei aufge
halten und wegen Verletzung der ‚Residenzpflicht‘ zurückgewiesen worden,
aber die Demonstration blieb unbehelligt.
Der Aufbruch verlor sich im Getöse des 11. September 2001 und seinen
erschreckenden Folgen, zu denen auch eine weitere Verschärfung der europäi
schen Abschottungspolitik gehört. Andere Themen wurden wichtig, und die
Flüchtlingsorganisationen führen den Kampf gegen das Gesetz seitdem allein
weiter, unterstützt nur von flüchtlingspolitischen Kreisen und kirchlichen
Gruppen. Es gibt allerdings auch nach wie vor immer wieder parlamentari
sche Initiativen einzelner Abgeordneter oder von Parteigremien. Die Berliner
Koalition aus SPD und Die Linke hat zum Beispiel eine Bundesratsinitiative
zur Abschaffung der räumlichen Beschränkung als gemeinsames Vorhaben in
den Koalitionsvertrag geschrieben, aber bisher nicht realisiert.
„Die Residenzpflicht ist das größte Problem für unsere Mobilisierung“, meint
Osaren Igbinoba, Sprecher der Flüchtlingsorganisation The VOICE, die ihren
Schwerpunkt auf deren Bekämpfung legt. „Es ist heute vor allem die Frage,
was macht die deutsche Gesellschaft nach so vielen Jahren des Kampfes von
130 ■ Residenzpflicht
Flüchtlingen und Migranten? Unsere Arbeit hat Kontinuität, aber die deut
sche Öffentlichkeit ist sprunghaft. Wir führen eine Kampagne für Bewe
gungsfreiheit, aber das ist keine Kampagne nur für unsere Rechte, es ist auch
eine für die deutsche Gesellschaft, denn wenn es gelingt, diese inneren Grenz
ziehungen abzuschaffen, dann heißt das auch, dass die deutsche Gesellschaft
sich entschieden hat, eine offene Gesellschaft zu werden. Das ist ihr bisher
nicht gelungen. Wir führen einen Kampf gegen die Kultur des Ausschlusses,
des Rassismus, der Diskriminierung. Wir betteln nicht darum, von einem
Landkreis in den anderen zu dürfen, denn man kann nicht darum bitten, sich
frei bewegen zu dürfen. Das wäre, als würde man darum bitten, geboren zu
werden. Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist etwas Natürliches. Wir sind
keine Bittsteller, sondern wir wollen erreichen, dass in Deutschland begriffen
wird: Das ist keine offene Gesellschaft.“
Mit der ‚Residenzpflicht‘ wurde ein Gesetz geschaffen, das einer Gruppe von
Menschen nicht nur das Recht auf Freizügigkeit, sondern auch den Schutz
der Privatsphäre nimmt und ihnen das Recht auf Versammlungsfreiheit und
die Möglichkeit der Interessenvertretung verweigert. Es ist ein undemokrati
sches Gesetz, denn es negiert die Grundelemente der Demokratie, und es ist
ein antidemokratisches, denn diese Negation wirkt auf vielfache Weise auf die
Gesellschaft zurück. Eine einmal etablierte Praxis lässt sich nur schwer wieder
aus der Welt schaffen und wird früher oder später auf andere Gruppen über
tragen. Gelingt es nicht, die diskriminierenden Gesetze für Flüchtlinge abzu
schaffen, besteht die Gefahr, dass dieses gesetzliche Un-Recht auch das
Leben anderer Gruppen repressiv gestaltet: dass auch ALG-II-Empfängerin
nen und -Empfänger gezwungen werden, in Sammelunterkünften zu leben,
dass weitere Gruppen definiert werden, denen man keinen „Integrationsbe
darf“ zugesteht, weshalb man ihre Bezüge auf weit unter das Existenzmini
mum drücken kann, ihnen Bargeld verweigert und, wenn sie ohne Erlaubnis
des Amtes den Wohnsitz verlassen, nicht nur ihre Bezüge kürzt, wie es heute
schon üblich ist, sondern sie zu Straftäterinnen und -tätern macht.
Schon als die räumliche Aufenthaltsbeschränkung 1982 Gesetz wurde, war sie
umstritten. Lässt man sich, wie im ersten Kapitel, auf die verschiedenen
Argumente ein, mit denen die Regelung immer noch von politischen Funktio
Auswirkungen auf die Gesellschaft ■ 131
2009 jährt sich der Mauerfall zum zwanzigsten Mal. Mit der Mauer verschwand auch
der Begriff ‚Fluchthelfer’, eine ehrenwerte Bezeichnung für alle, die beim Grenzübertritt
von Ost nach West halfen, egal, ob es sich dabei um routinierte Geschäftemacher oder um
passionierte Menschenfreunde handelte. Seitdem es die Systemkonkurrenz nicht mehr gibt,
sind aus Fluchthelfern ausnahmslos ‚Schlepper‘ und ‚organisierte Kriminelle‘ geworden.
Wie ist das zu deuten?
linge kommen bzw. wie sie ins Weltbild und zum politischen Interesse passen.
Flüchtlinge aus der Sowjetunion und ihren ‚Bruderstaaten’ wurden willkom
men geheißen, weil sie Beweis für das repressive System des politischen Geg
ners waren. Deswegen wurden sie auch generell als politische Flüchtlinge
anerkannt. Es gab teilweise sogar Prämien, um die Flucht finanziell zu unter
stützten. Die Flüchtlinge heute symbolisieren dagegen Armut und das Wohl
standsgefälle zwischen Norden und Süden bzw. Westen und Osten. Dadurch
bekommen sie eine vollkommen andere symbolische Bedeutung. Vielfach
wird suggeriert, hinter jedem stünden Millionen andere, die darauf aus seien,
hierher zu kommen. Sie werden als Bedrohung erlebt, die es abzuwehren gilt.
In den letzten zwanzig Jahren sind das Asylrecht und seine Anwendungspra
xis immer restriktiver geworden. Sie zielen auf Abschreckung und Ablehnung
mit dem Ergebnis, dass dieses Recht kaum noch in Anspruch genommen
werden kann.
Wie passt diese restriktive Politik gegenüber Flüchtlingen damit zusammen, dass das
Engagement in der Flüchtlingsarbeit immer wieder mit hohen Auszeichnungen honoriert
wird?
Eine andere Möglichkeit des Umgangs wäre, sich den Widersprüchen zu stel
len, zu sehen, wie die Probleme miteinander zusammenhängen, die Ambiva
lenzen anzunehmen und in einem Aushandlungsprozess miteinander zu ver
suchen, den unterschiedlichen Ansprüchen möglichst weitgehend gerecht zu
werden.
Die deutsche Asyl-Praxis stellt alle Asylsuchenden unter den Generalverdacht des Asylbe
trugs. Ihnen wird regelmäßig nicht geglaubt. In dem Wissen, dass es aber sehr wohl Flucht
gründe gibt, versuchen Angestellte in der Flüchtlingsbürokratie Orientierungspunkte zu fin
den. Einer ist die oft formulierte Annahme, Flüchtlinge erkenne man an der Dankbarkeit,
was letztendlich heißt, an der Billigung der Restriktionen, die ihnen auferlegt werden.
Mir fällt dazu ein, wie eine bosnische Frau über ihre Flucht nach England
erzählte, dass ihr vorher in Bosnien gesagt wurde, sie solle möglichst ärmliche
Kleidung tragen, sonst würde ihr nicht geglaubt, dass sie ein Flüchtling sei.
Die Flüchtlinge müssen also möglichst auch den Bildern entsprechen, die sich
die Mehrheitsgesellschaft von ihnen macht. Die Dankbarkeit als vermeintli
ches Erkennungsmerkmal beschreibt die psychologische und symbolische
Rolle, die den Flüchtlingen zugewiesen wird. Dem entspricht das Verständnis
von Asyl als ein karitatives, großzügiges Gewähren im Gegensatz zu einem
politischen Konzept der Rechte, die jemand hat. Der Andere als Rechtssub
jekt wird nicht anerkannt und muss selbst die schäbigsten Lebensbedingungen
als gnädig gewährte Hilfe anerkennen. Flüchtlinge werden nicht als politische
Subjekte oder als Menschen gesehen, die Interessen haben, die sich entfalten
wollen und die dieser Gesellschaft etwas geben können und mitzuteilen
haben. Im Gegenteil, man drängt sie aus der Gesellschaft hinaus und verweist
sie auf die untersten sozialen Ränge. Aufgrund dieser elenden und gewalttäti
gen Lebensbedingungen gleichen sie auch zunehmend dem Bild des rückstän
digen, armen, und kriminellen Anderen. Das heißt der Rassismus schafft
134 ■ Residenzpflicht
Lebensverhältnisse, die ihn wiederum bestätigen. Man könnte also all die
Maßnahmen, die den Flüchtlingen ein solches Leben aufzwingen. als eine
unbewusste Inszenierung rassistischer Fantasien interpretieren.
Auf dem Hintergrund einer Politik, die im Namen von Globalisierung den
freien Waren- und Geldverkehr propagiert und Mobilität über alles stellt, las
sen sich heute nationale Abschottungsbedürfnisse weniger denn je rechtferti
gen, ebenso wenig, wie sich die Zuerkennung von Rechten alleine an den
Besitz der Staatsangehörigkeit binden lässt. Jeder Mensch muss, mit Hannah
Arendt gesprochen, ein „Recht auf Rechte“ haben im Sinne universal gültiger
Menschenrechte und dazu gehört elementar das Recht auf Freizügigkeit.
Anhang
Baden-Württem Verweis auf Bund „Erlaubnis von privaten Reisen nur für ein
berg & interner Einzel grenzbare Ziele, Termine und Aufenthalts
erlass orte; Schulausflüge; Fahrt zu einer konkre
(Landkreise) ten Arbeitsstelle; angemessene persönliche
Gründe.“ / Verweis auf Einzelfallentschei
dung
Gebühren: Freiburg/Breisgau-Hoch
schwarzwald für private Fahrten 5-10 €,
offizielle Termine umsonst; Mannheim &
Karlsruhe 10 € ; alle anderen Kreise keine1
Der Flüchtlingsrat Brandenburg ist ein offenes Netzwerk von Initiativen, Ein
zelpersonen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Flüchtlingen, VertreterInnen kom
munaler Verwaltungen, haupt- und ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit Täti
gen. Neben diesem Gremium gibt es einen Förderverein, über den die Pro
jektfinanzierung abgewickelt wird. Die Arbeit wird zurzeit größtenteils
ehrenamtlich verrichtet. Zu den Arbeitsschwerpunkten gehören:
Als Anerkennung für unsere Arbeit haben wir 2001 den Julius-Rumpf-Preis
der Martin-Niemöller- Stiftung erhalten.
Flüchtlingsrat Brandenburg
Rudolf-Breitscheid-Str. 164
14482 Potsdam
Tel/Fax: 0331 / 716 499
E-Mail: info@fluechtlingsrat-brandenburg.de
Humanistische Union
emanzipatorisch...
Die Humanistische Union e.V. (HU) ist eine bundesweit tätige Bürgerrechts
organisation für den Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Seit 1961
haben wir viele politische Debatten geprägt: Widerstand gegen die Notstands
gesetze und die Volkszählung, Berufsverbote, Lauschangriff, Telefonüberwa
chungen, aber auch die Kritik am § 218, den Lebensbedingungen in Gefäng
nissen und der Psychiatrie.
radikaldemokratisch...
Die HU setzt sich ein für das Recht auf Meinungsfreiheit, Datenschutz und
Akteneinsichtsrecht, mehr direktdemokratische Mitbestimmung, die Gleich
stellung von Frauen und für die Trennung von Staat und Kirche - kurz: für
mehr Selbstbestimmung der Menschen in ihrer sozialen Verantwortung.
unabhängig...
Die HU ist überparteilich und unabhängig, wir finanzieren uns ausschließlich
aus Beiträgen und Spenden. Wir arbeiten mit zahlreichen Menschen- und
Bürgerrechtsorganisationen zusammen, geben mit ihnen jährlich einen alter
nativen Verfassungsschutzbericht (Grundrechte-Report) und die Zeitschrift
vorgänge heraus.