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Fl hbz Aufsatzbestellung NA 3901433 Typ: Online Medea-Nummer: 3301433 Bestelldatum: 23.05.2017 14:27 Eingangsdatum: — 23.05.2017 14:31 Besteller: Landau UB (femleinelandau@ uni-koblenz-landau.de) Universitétsbipliothek Koblenz-Landau Fortstr. 7 Landau ELADIo Sforza, Maria Agustina Kostenibemahme: 8 Lieferart: Ausdruck Abholort: Standort Landau Abholcode: ‘Sforza, Marla Agustina/M314981 Buch/Zeitschrift: Common wealth : das Ende des Eigentums ISBN/ISSN: 978-3-593-391 69-4 3-593-39169-4 Quelle: HBZ ID: HTO16292896 Erscheinungsort: Frankfurt [u.a.} Verlag: Campus-Verl. Autsatztitel DIE MULTITUDE DER ARMEN Aufsatzautor: Michael Harat, Antonio Negri. Jahrgang: 2010 Seltenangabe: 54-70 Lieferant: Bielefeld UB <361> Lieferantencode: 361 Signatur/Standort: Standor 10000012 >1C350 H266< - Lietaranton: [1] Bielefeld UB <301> [2] Disseldorf UuLB <61> [3] Duisburg UB <464> [4] Siegen UB <467> [5] Koblenz RLB <929> {6] Wuppertal UB <468> {7} Monster UuLB <6/A> (8) Bochum BdR (9) Koin USB <38> {10} Monchengladbach HS Niederthen <829> {1} Landau UB LUtheberrachishinnels: Mit de Entgegennahme der Leferung ist der Emplénger verpchte, de gesetachen Urheberrechtsbestimmungen zu beachten, Sforza, Maria Agustina/M314981 a 3. Die Multitude der Armen Ein Gemein-Wesen ist ... die Regierung der groffen Menge der Niederen und Armen, ohne Ritcksicht auf die anderen Stinde. Sir Walter Raleigh, Maxims of State Der Humor und der Witz der Secleute, Deserteure und Verbanncen sind jenscies der kultivierten Plaudereien gepflegter Runden an Mahagonitischen. Das muss so sein. Der Galgenstrick baumele heute unzhligen Millionen am Hals und mic ihrem tonermiidlichen Humor bejahen sie thr Leben und bewahren sie sich ihre geistige Gesundheit angesichts des ihnen stindig drohenden Uncergangs in einer ins Chaos gesclirzten Welt. C.L.R. James, Mariners, Renegades, and Castaways Die Menge oder die Multitude: Die Bezeichnung der Armen Insofern die Republik in ihrer herrschenden Form durch Eigentum definiert ist, steht die Multitude, die Menge, ihr entgegen, und ihr Kennzeichen ist die Armut, Der Konflike sollte allerdings nicht einfach als einer verstanden wer- den, bei dem es um Reichtum und Armut geht, denn zugleich und wichtiger noch stehen sich Formen geschaffener Subjektivitit gegeniiber. Privateigen- tum bringt Subjektiviciten hervor, die gleichzeitig individuell (im Wertbe- werb mit anderen) und Klassensubjektivitat sind, um vereint (gegen die Ar- men) die Eigentumsordnung aufrechtzuerhalten, In den Verfassungen der grofen modernen biirgerlichen Republiken findet sich der Ausgleich zwischen dem Individualismus und den Klasseninteressen des Eigentums vermittele. Die Armut der Multitude nun bezieht sich, so gesehen, nicht auf Elend, Ent- behrung oder Mangel, sondern verweist vielmehr auf die Herausbildung einer gesellschaftlichen Subjektiviedt, deren Resultat ein radikal offener und plu- raler politische Kérper ist, der dem Individualismus und dem ausschlie- Renden, vereinheitlichten gesellschaftlichen Kérper des Eigentums entgegen- steht. Die Armen sind, mit anderen Worten, nicht Menschen, die nichts haben, sondern die vielfiltige Menge all derer, die in die Mechanismen der gesellschaftlichen Produktion eingespannt sind, ungeachtet ihres sozialen Ranges oder ihres Besitzes. (Freilich ist die Auseinandersetzung um den Be- gtiff zugleich eine politische Auscinandersetzung,) Es ist ihre Produktivitic, durch die die Multitude der Armen zu einer wirklichen und tatsichlichen Bedrohung fiir die Republik des Eigentums wird. Die Grundlagen, die es erlauben, das konstitutive Verhaltnis von Multi- tude und Armut in diesem Sinne 2u verstehen, bilden sich im Wesentlichen | Die Muttitupe DER ARMEN 55 im Verlauf der politischen Kampfe heraus, die England im 17. Jahrhundert erlebre. Der Begriff der »Multitude« avanciert damals in populiren politischen Diskursen und Pamphleten zu einer Art Terminus technicus, und er bezeichnet all jene, die zusammenfinden und ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung oder ihres Besitzes cinen politischen Kérper formen.® Es ist leicht nachvoll- zichbar, dass die so verstandene Multitude leczrlich auch die niedersten Schichten der Gesellschaft und die Besitzlosen mit umfasst, sind diese doch am deutlichsten sichtbar Ausgeschlossene, was die herrschenden politischen Kérperschaften anbelangt; doch tatsichlich ist die Menge offen und einbezie- hend, ein gesellschaftlicher Korper, der schrankenlos ist und in dem sich im- mer schon verschiedene gesellschaftliche Schichten und Gruppen mischen. Eine Vorstellung der gesellschafilichen Zusammensetzung dieser kunterbun- ren Menge gibt Nahum Tate 1681 in seiner Adaption des Shakespearesche Kénig Richard II, wenn er die Multitude durch eine Liste von Berufen be- schreibt, als »Schuster, Hufner, Weber, Gerber, Kriimer, Brauer, Schlachter, Bader, und unzihlige andere im lirmenden Durcheinander«.“? Doch selbst Tates vielgestaltige Aufeahlung von Handwerken und Berufen, die sich als Hinweis auf die entstehende Arbeiterklasse deuten lieBe, wird der Multitude nicht gerecht, weder ihrer Natur, die schrankenlos ist, ohne Riicksicht auf Rang oder Eigentum, noch ihrem Potenzial als gesellschaftlicher und poli- tischer Kérper. Die grundlegende Bezichung der Multitude zur Armut wird klarer, wenn wir uns die so genannten Putney Debates des Jahres 1647 anschauen, in denen die Levellers und Teile der New Model Army sich iiber die Natur einer kin tigen Verfassung fiir England und insbesondere iiber die Wahlrechtsfrage aus- einandersetzen. Die Levellers wenden sich nachdriicklich dagegen, das Wahl- recht auf die Besitzer von Eigentum zu beschrinken. Thomas Rainsborough, Oberst und einer der Sprecher der Levellers, verwendet zwar nicht den Aus- druck »Multitudes, doch stellt er in seinen Darlegungen die Armen als einen vielfiltigen und offenen politischen Korper vor: sich glaube fiirwahr, dass der armste Mann in England ein Leben au fidhren hat wie der vornehmste; und deshalb, Sir, denke ich wahrhaftig, dass ein jeder Mann, hat et unter einer Regierung zu leben, auerst durch eigenes Zustimmen sich jener Regierung unterstellen sollte; und daher denke ich auch, dass im strengen Sinne der armste Mann in England in keiner Weise an eine solche Regierung gebunden ist, der sich zu tunterstellen er keine Stimme hatte.«# Rainsborough entwirft in seiner Rede den politischen Kérper ausgehend von einem Extrempunkt, dem er den Namen »der armste Manne gibt; die so Be- 56 REPUBLIK zeichneten freilich sind kein Subjekt, das durch den Mangel beschrinkt oder auch nur definiert ware. Die Multitude der Armen als politischen Kérper un- terscheidet nicht Eigentum; die Menge ist ein vielgestaltiger Kérper, schran- kenlos, sie umfasst auch die von Tate aufgezthlten Handwerker, beschranke sich aber gleichwoh! niche auf sie. Begreift man die Armen als offenen und vielstimmigen politischen Kérper, so spricht das dariiber hinaus, wie Rainsbo- rough feststellr, fiir ein allgemeines (oder zumindest erweitertes) Wahlrecht und fiir eine gleichberechtigte Vertretung ~ oder macht beide sogar erforder- lich, Und tatsiichlich erkennt Henry Ireton, Generalkommissar der Armee und Rainsboroughs wichtigster Widerpart wahrend der Puiney Debates, sofort die Bedrohung, die der Eigentumsordnung aus einer solchen Vorstellung des politischen Subjekts erwichst. Wenn das Wablrecht jedem zusteht, fragt Ire- ton, warum sollte dann nicht auch das gesamte Eigentum jedem austehen? Zweifellos ist genau das die Frage, die sich logischerweise stele. Die Geschichte der Rede von der »Multitude« nachzuzeichnen erweist sich als cine echte philologische Herausforderung, 2umal cs von Seiten der Multi- tude selbst wenig iiberlieferte Zeugnisse politischer Reden und Schriften gibt. Die iiberwiegende Mehrheit der Beziige in den archivierten englischen Texten aus dem 17, Jahrhundert ist negativer Art, geschrieben von jenen, die die Menge zerreiben, verleumden und leugnen wollen. Dem Ausdruck selbst ist fast immer ein abfilliges Attribue beigegeben, um der Anklage mehr Nach- druck 2u verleihen: Die Rede ist dann von einer gesetzlosen Menge, ciner unbesonnenen Menge, einer Menge von Toren und Ahnlichem. So sind, um nur awei prominente Beispiele 2u nennen, Robert Filmer und ‘Thomas Hob- bes bemiiht, nicht nur die Rechte der Multitude 2u leugnen, sondern zugleich ihre bloBe Existenz. Filmer, der sich in seiner Argumentation auf die Heilige Schrift stiitzt, als handelte es sich um historische Zeugnisse, bestreitet eine Auffassung wie die des Kardinal Roberto Bellatmino, wonach der Multitude aufgrund des allgemeinen Naturrechts dic Macht zukomme, in irdischen Dingen zu entscheiden. Eine solche Entscheidungsgewalt, wendet Filmer ein, sei durch natiirliches Recht der Menge nicht gleichermafen gegeben, sondern vielmehr nur Adam, dem Vater, dessen Autoritat rechtmiafig auf die Patri- archen iibergehe, »Denn niemals gab es so etwas wie cine unabhiingige Men- ge, die von Anbeginn ein natiirliches Recht an der Gemeinde hattes, erklart Filmer, »Das ist nichts als eine Mar oder Grille allzu vieler in diesen Tagen.«® Hobbes stellt die Existenz der Multitude aus cher direkt politischen Griinden in Frage. Die Menge sei kein politischer Kérper, behauptet er, und um poli- tisch zu werden, miisse sie zum Volk werden, das durch die Einheit seines Wollens und Handelns definiert ist. Die Vielen miissten, mit anderen Wor- Die Muttitube DER ARMEN 57 ten, auf eine Einheit zuriickgefiihrt werden; das Wesen der Menge selbst sei dabei zu negieren: » Wenn die Menge zu einem politischen Kérper verbunden ist, und sie dadurch ein Volk ... bildet und ihr Wille virtuell in dem des Hert- schers enthalten ist, dann héren die Rechte und Anspriiche der Privaten auf, und er oder sie, welcher oder welche die herrschende Gewalt hat oder haben, fordert und nimme fir alle und jeden unter dem Namen des Seinen in An- spruch das, was sie vorher im Plural das Zbrige nannten.«“ Filmer und Hob- bes sind Vertreter der dominanten Strémung politischer Philosophie im Eng- land des 17. Jahrhunderts, in der sich lediglich ein negatives Bild der Multitude oder cine negative Reaktion auf sie findet. Doch augleich ist die Intensitit solcher Reaktionen ~ die Angst und der Hass, die sich bei Filmer und Hobbes finden — cin Beweis fiir das Potenzial ihres Gegenstandes. Eine weitere mégliche Vorgehensweise, die Politik der Multitude in der politischen Philosophie im England des 17. Jahrhunderts zu untersuchen, be- stehe darin, sich dem Feld der Physik zuzuwenden, denn schlieflich war man damals iiberzeugr, fiir physikalische und politische Kérper wiirden cine Reihe gleicher grundlegender Gesetze gelten. Robert Boyle beispielsweise stellt die unter seinen Zeitgenossen herrschende Sichtweise in Frage, wonach alle exis- tierenden Kérper aus homogenen, einfachen Elementen zusammengesetzt sind, und behauptet stattdessen, in der Natur seien Vielfalt und Verschieden- artigkeit grundlegend. Es gebe »unzahlige Schwarme kleiner Kérper, die hin und her bewegt werdens, dariiber hinaus existierten »Multitudes« von Kor- puskeln, »die danach streben, sich bald mit dem einen Kérper und sogleich mit einem anderen zu assoziierens.7 Alle Kérper sind demnach immer schon gemischte Vielheiten und zudem entsprechend der Logik der Korpuskelasso- ziation permanent fiir weitere Kombinationen offen. Da Boyle davon ausgeht, dass physikalische und politische Korper denselben Gesetzen gehorchen, im- pliziert seine physikalische ‘Theorie der frei sich bewegenden Multitudes un- mittelbar eine Affirmation der politischen Multitude und ihres vielstimmigen Kérpers. Es sollte daher nicht iiberraschen, dass Hobbes, der diese Herausfor- derung versteht, Boyle vehement angreift.® Um die historischen Verbindung awischen physikalischen und politischen Vorstellungen der Multitude weiter zu verfolgen, miissen wir uns itber den Armelkanal nach Holland begeben, Baruch Spinoza wendet sich, was dic Phy- sik anbelangt, wie Boyle gegen jede Eorm des atomistischen Denkens, das von reinen Kérpern ausgeht, und richeet sein Augenmerk stattdessen auf Prozesse der Vermischung und Zusammensetzung. Es ist an dieser Stelle nicht notwen- dig, die Details der erkenntnistheoretischen Unterschiede zwischen Spinoza und Boyle herauszuarbeiten, zwischen einer eher rationalistisch-mechanis- 58 REPUBLIK tischen Auffassung einerseits und korpuskular-experimentellen Vorstellungen andererscits; doch bleibt festzuhalten, dass beide Autoren Natur als etwas be- greifen, das durch die Begegnung elementarer Partikel entsteht und sich 2u- sammensewzt.”” Dieses Sich-Begegnen fiihrt entweder zur Zerseteung und zum Enrstehen kleinerer Kérper oder zur Neuzusammensetzung 7u einem neuen, groReren, In Spinozas Politik ist die Multitude cin in ahnlicher Weise gemischter, komplexer Kérper, der sich nach der gleichen Logik durch clinamen, das heift zufillige Neigung, und Begegnung zusammensetzt. Die Multitude ise dergestalt ein andere einbezichender Kérper, offen dafiir, mit all den anderen Kérpern zusammenzutreffen, und ihr politisches Leben hangt von der Qualia dieser Begegnungen ab, ob sie gliicklich verlaufen und dazu fithren, dass sich michtigere Kérper zusammensetzen, oder ob sie im Gegen- teil traurig ausgehen und die Kérper sich in weniger machtige zersetzen. Die radikale Inklusivitie ist ein Element, das die Multitude bei Spinoza eindeutig als eine der Armen kennzeichnet — die Armen, um es noch einmal 2u sagen, versteht sich hier als nicht auf die Niedrigsten der Gesellschaft beschrankc, sondern offen fiir alle, ungeachtet ihres gesellschaftlichen Ranges und Besitzes. Spinoza schlicKlich ist es, der den bedeutenden und entscheidenden Schritt tut und diese Multitude als das einzig mégliche Subjekt der Demokratie defi- niert.° Um die Verbindung zwischen Multitude und Armut besser zu verstehen, sollten wir nun historisch cin paar Jahrhunderte auriickgehen und das spekta- kulire Auftreten der Multitude der Armen yor den Tribunalen staatlicher und _kirchlicher Behérden im Italien der Renaissance betrachten. Der Bettelorden des Franziskus von Assisi predigt die Tugend der Armut, um der Korruption kirchlicher Macht und der Institution des Privateigentums, die eng zusam- menhingen, gleichermafen entgegenzutreten. Die Franziskaner erachten die Leitsitze aus dem Decretum Gratiani — »nam iure naturae sunt omnia com- munia omnibus« (denn natiirlichem Recht nach sind alle Dinge allen gemein- sam) und »iure divino omnia sunt communia omnibus« (géttlichem Recht nach sind alle Dinge allen gemeinsam) ~ als bindende Vorschriften, die selbst wieder auf den Grundsatz der Kirchenvater und der Apostel zuriickverweisen, auf das »habebant omnia communiae (sie hacten alles gemeinsam) der Apos- telgeschichte (Apg. 2:44), Dariiber entspinnt sich zwischen dem Papsttum und den Franziskanern (und auch innethalb des Franziskanerordens) eine er- bitterte Debatte, in der dic Ereignisse von Putney, die sich drei Jahrhunderte spiter zutragen sollten, ihre Schatten vorauswerfen und in der sich diejenigen, die das Privateigentum hochhalten und somit das vom Naturrecht vorgege- bene Gemeingut negieren, sich gegen die Gruppe der Franziskaner stellen, die Die MuttituDE DER ARMEN 59 daran glaubt, dass eine gute und gerechte Gesellschaft auf Erden einzig auf der Grundlage gemeinsamen Besitzes geschaffen werden kann. Nur cin paar Jahre spiter, 1324 namlich, ist es Marsilius von Padua, der Armut zur einzigen Grundlage nicht nur eines vollkommenen christlichen Lebens, sondern — was uns viel mehr interessiert ~— einer demokratischen Gesellschaft erklart.5! Der Ausdruck »Multitudes selbst findet sich in der Geschichte der Neuzeit in anderen Teilen der Welt nicht in dem technisch-politischen Sinn, den er im England des 17. Jahrhunderts angenommen hat, doch das Gespenst der Mul- titude geht um in der Welt und bedroht die Herrschaft des Eigentums, wo immer es erscheint. Die Menge taucht in den groSen Bauernktiegen des 16. Jahrhunderts auf und sie kampft mit Thomas Miintwer und den Wieder- tufern gogen die deutschen Firsten.*? In den Aufstinden gegen die europi- ischen Kolonialregime, von der Insurrektion unter Tupac Catari gegen die spanische Herrschaft in La Paz im Jahre 1781 bis zur Ethebung in Indien im Jahre 1857 gegen die Herrschaft der British East India Company, stellt die Multitude der Armen dic Republik des Eigentums in Frage. Auch auf den Weltmeeren existiert die Multitude, in den maritimen Produktionsverbalenis- sen sowie in der Zirkulationssphare des Seehandels, und nicht zuletzt in den Banden der Piraten, die dort auf Beutefahrt sind. Das negative Bild ist auch in diesem Fall das am deutlichsten itberlieferte: Die Multitude erscheine darin als eine vielképfige Hydra, die das Bigentum und die Ordnung bedroht.3? Be- drohlich erscheint diese Multitude nicht zuletzt durch ihre Vielfalt; zuzeiten gehéren ihr Seeleute, geflohene Sklaven, Dienstboren, Soldaten, Kaufleute, Gelegenheitsarbeiter, Deserteure, Schiffbriichige, Piraten und zahlreiche an- dere an, die auf den Meeren unterwegs sind, Ihre Bedrohung liegt vor allem aber darin, dass diese Multitude das Eigentum und seine Herrschaftsscruk- turen untergrabt, Die Warnungen der Michtigen und Reichen vor der Hydra, die auf den Meeren ihr Unwesen treibt, sind keine Geschichten oder Mar- chen, sondern vielmehr der Versuch, eine reale und machtige politische Be- drohung in den Griff zu bekommen. Bei Jacques Ranciéte schlieBlich finder sich ein grundlegendes Versténdnis der Politik und des Politischen, das dem sehr nahe kommt, was in den Debat- er die Multitude im 17. Jahrhundert aufscheint. Ranciére macht »als Prinzip der Politik den Kampf zwischen Armen und Reichen« aus oder ge- nauer, wie er weiter ausfiihrt, den Kampf zwischen den »Anteillosene, die bei den Entscheidungen iiber das Gemeinsame aufen vor bleiben, und denen, die es kontrollieren.* Politik existiert in dem Moment, wenn jene, die, wie Ran- cidre sagt, kein Recht dazu haben, gezahlt zu werden, sich dazuzihlen, Der Anteil der Anteillosen, der Part oder die Partei der Armen, ist eine hervorra- ten i 60 RePuBLik gende erste Definition der Multitude, solange wir sofort hinzuftigen, dass die Partei der Armen in keiner Weise der Partei der Reichen homolog ist. Die Parcei der Reichen beansprucht zu Unreche Allgemeinheit, in Gestalt der Re- publik des Eigencums gibt sie vor, die gesamte Gesellschaft 2u reprisentieren; tatsichlich betuhe die falsche Allgemeinheit auf einer exklusiven Identiti, deren Einheit und Homogenitat cinzig durch das Eigencum garantiert sind. Die Partei der Armen hingegen beruhe niche auf der Identitat eines exklusiven Teils der Gesellschaft, sondern sie ist eine Formation al jener, die in die Me- chanismen der gesellschaftlichen Produktion eingespanne sind, ungeachtet ihres Ranges oder Besitzes, in all ihrer Verschiedenheit, und beseelt durch eine offene und plurale Produktion der Subjektivitét. Durch ihre bloBe Existenz stelle die Multitude der Armen eine objektive Gefahr fiir die Republik des Bigentums dar. Wer hasst die Armen? Oft scheint es, als ob alle die Armen hassten. Mit Sicherheit crifft das fiir die Reichen zu, die ihre Abneigung gewohnlich moralisch beminteln, so als ob Armut ein Zeichen selbstverschuldeten Versagens wire, oder sie mitunter auch in Bedauern und Mitleid hiillen. Auch nicht ganz so arme Menschen. hassen die Armen, nicht zulerzt weil sie in ihnen ein Bild dessen sehen, was _schon bald aus ihnen selbst werden kénnte. Hinter dem Hass auf die Armen steht Angst in verschiedenen Formen, stellen die Armen doch eine direkte Gefahr fiir das Eigentum dar — nicht nur, weil es ihnen an Wohlstand fehle und es gar gerechtfertigt sein mag, ihn zu stehlen, wie der edle Jean Valjean es tat, sondern auch, weil sie das Potenzial haben, die Republik des Eigentums. zai untergraben und zu beseitigen. »Es ist die schofle Menge, die wir ausschlie- Sen wollen, und nicht das Volk, erklare Adolphe Thiers vor der franzésischen Nationalversammlung im Jahr 1850. Die Menge sei gefihrlich und miisse durch Gesetzeskraft ferngehalten werden, so Thiers, weil sie umherzieht und es unméglich sei, sie als Einheit zu begreifen, die sich regieren lisst.°° Letztlich sind solche Beispiele des Hasses und der Angst gegen den Strich zu lesen, als eine Affirmation oder zumindest eine Anerkennung der Macht det Armen. Neben der Geschichte der praktischen Versuche, die Armen zu spalten und ihnen die Mittel zu nehmen, die es ihnen erlauben, zu handeln und sich auszudriicken, gibt es cine ahnlich lange Tradition ideologischer Bemiihungen, die Macht der Armen zu bandigen, zu untergraben oder zu leugnen. Interes- Die MuttiTUDE DER ARMEN 61 santerweise haben viele der ideologischen Auscinandersetzungen immer wie- der im Kontext christlicher Theologie und Dogmatik stattgefunden, mégli- cherweise gerade weil die Gefahr, die von den Armen fiir die Herrschaft des Figentums ausgeht, so eng mit der Geschichte des Christentums verbunden ist, Papst Benedikt XVI, beispiclsweise unternimmt es in seiner Enzyklika Deus caritas est aus dem Jahr 2005, den Bezug aufs Neue Testament in Frage zu stellen und die Macht der Armen ideologisch zu mystifizieren. Der Auftrag der Apostel, alle Dinge gemeinsam zu haben, sei, so Benedikt, in der moder- nen Welt nicht aufrechtzuerhalten, und dariiber hinaus sollte nicht die christ- liche Gemeinschaft Fragen der sozialen Gerechtigkeit 2u lésen versuchen, sondern diese Aufgabe dem Staat iiberlassen. Zugleich befiirwortet Benedikt karitative Arbeit zugunsten der Armen und Notleidenden: So bleibt ihnen freilich nur, als Objekte menschlichen Mitleids aufzutreten, als eigenmiachtige Subjekte kommen sie nicht in Betracht, In Benedikts Vorgehen findet sich dabei nichts wirklich Originelles. Er ist lediglich der jiingste Epigone in einer langen Tradition christlicher ideologischer Kreuzziige gegen die Armen.5* Einen Héhepunke - oder Tiefpunkt — erreichen die ideologischen Bemii- hungen, die Macht der Armen zu negieren, in einer kurzen Vorlesung mit dem schlichten Titel »Die Armut«, die Martin Heidegger im Juni 1945 hilt. Der Schauplatz ist dramatisch und bezeichnend. Seit dem Mirz jenes Jahres, als franzdsische Truppen den Rhein iiberquerten, suchen Heidegger und seine Kollegen von der Philosophischen Fakultat der Universitat Freiburg Zuflucht auf Burg Wildenstein, gelegen iiber dem Donaudurchbruch durch die Schwi- bische Alb, und setzen dort den Lehrbetrieb fort. Die Ankunft alliierter Trup- pen auf der Burg steht zu diesem Zeitpunkt unmittelbar bevor, Heidegger ist sich bei der Vorbereitung bewusst, dass die Sowjetarmee bis zur Elbe vorge- riickt ist, Wien kapituliert hat und Berlin sich nicht mehr lange halten wird. Als Ausgangspunkt der Uberlegungen seiner letzten Vorlesung wahlt Heideg- ger einen Satz von Hélderlin, den dieser Ende des 18. Jahrhunderts schrieb, zur Zeit der Franzésischen Revolution: »Es koncentrirt sich bei uns alles auf’s Geistige, wir sind arm geworden, um reich 2a werden.« An der Stelle, an der er den Satz zum ersten Mal zitiert, schreibt Heidegger an den Rand des Ma- nuskeipts: »Warum ich im jetzigen Augenblick der Weltgeschichte fiir uns diesen Spruch zur Erléuterung wahle, mu durch diese selbst klar werden.« Heidegger antwortet im Angesicht dessen, was fiir ihn einer Katascrophe his- torischen Ausmafes gleichkommt — der NS-Staat ist am Ende, Deutschland und das deutsche Volk, wie er sie versteht, ebenfalls und der Kommunismus ist auf dem Vormarsch -, mit einem ontologischen Diskurs tiber die Ar- mut.” 62 REPUBLIK Uncersuchen wir den philosophischen Inhalt der Vorlesung, auch wenn Heidegger schon angedeurer hat, dass sich ihre volle Bedeutung nur ausge- hend von ihrem Augenblick in der Weltgeschichte offenbaren wird. Heideg- ger fihre, seiner gewohnten Vorgehensweise folgend, fort und befrage in Holderlins Satz jeden Ausdruck gesondert: Wen meint Hélderlin mit »unse? Die Antwort ist einfach: uns Deutsche. Was aber denke er, wenn er sagt »das Geistiges? Die Leser Heideggers wird auch hier die Antwort nicht iiberra- schen: Als geistig denkt er die wesentliche ontologische Beziehung, das heiftt den Umstand, dass das Wesen des Menschen durch seine Beziehung zum »Sei- enden, das iste, das Heidegger Seyn nennt, definiert ist. Die Hélderlin’sche Konzentration auf das Geistige, die Akzentuierung des Seyns, ist fiir Heideg- ger Vorbereitung einer ontologischen Lektiire von »arme und »reich« im zwei- ten Teil des Satzes. Armut, so beginnt er, hat nichts mit Besitztiimern zu tun, wie das gewohnlich verstanden wird, wonach Armut ein Zustand des Nicht- Habens ware, ein Entbehren des materiell Notigen. Doch Armut bezieht sich nicht auf Haben, sondern auf Seyn. »Das Wesen der Armut beruht jedoch in einem Seyn. Wahrhaft arm seyn besagt: so seyn, da wir nichts entbehren, es sey denn das Unnotige.«3* An diesem Punkt steht Heidegger kurz davor, zu der banalen Schlussfolgerung zu gelangen, dass Armut durch Not und also Zwang definiert ist, wihrend Reichtum, der das Privileg bietet, sich mit dem Unnétigen zu beschiftigen, zur Freiheit fihig ist. Ganz abgesehen von ihrer Banalitit ist eine solche Konzeption freilich nicht in der Lage, in Hélderlins Formulierung die Kausalitit oder vielmehr Finalitit zu erlducern, die Verbin- dung also zwischen »arm werden« und »reich werdens, Heidegger prisentiert die Lésung, indem er, wie er es oft tut, auf eine ety- mologische Erklirung zuriickgreift. Das althochdeutsche Wort fri, von dem das moderne frei sich ableitet, bedeute so viel wie behiiten oder schonen, er- laube also, etwas in seinem eigenen Wesen beruhen zu lassen. Etwas »freien« bedeuret demnach, so fihrt er fort, sein Wesen zu schonen und vor jeglichem Zwang der Not zu bewahren, Das Befreien der Freiheit kehrt oder forme die Not um: »Dann ist die Notwendigkeit keineswegs, wie alle Metaphysik meine, das Gegenteil der Freiheit, sondern einzig die Freiheit ist in sich die Not- wendigkeit.« Das erlaubt Heidegger, den Spie& umaudrehen. Es ist natiirlich waht, dass die Armen das Unnétige entbehren, das im Mittelpunkt der Frei heit steht. »Was wir entbehren, haben wir nicht, aber das Entbehrte hat uns.« Wir erkennen das in dem Mafe, wie sich valles auf’s Geistige« konzentriert, das heift, auf die Bezichung zum Seyn im Wesen des Menschen. Selbse in der Entbehrung gehéren wir, in gewissem Sinn, durch unsere Bezichung zum Seyn niimlich, der Freiheit des Unndtigen an. »Wenn das Wesen des Men- | Die Muttitupe DER ARMEN 63 schen eigens in der Bezichung des freienden Seyns zum Menschen steht, d.h. wenn das Menschenwesen das Unndtige entbehre, dann ist der Mensch im eigentlichen Sinn arm geworden.«°? Arm werden fihrt dazu, reich zu werden, weil Armut selbst eine Beziehung zum Sey bezeichnet, und in dieser Bezie- hung wendet sich Not in Freiheit, das heifft das Behiiten oder Schonen ihres eigenen Wesens. »Armseyne, schlieRt Heidegger, ist daher in sich schon das Reichsein, Wer nicht mit den Feinheiten der Heidegger’schen Philosophie vertraut ist, wird an dieser Stelle méglicherweise fragen: Warum sollte man solchen Verrenkungen folgen, nur um die Unterscheidung awischen Armut und Reichtum zu verdunkeln? Die Antwort ist, wie Heidegger selbst uns in seiner Randbemerkung zu Anfang mitteilt, in der »weltgeschichtlichen« Situation zu suchen, der et sich gegeniibersicht und zu der insbesondere die bevorstehende Niederlage des Nationalsozialismus und die vorriickenden sowjetischen Trup- pen gehéren. Man erinnert sich, dass Heidegger an anderer Stelle in seinem Werk seinem Antikommunismus ontologisch Ausdruck verleiht. Ein Jahr- zehne zuvor, in seiner Einfilhrung in die Metaphysik, vertrite er die Auffassung, dass, metaphysisch gesehen, die USA und die Sowjetunion tatsichlich dassel- be sind, geeint durch Projekte entfesselter Technik, In seinen Augen handelt es sich eindeutig um Volker, bei denen sich nicht alles aufs Geistige konzen- triert, Doch warum entscheidet sich Heidegger im Juni 1945, die ontolo- gische Stellung der Armut zu untersuchen? Die Antwort scheint zu sein, dass er der Meinung ist, ein bestimmter Begriff von Armut sei dem Kommunismus wesentlich und 2udem verantwortlich fiir dessen Anzichungskraft. Es geht also darum, den Gegner auf seinem eigenen Feld zu bekimpfen. Und tatsich- lich wird Heideggers Kampf gegen den Kommunismus in den letzten Absit- zen der Vorlesung explizit. Arm stcht nicht im Gegensatz zu Reich, wie es seiner Vorstellung nach der Kommunismus behauptet, sondern die wirkliche Bedeutung der Armut lisse sich einzig aus der Perspektive des »Geistigen« entdecken, die die Beziehung des Menschenwesens zum Sein erkennt.° Die damit formulierte Kampfansage an die kommunistische Ideologie ist zweifelsohne ebenso bizatr wie wirkungslos, doch was uns an dieser Stelle mehr interessiert, ist die Art und Weise, in der Heidegger die Macht der Ar- men mystifiziert und den Begriff der Armut unter dem Vorwand, ihn retten zu wollen, letztlich verwirft, Auch wenn die Armen in Heideggers Augen ihre Beziehung zum Sein auszeichnet, bleiben sie in dieser Beziehung vollkommen. passiv, machtlosen Geschépfen im Angesicht eines allmichtigen Gottes ver gleichbar. So betracheet ist Heideggers Versuch iiber die Armen lediglich eine etwas aufwindiger formulierte Version der papstlichen caritas. Die Armen 64 REPUBLIK taugen als Objekte des Mitleids und der GroBherzigkeit, wenn — und nut wenn ~ ihre Macht restlos neutralisiert und ihre Passivitit sichergestellt ist Die Angst vor den Armen aber, die der Schleier der Barmherzigkeic nur gerade so eben verdeckt, ist unmittelbar verbunden mic der Angst vor dem Kommu- nismus (fiir den Papst verkdepert in der Theologie der Befreiung). Heidegger stellt explizit die Verbindung awischen Armut und Kommunis- mus her. Gleichzeitig sollte man nicht vergessen, dass der Hass auf die Armen oft als eine Maske des Rassismus auftritt. In Heideggers Fall lieBe sich eine spekulative Erdreerung vorstellen, ausgehend erwa von den Studien Adornos und anderer iiber den Zusammenhang von autoritarer Persénlichkeit und An- tisemitismus,®! Richten wir unser Augenmerk auf den amerikanischen Konti- nent, so lasst sich fast immer feststellen, dass der Hass auf die Armen einen kaum verhiillten oder verschobenen Rassismus ausdriickt. Armut und »Rasse« sind hier so eng miteinander verkniipft, dass der Hass auf die Armen fast un- yermeidlich mit einer Abneigung gegen »schwarze Kérper« oder mit einem Widerwillen gegen Menschen mit »dunklerer Haute einhergeht. »Rassenun- terschiede und Klassenunterscheidungen sind in diesem Land auf eine Art mit Elend und Verkommenheit vermengt und verschmolzen wordens, schreiben Henry Louis Gates jr. und Cornell West iber die USA, »dass nur wenige noch sagen kénnen, wo das eine aufhért und das andere anfingt«.S? Wo der Hass auf die Armen sich zeigt, sind rassistische Angste und Hass nicht weit. Eine Verbindung, wenn auch weniger offensichtlich, bestehe schlieBlich auch zwischen Heideggers ontologischer Unterordnung der Armen und Carl _Schmitts politischer Theologie, insbesondere seiner Affirmation transzen- denter souver’iner Macht, Zunachst mag eine solche Verbindung kontraintu- iv erscheinen, insistiert Heidegger doch auf dem Ende jeglicher Metaphysikc und weigert sich, das Sein als transzendentes Wesen zu verorten, dem, bezo- gen auf die Ontologie, eine Position zukime, die der det politischen Souveré- nitit bei Schmite analog ware. Der Zusammenhang wird jedoch deutlich, wenn man das andere Ende des Spektrums betrachtet, niimlich beider abwer- tende Haltung, einhergehend mit Angst, der Macht der Immanenz gegen- iiber. Schmitts Begriff der souveriinen Macht und seine theoretische Bezug- nahme auf den Fithrer resultieren aus dem Versuch, die Multitude der Armen, und ihre Macht politisch zu negieren, genau wie Heideggers Analyse sie onto- logisch diskreditiert. In diesem Moment ist es keine Nebensache oder Anek- dote, dass sowohl Schmitt als auch Heidegger das NS-Regime unterstiitzen. Auch wenn es kein Verbot geben kann, von reaktionaren Denkern zu lernen, und tatsichlich rekurrierten in den letzten Jahren viele linke Theoretiker stark auf die Arbeiten Schmitts oder Heideggers, sollte man doch nie vergessen, Die Muttitupe DER ARMEN 65 dass es Reaktionire sind, ein Umstand, der unausweichlich in ihrem Werk zutage trite. ‘Was weder Heidegger noch Schmitt angreifen, jedoch schliche mystifizie- ren und zu verbergen versuchen, ist cine in eine andere Richtung weisende ontologische Bezichung der Armen, die auf der Pihigkeit, Neues zu schaffen, auf der Subjektivitit und auf der Macht der Armen beruht, in die bestehende Wirklichkeit einzugreifen und Sein zu schaffen. Das mag spirituell oder »geis- tige in dem Sinne sein, dass es eine Bezichung zwischen Humanitét und Sein behauptet, doch ist es gleichermafen materiell in seinen kérperlichen, mate- rieli konstruktiven Praktiken, Das ist die ontologische Macht der Armen, die wir au untersuchen haben ~ cine Macht, die im Mitcelpunke einer Vorstellung von Kommunismus steht, die jenscits der Gedankenwele Heideggers und Schmitt liege. Armut und Macht Im Verlauf der groen biirgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhun- derts wird der Begriff der Multitude aus dem Vokabular der Politik und des Rechts eliminiert; damit einher geht ein Verstindnis von Republik, das sie, her res publica als res communis, im engen Sinn als Instrument definiert, des- sen Aufgabe es ist, das Eigentum zu stirken und zu schiitzen. Eigentum ist dabei der Schliissel zur Definition nicht nur der Republik, sondern auch des Volkes. Auch wenn beide Konzepte Universalitit beanspruchen, schlieRen sie in Wahrheit die Multitude der Armen aus. Der Ausschluss der Armen ist der wesentliche Inhalt der begrifflichen Un- terscheidung zwischen Multitude und Volk, die Hobbes trifft. Der Kénig ist das Volk, erklart Hobbes, weil das Volk, im Gegensarz zur Multitude, cine Einheit ist und durch eine Einzelperson reprisentiert werden kann. An der Oberfliche ist die Unterscheidung lediglich geometrischer Art: Das Volk ist Eines (und entspricht insofern der Souverinitat), wohingegen die Multitude viele sind (die »aufgeldste sind, keinen Zusammenhang haben und daher un- fahig sind, sich selbst 2u regieren). Hier findet sich lediglich cine Ubersecung der physikalischen Kérpervorstellungen, die wir oben mit den Entwiirfen von Boyle und Spinoza verglichen haben, sowie cine kleine Erweiterung, in der sich die politischen Konsequenzen andeuten. An dieser Stelle ist allerdings zu fragen, was fiir Hobbes hinter der Einheit des Volkes steht. Im England des 17. Jahthunderts ist es im politischen Diskurs nicht uniiblich, lediglich 66 RepuBLik Freeholder, lehnsfreie Grundbesitzer also, als »das Volk« zu fassen, das heift all jene, die tiber austeichend cigenes (Grund-)Eigentum verfiigen, um bei den Parlamentswahlen wahlberechtigt zu sein, Mit anderen Worten, das Eigen- tum ist der Kite, der das Volk zusammenhiilt und dessen Fehlen verantwort- lich dafir ist, dass die Menge viele sind. Noch deutlicher macht Hobbes, dass die Funktion des Eigentums darin besteht, die Armen aus dem Volk auszu- schlieRen, in seiner Schrift Behemoth. Der einzige Stolz der Kaufleute, schreibt er, »deren Beruf ihr Profit ists, besteht darin, »durch die Kenntnis von Einkauf und Verkauf iibermafig reich zu werden«. Und weiter: »Das heifst, sie veranlassen die Armen, ihnen ihre Arbeit zu ihren eigenen, der Kauf- leute, Preisen zu verkaufen, sodass zum gréten Teil das arme Volk sich durch die Arbcit in Bridewell [einem Zuchthaus] einen besseren Lebensunterhalt hatte verdie- nen kénnen als durch Spinnen, Weben und andere solcher Arbeiten, wie hier Jeisten kénnen.«® Das Fehlen von Eigentum, das die Armen aus dem Volk ausschlie&t, ist fiir Hobbes kein kontingentes Merkmal, sondern eine notwendige und bestiindig reproduzierte Bedingung, die es den Eigentiimern erlaubt, ihr Eigentum zu ethalten und zu vermehren. Die Multitude der Armen ist die wesentliche Sau- le, die das Volk und seine Republik des Eigentums trigt. Niccold Machiavelli zeigt uns die Bezichung von der anderen Seite und beleuchtet den Widerstand, der die Armen beseele. »Zieht uns unsere Kleider aus und ihr werdet uns alle gleich sehen«, schreibt er und legt die Worte einem anonymen Aufrithrer wihrend des Aufstands der ciompi, der florentinischen Wollkimmer, die sich im 14. Jahrhundert gegen den popolo grasso, die reichen Florentiner, erthoben hatten, in den Mund. Und weiter: »Lasst uns ihre Ge- winder anlegen, sie die unsern, so werden wir ohne Zweifel vornehm ausse- hen, sie gemein. Denn Armut und Reichtum bilden den einzigen Unterschied zwischen uns.« Fiir die Armen gebe es keinerlei Veranlassung, wegen der im Verlauf des Aufstands angewandten Gewalt Reue zu zeigen, »denn wer, wie wit, vor Hunger und Kerker sich firchtet, muss und kann um die Halle wenig sich kiimmern«, Treue Knechte, erklart der Redner, seien einfach nur Knechte, und ehrliche Menschen blieben immer arm. Die Zeie sei deshalb reif, sich gegen die Birger aufzulehnen und »nicht nur von ihnen loszukommen, son dern soviel miachtiger zu werden als sie, dass sie euch mehr zu fiirchten und sich zu beklagen haben werden, als ihr bisher iiber sie«.® Im Mittelpunke dieser Passage steht die Aussage, dass Armut nicht eine intrinsische Eigen- schaft der menschlichen Natur ist. In anderen Schriften verfillt Machiavelli allerdings einem Naturalismus der menschlichen Armut und Zerbrechlich- Die MuttituDe DER ARMEN 67 keit, wenn er das Schicksal der Menschheit in einem grausamen und gefiihl losen Universum beklagt, ganz so, wie Lukrez vor ihm und Leopardi nach ihm. » Wir Tiere werden mit einem Kleid geborene, ruft Machiavelli beispiels- weise in dem satirischen Poem Der Eel von 1517 aus, »Nur der Mensch kommt splitternackt zur Welt: / Ohne Fell, ohne Stacheln, ohne Federn, ohne Pelz, / Ohne Borsten oder Schuppen, die ihn schiitzen.«“* Doch diese Linie des traditionellen Realismus, in der sich die Statik des alteren Materialismus weitertragt, stellt Machiavelli nicht zufrieden. Sein Materialismus zielt auf Freude und Glick - und richter sich nicht nur realistisch, sondern zugleich dynamisch und rebellisch, wie im Fall der ciompi, gegen das Eigentum und seine Institutionen, Machiavelli zeigt hier eine ganz grundsaczliche Alternative innerhalb des neuzeitlichen politischen Denkens auf, eine Sichtweise, in der die Armen nicht blof als Rest erscheinen, den die gewaltsame Ancignung durch das ent- stehende Kapital hinterlassen hat, und auch nicht blo als Gefangene der neuen Produktions- und Reproduktionsbedingungen, sondern als eine wider- stindige Kraft, die imstande ist, sich selbst als Ausgebeutete zu erkennen, und zwar in einem Regime, das noch Merkmale des Gemeinsamen trigt, eines gemeinsamen gesellschafilichen Lebens und gemeinsamen gesellschaftlichen Reichtums. Die Armen nehmen, sozial gleichermafen aus- und eingeschlos- sen, eine paradoxe Stellung ein, die cine Reihe gesellschaftlicher Widersprii- che hervorhebt: an erster Stelle Widerspriiche zwischen Armut und Reichtum, doch auch zwischen Subordination und Produktion, zwischen Hierarchie und dem Gemeinsamen. Am bedeutsamsten an der von Machiavelli aufgezeigten Alternative ist jedoch, dass in diesen gesellschaftlichen Widerspriichen eine Dynamik sichebar wird, dass sie erfiille sind von Antagonismen und Wider- stand. Der Schliisse! zu den historischen Arbeiten und politischen Analysen Machiavellis ist die fortschreitende Entwicklung, dic von der Empérung zur Entstehung sozialer Unruhen und Aufstande (tumulti) fihre, was ihn wiede- rum dazu bringt, die Frage nach den Bedingungen fiir die Rebellion der Mul- titude aufeuwerfen, der Menge, die vom Reichtum ausgeschlossen, in seine Produktion jedoch cingeschlossen ist. Die Menschen sind niemals nackt, nie- mals durch das nackte Leben charakterisiert, sondern tragen praktisch immer etwas: neben Geschichten des Leids sind das vor allem die Pihigkeit zur Pro- duktion und das Vermégen zur Rebellion. Spinoza fihrt die Alternative Machiavellis fort und unterstreicht, neben vielen anderen konzeptuellen Weiterentwicklungen, die kérperlichen Aspekte dieses Vermgens. Er stellt nicht nur fest, dass der Kérper der Ore ist, an dem Armut und Bediirfnisse ihren Ausdruck finden, sondern hebt insbesondere 68 REPUBLIK hervor, dass dem Kérper eine Potenzialitat innewohnt, deren Grenzen immer noch unbekannt sind: »Allerdings, was der Kérper vermag, hat bisher noch iemand festgestellt.«©” Spinoza verbinder die beiden Dimensionen, Armut und Potenzialitit, in einer Dynamik, die der Produktion von Gemeinschaft entgegenstrebt. Wenn Spinoza beispielsweise auf das Unwissen der Kinder, auf die Schwiiche unserer Kérper oder die Rohheit der gesellschaftlichen Um- stinde, in denen die Menschen leben, zu sprechen kommt, ist fiir ihn jedes Mal ein Zustand der Armut der Ausgangspunkt fiir eine Logik der Verinde- rung, die durch die Konstruktion von Gesellschaftlichkeit und Liebe aus der Einsamkeit und Hilflosigkeit fibre. Das Vermégen, das Spinoza in den ver schiedenen Formen identifiziert, lisst sich als cine Suche nach dem Gemein- samen beschreiben: In der Epistemologie konzentriert er sich auf die »Ge- meinplitzes, die das Vernunftdenken konstituieren und das Denkvermégen vergrdRern, in der Ethik orientiert er das Handeln auf Gemeingiiter, und auch in der Politik sucht Spinoza nach Mechanismen, die es den singuliren Kér- pern erméglichen, sich 2u gemeinsamer Macht zusammenzusetzen. Das ge- meinsame Vermigen zum Handeln, mit der die Menge gegen die Armut kampft und gemeinsamen Wohlstand schafit, ist fir Spinoza die wichtigste Kraft, auf der die Méglichkeit der Demokratie beruht. Marx geht den Weg noch ein Stiick weiter, bektiftigt aber zuniichst Ma- chiavellis Intuition, dass das Vermégen der Armen im Mittelpunkt der sozi- alen Rebellion steht, ebenso wie die These Spinozas, dass die Macht der Mul- titude fiir die Méglichkeit der Demokratie wesentlich ist. Wie bei den anderen Autoren nehmen Marx’ Uberlegungen ihren Ausgang bei der Armut, um schlieGlich den langen und verschlungenen Prozess der so genannten ur- spriinglichen Akkumulation als Beginn der spezifisch kapitalistischen Form der Armut auszumachen. Durch die Trennung vom Boden und von allen anderen Produktionsmitteln werden die Arbeiter doppelt frei: frei in dem Sinne, dass sie niche linger durch Leibeigenschaft geknechtet sind, doch zu- gleich frei von jedem weiteren Bezug und Mittel, das hei, sie sind ohne Ei- gentum und haben noch nicht einmal das Recht, das Land zu betreten. Das Proletariat entsteht als eine Multitude von Armen, »Das von Arbeitsmitteln und Lebensmitteln entblofte Arbeitsvermogen ist«, schreibt Marx, »die abso- lute Armut als solche, und der Arbeiter ... die bloRe Personifikation desselben ... Er ist als solcher, seinem Begriff nach, Pauper.« Zu den Paupers oder Ar- men, von denen hier die Rede ist, gehdren nicht nur jene, die im Elend und am Rande des Hungertods leben, sondern alle Arbeitenden, deren lebendige “Axbeitskraft von der vergegenstindlichten, als Kapital akkumulierten Arbeit getrennt ist. Doch EnrblaStheit und Armut sind nur eine Seite der Geschich- | | | | Die Muttitupe DER ARMEN 69 te, Wie Machiavelli und Spinoza verkniipft Marx die Armut des Proletariats direkt mit seinem Vermégen, namlich dergestalt, dass die lebendige Arbeit selbst in der kapitalistischen Gesellschaft »dic allgemeine Méglichkeit des stofflichen und die einzige Quelle des Reichtums« ist, Lebendige Arbeit ist demnach zugleich »absolute Armute als Objekt und vallgemeine Méglichkeit« als Subjekt. Marx begreift diese explosive Kombination von Armut und Ver- mégen als ultimative Gefahr fiir das Privateigentum, eine Bedrohung, die in seinem Innersten wichst.®* Einige Leserinnen und Leser mégen an dieser Stelle einwenden, unser Riickgriff auf Begriffe wie »Armute oder »Multitudee fiihre 2u einer hoff- nungslosen Verwitrung marxistischer Kategorien, etwa weil er den Unter- schied 2wischen dem »vorkapitalistischens, durch gewaltsame Enteignung verursachten, und dem im eigentlichen Sinn kapitalistischen Elend verwische, das Lohnarbeit und Ausbeutung hervorbringen. Auf diese Weise wiirden wit Marxens materialistische Methode verraten und seine Klassenanalyse unter- schlagen. Und letztlich werden uns die Kritiker vorhalten, nicht einmal die utopischen Sozialisten hatten Marx’ Analyse der Ausbeutung und den wissen- schaftlichen Sozialismus so durch und durch mystifiziert. Dennoch halten wir daran fest, dass unser Ansatz ebenso materialistisch ist wie traditionelle mar- xistische Untersuchungen; niche zuletze allerdings aufgrund der sich veriin- dernden Natur der Arbeit und der Ausbeutung, auf die wir in den spateren Kapiteln noch detailliert zuriickkkommen werden, wollen wir einige der Grenz- linien ausradieren, die fiir gewohnlich rund um die Arbeiterklasse gezogen werden. Eine wichtige Veriinderung ist beispielsweise, dass Ausbeucung heute immer weniger cine produktive Funktion erfiillt und vielmehr als bloRes Herrschaftsinstrument anzusehen ist. Anders gesagt, wenn gegenwirtig auf vielfailtige Weise in den unterschiedlichsten Zusammenhangen weltweit durch kapitalistische Produktions- und Ausbeutungsverhiltnisse Lebens- und Ar- beitsweisen massiv durchgesetzt werden, die durch Mobilitat, Flexibilicae und Prekarisierung geprigt sind, so geht damit einher, dass Lohnarbeiterinnen und -arbeiter wie auch Arme Bedingungen unterworfen sind, die niche linger qualitative Unterschiede aufweisen, sodass alle gleichermafen ur Multitude det Produzenten gehéren. Die Armen, ob sie fiir Lohn arbeiten oder nicht, stehen nicht auerhalb des historischen Ursprungs oder der geografischen Grenzen der kapitalistischen Produktion, sie befinden sich heute zunehmend in ihrem Zentrum — und damit tritt die Multitude der Armen in den Mittel- punke des Projekts revolutionarer Verinderung.

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