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Alain Robbe-Grillet

Djinn
Ein rotes Loch
im lückenhaften Pflaster
Roman
Aus dem Französischen
von Elmar Tophoven

Suhrkamp Verlag
Titel der Originalausgabe:
Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints.

© 1982 by Les Editions de Minuit, Paris


Zweite Auflage 1984
© der deutschsprachigen Ausgabe
Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1983
Alle Rechte vorbehalten
Satz: LibroSatz, Kriftel
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany

scan by párduc ö 2002


Djinn
Prolog

Es gibt gar nichts — ich meine kein einziges entschei-


dendes Beweisstück —, das es irgend jemandem er-
laubte, die Erzählung von Simon Lecœur der Gattung
reiner Romandichtungen zuzuordnen. Man kann hin-
gegen behaupten, daß viele wichtige Elemente dieses
wechselvollen, lückenhaften oder gleichsam brüchigen
Textes die Wirklichkeit (und zwar die allen bekannte
Wirklichkeit) mit einer bemerkenswerten und folglich
verwirrenden Eindringlichkeit wiedergeben. Und
wenn andere Bestandteile der Erzählung entschieden
von ihr abweichen, so geschieht dies jeweils in so
verdächtiger Weise, daß man nicht umhinkann, darin
eine systematische Absicht des Erzählers zu erkennen,
so als habe eine verborgene Ursache ihre Abwandlun-
gen und Erfindungen bestimmt.
Eine solche Ursache entzieht sich freilich unserer
Kenntnis, wenigstens jetzt noch. Entdeckten wir sie,
so wäre die ganze Angelegenheit dadurch auf einmal
aufgeklärt... Man darf es jedenfalls annehmen.
Über den Autor selbst wissen wir wenig. Seine wahre
Identität ist schon problematisch. Niemand wußte, ob
er einen entfernten oder nahen Verwandten hatte. Man
entdeckte nach seinem Verschwinden bei ihm zuhause
einen französischen Paß auf den Namen Boris Koer-
shimen, Elektronik-Ingenieur, geboren in Kiew. Die
zuständigen Stellen der Polizeipräfektur versichern je-
doch, daß es sich bei diesem Ausweis um eine grobe
Fälschung handele, die vermutlich ausländischer Her-
kunft sei. Das Foto darin scheint allerdings, laut allen

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Zeugen, wirklich ein Bild des jungen Mannes zu sein.
Was den angegebenen Familiennamen betreffe, so sei
dabei irgendeine typische ukrainische Klangfolge
kaum erkennbar. Er hatte sich übrigens in einer ande-
ren Schreibweise und mit anderem Vornamen ins Re-
gister der Amerikanischen Schule in der Rue de Passy*
eintragen lassen, wo er seit einigen Monaten Unter-
richt in modernem literarischem Französisch erteilte,
nämlich als »Robin Körsimos, genannt Simon Le-
cœur«. Es würde sich diesmal also eher um einen Un-
garn oder einen Finnen handeln, oder vielleicht sogar
um einen Griechen; diese letztere Vermutung jedoch
könne durch das Aussehen dieses hochgewachsenen
jungen Mannes mit ganz blondem Haar und hellgrü-
nen Augen nur widerlegt werden. Es muß schließlich
noch darauf hingewiesen werden, daß seine Kollegen
in der Schule, ebenso seine Schüler (in der Mehrzahl
Mädchen), ihn nur mit dem Namen »Yann« anredeten,
den sie Jan schrieben, wenn sie ihm kurze, den Unter-
richt betreffende Mitteilungen zukommen ließen; kei-
ner von ihnen hat je sagen können, warum.
Der Text, der uns beschäftigt — neunundneunzig mit
doppeltem Zeilenabstand getippte Seiten —, lag ganz
auffällig auf seinem Arbeitstisch (in dem bescheidenen
möblierten Zimmer, das er in der Rue d'Amsterdam 21
gemietet hatte), neben einer klapprigen Schreibma-
schine, die, laut Gutachten von Sachkundigen, tatsäch-
lich die Maschine ist, die zum Tippen benützt wurde.
Allerdings liege die Entstehungszeit dieser Arbeit
mehrere Wochen, vermutlich sogar mehrere Monate

* Ecole franco-américaine de Paris (E.F.A.P.), 56, rue de Passy, 75016.

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zurück; und auch hier könne somit das Nebeneinander
von Maschine und Papierbögen das Ergebnis einer
Inszenierung, einer Vortäuschung falscher Tatsachen
sein, die von diesem ungreifbaren Individuum ausge-
heckt worden wäre, um seine eigenen Spuren zu ver-
wischen.
Beim Lesen seiner Erzählung hat man zunächst den
Eindruck, es mit einem für den Französischunterricht
bestimmten Schulbuch zu tun zu haben, von denen es
wahrscheinlich Hunderte gibt. Das planmäßige Zu-
nehmen grammatikalischer Schwierigkeiten der fran-
zösischen Sprache ist da in der Aufeinanderfolge der
acht Kapitel von zunehmender Länge unschwer zu
erkennen, die im großen ganzen den acht Wochen
eines amerikanischen Universitätstrimesters entspre-
chen würden. Die Verben werden dort gemäß der
klassischen Ordnung der vier Konjugationen einge-
führt, wobei sogar im Falle der zweiten eine deutliche
Gegenüberstellung von Verben mit und ohne inchoa-
tivem Infix erfolgt. Die Zeitformen und Aussagewei-
sen sind ebenso vortrefflich geordnet worden, da das
Präsens des Indikativs, der Konjunktiv Imperfekt, das
zweite Futur und der Konditionalis in strenger Gliede-
rung aufeinander folgen. Das gleiche gilt für den Ge-
brauch der rückbezüglichen Fürwörter, deren kompli-
zierte Formen erst spät auftauchen. Wie üblich, sind
die wechselbezüglichen und idiomatischen Verben
zum größten Teil dem Ende vorbehalten.*

* Unsere Mutmaßung wird übrigens dadurch bestätigt, daß diese acht Kapitel
kürzlich in einem Schulbuch-Verlag jenseits des Atlantiks erschienen sind, und
zwar bei Holt, Rimbart and Wimton, CBS Inc. 383 Madison Ave, New York N. Y.
70017.

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Nichtsdestoweniger unterscheidet sich der anekdoti-
sche Inhalt dieser Seiten erheblich von dem absichtlich
belanglosen Stoff, dem man im allgemeinen in ähn-
lichen Schulbüchern begegnet. Der Wahrscheinlich-
keitsgrad der Geschehnisse ist hier fast immer zu nied-
rig im Vergleich mit den Regeln des herkömmlichen
Realismus. Es ist darum auch nicht abwegig, in dieser
vorgeblichen Bestimmung zu Lehrzwecken ein bloßes
Alibi zu sehen. Hinter diesem Alibi muß etwas anderes
stecken. Aber was?
Es folgt nun der vollständige Wortlaut des fraglichen
Textes. Oben auf dem ersten Bogen steht der schlichte
Titel: Das Rendez-Vous.
1. Kapitel

Ich treffe pünktlich zur festgesetzten Zeit ein: um sechs


Uhr dreißig. Es ist schon beinahe dunkel. Der Lager-
schuppen ist nicht verschlossen. Ich gehe hinein, in-
dem ich die Tür, die kein Schloß mehr hat, aufstoße.
Drinnen ist es ganz still. Bei genauerem Horchen ver-
nimmt das aufmerksame Ohr lediglich ein kurzes, hel-
les, regelmäßiges Geräusch aus geringer Entfernung:
Wassertropfen, die aus irgendeinem schlecht zuge-
drehten Hahn in eine Wanne, eine Schüssel oder nur
eine Lache auf dem Boden fallen.
Im schwachen Tageslicht, das durch die breiten Fen-
ster mit schmutzigen, zum Teil zerbrochenen Scheiben
dringt, unterscheide ich mit Mühe die Dinge um mich
herum, die überall in großer Unordnung neben- und
übereinanderstehen und wahrscheinlich außer Ge-
brauch sind: alte, ausrangierte Maschinen, Metallge-
stelle und verschiedenartige Eisenschrottstücke, denen
Staub und Rost einen schwärzlichen, gleichmäßigen,
matten Farbton geben.
Als meine Augen sich ein wenig an das Halbdunkel
gewöhnt haben, bemerke ich endlich den Mann mir
gegenüber. Er steht regungslos da, hat beide Hände in
den Taschen seines Regenmantels und schaut mich
wortlos an, ohne mich auch nur andeutungsweise zu
grüßen. Der Mensch trägt eine schwarze Brille, und ein
Gedanke geht mir durch den Kopf: er ist vielleicht
blind ...
Groß, schlank und allem Anschein nach jung, lehnt er
mit einer Schulter lässig an einem Stapel Kisten ver-

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schiedenen Formats. Von seinem Gesicht zwischen
dem hochgeschlagenen Kragen des Trenchcoats und
der über die Stirn hinuntergezogenen Hutkrempe ist
der Brille wegen nur wenig zu sehen. Das Ganze erin-
nert einen unausweichlich an irgendeinen alten Krimi-
nalfilm aus den dreißiger Jahren.
Fünf oder sechs Schritt von dem Mann entfernt ste-
hend, der starr wie eine Bronzestatue verharrt, sage
ich, nun selber regungslos, deutlich (wenn auch mit
leiser Stimme) die kodierten Kennworte: »Monsieur
Jean, nehme ich an? Mein Name ist Boris. Ich komme
wegen der Anzeige.«
Und dann wieder: bloß das regelmäßige Geräusch von
Wassertropfen in der Stille. Sollte dieser Blinde auch
noch taub und stumm sein?
Nach mehreren Minuten kommt endlich die Antwort:
»Sagen Sie nicht Jean, sondern Djinn. Ich bin Ameri-
kanerin.«
Meine Überraschung ist so groß, daß ich sie kaum
überspielen kann. Es ist tatsächlich die Stimme einer
jungen Frau: eine melodische, warme Stimme mit dun-
keltönenden Schwingungen, die ihr etwas Sinnlich-
Intimes verleihen. Sie berichtigt jedoch nicht die An-
rede mit »Monsieur«, die sie gelten zu lassen scheint.
Ein Anflug von Lächeln huscht über ihre Lippen. Sie
fragt: »Mißfällt es Ihnen, unter dem Kommando eines
Mädchens zu arbeiten?«
Es liegt etwas Herausforderndes im Ton ihrer Frage.
Aber ich beschließe unverzüglich, darauf einzugehen.
»Nein, Monsieur«, sage ich, »im Gegenteil.« Es bleibt
mir ohnehin nichts anderes übrig.

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Djinn scheint es nicht eilig zu haben, weiterzuspre-
chen. Sie beobachtet mich aufmerksam und unnach-
sichtig. Vielleicht hat sie keine gute Meinung von
meinen Fähigkeiten. Ich fürchte mich vor dem Urteil,
das am Ende der Prüfung gefällt wird: »Sie sind ein
ganz hübscher Kerl«, sagt sie, »aber für einen Franzo-
sen sind Sie zu groß.«
Ich muß beinahe lachen. Diese junge Ausländerin ist
vermutlich noch nicht lange in Frankreich, und sie ist
hier mit Klischeevorstellungen angekommen. »Ich bin
Franzose«, sage ich als eine Art Rechtfertigung.
»Darum geht es nicht«, sagt sie entschieden nach einem
Schweigen.
Sie spricht französisch mit einem leichten, bezaubern-
den Akzent. Ihre singende Stimme und ihr zwitteriges
Aussehen beschwören in mir das Bild der Schauspiele-
rin Jane Frank herauf. Ich mag Jane Frank. Ich sehe
mir alle ihre Filme an. Aber ach, wie sagte noch »Mon-
sieur« Djinn, darum geht es nicht.
So verweilen wir noch ein paar Minuten und mustern
uns gegenseitig. Aber es wird immer dunkler. Um
meine Verlegenheit zu verbergen, frage ich: »Worum
geht es denn?«
Djinn, die zum ersten Mal entspannt zu sein scheint,
deutet Janes entzückendes Lächeln an. »Es ist unbe-
dingt nötig«, sagt sie, »daß Sie in der Öffentlichkeit
nicht auffallen.«
Ich habe große Lust, ihr Lächeln zu erwidern und ihr
dabei etwas Schmeichelhaftes über ihre Person zu sa-
gen. Ich wage es nicht: sie ist der Chef. Ich begnüge
mich damit, in eigener Sache zu sprechen: »Ein Riese

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bin ich nicht.« Ich bin nämlich kaum einsachtzig groß,
und sie ist selbst nicht klein.
Sie fordert mich auf, näher an sie heranzutreten. Ich
gehe fünf Schritte auf sie zu. Aus geringer Entfernung
gesehen, ist ihr Gesicht von seltsamer Blässe und wäch-
serner Regungslosigkeit. Ich fürchte mich fast, noch
näher heranzutreten. Ich starre auf ihren Mund ...
»Noch näher«, sagt sie. Diesmal gibt es keinen Zweifel:
ihre Lippen bewegen sich nicht, wenn sie spricht. Ich
gehe noch einen Schritt weiter und lege die Hand auf
ihre Brust.
Es ist weder eine Frau noch ein Mann. Ich habe eine
Puppe aus Kunststoff für Modeschaufenster vor mir.
Mein Irrtum läßt sich durch die Dunkelheit erklären.
Das hübsche Lächeln von Jane Frank ist nur meiner
Phantasie zuzuschreiben.
»Fassen Sie getrost hin, wenn es Ihnen Spaß macht«,
sagt voller Ironie die bezaubernde Stimme von Mon-
sieur Djinn und hebt so die Lächerlichkeit meiner
Situation hervor. Woher kommt diese Stimme? Die
Töne kommen wahrscheinlich nicht aus der Puppe
selber, sondern aus einem genau daneben versteckten
Lautsprecher.
Ich werde also von irgendeinem unsichtbaren Wesen
überwacht. Das ist sehr unangenehm. Ich habe das
Gefühl, tölpelhaft, bedroht, schuldig zu sein. Das
Mädchen, das zu mir spricht, mag ebensogut mehrere
Kilometer von mir entfernt sitzen; und es betrachtet
mich auf seinem Fernsehschirm wie ein Insekt in der
Falle. Ich bin sicher, daß es sich über mich lustig
macht.

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»Am Ende des Mittelgangs«, sagt die Stimme, »ist eine
Treppe. Steigen Sie hinauf in den zweiten Stock. Hö-
her gehen die Stufen nicht.« Ich bin froh, meine leblose
Puppe verlassen zu dürfen, und führe die Anweisun-
gen erleichtert aus.
Im ersten Stock angelangt, sehe ich, daß die Treppe
hier endet. Es ist also eine im amerikanischen Sinne
zweite Etage. Das bestärkt mich in der Meinung, daß
Djinn nicht in Frankreich wohnt.
Ich befinde mich nun auf einem weiträumigen Spei-
cher, der genauso aussieht wie das Erdgeschoß: die
gleichen schmutzigen Verglasungen und die gleiche
Anordnung der Gänge zwischen den Anhäufungen
aller möglichen Dinge. Nur ist es ein wenig heller.
Ich blicke nach rechts und nach links, auf der Suche
nach einem Menschen in diesem Durcheinander aus
Pappe, Holz und Eisen.
Plötzlich habe ich den verwirrenden Eindruck einer
Szene, die sich wie in einem Spiegel wiederholt: mir
gegenüber, fünf oder sechs Schritt entfernt, steht die
gleiche regungslose Person in ihrem Regenmantel mit
hochgeschlagenem Kragen, der schwarzen Brille und
dem Filzhut mit in die Stirn hinabgezogenem Rand,
das heißt, eine zweite große Puppe, die genaue Nach-
bildung der ersten, in gleicher Haltung.
Ich nähere mich, diesmal, ohne zu zögern und strecke
den Arm vor ... Zum Glück halte ich rechtzeitig in
meiner Bewegung inne: das Ding hat gerade gelächelt,
und zwar hier ganz unbestreitbar, wenn ich nicht
wahnsinnig bin. Diese falsche Wachspuppe ist eine
echte Frau.

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Sie nimmt die linke Hand aus der Tasche und hebt ganz
langsam ihren Arm, um meinen abzuwehren, der we-
gen meiner Überraschung regungslos ausgestreckt
blieb.
»Faß das nicht an«, sagt sie, »es ist vermint!« Es ist
genau dieselbe Stimme mit demselben sinnlichen Reiz
und demselben Bostoner Akzent; nur daß sie mich
nunmehr mit ausgesprochener Frechheit duzt.
»Entschuldige bitte«, sage ich, »ich bin ein Idiot.«
Sofort nimmt sie ihren strengen, keinen Widerspruch
duldenden Ton wieder an: »Um der vorgeschriebenen
Ordnung willen«, sagt sie, »mußt du mich immer sie-
zen.«
»O.K.«, sage ich, ohne meine augenscheinliche gute
Laune aufzugeben. Dieses ganze Theater beginnt je-
doch, mir auf die Nerven zu gehen. Djinn stellt sich
wahrscheinlich absichtlich so an, denn sie fügt nach
kurzer Überlegung hinzu: »Und sag nicht O.K., das ist
sehr vulgär, vor allem im Französischen.«
Ich möchte diese unerquickliche Unterredung schnell
beenden: nach einem derartigen Empfang habe ich ja
nichts zu erhoffen. Aber gleichzeitig übt dieses kesse
junge Mädchen eine seltsame Anziehungskraft auf
mich aus. »Vielen Dank«, sage ich, »für den Franzö-
sischunterricht.«
Als erriete sie meine Gedanken, sagt sie daraufhin: »Du
hast keine Möglichkeit, uns zu verlassen. Es ist zu spät,
der Ausgang wird bewacht. Ich stelle dir Laura vor, sie
ist bewaffnet.«
Ich wende mich wieder der Treppe zu. Ein anderes
Mädchen in genau der gleichen Kleidung, mit schwar-

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zer Brille und Schlapphut steht da auf der obersten
Stufe und hat die Hände tief in den Taschen ihres
Regenmantels.
Die Haltung ihres rechten Arms und die Verformung
ihrer Tasche verleihen der Drohung eine gewisse
Wahrscheinlichkeit: diese junge Person richtet auf
mich einen hinter dem Stoff versteckten, großkalibri-
gen Revolver ... Oder aber, sie tut nur so als ob.
»Hello, Laura. Wie geht es Ihnen?« sage ich im besten
nüchternen Srillerstil. »Wie geht es Ihnen«, beteuert
sie echohaft auf typisch angelsächsische Art. Sie ist in
der Organisation ohne besonderen Rang, da sie mich
siezt.
Ein absurder Gedanke kommt mir in den Sinn: Laura
ist nur die leblose Puppe aus dem Erdgeschoß, die mir
die Treppe hinauf gefolgt ist und mir nun wieder
gegenübersteht.
In der Tat sind die Mädchen nicht mehr so wie früher.
Sie spielen heute Gängstär wie die Jungens. Sie orga-
nisieren Räckits. Sie machen Holdapps und Karate. Sie
vergewaltigen die wehrlosen Jünglinge. Sie haben Ho-
sen an ... Das Leben ist unmöglich geworden.
Djinn meint wahrscheinlich, daß Erklärungen not-
wendig sind, denn sie setzt gerade zu einer längeren
Rede an: »Du verzeihst hoffentlich unsere Methoden.
Wir sind unbedingt genötigt, so zu arbeiten: Auf der
Hut sein vor möglichen Feinden, die Treue der neuen
Freunde überwachen; kurzum, stets unter Beachtung
strengster Vorsichtsmaßregeln verfahren, wie du so-
eben gesehen hast.«
Dann, nach einer Pause, redet sie weiter: »Unsere Ak-

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tion ist geheim, notwendigerweise. Sie ist mit großen
Gefahren für uns verbunden. Du wirst uns helfen. Wir
werden dir präzise Anweisungen geben. Es ist uns
jedoch, am Anfang jedenfalls, lieber, dir weder den
eigentlichen Sinn deiner Aufgabe noch den allgemei-
nen Zweck unserer Unternehmung mitzuteilen. Und
zwar aus Gründen der Wachsamkeit, aber auch der
Wirksamkeit.«
Ich frage sie, was geschieht, falls ich mich weigere. In
der Tat läßt sie mir keine Wahl: »Du brauchst Geld.
Wir zahlen. Also bist du ohne Widerrede einverstan-
den. Es ist zwecklos, Fragen zu stellen oder Kommen-
tare zu geben. Du tust, was wir von dir verlangen!
Punktum!«
Ich liebe die Freiheit. Ich bin gern verantwortlich für
meine Handlungen. Ich möchte begreifen, was ich
tue ... Dennoch erkläre ich mich mit diesem sonder-
baren Handel einverstanden.
Weder die Angst vor dem imaginären Revolver treibt
mich dazu, noch ein so dringender Bedarf an Geld ...
Es gibt noch viele andere Möglichkeiten, sich seinen
Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man jung ist.
Warum also? Aus Wißbegierde? Aus Übermut? Oder
aus einem dunkleren Grund?
Jedenfalls habe ich, wenn ich frei bin, das Recht zu tun,
was ich möchte, selbst gegen bessere Einsicht.
»Du denkst an etwas, das du verheimlichst«, sagt
Djinn. — »Ja«, sage ich. — »Und was ist das?« — »Es hat
nichts mit der Arbeit zu tun.«
Djinn nimmt daraufhin ihre schwarze Brille ab und läßt
ihre hübschen, blassen Augen bewundern. Dann

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gönnt sie mir endlich das entzückende Lächeln, das ich
seit dem Anfang erhoffe. Und, auf das vorschrifts-
mäßige Duzen verzichtend, flüstert sie mit ihrer wei-
chen, warmen Stimme: »Und nun werden Sie mir sa-
gen, was Sie denken.«
»Der Kampf der Geschlechter«, sage ich, »ist die Trieb-
kraft der Geschichte.« "
2. Kapitel

Als ich wieder allein bin und schnellen Schritts durch


die Straßen gehe, die nun durch Laternen und Schau-
fenster hell erleuchtet sind, stelle ich in mir einen
wahren Stimmungswechsel fest: eine ganz neue Leich-
tigkeit bringt meinen Körper zum Tanzen, bewegt
meine Gedanken und läßt die geringsten Dinge um
mich herum farbig erscheinen. Es ist nicht mehr die
vage, gleichgültige Unbekümmertheit von heute mor-
gen, sondern eine Art Glück, ja, sogar Begeisterung,
ohne bestimmten Grund ...
Wirklich ohne Grund? Warum es nicht zugeben?
Meine Begegnung mit Djinn ist selbstverständlich die
Ursache dieser bemerkenswerten, plötzlichen Ver-
wandlung. In jedem Augenblick, bei allen möglichen
Gelegenheiten denke ich an sie. Und ihr Bild, ihre
Gestalt, ihr Gesicht, ihre Gesten, ihre Art sich zu
bewegen, ihr Lächeln endlich, sind in mir allzu gegen-
wärtig: es ist ganz bestimmt nicht meine Aufgabe, der
körperlichen Erscheinung meines Arbeitgebers soviel
Aufmerksamkeit zu widmen.
Ich betrachte die Läden (ziemlich häßlich in diesem
Viertel), die Passanten, die Hunde (gewöhnlich hasse
ich Hunde) mit Vergnügen, ja, mit Wohlwollen. Ich
möchte singen, losrennen. Ich sehe Fröhlichkeit in
allen Gesichtern. Im allgemeinen sind die Leute dumm
und trübsinnig. Heute sind alle von einer unerklärli-
chen Anmut angerührt.
Meine neue Arbeit ist sicherlich anregend: sie hat etwas
Abenteuerliches, ja, sogar noch etwas mehr: etwas

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Liebesabenteuerliches ... Ich war immer romantisch
und schwärmerisch, das ist sicher. Es ist also wichtig,
diesbezüglich besonders achtzugeben. Meine allzu leb-
hafte Phantasie kann dazu führen, daß ich mich beim
Urteilen irre und mir beim Handeln sogar schwerwie-
gende Schnitzer leiste.
Plötzlich taucht eine Einzelheit, die ich vergessen
hatte, wieder in meinem Gedächtnis auf: es wird von
mir erwartet, daß ich in der Öffentlichkeit nicht auf-
falle. Djinn hat es gesagt und mehrmals mit Nachdruck
wiederholt. Ich tue jedoch genau das Gegenteil: gewiß
fällt allen meine fröhliche Überschwenglichkeit auf.
Meine Hochstimmung sinkt deshalb um mehrere
Grade.
Ich gehe in ein Café und bestelle einen schwarzen
Express. Die Franzosen mögen nur italienischen Kaf-
fee; der »französische« Kaffee ist ihnen nicht stark
genug. Aber am schlechtesten schmeckt ihnen der
amerikanische ... Warum denke ich an Amerika? We-
gen Djinn, schon wieder! Es geht mir allmählich auf
die Nerven.
Paradox ist, daß man in Frankreich, um nicht aufzufal-
len, einen italienischen Espresso bestellt. Gibt es das
überhaupt, »die Franzosen« oder »die Amerikaner«?
Die Franzosen sind so, und nichts anders ... Die Fran-
zosen essen dies, und nicht das ... Die Franzosen
kleiden sich auf diese Weise, sie bewegen sich auf diese
Art... Was das Essen betrifft, so mag dies vielleicht
noch stimmen, allerdings immer weniger. Über der
Theke an der Wand ist eine Preisliste angebracht; ich
lese: hot-dog, pizza, sandwiches, rollmops, merguez ...

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Der Kellner bringt eine kleine Tasse sehr schwarzer
Flüssigkeit mit zwei, in einem einzigen weißen Papier
zusammengewickelten Zuckerstückchen und stellt sie
vor mich auf den Tisch. Dann geht er wieder und
nimmt dabei ein benutztes Glas mit, das auf einem
anderen Tisch stehengeblieben war.
Ich entdecke nun, daß ich nicht der einzige Gast in
diesem Lokal bin, das jedoch leer war, als ich es betrat.
In meiner Nähe sitzt eine junge Dame, anscheinend
eine Studentin, die eine rote Jacke trägt und in die
Lektüre eines dicken Lehrbuchs der Medizin vertieft
ist.
Während ich sie beobachte, scheint sie zu ahnen, daß
mein Blick auf ihr ruht, und sie schaut zu mir herüber.
Ich denke voller Ironie: es ist soweit, ich kriege eine
schlechte Note, ich bin aufgefallen! Die Studentin be-
trachtet mich schweigend, eine ganze Weile, so als sähe
sie mich nicht. Dann führt sie ihren Blick wieder zu-
rück zu ihrem Buch.
Aber ein paar Sekunden später schaut sie mich wieder
prüfend an, und diesmal sagt sie in neutralem Ton mit
einer Art ruhigen Selbstsicherheit: »Es ist fünf nach
sieben. Sie werden zu spät kommen.« Sie hat nicht
einmal auf ihre Armbanduhr geschaut. Ich blicke un-
willkürlich auf meine. Es ist tatsächlich fünf nach sie-
ben. Und ich muß um Viertel nach sieben an der Gare
du Nord sein.
Dieses junge Mädchen ist also eine Spionin, die von
Djinn an meiner Strecke eingesetzt wurde, um meine
fachliche Zuverlässigkeit zu überwachen. »Arbeiten
Sie mit uns?« sage ich nach kurzer Überlegung. Und,

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da sie weiter schweigt, frage ich noch: »Wie kommt es,
daß Sie über mich so gut unterrichtet sind? Sie wissen,
wer ich bin, wohin ich gehe, was ich zu tun habe und
wann es zu geschehen hat. Sie sind also eine Freundin
von Djinn?«
Sie mustert mich kühl, womöglich sogar streng, denn
sie erklärt schließlich: »Sie reden zuviel.« Und sie ver-
tieft sich wieder in ihre Arbeit. Nach einer Weile sagt
sie, ohne ihren Blick von der Lektüre zu lösen, deutlich
und ziemlich langsam ein paar Worte, wie zu sich
selbst. Sie scheint eine schwierige Stelle in ihrem Buch
zu entziffern: »Die Straße, die Sie suchen, ist die dritte
rechts, wenn Sie auf der Avenue weitergehen.«
Wahrhaftig, dieser Schutzengel hat recht: wenn ich
noch länger diskutiere, werde ich mit Verspätung ein-
treffen. »Ich danke Ihnen«, sage ich, wobei ich meine
Unabhängigkeit durch einen übertrieben feierlichen
Gruß bekunde. Ich erhebe mich, begebe mich zur
Theke, begleiche meine Rechnung und öffne die ver-
glaste Tür.
Von draußen her werfe ich einen Blick zurück in den
großen, strahlend erleuchteten Raum, in dem sich nie-
mand außer der jungen Person mit der roten Jacke
befindet. Sie liest nicht mehr. Sie hat den dicken Band
auf dem Tisch zugeklappt und schaut mir, ohne die
geringste Verlegenheit zu zeigen, mit ruhiger, harter
Miene nach.
Trotz meiner Lust, das Gegenteil zu tun, um meine
Freiheit zu beweisen, setze ich meinen Weg in der
richtigen Richtung fort, auf der Avenue, inmitten der
Menge von Männern und Frauen, die von der Arbeit

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heimkehren. Sie sind jetzt nicht mehr sorglos und
sympathisch. Nunmehr bin ich davon überzeugt, daß
alle mich überwachen. Bei der dritten Kreuzung gehe
ich nach rechts in eine menschenleere, düstere schmale
Straße.
Frei von jeglichem Autoverkehr sowie von parkenden
Wagen, lediglich hier und da durch veraltete Straßen-
laternen mit gelblichem, flackerndem Licht beleuchtet
und — wie es scheint — sogar von ihren Bewohnern
verlassen, bildet diese bescheidene Nebenstraße einen
krassen Kontrast zu der großen Avenue, aus der ich
gerade gekommen bin. Die Häuser sind niedrig (höch-
stens einstöckig) und ärmlich, ohne erleuchtete Fen-
ster. Es gibt hier übrigens vor allem Lagerhallen und
Werkstätten. Der Boden ist uneben, mit Steinen in
altmodischer Weise gepflastert, in sehr schlechtem Zu-
stand, mit Pfützen schmutzigen Wassers in den Vertie-
fungen.
Ich traue mich nicht weiter in diese enge, langge-
streckte Gasse, die so wie eine Sackgasse aussieht: trotz
des Halbdunkels erkenne ich eine Mauer ohne Durch-
gang, die anscheinend das andere Ende absperrt. Und
doch trug ein blaues Schild da, wo sie anfängt, den
Namen einer echten Straße, das heißt, einer mit dop-
peltem Zugang: »Rue Vercingétorix III«. Ich wußte
nicht von einem dritten Vercingétorix, nicht einmal
von einem zweiten ...
Wenn ich es recht bedenke, so gibt es am Ende viel-
leicht eine Passage nach rechts oder links. Aber das
Fehlen jedweden Wagens ist beunruhigend. Bin ich
wirklich auf dem rechten Wege? Ich hatte eigentlich

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vor, durch die nächste Straße zu gehen, die ich gut
kenne. Ich bin sicher, daß sie beinahe ebenso schnell
zum Bahnhof führt. Nur das Eingreifen der Medizin-
studentin hat mich dazu gebracht, diese angebliche
Abkürzung zu benützen.
Die Zeit drängt. Meine Anwesenheit im Nordbahnhof
ist schon in weniger als fünf Minuten fällig. Dieses
einsame Gäßchen kann eine lohnende Zeitersparnis
bedeuten. Es ist jedenfalls bequem, um schnell voran-
zukommen: kein Fahrzeug oder Fußgänger stört einen
auf dem Wege, und es gibt auch keine Kreuzungen.
Da das Risiko (ein wenig aufs Geratewohl, leider)
eingegangen wurde, brauche ich nur die Füße mit
Bedacht auf die begehbaren Stellen der bürgersteig-
losen Fahrbahn zu setzen, wo ich möglichst weite
Schritte mache. Ich gehe so schnell, daß ich zu fliegen
glaube, wie in den Träumen.
Ich kenne zur Zeit noch nicht den eigentlichen Sinn
meiner Aufgabe: sie besteht lediglich darin, einen be-
stimmten Reisenden, dessen genaue Beschreibung ich
im Kopf habe, ausfindig zu machen. Er kommt in Paris
mit dem Zug aus Amsterdam um 19h 12 an. Dann
führt mich eine unauffällige Beschattung dieser Person
bis zu ihrem Hotel. Das ist alles, vorerst. Ich hoffe,
bald das weitere zu erfahren.
Ich bin noch nicht an der Hälfte der endlosen Straße
angelangt, als plötzlich, zehn Meter vor mir, ein Kind
auf sie stürmt. Es kommt von rechts aus einem Haus,
das etwas höher als die Nachbarhäuser ist, und über-
quert die Fahrbahn, so schnell es seine jungen Beine
tragen.

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In vollem Lauf stolpert es über einen holperigen Pfla-
sterstein und fällt in eine Pfütze schwärzlichen
Schlamms, ohne dabei einen Schrei von sich zu geben.
Es rührt sich nicht mehr, liegt der Länge nach auf dem
Bauch, mit nach vorn ausgestreckten Armen.
Nach wenigen weiten Schritten bin ich bei dem re-
gungslosen kleinen Körper. Ich drehe ihn behutsam
herum. Es ist ein Junge von etwa zehn Jahren, sonder-
bar gekleidet: wie ein Knabe aus dem vorigen Jahrhun-
dert, mit seinen unter den Knien durch lange, grobe
Strümpfe eng umspannten Hosenbeinen und einem
weiten Kittel, der ziemlich kurz ist und in der Taille
von einem breiten Ledergürtel zusammengehalten
wird.
Seine Augen stehen weit offen; aber die Augäpfel be-
wegen sich nicht. Der Mund ist nicht geschlossen, die
Lippen beben ein wenig. Die Gliedmaßen sind weich
und schlaff, ebenso wie der Hals; sein ganzer Körper
gleicht einer Stoffpuppe.
Zum Glück ist er nicht in den Schlamm gefallen, son-
dern genau auf den Rand des Lochs voll schmutzigen
Wassers. Dieses scheint, bei näherer Betrachtung,
schmierig zu sein. Es sieht braun aus, beinahe rot, nicht
schwarz. Eine unbegreifliche Bangigkeit durchdringt
mich plötzlich. Jagt mir die Farbe dieser unbekannten
Flüssigkeit Angst ein? Oder was sonst?
Ich schaue auf meine Uhr. Es ist neun nach sieben. Von
nun an ist es nicht mehr möglich, bei der Ankunft des
Zuges aus Amsterdam am Bahnhof zu sein. Mein gan-
zes Abenteuer, das heute morgen begonnen hat, ist also
schon zu Ende. Ich bin jedoch nicht imstande, dieses

26
verletzte Kind im Stich zu lassen, nicht einmal aus
Liebe zu Djinn ... Wenn schon! Die Ankunft des
Zuges habe ich jedenfalls versäumt.
Eine Tür zu meiner Rechten steht weit offen. Der
Junge kommt aus diesem Haus, daran besteht kein
Zweifel. Es gibt jedoch keinerlei sichtbares Licht drin-
nen, weder im Erdgeschoß noch im ersten Stock. Ich
hebe den in meinen Armen liegenden Körper des Jun-
gen auf. Er ist außerordentlich mager und leicht wie
ein Vogel.
In der trüben Helle der nahen Straßenlaterne kann ich
sein Gesicht besser sehen: er hat keine offensichtliche
Verletzung, er ist ruhig und schön, aber außergewöhn-
lich blaß. Sein Schädel ist vermutlich auf einen Pflaster-
stein geprallt, und er ist noch ohnmächtig von der
Erschütterung. Er ist allerdings nach vorn gefallen,
mit ausgestreckten Armen. Der Kopf ist also nicht auf
dem Boden aufgeschlagen.
Ich überschreite die Schwelle des Hauses mit meiner
schmächtigen Last auf den Armen. Ich gehe vorsichtig
durch einen langen, rechtwinklig zur Straße verlaufen-
den Gang voran. Alles ist finster und still.
Ohne auf einen anderen Ausgang gestoßen zu sein —
auf eine Innentür oder eine Gangabzweigung —, ge-
lange ich zu einer Holztreppe. Ich meine, einen schwa-
chen Schimmer im ersten Stock zu gewahren. Ich
steige mit langsamen Schritten hinauf, denn ich fürchte
mich, zu stolpern oder an irgendein unsichtbares Hin-
dernis zu stoßen, sei es mit den Beinen oder mit dem
Kopf des immer noch leblosen Knaben.
Auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks sind zwei

27
Türen. Die eine ist geschlossen, die andere ein wenig
geöffnet. Daher kommt eine fragwürdige Helle. Ich
drücke mit dem Knie den Türflügel auf und betrete ein
weiträumiges Zimmer mit zwei Fenstern zur Straße.
Es gibt keine Beleuchtung in dem Raum. Es ist ledig-
lich das Licht der Straßenlaternen, das von draußen
durch die vorhanglosen Fenster dringt; es reicht, um
die Umrisse der Möbel zu erkennen: einen einfachen
Holztisch, drei oder vier nicht zueinander passende
Stühle mit mehr oder weniger durchgesessenen Sitzflä-
chen, ein spanisches Eisenbett und eine große Anzahl
Reisekoffer verschiedener Formen und Größen.
Auf dem Bett liegt eine Matratze, aber da sind weder
Laken noch Decken. Ich lege das Kind mit allem nur
möglichen Zartgefühl auf dieses dürftige Lager. Es ist
immer noch bewußtlos und gibt kein Lebenszeichen
von sich, außer einer sehr schwachen Atmung. Sein
Puls ist beinahe nicht zu spüren. Aber seine großen,
offengebliebenen Augen glänzen im Halbdunkel.
Ich suche mit den Augen nach einem Knopf, einem
Schalter oder irgend etwas anderem, um Licht zu ma-
chen. Aber ich sehe nichts Derartiges. Ich stelle darauf-
hin fest, daß es in dem ganzen Raum keine einzige
Lampe gibt, keine Deckenampel, Stehlampe oder
nackte Glühbirne.
Ich kehre wieder auf den Treppenabsatz zurück und
rufe, zuerst mit halber Stimme, dann lauter. Keinerlei
Antwort dringt an meine Ohren. Das ganze Haus ist in
tiefstes Schweigen getaucht, als sei es verlassen. Ich
weiß nicht mehr, was ich tun soll. Ich bin selbst verlas-
sen, außerhalb der Zeit.

28
Dann führt ein plötzlicher Gedanke meine Schritte zu
den Fenstern des Zimmers: wohin wollte das Kind bei
seinem kurzen Lauf? Es überquerte die Fahrbahn, von
einer Seite zur anderen, auf geradem Wege. Es wohnt
demnach vielleicht gegenüber.
Aber auf der anderen Straßenseite gibt es kein Haus:
nur eine lange Backsteinmauer ohne erkennbaren
Durchgang. Etwas weiter links ist eine Bretterwand in
schlechtem Zustand. Ich gehe wieder zur Treppe und
rufe abermals, immer noch vergebens. Ich höre das
Klopfen meines eigenen Herzens. Ich habe diesmal den
sehr starken Eindruck, daß die Zeit stillsteht.
Ein leichtes Knarren im Zimmer ruft mich wieder zu
meinem Kranken. Kurz vor dem Bett angekommen,
stutze ich und weiche unwillkürlich zurück: der Junge
liegt genauso da wie vorhin, aber nun ruht ein großes
Kruzifix auf seiner Brust, ein Kreuz aus dunklem Holz
mit silbernem Christus, das von den Schultern bis zur
Taille reicht.
Ich schaue nach allen Seiten. Es ist niemand da, nur der
ausgestreckt daliegende Knabe. Ich vermute also zu-
nächst, daß er selber der Urheber dieser grausigen
Inszenierung ist: er täuscht eine Ohnmacht vor, aber,
sobald ich ihm den Rücken gekehrt habe, bewegt er
sich. Ich beobachte aus nächster Nähe sein Gesicht; die
Züge sind ebenso starr wie bei einer Wachsfigur, und
die Gesichtsfarbe ist ebenso fahl. Er sieht wie eine
liegende Figur auf einem Grabstein aus.
In diesem Augenblick stelle ich, den Kopf hebend, fest,
daß ein zweites Kind da ist, das auf der Schwelle des
Zimmers steht: ein kleines Mädchen, etwa sieben bis

29
acht Jahre alt, verweilt regungslos im Türrahmen. Die
Kleine starrt mich an.
Woher kommt sie? Wie ist sie hierhergekommen? Kei-
nerlei Geräusch hat ihr Nahen angekündigt. In der
zweifelhaften Helle erkenne ich nichtsdestoweniger
deutlich ihr altmodisches Kleid mit einem enganlie-
genden Mieder und einem weiten, gekräuselten, bau-
schigen, aber steifen Rock, der bis auf die Knöchel
hinabfällt.
»Guten Tag«, sage ich, »ist deine Mama da?«
Die Kleine starrt mich weiterhin schweigend an. Die
ganze Szene ist derart unwirklich, schemenhaft, ver-
steinert, daß meine eigene Stimme sonderbar falsch in
meinen Ohren klingt, ja, sozusagen unwahrscheinlich
in dem verzauberten Raum, dem ungewöhnlichen,
blauen Licht...
Da nichts anderes übrigbleibt, als noch ein paar Worte
auf gut Glück zu sagen, bringe ich mit großer Mühe
diesen simplen Satz hervor:
»Dein Bruder ist hingefallen.«
Meine Silben fallen ebenfalls, ohne eine Antwort oder
ein Echo hervorzurufen, wie zwecklose, ihres Sinnes
beraubte Dinge. Und es tritt wieder Stille ein. Habe ich
wirklich gesprochen? Kälte, Unempfindlichkeit und
ein Gefühl der Lähmung ergreifen allmählich Besitz
von meinen Gliedern.
3. Kapitel

Wie lange hat der Bann gedauert?


Die Kleine entschließt sich plötzlich und kommt, ohne
etwas zu sagen, festen Schrittes auf mich zu. Ich mache
eine riesige Anstrengung, um aus meiner Erstarrung
aufzutauchen. Mit der Hand streiche ich mehrmals
über meine Stirn und über meine Augenlider. Es ge-
lingt mir schließlich, an die Oberfläche zu gelangen.
Allmählich komme ich wieder zur Besinnung.
Zu meiner Verblüffung sitze ich nun auf dem Strohge-
flecht eines Stuhls am Kopfende des Bettes. Neben mir
schläft der Junge immer noch, auf dem Rücken lie-
gend, mit offenen Augen und dem Kruzifix auf der
Brust. Es gelingt mir, ohne allzu große Mühe aufzu-
stehen. Die Kleine hält einen goldglänzenden Messing-
leuchter vor sich; darin stecken drei erloschene Ker-
zen. Sie bewegt sich wie eine Spukgestalt, lautlos glei-
tend, weil sie Hausschuhe mit Filzsohlen anhat.
Sie stellt den Kerzenleuchter auf den Stuhl, von dem
ich gerade aufgestanden bin. Dann macht sie die drei
Kerzen nacheinander an, ganz behutsam, indem sie
jedesmal ein neues Streichholz entzündet, sein Flämm-
chen nach Benützung wieder auspustet und dann den
geschwärzten Holzrest wieder in die Schachtel legt,
dies alles mit größtem Ernst.
Ich frage: »Wo gibt es hier ein Telefon? Wir wollen
einen Arzt für deinen Bruder rufen.«
Die Kleine schaut mich herablassend an, so wie man es
bei einem Gesprächspartner tut, der unmaßgeblich
oder unverständig ist.

31
»Jean ist nicht mein Bruder«, sagt sie. »Und der Dok-
tor nützt nichts, denn Jean ist tot.«
Sie spricht bedächtig, wie eine Erwachsene, ohne kind-
liche Formulierungen. Ihre Stimme klingt melodisch
und sanft, verrät jedoch keine Gemütsbewegung. Ihre
Gesichtszüge gleichen sehr denen des ohnmächtigen
Jungen, sie sehen freilich weiblicher aus.
»Heißt er Jean?« sage ich. Die Frage erübrigt sich;
aber plötzlich überkommt mich die Erinnerung an
Djinn, und ich bin wieder ganz verzweifelt. Es ist nun
schon später als sieben Uhr dreißig. Die Angelegenheit
ist also wohl vorbei ... oder vielmehr übel vorbei. Die
Kleine zuckt die Schultern:
»Das ist doch klar«, sagt sie. »Wie soll er denn sonst
heißen?« Dann fügt sie immer noch mit der gleichen,
ernsten und vernünftigen Miene hinzu: »Er ist gestern
schon mal gestorben.«
»Was erzählst du da? Wenn man stirbt, dann für im-
mer.«
»Nein, nicht Jean!« behauptet sie so steif und fest, daß
ich fühle, wie unsicher ich werde. Gleichwohl lächele
ich innerlich bei dem Gedanken an den sonderbaren
Anblick, den wir beide bieten, und an die unsinnigen
Äußerungen, die wir machen. Ich beschließe jedoch
auf das Spiel einzugehen:
»Stirbt er oft?«
»Zur Zeit ja, ziemlich oft. Sonst lebt er tagelang, ohne
zu sterben.«
»Und dauert das lange?«
»Eine Stunde vielleicht, oder eine Minute, oder ein
Jahrhundert. Ich weiß nicht, ich habe keine Uhr.«

32
»Erwacht er ganz allein vom Tode? Oder mußt du ihm
dabei helfen?«
»Manchmal kommt er von selber wieder zu sich. Mei-
stens, wenn ich sein Gesicht wasche; die Letzte Ölung,
wissen Sie.«
Jetzt komme ich erst auf das, was womöglich dahinter-
steckt: der Junge leidet vermutlich unter häufigen
Ohnmachtsanfällen, die wahrscheinlich nervöser Na-
tur sind; das kalte Wasser auf seiner Stirn wirkt als
Reizmittel, um ihn wiederzubeleben. Ich kann aller-
dings diese Kinder nicht vor dem Erwachen des Kran-
ken verlassen.
Das Flammenlicht der Kerzen läßt sein Gesicht nun
rosig erscheinen. Wärmere Schimmer zeichnen wei-
chere Schatten um Mund und Nase. In den Augäpfeln,
die ebenfalls von dieser neuen Helligkeit beleuchtet
werden, spiegelt sich der flackernde Kerzenschein, der
die Starrheit des Blickes löst.
Die Kleine im weißen Kleid setzt sich rücksichtslos
aufs Bett, zu Füßen der angeblichen Leiche. Unwill-
kürlich mache ich eine Bewegung, um den Jungen vor
Stößen, die sie dem Metallbett versetzen könnte, zu
bewahren. Sie wirft mir dafür einen verächtlichen
Blick zu.
»Tote leiden nicht. Das dürfte Ihnen bekannt sein. Die
sind nicht einmal hier. Sie schlafen in einer anderen
Welt, mit ihren eigenen Träumen ...« Tiefere Schwin-
gungen dämpfen den Klang ihrer Stimme, die nun
sanfter und entfernter tönt und mir zuflüstert: »Oft
schlafe ich neben ihm, wenn er tot ist; wir entschwin-
den gemeinsam zum Paradies.«

33
Ein Gefühl der Leere, eine übermäßige Angst befallen
wieder einmal meinen Geist. Weder mein guter Wille
noch meine Anwesenheit sind zu irgend etwas nütze.
Ich will hinaus aus diesem Spukzimmer, das meinen
Körper und Verstand schwächt. Falls ich ausreichende
Erklärungen bekomme, gehe ich sofort. Ich wieder-
hole meine erste Frage:
»Wo ist deine Mama?«
»Sie ist fort.«
»Wann kommt sie wieder?«
»Sie kommt nicht wieder«, sagt die Kleine.
Ich wage es nicht mehr, weiterzufragen. Ich ahne ir-
gendein schmerzliches, verborgenes Familiendrama.
Um das Thema zu wechseln, sage ich:
»Und dein Papa?«
»Der ist gestorben.«
»Wie oft?«
Sie schaut mich ganz erstaunt, mit mitleidigen und
vorwurfsvollen Augen an, denen es im Nu gelingt, mir
ein schlechtes Gewissen zu verschaffen. Nach einer
langen Pause ist sie endlich bereit, zu erklären:
»Sie reden dummes Zeug. Wenn einer stirbt, dann ein
für allemal. Das wissen sogar die Kinder.« Was ja
logisch ist, das läßt sich nicht leugnen.
Ich bin nun genausoweit wie vorher. Wie können diese
Kinder hier ganz allein wohnen, ohne Vater und Mut-
ter? Sie leben vielleicht anderswo, bei den Großeltern
oder bei Freunden, die sie aus Barmherzigkeit bei sich
aufgenommen haben. Aber sich mehr oder weniger
selbst überlassen, laufen sie den ganzen Tag bald hier-
hin, bald dahin. Und dieser verlassene Bau, der weder

34
Strom noch Telefon hat, ist nur der Ort, wo sie am
liebsten spielen. Ich frage:
»Wo wohnt ihr, dein Bruder und du?«
»Jean ist nicht mein Bruder«, sagt sie, »er ist mein
Mann.«
»Und du wohnst mit ihm in diesem Haus?«
»Wir wohnen, wo wir wollen. Übrigens, wenn Sie
unser Haus nicht mögen, warum sind Sie dann gekom-
men? Wir haben niemanden um etwas gebeten.«
Im Grunde hat sie recht. Ich weiß selbst nicht, was ich
hier tue. Ich rekapituliere die Lage: eine falsche Medi-
zinstudentin lenkt mich von meinem Weg ab in eine
kleine Straße, durch die ich gar nicht gehen wollte; ich
sehe einen Buben, der genau vor mir über die Straße
rennt; er fällt und wird ohnmächtig; ich trage seinen
Körper zur nächsten Zufluchtsstätte; dort hält mir eine
rechthaberische, geheimnisvolle kleine Göre Reden,
die weder Hand noch Fuß haben, über Abwesende und
Tote.
»Wenn Sie sein Porträt sehen wollen, es hängt an der
Wand«, sagt meine Gesprächspartnerin abschließend.
Wie hat sie erraten, daß ich wieder an ihren Vater
denke?
An dem Stück Wand zwischen den Fenstern, auf das
sie mit der Hand weist, enthält ein kleiner Ebenholz-
rahmen tatsächlich die Photographie eines etwa drei-
ßigjährigen Mannes in der Uniform eines Marineunter-
offiziers. Ein geweihter kleiner Buchsbaumzweig
steckt hinter dem schwarzen Holz.
»War er bei der Marine?«
»Das ist doch klar.«

35
»Ist er auf See gestorben?«
Ich bin sicher, daß sie wieder »Das ist doch klar« sagen
und dabei beinahe unmerklich die Schultern zucken
wird. Aber ihre Antworten enttäuschen eigentlich im-
mer wieder meine Erwartungen. Und wie eine Grund-
schullehrerin, die einen Schüler verbessert, begnügt sie
sich diesmal damit, nur zu berichtigen »Auf See umge-
kommen«, was der richtige Ausdruck ist, wenn es sich
um einen Schiffbruch handelt.
Es ist jedoch kaum vorstellbar, daß solche Richtigstel-
lungen aus dem Munde eines so kleinen Kindes kom-
men können. Und ich habe auf einmal den Eindruck,
daß sie eine Lektion aufsagt.
Unter das Photo hat eine Hand säuberlich geschrieben:
»Für Marie und Jean, ihr lieber Papa.« Ich wende mich
halb der Göre zu:
»Heißt du Marie?«
»Das ist doch klar. Wie soll ich denn sonst heißen?«
Während ich mir das Porträt genau ansehe, ahne ich
plötzlich eine Falle. Aber schon redet die Kleine wei-
ter:
»Und du heißt Simon. Da ist ein Brief für dich.«
Eben ist mir ein weißer Umschlag aufgefallen, der ein
wenig unter dem Buchsbaumzweig hervorlugt. Ich
habe also nicht die Zeit, über die erstaunlichen Verän-
derungen im Verhalten Maries nachzudenken: sie duzt
mich und kennt meinen Vornamen.
Ich fasse den Brief vorsichtig mit zwei Fingern an und
ziehe ihn, ohne die Buchsbaumblättchen zu beschädi-
gen, aus seinem Versteck. Luft und Licht lassen diese
Art Papier schnell vergilben. Es ist, wie mir in der

36
trüben Beleuchtung scheint, weder vergilbt noch ver-
blaßt. Es ist bestimmt noch nicht lange hier.
Auf dem Umschlag steht der vollständige Name des
Adressaten: »Monsieur Simon Lecœur, genannt Bo-
ris«, das heißt, nicht nur mein richtiger Name, sondern
auch der Deckname, den die Organisation, in der ich
erst ein paar Stunden arbeite, mir gegeben hat. Und,
was noch merkwürdiger ist, die Schrift stimmt in jeder
Hinsicht (gleiche Tinte, gleiche Feder, gleiche Hand)
mit den Schriftzügen der Widmung auf der Photogra-
phie des Matrosen überein ...
Aber in diesem Moment ruft die Kleine lauthals hinter
mir: »Es ist soweit, Jean, du kannst erwachen. Er hat
die Mitteilung gefunden.«
Ich drehe mich rasch um und sehe, wie der leblose
Bub sich plötzlich aufrichtet und sich mit baumeln-
den Beinen auf den Matratzenrand neben seine begei-
sterte Schwester setzt. Beide klatschen gleichzeitig
in die Hände und schütteln sich vor Freude auf
dem Metallbett, das unter ihrem Gelächter wohl eine
Minute lang wackelt. Ich komme mir ganz idiotisch
vor.
Dann ist Marie ebenso unvermittelt wieder ernst. Der
Junge ahmt sie bald nach; er hört — scheint mir — auf
diese Göre, die unverkennbar jünger ist als er, aber
auch pfiffiger. Sie läßt mich daraufhin wissen:
»Jetzt bist du unser Papa. Ich bin Marie Lecœur. Und
der hier ist Jean Lecœur.«
Sie springt auf den Boden, um ganz feierlich auf ihren
Komplizen zu zeigen, während sie mir gegenüber
einen Knicks macht. Dann läuft sie bis zur Tür am

37
Treppenabsatz; da drückt sie wahrscheinlich auf einen
Knopf (außerhalb des Raumes), denn im Nu wird das
ganze Zimmer von sehr hellem Licht erfüllt, wie ein
Theatersaal am Ende eines Aktes.
Die zahlreichen Lampen, altmodische, vogelförmige
Wandleuchten, sieht man eigentlich recht gut; wenn sie
jedoch nicht eingeschaltet sind, können sie unbemerkt
bleiben. Marie ist leichtfüßig und lebhaft zum Bett
zurückgekehrt, wo sie sich dicht wieder an die Seite
ihres großen Bruders gesetzt hat. Sie sagen einander
allerlei ganz leise ins Ohr.
Dann schauen sie mich wieder an. Sie sehen jetzt auf-
merksam und artig aus. Sie wollen die Fortsetzung
sehen. Sie sitzen im Zuschauerraum, und ich bin auf
der Bühne, wo ich ein unbekanntes Stück spiele, das
ein Ausländer für mich geschrieben hat... Oder viel-
leicht eine Ausländerin?
Ich öffne den Umschlag, der nicht zugeklebt ist. Er
enthält einen zweimal zusammengefalteten Bogen Pa-
pier. Ich falte ihn behutsam auseinander. Die Schrift ist
wieder die gleiche, zweifellos die eines Linkshänders,
oder, genauer, die einer Linkshänderin. Mein Herz
hüpft, als ich die Unterschrift sehe ...
Ich begreife aber plötzlich auch besser den Grund für
mein spontanes Mißtrauen, vorhin, angesichts der
handschriftlichen, sich nach links neigenden Buchsta-
ben unter dem schwarzumrahmten Porträt: nur sehr
wenige Leute in Frankreich schreiben mit der linken
Hand, vor allem in der Altersklasse dieses Seemanns.
Der Brief ist freilich nicht gerade ein Liebesbrief. Aber
ein paar Worte, das ist schon viel, erst recht, wenn sie

38
von einer Person kommen, die man gerade für immer
verloren hatte. Ich bin nun voller Schwung und lese,
vor meinem jungen Publikum stehend, den Inhalt des
Briefes laut vor, wie ein Schauspieler auf der Bühne:
»Der Zug aus Amsterdam war eine falsche Fährte, die
den Zweck hatte, jeden Verdacht zu zerstreuen. Die
eigentliche Aufgabe beginnt hier. Nun, da ihr euch ken-
nengelernt habt, werden die Kinder dich dahin führen,
wohin ihr zusammen gehen sollt. Viel Glück.«
Die Unterschrift ist »Jean«, das heißt Djinn, daran ist
nicht zu zweifeln. Aber ich verstehe nicht ganz den
Satz über den Verdacht. Wessen Verdacht? Ich falte
das Papier zusammen und stecke es wieder in den
Umschlag. Marie klatscht kurz in die Hände. Mit eini-
ger Verzögerung tut Jean das gleiche, allerdings ohne
begeistert zu sein.
»Ich habe Hunger«, sagt er. »Tot sein macht müde.«
Die beiden Kinder kommen dann auf mich zu, und
jedes erfaßt entschieden eine Hand von mir. Ich lasse es
mir gefallen, da es den Anweisungen entspricht. Wir
verlassen so zu dritt zunächst das Zimmer und dann
das Haus, wie eine Familie, die einen Spaziergang
machen will.
Das Treppenhaus und der Gang im Erdgeschoß,
ebenso wie der Treppenabsatz im ersten Stock, strah-
len nun ebenfalls dank starken Glühbirnen in glänzen-
dem Licht. (Wer hat es bloß eingeschaltet?) Da Marie
beim Fortgehen weder den Strom ausschaltet noch die
Haustür abschließt, frage ich nach dem Grund. Ihre
Antwort ist nicht verblüffender als alles andere an
dieser Situation:

39
»Das macht nichts«, sagt sie, »da Jeanne und Joseph da
sind.«
»Wer sind Jeanne und Joseph?«
»Nun ja, Joseph ist Joseph, und Jeanne ist Jeanne.«
Ich beende selber ihren Satz: »... das ist doch klar.«
Sie zieht mich an der Hand zur großen Avenue, wobei
sie flott vorangeht oder manchmal auf einem Bein von
einem holperigen Pflasterstein zum anderen hüpft.
Jean hingegen läßt sich ein wenig mitschleppen. Nach
ein paar Minuten wiederholt er:
»Ich habe großen Hunger.«
»Es ist seine Abendessenszeit«, sagt Marie. »Man muß
ihm was zu essen geben. Andernfalls wird er wieder
sterben; und wir haben keine Zeit mehr, Sterben zu
spielen.«
Nach diesen letzten Worten bricht sie in ein kurzes,
grelles, etwas beunruhigendes Lachen aus. Sie ist völ-
lig verrückt, wie die meisten Kinder, die allzu vernünf-
tig sind. Ich frage mich, wie alt sie wohl sein mag. Sie
ist klein und zart, aber sie ist womöglich mehr als acht
Jahre alt.
»Marie, wie alt bist du?«
»Es ist doch unhöflich, Damen nach ihrem Alter aus-
zufragen.«
»Sogar in deinem Alter?«
»Das ist doch klar. Es ist keine Frage des Alters, wann
man anfängt, höflich zu sein.«
Sie hat diese Sentenz in belehrendem Ton ohne das
geringste verständnisinnige Lächeln ausgesprochen.
Ist sie sich der Unsinnigkeit ihrer Folgerungen bewußt
oder nicht? Sie ist nach links in die Avenue eingebogen

40
und zieht Jean und mich hinter sich her. Ihr Schritt, der
ebenso entschieden wie ihr Charakter ist, regt einen
nicht gerade dazu an, Fragen zu stellen. Sie jedoch
bleibt plötzlich stehen, um, streng zu mir hinauf-
blickend, folgende Frage zu formulieren:
»Kannst du überhaupt lügen?«
»Manchmal, wenn es nötig ist.«
»Ich lüge sehr gut, sogar wenn es unnötig ist. Wenn
man notgedrungen lügt, hat das weniger Wert, das ist
doch klar. Ich kann einen ganzen Tag verbringen,
ohne etwas Wahres zu sagen. Ich habe sogar einen
Preis fürs Lügen bekommen, in der Schule, voriges
Jahr.«
»Du lügst«, sage ich. Aber meine schlagfertige Ant-
wort bringt sie keinen Augenblick aus der Fassung. Sie
redet unbeirrt und seelenruhig weiter:
»Im Logik-Unterricht machen wir dieses Jahr Übun-
gen im Lügen zweiten Grades. Wir studieren auch die
Lüge ersten Grades mit zwei Unbekannten. Und
manchmal lügen wir mehrstimmig, das ist sehr aufre-
gend. In der Oberklasse nehmen sie die Lüge zweiten
Grades mit zwei Unbekannten und die Lüge dritten
Grades durch. Das muß schwierig sein. Ich wollte, es
wäre schon nächstes Jahr.«
Dann geht sie ebenso unvermittelt wieder voran. Der
Junge jedoch macht den Mund nicht auf. Ich frage:
»Wohin gehen wir?«
»Ins Restaurant.«
»Haben wir dafür noch Zeit?«
»Das ist doch klar. Was hat man dir in dem Brief
geschrieben?«

41
»Daß du mich dahin führen wirst, wohin ich gehen
soll.«
»Also: da ich dich zum Restaurant führe, mußt du eben
zum Restaurant gehen.«
Das ist in der Tat unwiderlegbar. Wir kommen übri-
gens vor einem Speiselokal an. Die Kleine stößt die
ver-
glaste Tür selbstsicher und mit erstaunlichem Schwung
auf. Ihr folgend, gehen wir, Jean und ich, hinein. Ich
erkenne sofort das Café, in dem ich der Medizinstuden-
tin mit der roten Jacke begegnet bin ...
Sie sitzt immer noch da, auf demselben Platz, in der
Mitte des großen, leeren Lokals. Als sie uns kommen
sieht, steht sie auf. Ich bin sicher, daß sie meine Rück-
kehr abgewartet hat. An uns vorbeigehend, gibt sie
Marie einen Wink und sagt halblaut:
»Geht alles gut?«
»Es geht«, sagt Marie, ganz laut und unbefangen. Und
gleich anschließend fügt sie hinzu: »Das ist doch
klar.«
Die Pseudostudentin geht hinaus, ohne mich eines
Blickes zu würdigen. Wir setzen uns an einen der
rechteckigen Tische im hinteren Teil des Lokals. Ohne
offensichtlichen Grund suchen die Kinder den Tisch
aus, der am wenigsten beleuchtet ist. Sie meiden, wie es
scheint, allzu grelles Licht. Es ist jedenfalls Marie, die
entscheidet.
»Ich will eine Pizza«, sagt Jean.
»Nein«, sagt seine Schwester, »du weißt doch, daß man
sie absichtlich mit Bakterien und Viren füllt.«
Sieh mal einer an, sage ich mir, die Prophylaxe gewinnt
bei den jungen Leuten an Boden. Oder sollten diese

42
beiden in einer amerikanischen Familie erzogen wor-
den sein? Da der Kellner sich uns nähert, bestellt Marie
Croque-monsieur für alle, zweimal Limonade, »und
ein Bier für den Herrn, der Russe ist«. Sie schneidet mir
eine schreckliche Grimasse, während der nach wie vor
stumme Mann wieder geht.
»Warum hast du gesagt, ich sei Russe? Die Russen
trinken übrigens nicht mehr Bier als die Franzosen
oder die Deutschen ...«
»Du bist Russe, weil du Boris heißt. Und du trinkst
Bier wie alle anderen, Boris Lecœurowitsch!«
Sowohl den Ton als auch das Thema wechselnd, beugt
sie sich sodann zu meinem Ohr, um mir vertraulich
zuzuflüstern:
»Ist dir das Gesicht des Kellners aufgefallen? Er ist
derselbe wie der auf der Photographie in Marineuni-
form, in dem Totenrahmen.«
»Ist er wirklich tot?«
»Das ist doch klar. Auf See umgekommen. Sein Geist
erscheint hier wieder, um in diesem Lokal, wo er
früher gearbeitet hat, zu bedienen. Darum sagt er nie
etwas.«
»Ach so«, sage ich. »Ich verstehe.«
Der Mann in weißer Jacke taucht plötzlich mit den
Getränken vor uns auf. Seine Ähnlichkeit mit dem
Seemann ist gar nicht so klar. Marie sagt zu ihm sehr
damenhaft:
»Ich danke Ihnen. Meine Mutter kommt morgen vor-
bei, um zu zahlen.«

43
4. Kapitel

Während wir speisten, habe ich Marie gefragt, wieso


dieser Kellner vor seinem Tode in einer Gaststätte
beschäftigt sein konnte, da er doch Seemann war. Aber
sie ließ sich dadurch nicht verwirren:
»Es war während seiner Urlaubszeiten, das ist doch
klar. Sobald er an Land war, kam er her, um seine Ge-
liebte zu besuchen, die hier arbeitete. Und aus Liebe ser-
vierte er mit ihr die Gläschen Weißwein und den Cafe-
creme. Die Liebe läßt einen Großes vollbringen.«
»Und was ist aus seiner Geliebten geworden?«
»Als sie vom tragischen Ende ihres Liebhabers erfuhr,
nahm sie sich das Leben, indem sie eine Industrie-Pizza
aß.«
Dann wollte Marie wissen, wie die Leute in Moskau
leben, da sie mir gerade die russische Staatsbürger-
schaft zuerteilt hatte. Ich habe ihr gesagt, sie müsse es
doch auch wissen, da sie ja meine Tochter sei. Sie hat
dann eine neue, ganz hanebüchene Geschichte erfun-
den:
»Eben nicht. Wir wohnten nicht bei dir. Zigeuner
haben Jean und mich entführt, als wir noch Babys
waren. Wir haben in Wohnwagen gehaust, sind durch
Europa und Asien gezogen, haben gebettelt, gesungen
und unter Zirkuskuppeln getanzt. Unsere Adoptiv-
eltern zwangen uns sogar, Geld zu stehlen oder Waren
aus den Kaufhäusern.
Wenn wir nicht gehorchten, bestraften sie uns
grausam: Jean mußte auf dem fliegenden Trapez schla-
fen, und ich im Tigerkäfig. Zum Glück war der Tiger

44
sehr lieb; er hatte nur Alpträume und brüllte die ganze
Nacht, was mich immer wieder aus dem Schlaf auf-
schreckte. Wenn ich morgens aufstand, hatte ich nie
genug geschlafen.
Du reistest währenddessen durch die ganze Welt, um
uns zu suchen. Du gingst jeden Abend in den Zirkus —
jeden Abend in einen anderen — und du triebst dich
hinter den Kulissen herum, um alle kleinen Kinder, die
du antrafst, auszufragen. Aber vermutlich schautest du
dir vor allem die Kunstreiterinnen an ... Erst heute
haben wir uns wiedergefunden.«
Marie sprach schnell, mit einer Art Überzeugungswut.
Plötzlich war ihr Übereifer vorbei. Sie überlegte einen
Moment, sah auf einmal träumerisch aus und beendete
ihre Geschichte dann ganz traurig:
»Und zudem ist es noch gar nicht sicher, daß wir uns
wiedergefunden haben. Es handelt sich vielleicht gar
nicht um uns, und auch nicht um dich ...«
Marie, die wahrscheinlich glaubte, schon genug dum-
mes Zeug geredet zu haben, erklärte daraufhin, daß ich
nun an der Reihe sei, etwas zu erzählen.
Da ich schneller gegessen habe als die Kinder, bin ich
längst fertig mit meinem Croque-monsieur. Marie, die
jeden Bissen zwischen ihren langen Erklärungen lang-
sam und geflissentlich zerkaut, scheint ihre Mahlzeit
noch nicht so bald beenden zu wollen. Ich frage, wel-
che Art von Geschichte sie sich wünscht. Sie verlangt
— und zwar ganz entschieden — eine »Geschichte mit
Liebe und Science-fiction«, wobei sie dieses letzte
Wort freilich so ausspricht, wie es in Frankreich üblich
ist. Ich beginne also:

45
»Bitte sehr: Ein Roboter begegnet einer jungen
Dame ...«
Meine Zuhörerin läßt mich nicht weiterreden.
»Du weißt nicht, wie man erzählt«, sagt sie. »Eine
richtige Geschichte spielt selbstverständlich in der
Vergangenheit.«
»Wenn dir das lieber ist. Ein Roboter ist also einer
jungen Dame begegnet...«
»Ach was, nicht diese Vergangenheit! Eine Ge-
schichte, dazu gehört das historische Perfekt oder die
Erzählform, sonst merkt ja niemand, daß es eine Ge-
schichte ist.«
Sie hat zweifellos recht. Ich überlege ein paar Augen-
blicke, da ich kaum daran gewöhnt bin, solche Vergan-
genheitsformen anzuwenden, und ich beginne wieder:
»Vorzeiten, es ist schon lange her, machte im schönen
Königtum Frankreich ein sehr gescheiter Roboter, der
allerdings ganz aus Metall war, bei einem Hofball die
Bekanntschaft eines jungen, hübschen Edelfräuleins.
Sie tanzten miteinander. Er sagte ihr galante Worte. Sie
errötete. Er bat sie um Entschuldigung.
Sie tanzten abermals. Das Edelfräulein fand ihn etwas
steif und doch bezaubernd mit seinen abgezirkelten
Manieren, die ihm viel Vornehmheit verliehen. An-
derntags war schon Vermählung. Sie empfingen
prachtvolle Gaben und fuhren von dannen auf die
Hochzeitsreise ... Geht es so?«
»Umwerfend ist es nicht«, sagte Marie, »aber es mag
angehen. Es ist jedenfalls unverkennbar, daß die Ge-
schichte sich in der Vergangenheit abspielt.«
»Ich erzähle also weiter. Die Jungvermählte, die, zum

46
Ausgleich dafür, daß sie tiefschwarzes Haar hatte,
Blanche hieß, die Jungvermählte, sagte ich, war recht
naiv und bemerkte nicht sogleich die kybernetische
Beschaffenheit ihres Gemahls. Es fiel ihr jedoch auf,
daß er sich immer wieder der gleichen Gesten bediente
und daß er immer wieder die gleichen Dinge sagte.
Sieh mal an, so dachte sie, das ist ein Mann, der folge-
richtig denkt und handelt.
Aber als sie eines schönen Morgens früher als gewöhn-
lich aufgestanden war, sah sie, wie er im Bad mit dem
Nähmaschinenölkännchen den Mechanismus seiner
Hüftgelenke ölte. Doch weil sie wohlerzogen war,
machte sie nicht die mindeste Bemerkung. Seit jenem
Tage aber ward ihr Herz erfüllt vom Zweifel.
Ungeklärte Kleinigkeiten kamen ihr nun wieder in den
Sinn: die knirschenden Geräusche nachts, zum Bei-
spiel, die doch wahrhaftig nicht aus der Matratze kom-
men konnten, während ihr Gatte sie in der Alkoven-
heimlichkeit umarmte; oder das Ticken wie von einem
Wecker, das merkwürdigerweise um ihn herum zu
hören war.
Blanche hatte außerdem entdeckt, daß aus seinen
grauen, ziemlich ausdruckslosen Augen zuweilen
Blinklichter erstrahlten, nach rechts oder nach links,
wie bei einem Auto, das die Fahrtrichtung ändern will.
Auch andere Zeichen mechanischer Art trugen nach
und nach dazu bei, sie vollends zu beunruhigen.
Schließlich erlangte sie die Gewißheit von Absonder-
lichkeiten, die noch verwirrender und, wahrhaft, des
Teufels waren: ihr Gatte vergaß nichts, nie und nim-
mer! Sein verblüffend gutes Gedächtnis bezüglich der

47
mindesten alltäglichen Ereignisse sowie seine uner-
klärliche Schnelligkeit beim Kopfrechnen an jedem
Monatsende, wenn sie gemeinsam ihre Haushaltsko-
sten überprüften, brachten Blanche auf einen tücki-
schen Gedanken. Sie wollte mehr wissen und faßte
deshalb einen skrupellosen Plan ...«
Die Kinder haben derweil beide ihre Teller leergeges-
sen. Und ich sitze wie aufglühenden Kohlen, so unge-
duldig bin ich, dieses Bistro zu verlassen, um endlich
zu erfahren, wohin wir schließlich gehen werden. Ich
komme deshalb schnell zu einem Schluß:
»Zu allem Unglück«, sage ich, »brach just in dem
Moment der Siebenzehnte Kreuzzug aus, und unser
Roboter ward einberufen, und zwar zum dritten Pan-
zerregiment der Kolonialen Infanterie. Er schiffte sich
im Hafen von Marseille ein und fuhr zum Nahen
Osten, in den Krieg gegen die Palästinenser.
Da alle Ritter in gelenkigen Nirostarüstungen steck-
ten, fielen die körperlichen Eigentümlichkeiten des
Roboters hinfort gar nicht mehr auf. Aber er kehrte nie
mehr in das liebliche Frankreich zurück, denn er starb
blöderweise an einem Sommerabend, ohne Aufsehen
zu erregen, an den Mauern Jerusalems. Der vergiftete
Pfeil eines Ungläubigen hatte seine Panzerung durch-
bohrt und im Innern seines elektronischen Gehirns
einen Kurzschluß verursacht.«
Marie verzieht ihren Mund.
»Der Schluß ist albern«, sagt sie. »Du hast zwar ein
paar gute Einfalle gehabt, aber du hast es nicht verstan-
den, deine Ideen witzig zu verwerten. Und du hast es,
vor allem, in keinem Augenblick geschafft, deine Per-

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sonen lebendig und liebenswert erscheinen zu lassen.
Wenn der Held am Ende stirbt, gibt es keinen unter
den Zuhörern, dem es zu Herzen geht.«
»Als der Held verstarb, hat dein Herz nicht gedarbt?«
frage ich scherzhaft.
Diesmal habe ich meiner allzu anspruchsvollen Lehre-
rin der Erzählkunst jedenfalls ein hübsches, lustiges
Lächeln entlocken können. Sie antwortet mir im glei-
chen parodistischen Ton:
»Es war mir gleichwohl ein unleugbares Vergnügen,
Ihnen zu lauschen, teurer Freund, als Sie uns just von
einem Hofball Kunde gaben, bei dem die beiden einst
Bekanntschaft schlössen und miteinander tändelten.
Als Jean und ich mit unserem Abendessen fertig wa-
ren, dauerte es uns, denn Sie kürzten daraufhin Ihre
Erzählung ab: wir fühlten alsobald Ihre jähe Hast...«
Und dann in einem anderen Ton: »Später will ich
studieren, um Romanheldin zu werden. Das ist ein
guter Beruf, der es einem erlaubt, in der Vergangenheit
zu leben. Findest du nicht, daß es schöner ist?«
»Ich habe noch Hunger«, sagt ihr Bruder in diesem
Moment. »Jetzt will ich eine Pizza.«
Es ist wahrscheinlich ein Scherz, da beide lachen. Ich
begreife jedoch nicht, warum. Es muß mit ihren Pri-
vatmätzchen zusammenhängen. Dann folgt ein sehr
langes Schweigen, das mir wie eine Lücke in der Zeit
oder wie eine weiße Fläche zwischen zwei Kapiteln
vorkommt. Ich schließe daraus, daß wahrscheinlich
etwas Neues geschehen wird. Ich warte.
Meine jungen Gefährten scheinen ebenfalls zu warten.
Marie nimmt ihr Messer und ihre Gabel, es macht ihr

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eine Weile Spaß, sie im Gleichgewicht zu halten, indem
sie deren beide Enden aneinanderstützt; dann legt sie
sie über Kreuz mitten auf den Tisch. Sie verfährt bei
diesen nichtssagenden Übungen mit einem solchen
Ernst, mit einer so berechneten Genauigkeit, daß diese
in meinen Augen den Wert kabbalistischer Zeichen
annehmen.
Leider weiß ich nicht, wie die Figuren zu deuten sind.
Und vielleicht haben sie gar keine Bedeutung. Marie
gefällt es, wie allen Kindern und Poeten, mit dem Sinn
und dem Widersinn zu spielen. Als ihre Konstruktion
fertig ist, lächelt sie vor sich hin, während Jean sein
Glas austrinkt. Sie schweigen beide. Worauf warten sie
so?
Der Bub bricht schließlich das Schweigen.
»Nein«, sagt er, »keine Angst! Die Pizza, das war nur,
um Sie zu nerven. Es werden übrigens in diesem Lokal
seit mehreren Monaten schon nur noch Croque-
monsieur und Sandwitchs verkauft. Sie fragten sich,
worauf wir hier warteten, nicht wahr? Die Zeit, uns auf
den Weg zu machen, war ganz einfach noch nicht
gekommen. Jetzt werden wir aufbrechen.«
Wie seine Schwester drückt auch dieser Junge sich
beinahe wie ein Erwachsener aus. Es kommt hinzu,
daß er mich siezt. Er hat noch nie so viele Worte
gesagt, seidem ich ihn zum ersten Male sah, vor über
einer Stunde. Aber nun habe ich begriffen, warum er
so ausdauernd schwieg.
Er ist nämlich mitten im Stimmbruch; und er scheut
das Lächerliche sich überschlagender Töne, die unver-
mutet an irgendeiner Stelle in seinen Sätzen entstehen.

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Das erklärt vielleicht auch, warum seine Schwester und
er lachten: das Wort »Pizza« muß bei seinen Stimmbän-
dern wohl besonders furchterregende Klangwirkun-
gen erzeugen.
Marie teilt mir dann endlich die Fortsetzung unseres
Programms mit: sie selbst muß nach Hause (nach wel-
chem Haus?), um ihre Schulaufgaben zu machen (Lü-
genaufgaben?), wohingegen ihr Bruder mich zu einer
geheimen Zusammenkunft führt, wo ich genaue An-
weisungen bekommen werde. Ich selbst darf jedoch
nicht wissen, an welchem Ort dieses Treffen stattfin-
det. Man wird mich deshalb als Blinden verkleiden, mit
einer schwarzen, absolut undurchsichtigen Brille.
Die Vorsichtsmaßregeln und Heimlichtuereien, die
von dieser Untergrundorganisation im Zusammen-
hang mit ihren Aktivitäten gepflegt werden, nehmen
immer absonderlichere Formen an. Ich bin jedoch da-
von überzeugt, daß ein großer Teil dabei nur Spielerei
ist, und ich habe jedenfalls beschlossen, dieses Aben-
teuer bis zum Ende mitzumachen. Man kann sich leicht
denken, warum.
Ich täusche also vor, das an ein Wunder grenzende
plötzliche Vorhandensein der für meine Verkleidung
notwendigen Dinge, der angekündigten Brille sowie
eines weißen Stocks, ganz selbstverständlich zu finden.
Jean ist in aller Ruhe in eine Ecke des Cafés, nicht weit
von der Stelle, wo wir speisten, gegangen, um die dort
bereitstehenden Utensilien zu holen.
Beide Kinder hatten natürlich wegen der Nähe ihres
Verstecks den nicht gerade bequemen, schlecht be-
leuchteten Tisch ausgesucht. Aber wer hat diese Dinge

51
dort hingebracht? Jean oder Marie oder aber die Stu-
dentin mit der roten Jacke?
Diese war wohl seit meinem Fortgehen aus dem Lager-
schuppen mit den Schaufensterpuppen, wo Djinn mich
in ihre Dienste genommen hat, hinter mir hergegan-
gen. Sie konnte Stock und Brille schon mitgebracht
haben. Sie ist mir bis zum Restaurant gefolgt, das sie
ein paar Sekunden nach mir betreten hat. Sie hat die
besagten Gegenstände sofort in diese Ecke tragen kön-
nen, ehe sie sich an einen Nachbartisch setzte.
Es wundert mich jedoch, daß ich von diesem Hin und
Her nichts bemerkt habe. Als ich die Anwesenheit der
Studentin entdeckte, saß sie schon da und las seelenru-
hig in ihrem dicken Anatomiebuch. Ich aber schwelgte
in dem Moment in zärtlichen, euphorischen, undeutli-
chen Vorstellungen, die meinen Wirklichkeitssinn ver-
mutlich trübten.
Eine andere Frage macht mich noch ratloser. Ich selbst
wollte einen Kaffee in diesem Lokal trinken, die Pseu-
dostudentin ist mir nur hierhin gefolgt. Ich hätte doch
ebensogut eine andere Gaststätte an der Avenue aus-
suchen (oder sogar keinen Kaffee trinken) können.
Wie sind die Kinder unter diesen Umständen durch
ihre Komplizin auf den Ort hingewiesen worden, wo
sie Stock und Brille finden würden?
Andererseits sprach Marie bei der Ankunft mit dem
Kellner, als sei sie sehr gut mit ihm bekannt. Und Jean
wußte, welche der Speisen, die auf dem über der Theke
hängenden Schild mehr oder weniger irreführend an-
geboten werden, verfügbar waren. Schließlich haben
sie behauptet, ihre Mutter werde in Kürze vorbeikom-

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men, um die Rechnung unserer Mahlzeit zu beglei-
chen; wo es doch genügte, mich selbst diesen beschei-
denen Betrag zahlen zu lassen. Der Kellner hat nichts
dagegen eingewendet. Er hat offensichtlich Vertrauen
zu diesen Kindern, die sich ganz wie Stammgäste auf-
führen. Es ist also alles so, als wäre ich zufällig ausge-
rechnet in das Restaurant gegangen, das ihnen als Kan-
tine und Hauptquartier dient. Das ist recht unwahr-
scheinlich. Allerdings scheint die andere mögliche Er-
klärung noch befremdlicher zu sein: es geschah nicht
»zufällig«; ich bin, im Gegenteil, ohne mein Wissen,
von der Organisation selber zu diesem Lokal geführt
worden, damit ich der Studentin, die dort auf mich
wartete, begegnete.
Aber, wenn es sich so verhält, wie bin ich dann dorthin
»geführt« worden? Auf welche Weise? Durch Anwen-
dung welcher geheimnisvollen Methode? Je mehr ich
über dies alles nachdenke, umso weniger klar wird
alles, und desto mehr schließe ich darauf, daß es hier
ein Rätsel gibt. Wenn ich zuerst das Problem der Bezie-
hung zwischen den Kindern und der Medizinstudentin
löste ... Doch ach, ich enträtsele gar nichts.
Als ich mir Gedanken darüber machte, stülpten Jean
und seine Schwester die schwarze Brille über meine
Augen. Die Gummiränder des scheuklappenähnlichen
Gestells paßten sich vollkommen meiner Stirn, meinen
Schläfen und Backenknochen an. Ich habe sofort fest-
gestellt, daß ich nichts mehr sehen konnte, weder an
den Seiten noch unten, und daß ich auch nichts durch
die Brillengläser hindurch erblickte, die tatsächlich un-
durchsichtig sind.

53
Und nun gehen der Bub und ich nebeneinander über
den Bürgersteig der Avenue. Wir gehen Hand in
Hand. Mit meiner freien rechten Hand halte ich den
nach vorn weisenden weißen Stock, dessen Spitze auf
der Suche nach möglichen Hindernissen über die Flä-
che vor meinen Füßen hin- und herstreift. Nach weni-
gen Minuten handhabe ich dieses Requisit, als wäre ich
seit jeher damit vertraut.
Während ich mich so wie ein Blinder führen lasse,
denke ich über diese merkwürdige Minderung meiner
Freiheit nach, die immer mehr eingeschränkt wurde,
seitdem ich um sechs Uhr dreißig abends in den mit
Ausschußwaren und ausgedienten Maschinen vollge-
stellten Modepuppenschuppen eingedrungen war, wo-
hin »Monsieur Jean« mich beordert hatte.
Dort bin ich nicht nur darauf eingegangen, den Befeh-
len einer jungen Frau in meinem Alter (oder sogar
einer jüngeren Person) Folge zu leisten, sondern ich
habe dies zudem unter der demütigenden Bedrohung
durch einen (zumindest hypothetischen) Revolver ge-
tan, die jeden Eindruck einer freiwilligen Entschei-
dung zerstörte. Überdies war ich widerspruchslos be-
reit, in völliger Unkenntnis über meine eigentliche
Aufgabe und die von der Organisation verfolgten
Ziele zu bleiben. Ich habe unter alledem nicht im
geringsten gelitten; ich fühlte mich, im Gegenteil,
glücklich und beflügelt.
Dann hat eine wenig liebenswürdige Studentin mich in
einem Café durch ihr an eine Schulinspektorin oder
Lehrerin erinnerndes Gebaren genötigt, einen Weg zu
wählen, den ich nicht für den besten hielt. Das hat mich

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dazu gebracht, einen angeblich Verletzten zu versor-
gen, der bewußtlos auf dem Boden lag, in Wirklichkeit
jedoch sein Spiel mit mir trieb.
Als ich es erfuhr, habe ich mich nicht über dieses
unehrliche Verfahren beklagt. Und ich habe bald ge-
merkt, daß ich diesmal einer Göre gehorchte, die kaum
zehn Jahre alt und überdies verlogen und mythoma-
nisch ist. Zu guter Letzt habe ich mich noch damit
abgefunden, auch den Gebrauch meines Sehvermö-
gens einzubüßen, nachdem ich nacheinander den mei-
ner Willensfreiheit und meiner Verstandeskraft verlo-
ren hatte.
So daß ich nunmehr handele, ohne das geringste von
dem, was ich tue oder was mir widerfährt, zu begrei-
fen; ich weiß nicht einmal, wohin ich an der Hand
dieses wortkargen Kindes, das vielleicht epileptisch ist,
unterwegs bin. Und ich versuche keinesfalls, den An-
weisungen zuwiderzuhandeln, indem ich ein wenig mit
der schwarzen Brille mogele. Es genügte wahrschein-
lich, unter dem Vorwand, mich an der Augenbraue zu
kratzen, das Brillengestell leicht zu verschieben, um
auf diese Weise einen Spalt zwischen Gummirand und
Nasenflügel entstehen zu lassen ...
Aber ich mache keinerlei Versuch in dieser Richtung.
Ich war ja willens, ein verantwortungsloser Agent zu
sein. Ich hatte nichts dagegen, daß man mir die Augen
verband. Falls es Djinn gefällt, werde ich bald selber
ein Elementar-Roboter werden. Ich sehe mich schon in
einem Rollstuhl: lahm, blind, stumm, taub ... Und
was sonst noch?
Bei diesem Gedanken habe ich vor mich hingelächelt.

55
»Warum lachen Sie?« fragt Jean.
Ich antworte, daß, meine jetzige Situation mir eher
komisch vorkommt. Der Junge wiederholt dann als
Zitat einen Satz, den ich schon aus dem Munde seiner
Schwester vernommen habe, als wir im Café waren:
»Die Liebe«, sagt er, »läßt einen Großes vollbringen.«
Ich habe zuerst geglaubt, er mache sich über mich
lustig; und habe ziemlich gereizt erwidert, daß ich
keinen Zusammenhang erkennen könne. Da ich je-
doch darüber nachdenke, kommt mir die Bemerkung
des Buben vor allen Dingen unerklärlich vor. Wie ist es
möglich, daß er diese (sozusagen sinnlose, jedenfalls
geheime) Liebeshoffnung, die ich mir selber kaum
eingestanden habe, bereits kennt?
»Doch«, behauptet er mit seiner immer wieder zwi-
schen dunklen und hellen Tönen wechselnden Stimme,
»es gibt einen unverkennbaren Zusammenhang: die
Liebe ist bekanntlich blind. Jedenfalls dürfen Sie nicht
lachen: Blindsein ist traurig.«
Ich will ihn gerade fragen, ob er daraus schließt, daß
die Liebe traurig sei (was sich als ein vollkommener
Syllogismus aus seinen beiden Sätzen bezüglich des
Blindseins ergibt), als etwas geschieht, das unserem
Gespräch ein Ende bereitet.
Wir standen seit einer Weile am Rande eines Bürger-
steigs (ich hatte mit der Eisenspitze meines Stocks die
Bordsteinkante ertastet), und ich hatte angenommen,
daß wir auf das Leuchtsignal warteten, das es den
Fußgängern erlaubt, die Straße zu überqueren. (Es
gibt ja bei uns kaum melodisch erklingende Signale für
Blinde wie in vielen Städten Japans.) Aber ich hatte

56
mich geirrt. Diese Stelle mußte ein Taxistand sein, wo
Jean auf einen freien Wagen wartete.
Er läßt mich tatsächlich in ein Auto steigen, in ein
anscheinend ziemlich großes, dem bequemen Wagen-
schlag nach zu urteilen, durch den ich tastend ins
Innere gelange. (Meinen Stock habe ich meinem Be-
gleiter übergeben.) Ich lasse mich auf etwas nieder, was
die breite, komfortable Hinterbank sein muß.
Während ich mich hinsetzte, hat Jean die Tür zuge-
schlagen und ist dann wohl um das Fahrzeug herum-
gegangen, um selbst durch die linke Tür einzusteigen:
ich höre, wie sie geöffnet wird und wie jemand sich
hereinbemüht und neben mich setzt. Und dieser Je-
mand ist tatsächlich der Bub, denn seine unnachahm-
lich überschnappende Stimme sagt zu dem Fahrer:
»Fahren Sie uns bitte dahin!«
Gleichzeitig vernehme ich ein leises Rascheln von Pa-
pier. Anstatt mündlich anzugeben, wohin wir wollen,
hat Jean dem Fahrer wahrscheinlich einen Zettel ge-
zeigt, auf den die Adresse geschrieben worden war
(von wem?). Dieser Trick erlaubt es, mich über unse-
ren Bestimmungsort in Unkenntnis zu lassen. Da ein
Kind diese List anwendet, kann das Verfahren den
Mann am Steuer nicht stutzig machen.
Und wenn es kein Taxi wäre?

57
5. Kapitel

Während der Fahrt habe ich wieder über die Sinnlosig-


keit meiner Situation nachgedacht. Ich konnte mich
jedoch nicht dazu entschließen, ihr ein Ende zu berei-
ten. Diese Hartnäckigkeit wunderte mich selbst. Ich
machte sie mir zum Vorwurf, obgleich ich mich ganz
wohl dabei fühlte. Mein Interesse für Djinn konnte
nicht ihr einziger Beweggrund sein. Hinzu kam sicher-
lich die Wißbegierde. Was sonst noch?
Ich fühlte mich hineingerissen in eine Verkettung von
Episoden und Begegnungen, bei denen der Zufall ver-
mutlich gar keine Rolle spielte. Nur ich allein begriff
nicht ihren tieferen Zusammenhang. Diese aufeinan-
derfolgenden geheimnisvollen Ereignisse ließen mich
an eine Art Schatzsuche denken: man dringt von Rätsel
zu Rätsel weiter voran und entdeckt deren Lösung erst
ganz zum Schluß. Und der Schatz war Djinn!
Ich habe mich auch gefragt, welche Dienste die Orga-
nisation von mir verlangte. Scheute man sich, offen mit
mir darüber zu sprechen? Handelte es sich um eine so
anrüchige Arbeit? Wozu die langen Vorbereitungen?
Und warum gab man mir dabei so wenig freie Hand?
Das Fehlen jeglicher Aufklärung hatte ich mir immer-
hin als etwas Vorübergehendes vorgestellt: vielleicht
mußte ich zunächst diese erste Phase durchmachen,
während ich auf die Probe gestellt wurde. Die Schatz-
suche wurde auf diese Weise in meinem romantischen
Gemüt so etwas wie eine Initiationsreise.
Was meine jüngste Verwandlung in die klassische Fi-
gur eines von einem Kinde geführten Blinden betrifft,

58
so stellte sie zweifellos ein Verfahren dar, das Mitleid
der Leute zu erregen und somit ihren Argwohn zu
beschwichtigen. Aber wenn ich in der Öffentlichkeit
nicht auffallen durfte, so wie man es mir ausdrücklich
eingeschärft hatte, schien es mir doch ein sehr fragwür-
diges Mittel zu sein.
Überdies bereitete mir ein ganz bestimmtes Problem
immer wieder neue Sorge: Wohin begaben wir uns?
Welchen Straßen, welchen Boulevards folgten wir? Zu
welchen Vororten fuhren wir so? Zu welcher Offenba-
rung? Oder aber zu welchem neuen Geheimnis? Würde
die Strecke dorthin lang sein?
Vor allem dieser letzte Punkt — die Dauer der Auto-
fahrt—bereitete mir, ohne genauen Grund — viel Kopf-
zerbrechen. Ob Jean es mir sagen durfte? Auf gut
Glück habe ich ihn danach gefragt. Er hat mir jedoch
geantwortet, er wisse selber nichts davon, was mir
noch merkwürdiger vorkam (soweit ich ihm über-
haupt glaubte).
Der Fahrer, der alles, was wir sagten, mithören konnte,
mischte sich dann ein, um mich zu beruhigen:
»Nur keine Bange. Wir werden bald da sein.«
Aber ich habe, im Gegenteil, aus diesen beiden Sätzen,
ich weiß selbst nicht warum, eine undeutliche Dro-
hung herausgehört. Jedenfalls wollte das nicht viel
besagen. Ich habe den Straßengeräuschen um uns
herum gelauscht, aber sie gaben keinerlei Aufschluß
über die Stadtviertel, durch die wir fuhren. Der Ver-
kehr war da allenfalls weniger rege.
Dann hat Jean mir Pfefferminzbonbons angeboten.
Ich habe ihm geantwortet, daß ich gern eins hätte.

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Aber ich hatte es eigentlich nur aus Höflichkeit gesagt.
Daraufhin hat er meinen linken Arm berührt und ge-
sagt:
»Hier, bitte. Strecken Sie Ihre Hand aus.«
Ich habe ihm die offene Hand hingehalten. Er hat eine
halb geschmolzene, klebrige Pastille, wie alle Kinder
sie in ihren Taschen haben, hineingelegt. Mir war
wirklich die Lust darauf vergangen, aber ich wagte
nicht, dies dem Spender zu gestehen: nachdem ich die
Pastille angenommen hatte, war es unmöglich, sie ihm
wieder zurückzugeben.
Ich habe sie also mit dem größten Widerwillen in den
Mund gesteckt. Sofort fand ich, daß sie sonderbar,
nämlich fade und bitter zugleich schmeckte. Ich hätte
sie am liebsten wieder ausgespuckt. Das tat ich jedoch
nicht, um den Bub nicht zu kränken. Denn da ich ihn
nicht sah, wußte ich nie, ob er mich nicht gerade
beobachtete.
Ich entdeckte hierin eine paradoxe Folge der Blindheit:
ein Blinder kann nichts mehr heimlich tun! Die Un-
glücklichen, die nicht sehen, haben immer Angst da-
vor, gesehen zu werden. Um dieses unangenehme
Gefühl loszuwerden, habe ich in einem ziemlich un-
logischen Reflex die Augen hinter meinen schwarzen
Brillengläsern geschlossen.
Ich habe geschlafen, davon bin ich überzeugt; oder
aber ich habe zumindest geschlummert. Ich weiß je-
doch nicht, wie lange.
»Aufwachen!« sagte die Stimme des Buben, »wir stei-
gen hier aus.«

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Und gleichzeitig schüttelte er mich ein wenig. Ich
vermute nun, daß die Pfefferminzpastille mit dem
zweifelhaften Geschmack ein narkotisches Bonbon
war, denn so leicht schlafe ich in einem Wagen sonst
nicht ein. Mein Freund Jean hat mir, wie ihm befohlen
worden sein muß, ein Rauschgift verabreicht, das ist
mehr als wahrscheinlich. Deswegen weiß ich nicht
einmal, wie lange die Fahrt auf der gerade von uns
zurückgelegten Strecke gedauert hat.
Der Wagen steht. Und mein junger Begleiter hat den
Fahrpreis schon bezahlt (wenn es sich überhaupt um
ein Taxi handelt, was mir immer weniger sicher vor-
kommt). Nichts läßt mehr darauf schließen, daß noch
jemand am Steuer sitzt. Und ich habe das dunkle Ge-
fühl, mich nicht mehr in demselben Auto zu befinden.
Es kostet mich große Mühe, wieder klar im Kopf zu
werden. Die Dunkelheit, die mich noch umhüllt, er-
schwert mir das Erwachen und läßt es mir auch unge-
wiß erscheinen. Mir ist, als dauere mein Schlaf, wäh-
rend ich träume, aus ihm aufzutauchen, weiter an. Und
ich habe überhaupt kein Zeitgefühl mehr.
»Beeilen Sie sich. Wir kommen bestimmt nicht zu
früh.«
Mein Schutzengel wird ungeduldig und gibt es mir
schonungslos mit seiner komischen, immer wieder
ausflippenden Stimme zu verstehen. Ich winde mich
mühsam aus dem Wagen und richte mich recht und
schlecht auf. Mir ist ganz schwindelig, als hätte ich
zuviel getrunken.
»Und nun«, sage ich, »gibst du mir meinen Stock
wieder.«

61
Der Bub gibt ihn mir in die rechte Hand und erfaßt
dann die linke, um mich mitzureißen.
»Lauf nicht so schnell, sonst verliere ich noch das
Gleichgewicht. «
»Wir kommen bestimmt zu spät, wenn Sie so bum-
meln.«
»Wohin gehen wir jetzt?«
»Fragen Sie mich nicht danach. Ich darf es Ihnen nicht
sagen. Und außerdem hat es keinen Namen.«
Es ist hier jedenfalls ganz still. Mir scheint, daß nie-
mand mehr um uns herum ist. Ich höre weder Worte
noch das Geräusch von Schritten. Wir gehen über
Kies. Dann ändert sich der Boden. Wir überschreiten
eine Schwelle und betreten ein Gebäude.
Drinnen legen wir eine recht komplizierte Strecke zu-
rück, die der Bub wie im Schlaf zu kennen scheint,
denn er zögert nie bei Richtungsänderungen. Nach den
Fliesen, anfangs, kam ein Holzfußboden.
Oder aber, da ist jetzt noch jemand anders, der uns
begleitet oder vielmehr der vorangeht, um uns den
Weg zu weisen. Denn wenn ich einen Moment stehen-
bleibe, so bleibt mein junger Begleiter, der mich an der
Hand hält, ebenfalls stehen, und ich meine dann, etwas
weiter vorn die Schritte eines Dritten wahrzunehmen,
der noch ein paar Sekunden weitergeht. Es ist jedoch
schwer, dies mit Sicherheit zu sagen.
»Bleiben Sie nicht stehen«, sagt der Bub.
Und ein paar Meter weiter:
»Geben Sie acht, jetzt kommen Stufen. Halten Sie sich
mit der rechten Hand am Geländer fest. Wenn Ihr
Stock Sie stört, geben Sie ihn mir.«

62
Nein, ohne zu wissen warum, ziehe ich es vor, ihn ihm
nicht zu überlassen. Ich ahne so etwas wie eine nahende
Gefahr. Ich umklammere also mit derselben Hand das
Eisengeländer und den krummen Stockgriff. Ich bin
auf alles Mögliche gefaßt. Wenn etwas allzu Unheimli-
ches geschieht, werde ich mit der linken Hand, die der
Bub ziemlich lose in der seinen hält, sofort meine
schwarze Brille vom Gesicht reißen und mit der rech-
ten als Verteidigungswaffe meinen eisenbeschlagenen
Stock drohend erheben.
Es passiert jedoch nichts Beunruhigendes. Nachdem
wir über eine steile Treppe ein Stockwerk hinaufgestie-
gen sind, gelangen wir bald in einen Saal, wo anschei-
nend eine Zusammenkunft stattfindet. Jean hat es mich
vor dem Hineingehen wissen lassen, und er hat halb-
laut hinzugefügt: »Machen Sie keinen Lärm. Wir sind
die letzten. Wir sollten hier kein Aufsehen erregen.«
Er hat die Tür ganz leise geöffnet, und ich folge ihm,
immer noch wie ein kleines Kind an der Hand gehal-
ten. Es sind viele Leute in dem Raum: dies wird mir
sofort klar wegen der sehr leisen — aber zahlreichen —
verschiedenen Geräusche: Atemholen, unterdrücktes
Husten, sich reibende Stoffe, leichte Stöße oder ver-
stohlenes Rutschen kaum merklich über den Boden
streifender Sohlen, usw.
Und doch verhalten all diese Leute sich still, davon bin
ich überzeugt. Aber sie sind vermutlich stehengeblie-
ben, und sie bewegen sich ein wenig auf der Stelle, das
ist unvermeidlich. Da man mir nichts zum Sitzen an-
gewiesen hat, setze auch ich mich nicht hin. Um uns
herum sagt keiner etwas.

63
Und plötzlich kommt es in dieser, von vielen aufmerk-
samen Anwesenden belebten Stille zu der lange erwar-
teten Überraschung. Djinn ist da, hier im Saal, ihre
liebliche Stimme erklingt ein paar Meter von mir ent-
fernt. Und ich fühle mich auf einmal für alle meine
Geduld belohnt.
»Ich habe Sie zusammengerufen«, sagt sie, »um Ihnen
ein paar nunmehr nötige Erklärungen zu liefern ...«
Ich stelle sie mir auf einem Podest vor, ebenfalls ste-
hend, ihrem Publikum gegenüber. Steht ein Tisch vor
ihr, wie in einem Klassenzimmer? Und wie ist Djinn
gekleidet? Immer noch in Regenmantel und Filzhut?
Oder hat sie diese Kleidungsstücke wegen der Zusam-
menkunft abgelegt? Und ihre schwarze Brille, hat sie
sie aufbehalten?
Zum ersten Mal brenne ich darauf, meine abzunehmen.
Aber es hat mir noch niemand die Erlaubnis dazu
erteilt; und es ist auch gar nicht der richtige Moment,
jetzt, da alle neben mir Stehenden mich sehen können.
Von Djinn ganz abgesehen ... Ich muß mich also mit
dem begnügen, was mir geboten wird: die entzückende
Stimme mit ihrem leichten amerikanischen Akzent.
»... internationale Geheimorganisation ... Abschot-
tung der Aufgabenbereiche ... großes humanitäres
Werk ...«
Was für ein großes humanitäres Werk? Wovon redet
sie? Auf einmal wird mir meine Leichtfertigkeit be-
wußt: ich höre nicht einmal auf das, was sie sagt!
Fasziniert von ihren exotischen Betonungen, ganz da-
mit beschäftigt, mir das Gesicht und den Mund vorzu-
stellen, aus dem diese Töne kommen (ob sie wohl

64
lächelt? Oder aber hat sie ihre unechte strenge Gang-
sterboßmiene aufgesetzt?), habe ich das Wesentliche
versäumt: mich für die Information zu interessieren,
die ihre Worte enthalten; ich genieße diese, anstatt mir
ihre Bedeutung zu merken. Wo ich doch immer be-
hauptete, so darauf erpicht zu sein, mehr über meine
zukünftige Arbeit zu erfahren!
Und jetzt ist Djinn auf einmal verstummt. Was hat sie
eigentlich gerade gesagt? Ich versuche vergeblich,
mich dessen zu entsinnen. Mir kommt es allerdings so
vor, als wären es nur Begrüßungsformeln gewesen, um
die Versammelten in der Organisation willkommen zu
heißen, und als stünde das Wichtigste noch aus. Aber
warum sagt sie nichts mehr? Und was tun die anderen
Zuhörer unterdessen? Keiner rührt sich um mich
herum, niemand verrät sein Erstaunen.
Ich weiß nicht, ob es an meiner Ergriffenheit liegt, aber
ein störendes Kitzeln reizt mein rechtes Auge. Obwohl
ich die Lider mehrmals energisch zusammenziehe, ge-
lingt es nicht, mich von dem Jucken zu befreien. Ich
suche eine Möglichkeit, mich unauffällig zu kratzen.
Meine linke Hand ist in der des Buben geblieben, der
mich nicht losläßt, und in der rechten habe ich den
lästigen Stock. Da ich es jedoch nicht mehr aushalten
kann, versuche ich mit der rechten Hand mir wenig-
stens die Umgebung des Auges zu reiben.
Durch den krummen Stockgriff behindert, mache ich
eine ungeschickte Handbewegung, und das wulstige
Brillengestell rutscht nach oben auf den Augenbrauen-
bogen. Die Gläser haben sich eigentlich kaum verscho-
ben, der zwischen Haut und Gummirand entstandene

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Spalt genügt jedoch, damit ich erblicken kann, was sich
rechts von mir befindet...
Es verblüfft mich sehr. So etwas hatte ich nicht ver-
mutet ... Ich bewege langsam den Kopf, um durch
meinen engen Sichtspalt über ein breiteres Feld zu
schauen. Was ich allenthalben sehe, steigert nur noch
meine erste Verblüffung: ich habe den Eindruck, mich
vor meinem Ebenbild zu befinden, das verzwanzig-
oder verdreißigfacht wurde.
Der ganze Saal ist nämlich voll von Blinden, von
vermutlich ebenfalls Pseudoblinden: lauter junge
Leute meines Alters, die verschieden gekleidet sind
(aber deren Aufmachung im Grunde der meinen ziem-
lich ähnlich ist), mit der gleichen dicken, schwarzen
Brille vor den Augen, dem gleichen weißen Stock in
der rechten Hand und einem dem meinen genau glei-
chenden Bub, der sie an der linken Hand hält.
Sie stehen alle in die gleiche Richtung gewandt, zum
Podest hin. Jedes Paar — ein Blinder und sein Begleiter
— ist von seinen Nachbarpaaren durch freie Zwischen-
räume getrennt, die stets fast gleich groß sind, als hätte
man sich bemüht, in genau begrenzten Feldern eine
Reihe von gleichförmigen Statuetten aufzustellen.
Und plötzlich schnürt mir eine dumme Anwandlung
von Eifersucht das Herz zusammen: Djinn hat also
nicht ausschließlich zu mir allein gesprochen! Ich
wußte wohl, daß es sich um eine Zusammenkunft
mehrerer handelte. Aber es ist ganz etwas anderes, mit
eigenen Augen feststellen zu müssen, daß Djinn schon
zwei oder drei Dutzend junger Leute angeworben hat,
die sich kaum von mir unterscheiden und genauso

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behandelt werden wie ich. Für Djinn bin ich nicht
mehr als der am wenigsten bemerkenswerte unter ih-
nen.
Aber genau in diesem Moment beginnt Djinn wieder
zu sprechen. Sehr merkwürdig ist dabei, daß sie ihre
Rede mitten in einem Satz fortsetzt, ohne die vorher-
gehenden Wörter zur Wahrung des Zusammenhangs
ihrer Äußerung zu wiederholen. Und sie sagt nichts,
um die Unterbrechung zu erklären; ihr Ton ist ganz
genau so, als habe es keine gegeben.
»... werden es Ihnen ermöglichen, keinen Verdacht zu
erregen ...«
Da ich jegliche Vorsicht (und jegliche Beachtung von
Verhaltensmaßregeln, die ich plötzlich unerträglich
finde) aufgegeben habe, gelingt es mir, bei einer äußer-
sten Anstrengung des Halses und des Kinns den Kopf
weit genug herumzudrehen, um die Mitte des Podests
in mein Blickfeld zu bekommen ...
Ich begreife nicht sofort, was sich abspielt... Bald
muß ich jedoch erkennen, was offensichtlich ist: da ist
wohl ein Vortragstisch, aber es sitzt niemand dahinter!
Djinn ist gar nicht da, weder an dem Tisch, noch
sonstwo im Saal.
Ein einfacher Lautsprecher überträgt ihre Ansprache,
die wer weiß wo und wann aufgenommen wurde. Der
Apparat steht auf dem Tisch, deutlich sichtbar, gera-
dezu unverschämt. Wahrscheinlich hatte er infolge
einer technischen Panne plötzlich versagt: ein Arbeiter
ist dabei, Kabel zu überprüfen, die er wohl gerade
wieder eingestöpselt hat...
Der ganze Reiz dieser frischen, sinnlichen Stimme ist

67
auf einmal verschwunden. Zwar ist das, was weiter von
der Aufnahme folgt, immer noch von der gleichen
guten Qualität; die Worte setzen ihren transatlanti-
schen Singsang fort; das Tonbandgerät gibt getreu
seinen Wohlklang, die Melodie und sogar die gering-
sten Modulationen wieder ...
Aber nun, da die Illusion ihrer körperlichen Anwesen-
heit dahin ist, habe ich jeden spürbaren Kontakt mit
dieser Musik verloren, die vor einer Minute noch so
süß in meinen Ohren war. Meine Entdeckung des
Betrugs hat den magischen Effekt der Rede vereitelt,
die sofort glanzlos und kalt geworden ist: das Tonband
spielt sie mir jetzt so anonym und neutral wie eine
Flughafendurchsage vor. So daß es mir jetzt überhaupt
nicht mehr schwerfällt, ihre Sätze anzuhören und einen
Sinn darin zu entdecken.
Die gesichtslose Stimme ist gerade dabei, uns unsere
Rolle und unsere zukünftigen Funktionen zu erklären.
Aber sie verrät sie uns nicht ganz, sondern gibt uns
lediglich die Leitlinien bekannt. Sie verbreitet sich
mehr über die angestrebten Ziele als über die Metho-
den: aus Sorge um die Effizienz ziehe sie es vor, so
wiederholt sie, uns davon vorerst nur das unbedingt
Notwendige mitzuteilen.
Ich habe, wie ich schon sagte, den Anfang ihres Vor-
trags nicht genau verfolgt. Mir scheint jedoch, daß ich
das Wichtigste davon mitbekommen habe: was ich nun
höre, läßt es mich jedenfalls vermuten, denn ich er-
kenne darin keine nennenswerten Unklarheiten (es sei
denn diejenigen, die von der Vortragenden absichtlich
hineingebracht wurden).

68
Wir, das heißt alle, die mit mir hier stehen, und ich,
seien also — wie sie uns wissen läßt — für ein internatio-
nales Unternehmen zum Kampf gegen den Maschinis-
mus angeworben worden. Die kleine Zeitungsanzeige,
die mich (nach einem kurzen Schriftwechsel über einen
Briefkasten) dazu gebracht hat, Djinn in der stillgeleg-
ten Werkstätte zu treffen, hatte es mich schon ahnen
lassen. Ich hatte aber die Folgen der verwendeten For-
mulierung »für ein freieres Leben ohne den Imperialis-
mus der Maschinen« nicht genau ermessen.
Die Ideologie der Organisation ist nämlich ziemlich
simpel, sogar offensichtlich allzu simpel: »Es ist an der
Zeit, daß wir uns von den Maschinen befreien, denn sie
und nichts anderes sind es, die uns unterdrücken. Die
Menschen glauben, die Maschinen arbeiteten für sie.
Wohingegen sie selber es sind, die hinfort für die
Maschinen arbeiten. Diese befehlen uns mehr und
mehr, und wir gehorchen ihnen.
Der Maschinismus ist, zunächst einmal, verantwort-
lich für die Teilung der Arbeit in winzige Bruchstücke,
die jeden Sinnes entbehren. Die Werkzeugmaschine
verlangt von jedem Arbeiter die Ausführung ein und
derselben Geste, die er während seines ganzen Lebens
von morgens bis abends wiederholen muß. Die Zer-
stückelung ist bei Handarbeiten also unverkennbar.
Sie wird aber auch in jedwedem anderen Zweig
menschlicher Tätigkeit zur Regel.
Das ferne Ergebnis unserer Arbeit (das Fabrikat, die
Dienstleistung oder die intellektuelle Untersuchung)
entgeht uns somit in jedem Falle ganz und gar. Der
Arbeiter kennt davon niemals die Gesamtform oder

69
die Endanwendung, es sei denn auf theoretische und
rein begriffliche Weise. Ihm obliegt dabei keinerlei
Verantwortung, und ihm steht dafür auch keinerlei
Gefühl des Stolzes zu. Er ist nur ein winziges Glied der
unermeßlichen Fertigungskette, da er nur eine Klei-
nigkeit an einem Einzelteil, an einem einzelnen Räd-
chen verändert, an Dingen, die für sich allein völlig
bedeutungslos sind.
Es gibt niemanden mehr, der in irgendeinem Bereich
noch etwas Vollständiges schafft. Selbst das Bewußt-
sein des Menschen ist zerstückelt. Sie aber sollten sich
darüber klarwerden, daß unsere eigene Entfremdung
durch die Maschine den Kapitalismus und die Sowjet-
bürokratie entstehen lassen hat, und nicht umgekehrt.
Die Atomisierung des Weltalls hat die Atombombe
erzeugt.
Allerdings behielt am Anfang dieses Jahrhunderts die
allein verschonte herrschende Klasse noch die Ent-
scheidungsgewalt. Nun hat die Denkmaschine — das
heißt der Computer — uns auch diese Entscheidungs-
fähigkeit genommen. Wir sind nur noch Sklaven, und
wir arbeiten an unserer eigenen Zerstörung, im Dien-
ste — und zum höchsten Ruhme — des allmächtigen
Gottes der Mechanik.«
Über die anzuwendenden Mittel, um dies der Masse
der Leute bewußt zu machen, äußert sich Djinn viel
zurückhaltender und weniger ausführlich. Sie spricht
von einem »pazifistischen Terrorismus« und von
»spektakulären« Aktionen, die von uns inmitten der
Menge, in der Métro, auf öffentlichen Plätzen, in Büros
und Fabriken organisiert werden ...

70
Es gibt allerdings etwas, das mich an diesen schönen
Worten ungemein stört; nämlich das Los, das uns als
den ausführenden Agenten des Programms beschieden
ist: unsere Rolle steht in völligem Widerspruch zu den
vorgeschlagenen Zielen. Bis jetzt zumindest hat man
dieses Programm kaum auf uns angewandt. Man hat
uns, im Gegenteil, ohne jegliche Rücksicht auf un-
sere Willensfreiheit, gegängelt. Und auch jetzt ver-
hehlt man nicht, daß uns nur eine Teilkenntnis des
Ganzen gestattet sei. Man will das Bewußtsein aller
bilden, aber man fängt damit an, uns am Sehen zu
hindern. Und, um das Maß vollzumachen, ist es eine
Maschine, die zu uns spricht, die uns überredet und
uns leitet ...
Ich bin wieder mißtrauisch geworden. Ich ahne so
etwas wie eine unbekannte, dunkle Gefahr, in der diese
manipulierte Versammlung schwebt. Dieser Saal vol-
ler Pseudoblinder ist eine Falle, in die ich gegangen
bin ... Durch den schmalen Spalt, den ich mir sorg-
sam unter dem rechten Rand meiner dicken Brille
offengehalten habe, blicke ich auf den neben mir Ste-
henden, einen großen, blonden, jungen Mann, der eine
ganz schicke, weiße Lederjacke und darunter einen
leuchtend blauen Pullover trägt...
Auch er hat (wie ich vorhin schon vermutet hatte) die
enganliegende, ihn am Sehen hindernde Vorrichtung
ein paar Millimeter verschoben, um seine Nachbar-
schaft zur Linken zu entdecken; so daß unsere beiden
Seitenblicke sich bestimmt gekreuzt haben. Durch ein
kurzes Zucken seines Mundes gibt er mir übrigens ein
Zeichen seines geheimen Einverständnisses. Ich erwi-

71
dere es in Form des gleichen Mundzuckens, das als ein
ihm geltendes Lächeln durchgehen kann.
Der Bub, der ihn begleitet und seine linke Hand hält,
hat, wie mir scheint, nichts von unseren Schlichen
bemerkt. Der kleine Jean sicherlich auch nicht, da er
zweifellos außerhalb des Bereichs dieses bescheidenen
Austauschs steht.
Währenddessen werden wir weiter vergattert und
nachdrücklich ermahnt:
»Ihr werdet von der Maschine überwacht, fürchtet sie
nicht länger! Die Maschine erteilt euch Befehle; ge-
horcht ihr nicht mehr! Die Maschine beansprucht eure
ganze Zeit, schenkt ihr keine mehr! Die Maschine
glaubt, den Menschen überlegen zu sein; gebt ihr nicht
länger den Vorzug vor ihnen!«
Da sehe ich, wie der Kerl mit der weißen Jacke, der
seinen Blindenstock ebenfalls in der rechten Hand be-
halten hat, diesen nun heimlich hinter seinem Rücken
zu seiner linken Seite herüberschwenkt, um dessen
spitzes Ende mir zu nähern. Mit dieser Eisenspitze
zeichnet er geräuschlos komplizierte Figuren auf den
Boden.
Es ist sicher, daß der Kollege, der ebenso ungehorsam
ist wie ich, mir etwas mitzuteilen versucht. Aber ich
kann nicht begreifen, was er mir zu verstehen geben
will. Er wiederholt mehrmals für mich die gleiche Serie
kurzer Striche und sich kreuzender Bögen. Ich mache
immer wieder vergebliche Entzifferungsversuche;
meine sehr begrenzte Sicht auf den Boden, bei einem
überdies außergewöhnlich schrägen Blickwinkel, er-
leichtert mir meine Aufgabe nicht, das ist sicher.

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»Wir haben«, so redet die Tonbandstimme weiter,
»eine einfache Lösung entdeckt, um eure Brüder zu
retten. Setzt sie davon in Kenntnis. Schärft sie ihnen
ein, ganz unaufdringlich, beinahe ohne daß sie es mer-
ken. Und verwandelt sie selber in neue Propagandi-
sten ...«
In diesem Moment vermute ich auf einmal einen plötz-
lichen Aufruhr hinter mir. Geräusche überstürzter
Schritte in nächster Nähe stören die Stille des Saals. Ich
spüre an der Schädelbasis einen heftigen Schlag und
einen stechenden Schmerz ...
6. Kapitel

Simon Lecœur erwachte mit trockenem Mund, als


habe er zuviel getrunken, inmitten der aufeinanderge-
stapelten Kisten und ausrangierten Maschinen. Er kam
allmählich wieder zu sich und hatte den vagen Ein-
druck, aus einem langen Alptraum aufzutauchen. Bald
erkannte er seine Umgebung wieder. Es war die ver-
wahrloste Werkstatt, wo er Djinn kennengelernt hatte.
Und fast gleichzeitig fiel ihm der erste Punkt seines
Auftrags wieder ein:
»Ich muß«, dachte er, »zur Gare du Nord. Ich muß
mich sogar beeilen, denn es ist sehr wichtig, daß ich
pünktlich bei der Ankunft des Zuges aus Amsterdam
da bin. Wenn ich diese erste Aufgabe nicht richtig
erfülle, ist zu befürchten, daß man mir kein Vertrauen
mehr schenkt und mich nicht mehr weitermachen
läßt...«
Aber Simon Lecœur spürte deutlich, daß die ganze
Geschichte mit dem Bahnhof, dem Zug und dem Rei-
senden, den er nicht verfehlen durfte, überholt, abge-
laufen war: diese Zukunft gehörte schon der Vergan-
genheit an. Irgend etwas brachte Raum und Zeit
durcheinander. Und es gelang Simon nicht einmal,
darin seine eigene Lage zu bestimmen. Was war ihm
widerfahren? Und wann? Und wo?
Einerseits lag er nun auf dem Boden, ohne daß er den
Grund dafür erkennen konnte, im Staub und inmitten
verschiedener Bruchstücke, die in der Werkstatt her-
umlagen, zwischen den ausrangierten Werkstoffen
und Apparaten. Andererseits war es mitten am Tag.

74
Die schon hoch am Himmel stehende Sonne eines
schönen Frühlingsmorgens schien hell auf die Außen-
seite der staubigen Scheiben des Glasdaches; wohinge-
gen es dunkelte, als ihm in diesen selben, nicht mehr
benutzten Räumlichkeiten Djinn mit ihrem Regen-
mantel und Männerhut erschienen war ...
Simon erinnerte sich plötzlich an eine Szene aus jüng-
ster Zeit, die er wieder ganz genau vor Augen hatte: ein
etwa zehnjähriger Junge, der, nach seiner vollkomme-
nen Regungslosigkeit, seiner allzu starren Positur und
der wachsweißen Gesichtsfarbe zu urteilen, wahr-
scheinlich tot war und, mit einem großen Kruzifix auf
seiner Brust, im flackernden Schein dreier Kerzen eines
Messingleuchters auf der unbezogenen Matratze eines
Eisenbetts lag ...
Diesem Bild folgte ein anderes, ebenso klares und
flüchtiges: derselbe immer noch wie im vorigen Jahr-
hundert gekleidete Junge, der einen Blinden führte,
indem er ihn an der linken Hand hielt. Der Invalide
umklammerte mit seiner anderen Hand den krummen
Griff eines weißen Stocks, der ihm dazu diente, den
Boden vor seinen voranschreitenden Füßen zu erken-
nen. Eine dicke, schwarze Brille verbarg die Hälfte
seines Gesichts. Er trug eine Jacke aus feinem, weißem
Leder, mit einem Reißverschluß, der über einem leuch-
tend blauen Pullover weit geöffnet war ...
Ein jäher Gedanke durchdrang Simon Lecœurs Sinn.
Er führte die Hand an seine Brust. Er fand unter seinen
Fingern nicht das Ebenholzkruzifix (obgleich er selbst
ganz genauso auf dem Rücken lag wie der Bub wäh-
rend der Totenwache), aber er stellte das Vorhanden-

75
sein der Lammfelljacke und des Kaschmirpullovers
fest. Er erinnerte sich daran, sie tatsächlich für sein
Treffen von heute abend gewählt zu haben, obgleich
das Blau und das Weiß dieser sowohl eleganten als
auch saloppen Kleidungsstücke ihm nicht recht zu
seiner Stellungssuche gepaßt zu haben schien.
»Ach was«, sagte er sich, »es kann nicht das Treffen
von heute abend sein. Es ist noch nicht heute abend,
und das Treffen hat schon stattgefunden. Es war also
vermutlich gestern abend ... Was die beiden Szenen,
in denen derselbe Bub vorkommt, betrifft, so muß die
zweite sich vorher abgespielt haben, da ja in der ersten
das Kind auf seinem Totenbett liegt... Aber woher
kommen diese Bilder?«
Simon wußte nicht, ob er ihnen den Wert von Erinne-
rungen beimessen sollte, wie Ereignissen seines wirk-
lichen Lebens; oder ob es sich nicht vielmehr um jene
in den Träumen gebildeten Gestalten handelte, die im
Moment des Erwachens in unserem Kopf vorüberzie-
hen, und zwar meist in umgekehrter zeitlicher Reihen-
folge.
Jedenfalls war da eine Lücke in seiner erlebten Zeit. Es
schien nämlich kaum denkbar, daß Simon über zwölf
Stunden an diesem unbequemen Ort geschlafen
hätte ... es sei denn, Schlafmittel oder stärker wir-
kende Rauschgifte hätten es verursacht...
Ein neues Bild von wer weiß woher taucht überra-
schend in seinem verwirrten Gedächtnis auf: ein lan-
ges, schnurgerades, schlecht gepflastertes, von alten
Laternen schwach beleuchtetes Sträßchen zwischen
zusammenbrechenden Bretterwänden, fensterlosen

76
Mauern und halbverfallenen Häuschen ... Und wie-
der derselbe Bub, der aus einem der Häuser hervor-
stürmte, fünf oder sechs Schritte weit rannte und der
Länge nach in eine rötliche Pfütze fiel...
Simon Lecoeur erhob sich mühsam vom Boden. Er
fühlte sich wie gerädert, ihm war nicht wohl zumute, er
hatte einen schweren Kopf. »Ich muß einen Kaffee
trinken und ein Aspirin nehmen«, dachte er. Es fiel ihm
wieder ein, bei seinem Kommen durch die große, ganz
nahe Avenue mehrere Cafés und Gaststätten gesehen
zu haben. Simon klopfte ein paarmal mit der flachen
Hand auf den weißen Stoff seiner zerknautschten, aus-
gebeulten und mit schwarzem Staub bedeckten Hose;
aber er konnte ihr freilich nicht ihr normales Aussehen
wiedergeben.
Als er sich umdrehte, um wegzugehen, bemerkte er,
daß ein paar Meter weiter noch jemand in einer ähn-
lichen Positur auf dem Boden lag. Der Körper war
jedoch nicht ganz zu sehen: eine große Kiste verbarg
den Kopf und den oberen Teil der Brust. Simon ging
vorsichtig darauf zu. Er zuckte zusammen, als er das
Gesicht entdeckte: das von Djinn, ohne daß im gering-
sten daran zu zweifeln war.
Die junge Person lag quer auf dem Gang ausgestreckt,
hatte immer noch denselben zugeknöpften Regenman-
tel an und ihre Sonnenbrille und den weichen Filzhut
auf, der merkwürdigerweise auf dem Kopf geblieben
war, als sie, im Rücken durch eine Messerklinge oder
Revolverkugel tödlich getroffen, zusammengebro-
chen war. Von einer Wunde war nichts zu sehen, aber
eine Lache schon geronnenen Bluts hatte sich unter der

77
Brust gebildet und sich auf dem schwärzlichen Zement
rund um ihre linke Schulter ausgebreitet.
Minuten vergingen, ehe Simon sich zu einer Bewe-
gung entschloß. Er blieb regungslos stehen, ohne et-
was zu begreifen und auch ohne im geringsten zu
ahnen, was er tun sollte. Sein Entsetzen überwindend,
bückte er sich schließlich und wollte die Hand der
Leiche berühren ...
Diese war nicht nur steif und kalt, sondern schien ihm
auch viel zu hart, viel zu starr zu sein, als daß man hätte
glauben können, sie bestehe aus dem Fleisch und Blut
und den Gelenken eines Menschen. Um die letzten
Zweifel zu zerstreuen, und obgleich ein unerklärliches
Widerstreben ihn noch zurückhielt, zwang er sich
dazu, auch die Gliedmaßen, die Brust, die Haut der
Wangen und die Lippen zu betasten ...
Die offensichtliche Künstlichkeit des Ganzen über-
zeugte Simon restlos von seinem Irrtum, der eigent-
lich, ein paar Stunden später, nur die Wiederholung des
Mißverständnisses bei seiner Ankunft war: er hatte wie-
der die Puppe aus Pappmache vor sich. Die dunkelrote
Lache war allerdings nicht aus Kunststoff: Simon prüf-
te mit den Fingerspitzen ihre etwas feuchte, klebrige
Beschaffenheit. Man konnte jedoch nicht mit Sicherheit
behaupten, daß es sich um echtes Blut handelte.
Dies alles kam Simon Lecœur widersinnig vor; ihm
schwante jedoch dunkel, daß es eine genaue Bedeutung
für diese Vortäuschungen gäbe, wenngleich sie ihm
entging ... Die ermordete Puppe lag genau an der
Stelle, wo sich Djinn während seiner kurzen Begeg-
nung mit ihr am Vortage befunden hatte; obgleich

78
Simon sich sehr gut daran erinnerte, sie bei dieser
Gelegenheit im Erdgeschoß gesehen zu haben ... Es
sei denn, er verwechselte jetzt die beiden aufeinander-
folgenden Szenen, die mit Djinn und die mit der
Puppe.
Er beschloß, schleunigst fortzugehen, aus Angst da-
vor, daß sich noch andere Rätsel ergäben, die das
Problem noch komplizierter machen würden. Rätsel-
haftes gab es für ihn schon genug, um mehrere Stun-
den darüber nachzudenken. Aber, wie dem auch wäre,
je mehr er darüber nachdachte, desto weniger erkannte
er in alledem einen roten Faden.
Er ging die Treppe hinunter. Im Erdgeschoß stand die
genaue Nachbildung von Djinn immer noch an dersel-
ben Stelle, lässig an denselben Kisten lehnend, mit
beiden Händen in den Taschen ihres Regenmantels
und einem beinahe unmerklichen starren Lächeln auf
ihren Wachslippen. Es handelte sich also dort oben um
eine zweite, in jeder Hinsicht gleiche Puppe. Das sehr
schwache ironische Lächeln um den Mund herum glich
überhaupt nicht mehr dem Lächeln von Jane Frank.
Simon hatte nur das unangenehme Gefühl, daß man
sich über ihn lustig machte. Er zuckte die Schultern
und ging in Richtung der Glastür zum Hof.
... Ehe er über ihre Schwelle trat, richtete die Pseudo-
puppe sich ein wenig auf, und ihr Lächeln verstärkte
sich. Die rechte Hand kam aus der Trenchcoattasche,
bewegte sich hinauf bis zum Gesicht und nahm lang-
sam die schwarze Brille ab ... Die hübschen, hellgrü-
nen Augen erschienen wieder ...
Simon selbst war es, der, seinen Weg fortsetzend, sich

79
diese letzte Irreführung vorstellte. Aber er gab sich
nicht die Mühe, sich umzudrehen, um deren geringe
Wahrscheinlichkeit vollends zu zerstören, da er fest da-
von überzeugt war, diesmal nur eine Amerikanerin aus
dem Wachsfigurenkabinett gesehen zu haben. Er über-
querte den Hof und ging zum Hoftor hinaus; dann, am
äußersten Ende des Sträßchens, gelangte er wie vor-
gesehen auf die große, von Fußgängern wimmelnde
Avenue. Simon fühlte sich dabei sehr erleichtert, so als
kehrte er endlich, nach einer nicht enden wollenden Ab-
wesenheit, in die wirkliche Welt zurück.
Es konnte, nach dem Stand der Sonne zu urteilen,
beinahe Mittag sein. Da Simon seine Armbanduhr
letzte Nacht nicht rechtzeitig aufgezogen hatte, war sie
freilich stehengeblieben; er hatte dies soeben festge-
stellt. Da er seine ganze Selbstsicherheit wiedergewon-
nen hatte, ging er nun flotten Schritts einher. Aber er
sah keine einzige Kneipe oder Gaststätte. Obgleich die
Avenue, wie er sich erinnerte, in ihrer ganzen Länge
zahlreiche Lokale aufwies, mußte die Aufeinander-
folge der Cafés in Wirklichkeit erst etwas später begin-
nen. Er ging in das erste, das er erblickte.
Simon erkannte den Ort sofort wieder: hier hatte er
schon eine Tasse schwarzen Kaffees getrunken, als er
zum ersten Mal aus der stillgelegten Werkstatt gekom-
men war. Aber heute waren schon viele Gäste da, und
Simon hatte es nicht leicht, einen freien Tisch zu fin-
den. Er entdeckte schließlich einen in einer dunklen
Ecke, und setzte sich so, daß er das Lokal überblicken
konnte.
Der schweigsame Kellner vom Tag vorher in weißer

80
Weste und schwarzer Hose hatte heute keinen Dienst,
es sei denn, daß er hinausgegangen wäre, um aus der
Küche irgendeine warme Speise zu holen. Eine ältere
Frau in grauem Kittel ersetzte ihn. Sie ging zu dem
neuen Gast, um seine Bestellung entgegenzunehmen.
Simon sagte ihr, daß er nur einen schwarzen Kaffee
wünschte, einen sehr starken mit einem Glas Leitungs-
wasser.
Als sie mit dem weißen Täßchen, einer Karaffe und
einem großen Glas auf einem Tablett wiederkam,
fragte er sie mit möglichst gleichgültiger Miene, ob der
Kellner heute nicht da sei. Sie antwortete nicht sofort,
so als dächte sie über die Frage nach; dann sagte sie mit
einer etwas beunruhigt klingenden Stimme:
»Welchen Kellner meinen Sie?«
»Den Mann mit der weißen Weste, der sonst hier
bedient.«
»Ich bediene hier immer die Gäste«, sagte sie. »Hier ist
sonst niemand, selbst bei Hochbetrieb.«
»Gestern habe ich aber doch gesehen, daß ...«
»Gestern haben Sie gar nichts sehen können: da war
Ruhetag.«
Sie ging, von ihren Pflichten gedrängt, wieder weg. Ihr
Ton war nicht ausgesprochen unangenehm, nur voller
Überdruß und sogar Traurigkeit. Simon beobachtete
seine Umgebung. Verwechselte er diese Gaststätte mit
einer anderen, ähnlich eingerichteten?
Abgesehen von der Anwesenheit zahlreicher Gäste
(Arbeiter und kleine Angestellte beiderlei Ge-
schlechts), war die Ähnlichkeit jedenfalls frappierend:
die gleiche Glaswand trennte den Gastraum vom Bür-

81
gersteig, die Tische waren die gleichen und in gleicher
Weise angeordnet; die Flaschen hinter der Zinktheke
standen genauso nebeneinander, und die gleichen
Schildchen waren über der oberen Flaschenreihe ange-
bracht. Eines davon pries die gleichen Schnellgerichte
an: Sandwiches, Croque-monsieur, Pizza usw.
»Obgleich man hier schon lange keine Pizza mehr
serviert«, dachte Simon Lecœur. Dann wunderte er
sich, daß solch eine Gewißheit sich ihm plötzlich so
stark aufgedrängt hatte. Er trank seinen Kaffee in
einem Zuge aus. Da auf der Preisliste die Pizzapreise
verzeichnet waren, konnte man zweifellos welche be-
stellen. Warum hatte Simon plötzlich das Gegenteil
geglaubt? Er verfügte selbstverständlich über keinerlei
besondere Auskunft, die es ihm erlaubt hätte.
Aber während er die anderen hinter der Theke befe-
stigten kleinen Plakate studierte, wurde seine Auf-
merksamkeit durch ein photographisches Porträt be-
scheidener Ausmaße in schwarzem Rahmen angezo-
gen, das man ebenfalls da, etwas abseits, in der Nähe
der Vorschrift, die den Verkauf alkoholischer Ge-
tränke an Minderjährige untersagt, aufgehängt hatte.
Von einer Wißbegierde ergriffen, die er sich nur
schlecht erklären konnte, stand Simon Lecœur, unter
dem Vorwand, sich zur Toilette zu begeben, auf und
machte einen kleinen Umweg, um an dem Photo vor-
beizugehen. Da blieb er wie zufällig stehen, um es sich
genauer anzusehen.
Es stellte einen etwa dreißigjährigen Mann mit klarem,
aber beunruhigendem Blick in der Uniform eines Ma-
rineoffiziers dar, oder, genauer, eines Marineunteroffi-

82
ziers. Das Gesicht erinnerte Simon an etwas ... Auf
einmal begriff er, warum: es war der Kellner, der ihn
am Tag vorher bedient hatte.
Ein geweihter, unter den schwarzen Holzrahmen ge-
schobener Buchsbaumzweig ragte ein ganzes Stück an
der rechten Seite hervor. Seine von den Jahren ausge-
dörrten, staubigen Stiele hatten die Hälfte ihrer Blätt-
chen verloren. Auf den vergilbten, weißen Rand unter
die Photographie hatte offensichtlich eine Linkshän-
derschrift folgende Widmung geschrieben: »Für Marie
und Jean, ihr lieber Papa.«
»Möchten Sie wissen, was das für eine Uniform ist?«
fragte die Kellnerin.
Simon hatte sie nicht kommen hören. Die Frau im
grauen Kittel war mit dem Abtrocknen von Gläsern
hinter ihrer Theke beschäftigt. Sie sagte weiter:
»Da sehen Sie meinen Vater. Er war Russe.«
Simon, dem dies noch nicht aufgefallen war, mußte
anerkennen, daß diese Aufmachung tatsächlich nicht
zur französischen Marine gehörte. Aber da der Mann
keine Mütze aufhatte, fiel der Unterschied beim ersten
Blick gar nicht auf. Nur um etwas zu sagen, fragte
er dummerweise, ob der Seemann auf See gestorben
sei:
»Auf See umgekommen«, verbesserte ihn die Frau.
»Und Sie heißen Marie?«
»Das ist doch klar!« sagte sie, die Schultern zuckend.
Er ging ins Souterrain hinab, wo sich übelriechende
Toiletten befanden. Die cremefarben gestrichenen
Wände dienten den Benutzern dazu, ihre politischen
Meinungen, ihre geschäftlichen Termine und ihre se-

83
xuellen Phantasien aufzuschreiben. Simon sagte sich,
daß vielleicht eine der Mitteilungen für ihn bestimmt
sei; zum Beispiel diese Telefonnummer, die, mit einem
Rotstift in alle Richtungen geschrieben, immer wieder-
kehrte: 765—43—21. Die Ziffern waren jedenfalls
leicht
zu behalten.
Als er wieder an seinen Platz zurückkehrte, verweilte
sein Blick auf der einspringenden Ecke der Wandver-
kleidung aus Holzfaserplatten, genau hinter dem
Stuhl, auf dem er gesessen hatte. Ein weißer Stock, wie
die Blinden ihn benützen, lehnte in dem Winkel. Diese
sehr schlecht beleuchtete Wand war ihm bei seiner
Ankunft nicht aufgefallen. Der Stock mußte schon
dagewesen sein. Simon Lecœur setzte sich wieder. Als
die traurige Kellnerin in der Nähe vorbeikam, gab er
ihr ein Zeichen:
»Bitte, bringen Sie mir eine Pizza.«
»Wir haben seit Monaten keine mehr«, antwortete die
graue Frau. »Der Gesundheitsdienst hat uns den Pizza-
verkauf untersagt.«
Simon trank sein Glas Wasser aus und bezahlte den
Kaffee. Er ging auf den Ausgang zu, als er sich an
etwas erinnerte. »Nanu«, sagte er halblaut, »ich ver-
gesse ja meinen Stock.« Kein anderer Tisch stand nahe
genug an dem Ding, daß es einem anderen Gast gehö-
ren könnte. Simon kehrte schnell wieder zurück, nahm
ohne Zögern den weißen Stock, klemmte ihn unter
seinen linken Arm und durchquerte den vollbesetzten
Gastraum mit gelassener Miene. Er ging hinaus, ohne
daß jemand sich um ihn zu kümmern schien.
Vor dem Cafeeingang breitete ein Straßenhändler auf

84
dem Bürgersteig Kämme aus künstlichem Schildpatt
und anderen Kleinkram aus. Obgleich sie Simon Le-
cœur übertrieben teuer vorkam, kaufte er sich eine
schwarze Brille mit sehr breiten und sehr dunklen
Gläsern. Das Gestell gefiel ihm wegen seiner dem
Gesicht eng angepaßten Form. Die helle Frühlings-
sonne tat ihm weh in den Augen, und er hatte es
nicht gern, wenn ihre schrägen Strahlen durch allzu
weite Seitenöffnungen drangen. Er setzte die Brille
sofort auf; sie paßte ihm sehr gut. Ohne daß er
wußte, warum — bloß zum Spiel vielleicht —, schloß
Simon die Augen in der Geborgenheit seiner schwar-
zen Gläser und ging los, wobei er den Asphalt vor
seinen Füßen mit der Eisenspitze des Stocks ab-
tastete. Er hatte dabei das Gefühl einer Entspan-
nung.
Solange er noch die Anordnung der Örtlichkeiten um
ihn herum im Gedächtnis hatte, konnte er ohne allzu
große Schwierigkeiten vorankommen, obgleich er im-
mer langsamer gehen mußte. Nach etwa zwanzig
Schritten hatte er nicht mehr die geringste Vorstellung
von den Hindernissen, die ihn umgaben. Er fühlte sich
ganz verloren und blieb stehen, öffnete jedoch nicht
die Augen. Sein Auftreten als Blinder bewahrte ihn
davor, angerempelt zu werden.
»Möchten Sie, daß ich Ihnen beim Überqueren der
Straße helfe?«
Ein Junge redete ihn so an. Simon konnte leicht sein
Alter schätzen, da seine Stimme sich ganz unverkenn-
bar gerade im Wechsel befand. Die deutlich wahr-
nehmbare Herkunft des Schalls zeigte außerdem die

85
Größe des Kindes mit einer Genauigkeit an, die den
Pseudoblinden in Erstaunen setzte.
»Ja, danke«, antwortete Simon, »sehr gerne.«
Der Bub erfaßte seine linke Hand, sanft und fest zu-
gleich.
»Warten Sie einen Moment«, sagte er, »die Wagen
haben grünes Licht und fahren schnell auf der Ave-
nue.«
Simon schloß daraus, daß er genau am Rand des Bür-
gersteigs stehengeblieben war. Er war also schon nach
einigen Minuten von seiner ursprünglichen Richtung
stark abgewichen. Aber das Experiment verlockte ihn
immer noch und faszinierte ihn sogar; er wollte es
fortsetzen, bis ein unüberwindliches Hindernis ihm ein
Ende bereiten würde.
Er erkannte dank der Eisenspitze mühelos die grani-
tene Randkante und die Bürgersteighöhe, von der er
hinabtreten mußte, um auf die Fahrbahn zu gelangen.
Sein törichter Starrsinn wunderte ihn selbst: »Ich muß
einen schlimmen Ödipuskomplex haben«, sagte er
sich, wobei er lächelte, während der Bub ihn voranzog,
nachdem die Autos den Fußgängern endlich den Über-
gang freigegeben hatten. Aber bald verschwand das
Lächeln, von folgender stillschweigenden Überlegung
vertrieben:
»Ich darf nicht lachen: Blindsein ist traurig.« ...
Das duftige Bild eines kleinen Mädchens in weißem, in
der Taille von einem breiten Band eng zusammenge-
halten Kleid mit Kräuselfalten zeigte sich, nachdem es
ein Weilchen in einer nicht genauer bestimmbaren Er-
innerung mehrmals flüchtig erschienen war, schließ-

86
lieh doch deutlich erkennbar hinter der Blende der
geschlossenen Augenlider ...
Die Kleine steht regungslos im Rahmen einer Tür. Ihre
zu dunkle Umgebung läßt kaum etwas erkennen. Aus
dem Halbdunkel tauchen nur das weiße Organzakleid,
das blonde Haar und das blasse Gesicht auf. Das Kind
hält mit beiden Händen einen großen dreiarmigen
Leuchter aus blankgeputztem, glänzendem Messing
vor sich hin; aber dessen drei Kerzen sind erloschen.
Ich frage mich wieder einmal, woher diese Bilder kom-
men. Dieser Kerzenleuchter ist schon einmal in mei-
nem Gedächtnis erschienen. Er stand auf einem Stuhl,
damals mit brennenden Kerzen, neben dem Kopf eines
kleinen Jungen, der auf seinem Totenbett lag ...
Aber wir sind jetzt auf der anderen Seite der Straße
angelangt, und ich fürchte, daß mein Begleiter mich im
Stich läßt. Da ich mich in meiner Blindenrolle noch
nicht so recht wohl fühle, möchte ich, daß wir zusam-
men noch ein paar zusätzliche Minuten lang weiterge-
hen. Um Zeit zu gewinnen, stelle ich ihm Fragen:
»Wie heißt du?«
»Ich heiße Jean.«
»Wohnst du in diesem Viertel?«
»Nein, ich wohne im vierzehnten.«
Wir befinden uns jedoch am anderen Ende von Paris.
Obgleich zahlreiche Gründe die Anwesenheit dieses
Kindes hier erklären könnten, wundere ich mich dar-
über, daß es sich so auf der Straße herumtreibt, so weit
von seiner Wohnung. Im Begriff, ihm hierzu eine

87
Frage zu stellen, fürchte ich plötzlich, daß meine Zu-
dringlichkeit dem Jungen befremdlich vorkommt, daß
er sich deswegen beunruhigt und sogar, daß sie ihn
fliehen läßt...
»Rue Vercingétorix«, präzisiert der Bub mit seiner
Stimme, die jäh von hohen Tönen zu tiefen übergeht,
mitten in einem Wort sogar.
Der Name des Gallierfürsten wundert mich: ich
glaube, daß es nur eine Rue Vercingétorix gibt, die in
diese Avenue hier mündet, und ich glaube nicht, daß es
davon anderswo noch eine gibt, jedenfalls nicht in
Paris. Es kann nicht sein, daß derselbe Name für zwei
verschiedene Straßen ein und derselben Stadt benutzt
wird; es sei denn, es gäbe zwei Männer namens Vercin-
gétorix in der Geschichte Frankreichs. Ich teile mei-
nem Gefährten meine Zweifel mit.
»Nein«, antwortet er prompt, »es gibt nur einen Ver-
cingétorix und nur eine nach ihm benannte Straße in
Paris. Sie befindet sich im vierzehnten Arrondisse-
ment.«
Sollte ich sie denn mit einem anderen Straßennamen
verwechselt haben? ... Es kommt recht häufig vor,
daß wir so an ganz unzutreffende Dinge glauben: es
genügt, daß ein Erinnerungsbruchstück von anders-
woher ins Innere eines offengebliebenen, zusammen-
hängenden Ganzen eindringt, oder aber, daß wir un-
bewußt zwei nicht zusammenpassende Hälften verei-
nigen, oder aber, daß wir die Ordnung der Elemente in
einem kausalen System umkehren, damit in unserem
Kopf Hirngespinste entstehen, die für uns alle äußeren
Anzeichen der Wirklichkeit haben ...

88
Aber ich verschiebe die Lösung meines topographi-
schen Problems auf später, da ich fürchte, daß der Bub
schließlich meiner Fragen überdrüssig wird. Er hat
meine Hand losgelassen, und ich bezweifle, ob er mir
noch lange als Begleiter dienen will. Seine Eltern er-
warten ihn vielleicht zum Mittagessen.
Da er seit ziemlich langer Zeit (lange genug, damit es
mir bewußt wird) nichts mehr gesagt hat, fürchte ich
sogar einen Moment, daß er schon fort ist und daß ich
nunmehr meinen Weg allein werde fortsetzen müssen,
ohne seinen unverhofften Beistand. Ich muß wohl rat-
los aussehen, denn ich höre nun seine trotz ihrer selt-
samen Töne beruhigende Stimme.
»Es sieht nicht so aus«, sagte er, »als wären Sie daran
gewöhnt, allein zu gehen. Möchten Sie, daß wir noch
ein wenig zusammenbleiben? Wohin gehen Sie?«
Die Frage bringt mich in Verlegenheit. Ich muß jedoch
vermeiden, daß mein improvisierter Begleiter es
merkt. Damit ihm nicht bewußt wird, daß ich selbst
nicht weiß, wohin ich gehe, antworte ich ganz sicher,
ohne zu überlegen:
»Zur Gare du Nord.«
»Dann hätten wir die Fahrbahn nicht überqueren sol-
len. Das ist auf der anderen Seite der Avenue.«
Er hat freilich recht. Ich gebe ihm, wieder überstürzt,
die einzige Erklärung, die mir in den Sinn kommt:
»Ich dachte mir, dieser Bürgersteig sei nicht so über-
füllt.«
»Er ist es tatsächlich nicht«, sagt der Bub. »Aber Sie
hätten auf jeden Fall sofort nach rechts einbiegen sol-
len. Nehmen Sie den Zug?«

89
»Nein, ich werde auf einen Freund warten.«
»Woher kommt er?«
»Er kommt aus Amsterdam.«
»Wann kommt er an?«
Ich habe mich hier abermals auf gefährliches Gelände
gewagt. Wenn es nur wirklich einen solchen Zug am
frühen Nachmittag gibt! Es ist zum Glück sehr un-
wahrscheinlich, daß dieses Kind den Fahrplan kennt.
»Ich kann mich nicht mehr an die genaue Zeit er-
innern«, sage ich. »Aber ich bin sicherlich viel zu
früh.«
»Der Schnellzug aus Amsterdam läuft um 12h 34 im
Bahnhof ein«, sagt der Bub. »Wir können rechtzeitig
da sein, wenn wir die Abkürzung wählen. Kommen
Sie. Beeilen wir uns.«
7. Kapitel

»Wir werden durch das Sträßchen gehen«, sagt der


Bub. »Da kommen wir schneller voran. Aber Sie wer-
den beim Aufsetzen Ihrer Füße achtgeben müssen: die
Pflastersteine sind dort nämlich sehr ungleichförmig.
Dafür sind da keine Autos und auch keine Fußgänger
mehr.«
»Gut«, sage ich, »ich werde achtgeben.«
»Ich werde Sie, so gut ich es kann, zwischen den
Löchern und Buckeln hindurchführen. Wenn eine be-
sondere Schwierigkeit auftaucht, werde ich Ihre Hand
fester umfassen ... So, hier ist es: wir müssen nun
rechts einbiegen.«
Ich sollte freilich lieber die Augen aufmachen. Es wäre
klüger, und auf jeden Fall bequemer. Ich habe jedoch
beschlossen, solange es mir möglich sein wird, mich
wie ein Blinder voranzubewegen. Es muß so etwas wie
ein sinnloses Ansinnen sein. Ich würde im Grunde wie
ein Tor handeln, oder wie ein Kind, woran ich kaum
gewöhnt bin ...
Gleichzeitig scheint mir diese Finsternis, zu der ich
mich verdamme und in der es mir zweifellos gefällt,
vortrefflich zu der geistigen Unsicherheit zu passen, in
der ich mich seit meinem Erwachen herumschlage.
Meine freiwillige Blindheit wäre dafür eine Art Meta-
pher oder Objektivierung oder Verdoppelung ...
Der Bub zieht kräftig an meinem linken Arm. Er geht
mit weiten, leichten, sicheren Schritten voran, deren
Rhythmus ich nur mit Mühe folgen kann. Ich sollte
drauflosgehen, mehr Risiken eingehen, aber ich wage

91
es nicht: ich taste mit dem Stockende den Boden vor
mir ab, als fürchtete ich, mich plötzlich vor einem
Abgrund zu befinden, was immerhin sehr erstaunlich
wäre ...
»Wenn Sie nicht schneller gehen«, sagt der Bub, »wer-
den Sie nicht rechtzeitig zum Zug kommen, Sie wer-
den Ihren Freund verfehlen, und wir werden ihn dann
im ganzen Bahnhof suchen müssen.«
Die Zeit, zu der ich ankommen werde, kümmert mich
kaum, und zwar aus gutem Grund. Ich folge meinem
Blindenführer jedoch vertrauensvoll und beflissen. Ich
habe das komische Gefühl, daß er mich zu etwas Wich-
tigem führt, von dem ich nichts weiß und das mit der
Gare du Nord und dem Zug aus Amsterdam gar nichts
zu tun hat.
Wahrscheinlich von diesem dunklen Gedanken getrie-
ben, wage ich mich immer verwegener auf dieses Ge-
lände voller Überraschungen, an das meine Füße sich
allmählich gewöhnen. Bald fühle ich mich darauf ganz
wohl. Es will mir beinahe scheinen, als schwömme ich
in einem neuen Element...
Ich dachte nicht, daß meine Beine so leicht selbständig,
sozusagen unkontrolliert funktionieren würden. Sie
möchten sogar, mitgerissen von einer Kraft, an der der
Bub keinerlei Anteil hat, noch schneller gehen. Ich
würde jetzt rennen, wenn er es von mir verlangte ...
Aber da stolpert er ja plötzlich. Ich habe nicht einmal
Zeit, ihn festzuhalten, seine Hand entgleitet meiner,
und ich höre, wie er genau vor mir schwer zu Boden
fällt. Es fehlt nicht viel, und ich würde, von meinem
Schwung mitgerissen, ebenfalls stürzen, und zwar auf

92
ihn, und wir würden zusammen durch das Dunkel
rollen, einer über den anderen, wie Figuren von Sa-
muel Beckett. Ich lache schallend über dieses Bild,
während ich mein Gleichgewicht wiedergewinne.
Mein Begleiter aber lacht nicht über sein Mißgeschick.
Er läßt kein einziges Wort verlauten. Ich höre nicht
mehr, daß er sich bewegt. Sollte er infolge eines un-
wahrscheinlichen mißlichen Umstands verletzt sein?
Sollte sein Sturz bei ihm eine Gehirnerschütterung
verursacht haben, weil der Kopf auf einen höherragen-
den Pflasterstein geprallt wäre?
Ich rufe ihn beim Vornamen und frage ihn, ob er sich
weh getan hat; aber er antwortet nicht. Eine große
Stille ist plötzlich entstanden und dauert an, was mich
allmählich ernsthaft beunruhigt. Ich taste mit der
Eisenspitze meines Stocks den Steinboden ab, wobei
ich tausend Vorkehrungen treffe ...
Der Körper des Buben liegt quer über die Fahrbahn.
Er scheint sich nicht zu bewegen. Ich knie nieder und
beuge mich über ihn. Ich lasse meinen Stock los, um
seine Kleidung mit beiden Händen abzufühlen. Es
erfolgt keinerlei Reaktion, aber unter meinen Fingern
spüre ich eine klebrige Flüssigkeit, deren Natur ich
nicht bestimmen kann.
Diesmal bekomme ich wirklich Angst. Ich öffne die
Augen. Ich nehme meine schwarze Brille ab ... Ich
werde zunächst durch die Helligkeit geblendet, an die
ich nicht mehr gewöhnt bin. Dann ordnen sich die
Bilder der Umwelt, werden deutlicher und nehmen
Gestalt an, wie bei einem Polaroidphoto, dessen Bild
allmählich auf ganz weißem Lackpapier erscheint...

93
Aber sie sehen wie aus einer sich wiederholenden und
beängstigenden Traumwelt aus, deren innersten Win-
keln zu entkommen mir nicht gelänge ...
Die lange, verlassene Straße, die sich vor mir erstreckt,
erinnert mich nämlich an etwas, dessen Zugehörigkeit
ich allerdings nicht näher bestimmen könnte: ich habe
lediglich den Eindruck von einem Ort, an dem ich
schon gewesen war, neulich, einmal jedenfalls, oder
vielleicht mehrmals ...
Es ist ein schnurgerades, ziemlich enges, leeres, einsa-
mes Sträßchen, dessen Ende man nicht sehen kann. Es
ist, als wäre es von den Menschen verlassen, zum Sperr-
gebiet erklärt, von der Zeit vergessen worden. Auf bei-
den Seiten stehen Reihen niedriger, unbestimmter,
mehr oder weniger verfallener Bauten: Hütten mit klaf-
fenden Tür- und Fensterlücken, Werkstattruinen,
blinde Mauern und brüchige Bretterwände ...
Auf dem altmodischen, groben Pflaster — das wohl seit
hundert Jahren nie mehr in Ordnung gebracht wurde
— liegt ein etwa zwölfjähriger Bub in einem grauen,
bauschigen, in der Taille zusammengehaltenen Kittel,
wie sie die kleinen Knaben aus dem Volke im vorigen
Jahrhundert trugen, der Länge nach auf dem Bauch,
anscheinend ohne Bewußtsein ...
Dies alles hätte sich demnach schon zu einem früheren
Zeitpunkt zugetragen, mindestens einmal. Die immer-
hin außergewöhnliche Situation, der ich hier ausge-
setzt bin, würde nur ein früheres, genau gleiches Aben-
teuer wiederholen, dessen Wechselfälle ich selbst erlebt
hätte, und in dem ich die gleiche Rolle spielte ... Aber
wann? Und wo?

94
Die Erinnerung verblaßt ganz allmählich ... Je mehr
ich mich ihr zu nähern versuche, um so mehr entflieht
sie mir ... Ein letzter Schimmer noch ... Dann nichts
mehr. Es wird nur eine kurze Sinnestäuschung gewe-
sen sein. Ich kenne übrigens gut diese lebhaften, flüch-
tigen Eindrücke, die ich, ebenso wie viele andere,
häufig habe, und denen man mitunter den Namen
Zukunftsgedächtnis gibt.
Es würde sich eigentlich eher um ein Momentange-
dächtnis handeln; man glaubt, das, was einem ge-
schieht, sei einem schon früher geschehen, als ob sich
die Gegenwart verdoppele, sich in der Mitte in Zwil-
lingsteile spalte: eine unmittelbare Wirklichkeit und
eine Scheinwirklichkeit... Aber die scheinbare
schwankt sofort... Man möchte sie fassen ... Sie
gleitet hinter unseren Augen hin und her, wie ein
durchsichtiger Schmetterling oder ein tanzendes Irr-
licht, deren Spielzeug wir wären ... Zehn Sekunden
später ist alles endgültig verschwunden.
Was den Verletzten angeht, so beruhigt mich jedenfalls
eines: die zähe Flüssigkeit, mit der ich mir die Finger
befleckt habe, als ich den Boden in der Nähe des grauen
Leinenkittels abfühlte, ist kein Blut, obgleich einen
ihre Farbe ebenso wie ihre Konsistenz auf den Gedan-
ken bringen könnte.
Es ist nur eine gewöhnliche Pfütze rötlichen, durch
Roststaub getönten Schlamms, die wahrscheinlich seit
dem letzten Regen in dieser Pflastervertiefung sein
wird. Das Kind ist, zum Glück für seine Kleider, die
ärmlich aber sehr sauber sind, genau auf den Rand
gefallen. Vielleicht hat es, weil es mich um dieses

95
Hindernis, auf das ich zueilte, herumführen wollte, das
Gleichgewicht verloren. Ich hoffe, daß die Folgen sei-
nes Sturzes nicht allzu beklagenswert sein werden.
Aber ich müßte mich unverzüglich darum kümmern.
Selbst wenn der Junge sich nichts gebrochen hat,
würde die Tatsache, daß er ohnmächtig geworden ist,
mich irgendeine schlimme Quetschung befürchten las-
sen. Ich sehe jedoch, als ich den zartgliedrigen Körper
mit mütterlicher Fürsorge umdrehe, weder an der Stirn
noch am Kiefer die geringste Verletzung.
Das ganze Gesicht ist unversehrt. Die Augen sind
geschlossen. Man möchte meinen, daß der Bub schläft.
Puls und Atmung scheinen normal, wenn auch sehr
schwach zu sein. Jedenfalls muß ich handeln: niemand
wird mir an diesem verlassenen Ort beistehen.
Wenn die Häuser, die uns umgeben, bewohnt wären,
würde ich dort Hilfe holen. Ich würde das Kind dort-
hin tragen, barmherzige Frauen würden ihm ein Bett
anbieten, und wir würden das Unfallkommando oder
einen in der Nähe wohnenden Arzt, der bereit wäre, an
den Ort des Geschehens zu kommen, anrufen.
Aber gibt es überhaupt Mieter in diesen allen Winden
offenen Bruchbuden? Das würde mich sehr wundern.
Es dürften dort allenfalls Landstreicher wohnen, die
mich auslachen werden, wenn ich sie um ein Bett oder
ein Telefon bitte. Vielleicht werden sie mir sogar,
wenn ich sie bei irgendeiner verdächtigen Beschäfti-
gung störe, einen noch schlechteren Empfang berei-
ten.
In diesem Augenblick erst bemerke ich genau zu mei-
ner Rechten ein kleines, zweistöckiges Gebäude, in

96
besserem Zustand als die danebenstehenden, dessen
Fenster in ihren Öffnungen geblieben sind und noch
alle Scheiben enthalten. Die Tür steht halb offen ...
Hier werde ich also meinen ersten Besuch wagen. So-
bald ich den Verletzten an einen geschützten Ort ge-
bracht habe, werde ich schon ruhiger sein.
Aber mir scheint, unerklärlicherweise, daß ich die
Fortsetzung schon kenne: indem ich den halb offenste-
henden Türflügel mit dem Fuß aufstoße, werde ich mit
dem leblosen Kind, das ich behutsam in meinen Armen
tragen werde, in dieses unbekannte Haus dringen.
Drinnen wird alles dunkel und verlassen sein. Ich
werde jedoch einen vagen, bläulichen Schimmer sehen,
der aus dem ersten Stock kommen wird. Ich werde
langsam eine schmale, steile Holztreppe hinaufklet-
tern, deren Stufen in der Stille knarren werden ...
Ich weiß es. Es fällt mir wieder ein ... Ich erinnere
mich mit halluzinatorischer Präzision an dieses ganze
Haus, an all diese Geschehnisse, die also schon stattge-
funden hätten, deren Aufeinanderfolge schon hinter
mir läge, an denen ich schon aktiv beteiligt gewesen
wäre ... Aber wann war das?
Am oberen Ende der Treppe war eine halb offenste-
hende Tür. Ein großes, schlankes junges Mädchen mit
sehr blondem Haar stand im Türspalt, als erwartete sie
die Ankunft von jemandem. Sie trug ein weites Kleid
aus weißem, duftigem, durchscheinendem Stoff, des-
sen nach den Launen einer kaum denkbaren Brise
flatternden Falten die Reflexe jenes blauen Lichts auf-
fingen, das von wer weiß woher kam.
Ein undefinierbares, sehr sanftes, junges, fernes Lä-

97
cheln ließ ihre blassen Lippen ein wenig offenstehen.
Ihre großen, grünen Augen, die im Halbdunkel noch
größer aussahen, hatten einen seltsamen Glanz, »wie
die Augen eines Mädchens, das aus einer anderen Welt
gekommen wäre«, dachte Simon Lecœur, als er sie
erblickte.
Und er blieb dort auf der Schwelle des Zimmers re-
gungslos stehen, in seinen Armen (»wie einen Armvoll
zum Geschenk dargebrachter Rosen«, sagte er sich)
den kleinen ohnmächtigen Jungen. Gebannt betrach-
tete er die wunderbare Erscheinung und fürchtete jede
Sekunde, daß sie wie Rauch verschwinden könnte, vor
allem, wenn ein etwas heftigerer Luftzug (dem jedoch
nichts anderes im Zimmer ausgesetzt zu sein schien)
die Schleierstoffe um sie herumfliegen ließ »wie
aschenfarbene Flammen«.
Nach einer vermutlich recht langen Zeit (die jedoch
nicht mit Sicherheit gemessen werden kann), während
der es Simon nicht gelang, in seinem Kopf irgendeinen
Satz zu bilden, der dieser außergewöhnlichen Lage
entsprochen hätte, sagte er schließlich, weil er sich
nicht anders zu helfen wußte, diese einfachen, armseli-
gen Worte:
»Ein Kind hat sich verletzt.«
»Ja, ich weiß«, sagte das junge Mädchen, jedoch mit so
großer Verspätung, daß Simons Worte, um zu ihr zu
gelangen, unermeßliche Räume durchquert zu haben
schienen. Dann, nach einem neuen Schweigen, fügte
sie hinzu: »Guten Tag. Mein Name ist Djinn.«
Ihre Stimme war sanft aber fern, schön aber unfaßlich,
wie ihre Augen.

98
»Sind Sie eine Elfe?« fragte Simon.
»Ein Geist, eine Elfe, ein Mädchen, wie Sie wünschen.«
»Mein Name ist Simon Lecœur«, sagte Simon.
»Ja, ich weiß«, sagte die Unbekannte.
Sie hatte einen leichten, ausländischen Akzent, einen
englischen vielleicht, es sei denn, dies wären die sin-
genden Intonationen der Sirenen oder Feen. Ihr Lä-
cheln hatte sich während ihrer letzten Worte unmerk-
lich verstärkt: man hätte gemeint, sie spräche von
anderswoher, aus sehr weiter zeitlicher Ferne, sie hielte
sich in einer zukünftigen Welt auf, in der alles schon
vollendet wäre.
Sie machte die Tür weit auf, damit Simon mühelos
eintreten könnte. Und sie zeigte ihm mit einer anmuti-
gen Bewegung ihres bloßen Arms (der sich gerade bei
dieser Bewegung aus einem sehr weiten, nach unten
breiter werdenden Ärmel befreit hatte) ein altmodi-
sches Messingbett, dessen Kopfende an der hinteren
Wand, unter einem Ebenholzkruzifix, von zwei fun-
kelnden, vergoldeten Bronzeleuchtern flankiert wurde,
die mit zahlreichen Kerzen versehen waren. Djinn be-
gann, die Kerzen nacheinander anzuzünden.
»Man möchte meinen, ein Totenbett«, sagte Simon.
»Werden alle Betten nicht eines Tages Totenbetten?«
antwortete das junge Mädchen kaum hörbar flüsternd.
Ihre Stimme erklang dann etwas voller, um, plötzlich
mütterlich, zu versichern: »Sobald Sie ihn auf die wei-
ßen Laken gelegt haben, wird Jean in einen traumlosen
Schlaf sinken.«
»Sie wissen also auch, daß er Jean heißt?«
»Wie sollte er sonst heißen? Welchen sonderbaren Na-

99
men sollte er Ihrer Meinung nach haben? Alle kleinen
Jungen heißen Jean. Alle kleinen Mädchen heißen
Marie. Sie wüßten das, wenn Sie von hier wären.«
Simon fragte sich, was sie unter dem Wort »hier«
verstand. Bezeichnete es dieses sonderbare Haus? Oder
diese verlassene Straße in ihrer Gesamtheit? Oder aber
was sonst? Auf das Trauerbett legte Simon ganz sachte
das immer noch leblose Kind, dessen Hände Djinn
mitten auf der Brust zusammenlegte, wie man es bei
denen tut, deren Seele entschwindet.
Der Bub ließ es sich gefallen, ohne den geringsten
Widerstand zu leisten oder in irgendeiner Weise darauf
zu reagieren. Er hatte die Augen weit offen, aber seine
Pupillen waren starr. Das Flammenlicht der Kerzen
ließ darin tanzende Reflexe schimmern, die ihnen ein
fieberhaftes, übernatürliches, beunruhigendes Leben
verliehen.
Djinn verharrte jetzt wieder regungslos neben dem
Bett, das sie mit gelassener Miene betrachtete. Wie sie
da in ihrem duftigen, beinahe ätherischen weißen Kleid
stand, hätte man sie für einen Erzengel gehalten, der
über die Ruhe eines kummervollen Herzens wachte.
Simon mußte sich in der bedrückenden Stille, von der
das Zimmer plötzlich erfüllt war, einen Ruck geben,
um dem jungen Mädchen neue Fragen zu stellen:
»Könnten Sie mir auch sagen, unter welcher Krankheit
er leidet?«
»Es handelt sich«, antwortete sie, »um akute Gedächt-
nisstörungen, die bei ihm Perioden teilweisen Bewußt-
seinsverlustes auslösen, die ihn schließlich vollends
töten würden. Er müßte sich ausruhen, sonst wird sein

100
überbeanspruchtes Gehirn zu schnell ermüden, und
seine Nervenzellen werden vor Erschöpfung sterben,
ehe sein Körper das Erwachsenenalter erreicht hat.«
»Um was für Störungen handelt es sich genau?«
»Er erinnert sich mit außergewöhnlicher Genauigkeit
an das, was noch nicht geschehen ist: was ihm morgen
geschehen wird oder sogar, was er nächstes Jahr tun
wird. Und Sie sind hier nur eine Person seines kranken
Gedächtnisses. Wenn er erwacht, werden Sie sofort aus
diesem Zimmer verschwinden, das Sie in der Tat noch
gar nicht betreten haben ...«
»Ich werde also später hierherkommen?«
»Ja. Zweifellos.«
»Wann?«
»Ich kenne das genaue Datum nicht. Sie werden erst-
mals um die Mitte der nächsten Woche in diesem
Hause ankommen ...«
»Und Sie, Djinn, was würde aus Ihnen, wenn er er-
wachte?«
»Auch ich werde bei seinem Erwachen von hier ver-
schwinden. Wir werden beide im selben Moment ver-
schwinden.«
»Aber wohin werden wir gehen? Werden wir zusam-
menbleiben?«
»Oh nein. Das würde gegen die Regeln des Zeitablaufs
verstoßen. Versuchen Sie zu verstehen: Sie werden
sich dahin begeben, wo Sie in diesem Augenblick sein
sollten, in Ihre gegenwärtige Wirklichkeit...«
»Was verstehen Sie unter ›gegenwärtig‹?«
»Ihr zukünftiges Ich befindet sich nämlich hier irrtüm-
licherweise. Ihr ›jetziges‹ Ich nimmt mehrere Kilome-

101
ter von hier entfernt, glaube ich, gerade an einer öko-
logischen Zusammenkunft gegen den elektronischen
Maschinismus oder etwas Ähnlichem teil.«
»Und Sie?«
»Ich bin leider seit drei Jahren tot und werde nirgends
hingehen. Nur das zerrüttete Gehirn von Jean hat uns in
diesem Hause zufällig vereint: ich gehöre seiner Ver-
gangenheit an, wohingegen Sie, Simon, ein Teil seiner
zukünftigen Existenz sind. Begreifen Sie nun?«
Simon Lecœur konnte sich jedoch nicht klarmachen —
es sei denn auf ganz begriffliche Weise —, was all dies
faktisch bedeuten mochte. Um auszuprobieren, ob er
nicht der Traum von irgendeinem anderen war, kam er
auf den Gedanken, sich selber fest ins Ohr zu kneifen.
Er empfand einen normalen, wirklichen Schmerz.
Aber was bewies das?
Er mußte gegen das Schwindelgefühl ankämpfen, dem
sein Verstand infolge der zeitlichen und räumlichen
Verwirrungen ausgesetzt war. Dieses durchschei-
nende, träumerische, junge Mädchen war vielleicht
völlig verrückt... Er hob den Blick. Djinn sah ihn
lächelnd an.
»Sie kneifen sich ins Ohr«, sagte sie, »um festzustellen,
ob Sie nicht träumen. Aber Sie träumen nicht: Sie
werden geträumt, das ist etwas ganz anderes. Und ich
selbst, die ich tot bin, kann in meinem Körper noch
Schmerz oder Lust empfinden: es sind meine vergan-
genen Leiden und Freuden, an die dieses allzu emp-
fängliche Kind sich erinnert und denen es wieder ein
neues, durch die Zeit kaum abgestumpftes Leben ver-
leiht.«

102
Simon war von widersprüchlichen Empfindungen er-
füllt. Einerseits faszinierte ihn das seltsame junge Mäd-
chen, und, ohne es sich einzugestehen, fürchtete er, sie
verschwinden zu sehen; selbst wenn sie aus dem Schat-
tenreich kam, wollte er doch gern bei ihr bleiben. Aber
zugleich erregten all diese Ungereimtheiten seinen
Zorn: er hatte den Eindruck, man erzähle ihm, um sich
über ihn lustig zu machen, ganz unwahrscheinliche
Geschichten.
Er versuchte, ruhig zu überlegen. Diese Szene (die er
gerade erlebte) hätte nur dann ein Teil seines zukünf-
tigen Daseins — oder des zukünftigen Daseins des Bu-
ben — sein können, wenn die im Zimmer anwesenden
Personen sich tatsächlich später, zum Beispiel nächste
Woche, hier vereint finden würden. Dies erwies sich
jedoch unter normalen Umständen als unmöglich,
wenn das junge Mädchen zwei Jahre zuvor gestorben
war.
Aus dem gleichen anachronistischen Grund konnte die
Szene, die sich hier abspielte, nicht in der vergangenen
Existenz Djinns stattgefunden haben, da er ihr zu ihren
Lebzeiten nie begegnet war ...
Ein plötzlicher Zweifel erschütterte diese allzu beruhi-
gende Überzeugung ... Blitzartig wurde Simons
Geist von der Erinnerung an eine frühere Begegnung
mit einem blonden jungen Mädchen durchdrungen,
das hellgrüne Augen und einen leichten, amerikani-
schen Akzent hatte ... Gleich darauf verschwand die-
ser Eindruck wieder, so plötzlich, wie er entstanden
war. Aber der junge Mann blieb verwirrt.
Hatte er sie, für die Dauer eines Gedankens, mit ir-

103
gendeinem Bild der Schauspielerin Jane Frank ver-
wechselt, die ihn in einem Film stark beeindruckt
hätte? Diese Erklärung konnte ihn nicht überzeugen.
Und Angst ergriff ihn jetzt erst recht, daß der Bub aus
seiner Ohnmacht erwachte und daß Djinn sich vor
seinen Augen für immer verflüchtigte.
In diesem Augenblick bemerkte Simon eine wichtige
Besonderheit der unmittelbaren Umgebung, der er,
seltsamerweise, noch keinerlei Aufmerksamkeit ge-
schenkt hatte: die Vorhänge des Zimmers waren zuge-
zogen. Aus schwerem, dunkelrotem, wahrscheinlich
antikem Stoff (der längs der Falten vom Alter ganz
fadenscheinig geworden war) verdeckten sie völlig die
Glasflächen, die sich an der Straßenseite befinden muß-
ten. Warum ließ man sie mitten am Tage geschlossen?
Aber Simon dachte dann über die Vorstellung »mitten
am Tag« nach. Wie spät war es eigentlich? Von plötz-
licher Angst bewegt, lief er zu den Fenstern, durch die
überhaupt kein Licht drang, weder durch den Stoff,
noch an den Seiten. Er hob hastig ein Stück vom
Vorhang an.
Draußen war pechschwarze Nacht. Seit wann? Das
Sträßchen lag in tiefster Finsternis unter einem Him-
mel ohne Sterne und ohne Mond. Man erblickte auch
nicht den geringsten Schimmer — elektrischen oder
anderen Lichts — an den Öffnungen der Häuser, die
allerdings fast unsichtbar waren. In einiger Entfernung
ganz rechts verbreitete eine einzige altmodische Stra-
ßenlaterne einen schwachen, bläulichen Schein in ei-
nem Umkreis von nur wenigen Metern.
Simon ließ den Vorhang wieder zurückfallen. Sollte

104
die Nacht so schnell hereingebrochen sein? Oder aber
verfloß die Zeit »hier« nach anderen Gesetzmäßigkei-
ten? Simon wollte auf seine Armbanduhr schauen. Er
war nicht einmal überrascht, als er feststellte, daß sie
stehengeblieben war. Die Zeiger standen genau auf
zwölf Uhr. Es konnte ebensogut Mitternacht wie Mit-
tag sein.
An der Wand, zwischen den beiden Fenstern, hing ein
photographisches Porträt unter Glas in schwarzem
Holzrahmen, hinter dem ein geweihter Buchsbaum-
zweig hervorragte. Simon schaute es sich näher an.
Aber das Licht der Kerzenleuchter genügte ihm nicht,
um die Gesichtszüge der Person zu erkennen, eines
Mannes in militärischer Uniform, wie es schien.
Ein jähes Verlangen, das Gesicht deutlicher zu sehen,
bemächtigte sich Simons, für den dieses Bild auf einmal
eine unerklärliche Bedeutung annahm. Er ging schnell
wieder zum Bett, ergriff einen Leuchter, kehrte zum
Porträt zurück, das er, so gut er konnte, mit dem
flackernden Kerzenschein beleuchtete ...
Er hätte wetten mögen, daß es seine eigene Photogra-
phie war. Da war gar kein Irrtum möglich. Das Ge-
sicht war genau zu erkennen, wenn auch vielleicht um
zwei oder drei Jahre oder kaum mehr gealtert, was ihm
einen Ausdruck des Ernstes und der Reife verlieh.
Simon war wie versteinert. Er hielt mit ausgestrecktem
Arm den schweren Bronzekandelaber vor sich und
konnte seinen Blick nicht von seinem Doppelgänger
abwenden, der ihm kaum merklich mit zugleich brü-
derlicher und spöttischer Miene zulächelte.
Er trug auf diesem unbekannten Klischee die Uniform

105
der Kriegsmarine mit den Rangstreifen eines Haupt-
bootsmannes. Aber sie glich nicht ganz genau dem in
der französischen Armee Üblichen, jedenfalls nicht
dem zur Zeit vorschriftsmäßigen Dienstanzug. Simon
war übrigens zeitlebens weder Soldat noch Matrose
gewesen. Der Abzug hatte eine etwas verwaschene
Sepiatönung. Sein Papier schien im Laufe der Zeit
vergilbt zu sein und war mit grauen und bräunlichen
Flecken getüpfelt.
Auf dem unteren Rand verliefen zwei kurze, hand-
schriftliche Zeilen schräg über die freie Fläche. Simon
erkannte sofort seine eigene, wie die der Linkshänder
rückwärts geneigte Schrift. Er las leise: »Für Marie und
Jean, ihr lieber Papa.«
Simon Lecœur drehte sich um. Ohne daß er ihre Be-
wegung gehört hätte, war Djinn an ihn herangetreten;
und sie betrachtete ihn mit einer vergnügten, beinahe
zärtlich schmollenden Miene:
»Sehen Sie«, sagte sie, »das ist ein Photo von Ihnen, in
einigen Jahren.«
»Es ist also ebenfalls ein Teil des anomalen Gedächt-
nisses von Jean und von meiner Zukunft?«
»Freilich, wie alles andere hier.«
»Außer Ihnen?«
»Ja, das stimmt. Weil Jean die Zeiten vermischt. Das
eben bringt die Dinge durcheinander und macht sie
schwer begreiflich.«
»Sie sagten vorhin, daß ich in einigen Tagen hierher-
kommen werde. Warum? Was sollte ich dann hier
tun?«
»Sie werden in Ihren Armen einen kleinen, verletzten

106
Jungen zurückbringen, das ist doch klar, einen kleinen
Jungen, der übrigens Ihr Sohn sein dürfte.«
»Jean ist mein Sohn?«
»Er ›wird‹ Ihr Sohn ›sein‹, wie diese Widmung unter
der Photographie beweist. Und Sie werden auch ein
kleines Mädchen haben, das Marie heißen wird.«
»Sie sehen doch wohl, daß es unmöglich ist! Ich kann
doch nicht nächste Woche ein achtjähriges Kind ha-
ben, das heute noch nicht geboren ist, und das Sie
selber nichtsdestoweniger vor über zwei Jahren schon
gekannt hätten!«
»Sie denken wirklich wie ein Franzose, wie ein positi-
vistischer, kartesianischer Franzose ... Jedenfalls
habe ich gesagt, daß Sie in einigen Tagen ›erstmals‹
herkommen würden. Aber Sie werden später oft wie-
der herkommen. Sie werden sogar vermutlich dieses
Haus mit Ihrer Frau und Ihren Kindern bewohnen.
Warum sollte Ihr Photo sonst diese Wand schmük-
ken?«
»Sie sind keine Französin?«
»Ich war keine Französin. Ich war Amerikanerin.«
»Welchen Beruf hatten Sie?«
»Filmschauspielerin.«
»Und woran sind sie gestorben?«
»An den Folgen des Versagens einer Maschine, das von
einem wildgewordenen Computer verursacht worden
war. Deshalb setze ich mich nun gegen die Mechanisie-
rung und die Datenverarbeitung ein.«
»Wieso denn ›nun‹? Ich glaubte, Sie seien tot!«
»Na und? Sie selbst sind auch tot! Ist Ihnen nicht das
Porträt in dem schwarzen Holzrahmen aufgefallen und

107
der geweihte Buchsbaumzweig, der für Ihr Seelenheil
da ist?«
»Woran bin ich denn gestorben? Woran sollte ich ge-
storben sein? Oder vielmehr, woran werde ich ster-
ben?« rief Simon immer aufgeregter.
»Auf See umgekommen«, erwiderte Djinn gelassen.
Diesmal war es ihm zuviel. Simon machte eine letzte
verzweifelte Anstrengung, um aus dem, was nur ein
Alptraum sein konnte, aufzutauchen. Er dachte, daß
er sich zuerst einmal abreagieren müsse: er mußte
schreien, mit dem Kopf gegen die Wand stoßen, etwas
zerbrechen ...
Außer Rand und Band ließ er den brennenden Leuch-
ter auf den Boden fallen und ging festen Schrittes auf
diese allzu Hübsche, die sich über ihn lustig machte,
zu. Er packte sie. Weit davon entfernt, sich ihm zu
widersetzen, umschlang sie ihn mit ihren Armen wie
eine blonde Qualle, mit einer Sinnlichkeit, die Simon
gar nicht erwartet hatte.
Für eine Spukgestalt hatte sie einen viel zu warmen und
viel zu weichen Körper ... Sie zog ihn zum Bett, aus
dem der kleine Junge, wahrscheinlich durch den Lärm
geweckt, geflohen war. Auf dem Fußboden brannten
die verstreut herumliegenden Kerzen auf die Gefahr
hin, daß die Vorhänge Feuer fingen, weiter ...
Das war Simon Lecœurs letzte deutliche Vision des
Zimmers, ehe er im Vergnügen unterging ...

108
8. Kapitel

Als ich voriges Jahr in Frankreich angekommen war,


habe ich zufällig die Bekanntschaft eines jungen Man-
nes in meinem Alter namens Simon Lecœur gemacht,
der sich Boris nennen ließ, warum, habe ich nie heraus-
bekommen.
Er hat mir sofort gefallen. Er sah recht gut aus, war
groß für einen Franzosen und hatte vor allem eine sehr
lebhafte Phantasie, die ihn alle Augenblicke das All-
tagsleben und dessen simpelste Ereignisse in seltsame,
romantische Abenteuer verwandeln ließ, wie man sie
in den Science-fiction-Geschichten findet.
Aber ich habe mir beinahe sofort gedacht, daß ich
wahrscheinlich manchmal viel Geduld brauchen
würde, um seine absonderlichen Erfindungen, ich
sollte sogar schreiben: seine Verrücktheiten ohne wei-
teres hinzunehmen. »Ich werde ihn schrecklich gern
haben müssen«, habe ich mir schon an diesem ersten
Tag gesagt, »sonst werden wir uns sehr bald nicht
mehr ertragen können.«
Wir sind einander auf eine zugleich seltsame und ba-
nale Weise dank einer in einer Tageszeitung gelesenen
kleinen Anzeige begegnet. Wir suchten beide Arbeit:
eine kleine Nebenbeschäftigung, die es uns ermögli-
chen würde, uns ohne allzu große Mühe, wenn auch
nicht das unbedingt Notwendige, so doch wenigstens
das Überflüssige zu leisten. Auch er gab sich als Stu-
dent aus.
Eine Kleinanzeige also, geschrieben im Telegrammstil
mit mehr oder weniger eindeutigen Abkürzungen,

109
suchte einen Jg. M. oder eine jg. F. für zwei Kinder,
einen Jungen und ein Mädchen, die vermutlich abends
zu hüten, aus der Schule abzuholen, mit in den Zoo zu
nehmen oder bei ähnlichen Gelegenheiten zu betreuen
waren. Wir haben uns beide an dem Treffpunkt einge-
funden. Aber außer uns ist niemand gekommen.
Der Inserent hatte wohl inzwischen sein Vorhaben
aufgegeben oder sich das Benötigte auf anderem Wege
beschafft. Sicher ist, daß, als wir, Simon und ich, ein-
ander gegenüberstanden, jeder von uns zuerst glaubte,
der andere sei sein möglicher Arbeitgeber.
Als wir entdeckten, daß dies nicht zutraf und daß der
Inserent uns eigentlich versetzt hatte (daß er uns genas-
führt hatte, wie man zu sagen pflegt), war ich meiner-
seits sehr enttäuscht. Er dagegen machte sich, ohne
auch nur eine Sekunde lang die Fassung zu verlieren,
ein Vergnügen daraus, freiwillig in seinem Irrtum zu
verharren, indem er sogar begann, mit mir zu spre-
chen, als ob ich fortan sein Chef sein würde.
»Würde es Sie nicht stören«, habe ich ihn dann gefragt,
»unter dem Kommando eines Mädchens zu arbeiten?«
Er hat mir geantwortet, daß es ihm, im Gegenteil, sehr
gefalle.
Er hatte gesagt »gefällt« und nicht »gefallen würde«,
was bedeutete, daß er das Spiel fortsetzte. Ich habe also
meinerseits so getan, als wäre ich tatsächlich das, was er
sagte, da es mir amüsant vorkam und vor allem, weil
ich ihn drollig und charmant fand.
Ich habe sogar hinzugefügt, daß die Kinder, die er
hinfort für mich beaufsichtigen würde, nicht gerade
die Bravsten seien: sie gehörten einer terroristischen

110
Organisation an, welche die Atomkraftwerke in die
Luft sprenge ... Es war eine idiotische Idee, die mir,
ich weiß nicht warum, so plötzlich durch den Kopf
gegangen war.
Dann sind wir in ein Restaurant an dem nahen Boule-
vard gegangen, wo er mir einen Café-crème und einen
Croque-monsieur angeboten hat. Ich wollte eine Pizza
nehmen, aber er hat sich sofort darauf verlegt, neue
Fabeln über dieses Lokal zu erzählen, in dem man
angeblich den feindlichen Spionen, die man loswerden
wollte, vergiftete Speisen serviert hätte.
Da der Kellner wenig sagte, griesgrämig war und
finster dreinschaute, hat Simon behauptet, es handele
sich um einen sowjetischen Agenten, für den die bei-
den Gören eben arbeiteten.
Wir waren beide sehr vergnügt. Wie Verschwörer oder
Verliebte flüsterten wir, damit der Kellner uns nicht
hörte. Wir machten uns über alles lustig. Alles schien
sich in einer merkwürdigen, äußerst günstigen, sozu-
sagen übernatürlichen Atmosphäre abzuspielen.
Der Café-crème schmeckte scheußlich. Aber mein Be-
gleiter hat mir sehr ernsthaft erklärt, daß ich, wenn ich
weiterhin allzu schwarzen Kaffee tränke, erblinden
würde, wegen der hellgrünen Farbe meiner Augen. Er
hat das natürlich ausgenützt, um mir ein paar übliche
Komplimente über meinen »geheimnisvollen Blick«
und sogar über den »außeridischen Glanz« meiner Pu-
pillen zu machen!
Ich mußte zur Gare du Nord, um dort meine Freundin
Caroline abzuholen, die mit dem Zug aus Amsterdam
eintreffen sollte. Es war nicht sehr weit von dem Ort,

111
an dem wir uns befanden. Simon, der mich natürlich
begleiten wollte, schlug vor, daß wir zu Fuß hingin-
gen. Ich sollte übrigens besser schreiben: »Simon hat
beschlossen, daß wir zu Fuß hingehen«, denn seine
unerschöpfliche Phantasie verband sich paradoxer-
weise mit ziemlich starken autoritären Anwandlun-
gen.
Wir sind fröhlich losgezogen. Simon klügelte allerlei
mehr oder weniger phantastische Geschichten aus, die
sich auf die Örtlichkeiten, die wir durchstreiften, und
auf die Leute, die an uns vorübergingen, bezogen.
Aber er hat uns einen sonderbaren, verzwickten Weg
wählen lassen, den er nicht ganz genau kannte: Sträß-
chen, die immer einsamer wurden, sollten, wie es hieß,
eine Abkürzung sein.
Schließlich haben wir uns ausweglos verirrt. Ich fürch-
tete, zu spät zu kommen, und Simon fand ich gar nicht
mehr so lustig. Ich war heilfroh, wenigstens in ein Taxi
auf Kundensuche springen zu können, dessen unver-
hofftes Erscheinen in dieser verlassenen Gegend mir
als eine wunderbare Fügung vorkam.
Ehe ich meinen erbärmlichen Cicerone allein ließ, der
es — aus seltsamen Gründen — ablehnte, mit mir in den
Wagen zu steigen, habe ich mit ihm doch noch ein
Treffen für den nächsten Tag verabredet, und zwar
unter einem unsinnigen (absichtlich unsinnigen) Vor-
wand: die Besichtigung dieses trostlosen Viertels ohne
die geringsten touristischen Reize genau an der Stelle
fortzusetzen, wo wir uns trennten, das heißt mitten auf
einem langen, schnurgeraden Sträßchen zwischen al-
ten Bretterwänden und halb zusammengebrochenen

112
Mauern mit einem verfallenen Häuschen als Orientie-
rungshilfe.
Da ich fürchtete, diese Stille nicht allein wiederfinden
zu können, haben wir beschlossen, uns zu diesem
Streifzug in der Gaststätte zu treffen, wo wir heute
schon eingekehrt waren. Das Bier dort wäre vielleicht
weniger schlecht als der schwarze Kaffee.
Aber der Taxifahrer wurde ungeduldig; er behauptete,
sein Fahrzeug behindere den Verkehr, was ganz töricht
war, denn es gab da überhaupt keinen Verkehr. Indes
rückte der Zeitpunkt der Ankunft des Zuges näher,
und wir, Simon und ich, haben uns sehr schnell verab-
schiedet. Im letzten Moment hat er mir noch eine Tele-
fonnummer, unter der man ihn erreichen könne, zuge-
rufen: und zwar sieben-sechs-fünf-vier-drei-zwei-eins.
Als ich im Taxi saß, das alt und in einem noch schlech-
teren Zustand war als die Taxis in New York, dachte
ich, daß es die gleiche hellgelbe Farbe hatte, an die wir
bei uns zuhause gewöhnt sind, die in Frankreich aber
außergewöhnlich ist. Simon hatte sich jedoch nicht
darüber gewundert.
Und dann, nach weiterem Nachdenken, habe ich mich
gefragt, wieso sich dieser Wagen ausgerechnet hier auf
unserem Wege befand: die Taxis sind im allgemeinen
nicht in solch verlassenen, sozusagen unbewohnten
Gegenden auf Kundensuche. Das wäre kaum ver-
ständlich ...
Meine Unruhe hat noch zugenommen, als ich fest-
stellte, daß der Taxifahrer seinen Rückspiegel über der
Windschutzscheibe so eingestellt hatte, daß er mich
bequem beobachten konnte, anstatt die Straße hinter

113
uns im Auge zu behalten. Als ich seinem Blick in dem
kleinen, rechteckigen Spiegel begegnete, hat er nicht
einmal weggeschaut. Sein Gesicht hatte ausgeprägte,
unregelmäßige, asymmetrische Züge. Und ich fand,
daß er düster dreinschaute.
Unangenehm berührt wegen dieser finsteren, tief in
ihren Augenhöhlen liegende Pupillen, die mich weiter-
hin über den Spiegel fixierten (kannte er sich denn so
gut in diesem Labyrinth von Sträßchen aus, daß er hier
in dem Tempo, beinahe ohne auf seinen Weg zu ach-
ten, fahren konnte?), habe ich gefragt, ob die Gare du
Nord noch weit sei, worauf sich der Mund des Mannes
schrecklich verkrampfte, was vielleicht ein mißlunge-
nes Lächeln war, und er ganz langsam sagte:
»Nur keine Bange, wir werden bald da sein.«
Dieser an sich unbedeutende, in unheimlichem Ton
gesprochene Satz (ein ängstliches Gemüt hätte ihn
sogar bedrohlich gefunden) hat meine Unruhe nur
noch gesteigert. Dann wieder habe ich mir mein über-
triebenes Mißtrauen vorgeworfen und mir gesagt, Si-
mons unbändige Phantasie müsse wohl ansteckend
sein.
Ich hatte in dem Moment, als wir, Simon und ich, uns
getrennt hatten, geglaubt, ganz in der Nähe des Bahn-
hofs zu sein. Das Taxi ist jedoch sehr lange durch
Stadtviertel gefahren, wo ich nichts wiedererkannte
und deren Aussehen eher an entlegene Vororte erin-
nerte.
Dann, plötzlich, an einer Straßenbiegung, befanden
wir uns vor der wohlbekannten Fassade der Gare du
Nord. Am Rande des Bürgersteigs, da, wo die Taxifah-

114
rer nach einer schnellen Kehre ihre Fahrgäste ausstei-
gen lassen, stand Simon, der auf mich wartete.
Er hat zuvorkommend meinen Wagenschlag geöffnet
und vermutlich selbst den Fahrpreis bezahlt, denn
nachdem ich gesehen hatte, wie er sich einen Moment
zum heruntergelassenen Wagenfenster des Fahrers
neigte, ist dieser ohne weiteres mit hohem Tempo
davongefahren. Und doch war dieser Austausch (un-
hörbarer) Worte äußerst kurz gewesen, und ich erin-
nere mich nicht daran, zwischen den beiden Männern
die geringste Geste wahrgenommen zu haben, die sich
auf irgendeinen Zahlungsvorgang beziehen konnte.
Ich war übrigens völlig verdutzt wegen des unvermu-
teten Wiedersehens mit Simon. Er lächelte freundlich,
mit glücklicher Miene, wie ein Kind, das einen gelun-
genen Streich gespielt hat. Ich habe ihn gefragt, wie er
hierhergekommen sei.
»Ich habe eben eine Abkürzung benützt«, erwiderte er.
»Sind Sie zu Fuß gekommen?«
»Freilich. Und ich warte schon seit zehn Minuten auf
Sie.«
»Das ist doch unmöglich!«
»Es ist vielleicht unmöglich, aber doch wahr. Sie haben
enorm viel Zeit gebraucht, um diese sehr kurze Strecke
zurückzulegen. Jetzt haben Sie Ihren Zug verpaßt und
Ihre Freundin verfehlt.«
Es stimmte leider. Ich hatte fast zehn Minuten Verspä-
tung, und ich würde große Mühe haben, Caroline in
der Menschenmenge ausfindig zu machen. Ich sollte
sie beim Aussteigen aus dem Zug am Anfang des
Bahnsteigs erwarten.

115
»Soll ich Ihnen sagen, was ich vermute?« fügte Simon
noch hinzu: »Dieser Fahrer hat Sie absichtlich herum-
kutschiert, um die Fahrt zu verlängern. Da Sie auf sich
warten ließen, habe ich sogar einen Moment geglaubt,
Sie würden nie hier ankommen: die gelben Taxis die-
nen nämlich immer zu Entführungen. Das ist bei uns
Tradition.
Sie müssen sich von nun an mehr in acht nehmen: auf
diese Weise verschwindet in Paris jeden Tag ein Dut-
zend hübscher Mädchen. Diese Unglückseligen ver-
bringen den Rest ihres kurzen Daseins in den luxuriö-
sen Freudenhäusern Beiruts, Macaos und Buenos
Aires. Erst im vergangenen Monat hat man noch
entdeckt, daß ...«
Ganz unvermittelt, als fiele ihm plötzlich etwas Drin-
gendes ein, hielt Simon mitten in seinen Erfindungen
und Schwindeleien inne, um überstürzt zu erklären:
»Entschuldigen Sie bitte, ich muß jetzt gehen. Ich habe
mich schon zu lange aufgehalten ... Bis morgen also,
wie vereinbart.«
Er hatte, um mich an unsere Verabredung am nächsten
Tag zu erinnern, einen tiefen, geheimnisvollen Ton
angenommen wie einer, der die indiskreten Ohren
möglicher Spione gefürchtet hätte. Ich antwortete »Bis
morgen!«, und ich sah ihn davonlaufen. Er ver-
schwand sofort in der Menge.
Ich wandte mich daraufhin wieder dem Bahnhofsein-
gang zu und erblickte Caroline, die dort gerade er-
schien und mit ihrem breitesten Lächeln auf mich
zukam. Zu meiner großen Verwunderung hielt sie
ein kleines, blondes, sehr hübsches Mädchen an der

116
Hand, das vielleicht sieben oder acht Jahre alt war.
Caroline, die in ihrer rechten Hand einen Koffer
schleppte, ließ das kleine Mädchen los, um mir mit dem
linken Arm fröhlich zuzuwinken. Und sie rief mir,
ohne auf die Passanten zu achten, die zwischen ihr und
mir in allen Richtungen hin und her hasteten, zu:
»Ist das deine Art, mich auf dem Bahnsteig zu erwar-
ten? Du redest da mit jungen Männern herum, ohne
dich um die Ankunft meines Zuges zu scheren!«
Sie ist bis zu mir gelaufen und hat mich mit ihrer
gewohnten Überschwenglichkeit umarmt. Das kleine
Mädchen schaute woandershin, mit der taktvollen
Miene einer jungen, wohlerzogenen Person, die einem
noch nicht vorgestellt worden ist. Ich sagte:
»Ja, ich weiß, ich bin ein wenig verspätet. Verzeih mir.
Ich werde es dir erklären ...«
»Da gibt es nichts zu erklären: ich habe genau gesehen,
daß du mit einem schönen jungen Mann zusammen
warst! Übrigens, dies ist Marie. Sie ist die Tochter von
meinem Bruder Joseph und von Jeanne. Sie wurde mir
in Amsterdam anvertraut, damit ich sie wieder zu ihren
Eltern bringe.«
Das Kind hat dann mir gegenüber ganz artig und ernst
einen feierlichen, komplizierten Knicks gemacht, wie
man ihn den jungen Damen vor fünfzig oder hundert
Jahren beibrachte. Ich sagte: »Guten Tag, Marie!«, und
Caroline hat ihre Erklärungen redselig fortgesetzt.
»Sie verbrachte ihre Ferien bei einer Tante, weißt du:
der Schwester von Jeanne, die mit einem russischen
Marineoffizier verheiratet ist. Ich habe dir die Ge-
schichte schon erzählt: mit einem namens Boris, der

117
während einer Zwischenlandung seines Schiffs in Den
Haag um politisches Asyl gebeten hat.«
In vernünftigem Ton, wie eine erwachsene Person und
erstaunlich sprachgewandt für ein Kind dieses Alters,
hat die kleine Marie ihren eigenen Kommentar beige-
tragen:
»Onkel Boris ist nicht wirklich ein politischer Flücht-
ling. Er ist ein sowjetischer Agent, der sich als Dissi-
dent ausgibt und unter den Arbeitern der Atomindu-
strie Protestbewegungen schüren und Verwirrung stif-
ten soll.«
»Hast du das ganz allein entdeckt?« fragte ich sie amü-
siert.
»Ja, ich selbst«, antwortete sie, ohne unsicher zu wer-
den. »Ich habe genau gesehen, daß er auf dem linken
Handgelenk eine blautätowierte Agentennummer
hatte. Er versucht, sie unter einem Lederband zu ver-
bergen, das er angeblich trägt, um sein Gelenk zu
stärken. Aber das stimmt nicht, da er keinerlei Schwer-
arbeit leistet.«
»Hör nicht auf Marie«, sagte Caroline zu mir, »sie
erfindet immerzu unsinnige Geschichten über Scien-
ce-fiction, Spionage oder Spiritismus. Die Kinder le-
sen zu viel phantastische Literatur.«
In diesem Augenblick habe ich einen Mann bemerkt,
der uns, wenige Meter von uns entfernt, beobachtete.
Er stand ein wenig abseits in einem Mauerwinkel und
heftete auf unsere kleine Gruppe einen anomal interes-
sierten Blick. Ich glaubte zuerst, es wäre Marie, die auf
recht verdächtige Weise seine Aufmerksamkeit anzog.
Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein, vielleicht etwas

118
älter, und trug einen grauen, zweireihigen Anzug klas-
sischen Schnitts (Jacke und dazu passende Hose und
Weste), der jedoch alt, abgenutzt und durch den Ge-
brauch aus der Form gekommen war, sowie ein Hemd
und eine Krawatte, die derart schmuddelig aussahen,
als hätte er so angezogen während einer sehr langen
Eisenbahnfahrt geschlafen. Er hatte einen kleinen,
schwarzen Lederkoffer in der Hand, der mich an eine
Chirurgentasche erinnerte, ich weiß nicht recht,
warum.
Die dunklen, durchdringenden, tief in ihren Höhlen
liegenden Augen, das Gesicht mit den asymmetri-
schen, groben, unangenehm ausgeprägten Zügen, der
durch eine Art Grinsen verzerrte große Mund, dies
alles erinnerte mich stark an etwas ... das doch noch
gar nicht lange her war, aber das ich nicht angeben
konnte.
Dann, auf einmal, fiel es mir wieder ein: es war der
Fahrer des gelben Taxis, der mich zum Bahnhof ge-
bracht hatte. Ich habe dabei einen so lebhaften Ein-
druck eines beinahe körperlichen Unbehagens gehabt,
daß ich errötete. Ich habe meinen Blick von diesem
unerfreulichen Zeitgenossen abgewandt. Aber wenige
Sekunden später habe ich ihn von neuem betrachtet.
Er hatte sich weder gerührt noch seine Blickrichtung
geändert. Es war jedoch eigentlich eher Caroline, die er
zu überwachen schien. Vergaß ich, darauf hinzuwei-
sen, daß Caroline sehr hübsch ist? Groß, gut gewach-
sen, schlank, ganz blond, mit kurzem Haar und einem
sanften, etwas zwitterhaften Gesicht, das stark an die
Schauspielerin Jane Frank erinnert, ist sie stets das Ziel

119
mehr oder weniger aufdringlicher Komplimente von
Männern jeden Alters.
Ich muß noch etwas anderes gestehen: die Leute be-
haupten, daß wir uns auf verwirrende Weise gleichen.
Man hält uns gewöhnlich für Geschwister, oft sogar
für Zwillingsschwestern. Und es ist mehrmals gesche-
hen, daß Carolines Freunde sich, in dem Glauben, zu
ihr zu sprechen, an mich wandten, was eines Tages der
Anlaß eines seltsamen Abenteuers war ...
Aber Caroline hat meinen Gedankengang unterbro-
chen:
»Was ist denn mit dir los?« hat sie gefragt, wobei sie
mich besorgt musterte. »Was machst du für ein Ge-
sicht? Man möchte meinen, daß du gerade etwas
Schreckliches gesehen hast.«
Marie, die den Grund meiner Erregung erraten hatte,
hat ruhig und ganz laut erklärt:
»Der Typ, der uns, seitdem wir den Zug verlassen
haben, folgt, ist immer noch da mit seinem Köfferchen
voller Messer. Er ist ein Lustmolch, das ist doch klar,
das hatte ich sofort gesehen.«
»Rede nicht so laut«, flüsterte Caroline, indem sie sich,
unter dem Vorwand, die zerknautschten Falten des
Röckchens zu glätten, zu der Kleinen hinabbeugte, »er
wird uns hören.«
»Selbstverständlich hört er uns«, antwortete Marie,
ohne leiser zu sprechen. »Dafür ist er doch da.«
Unvermittelt streckte sie ihre Zunge in Richtung des
Unbekannten heraus, wobei sie ihn engelgleich anlä-
chelte. Caroline lachte in ihrer gewohnten unbeküm-
merten Weise, während sie gleichzeitig Marie zum

120
Schein, ohne den geringsten Nachdruck, rügte. Dann
sagte sie zu mir:
»Im Grunde hat die Kleine vielleicht recht. Ich glaube
übrigens, daß dieser Typ denselben Zug benützt hat
wie wir. Mir ist, als hätte ich ihn im Gang des Waggons
herumstreunen sehen, nachdem er mir schon bei der
Abfahrt auf dem Bahnsteig in Amsterdam aufgefallen
war.«
Indem ich von neuem zu dem beunruhigenden Indivi-
duum mit dem schwarzen Köfferchen hinüberschaute,
wurde ich zum Zeugen einer Szene, die mein Erstau-
nen nur noch steigerte. Der Mann stand da nicht mehr
uns zugewandt; er betrachtete nun einen Blinden, der,
den Boden mit dem eisenbeschlagenen Ende seines
Stocks abtastend, auf ihn zukam.
Es war ein großer, blonder junger Mann von zwanzig
oder fünfundzwanzig Jahren in einer eleganten Jacke
aus sehr feinem, cremefarbenen Leder über einem
leuchtend blauen Pullover. Eine dicke, schwarze Brille
verbarg seine Augen. In seiner Rechten hielt er seinen
weißen Stock mit dem krummen Griff. Ein etwa
zwölfjähriger Bub führte ihn an der linken Hand.
Ein paar Sekunden lang habe ich mir wider alle Wahr-
scheinlichkeit eingebildet, daß es sich um Simon
Lecœur handelte, der als Blinder verkleidet wiederge-
kommen wäre. Freilich habe ich, als ich ihn besser
beobachtete, sofort meinen Irrtum erkannt: die weni-
gen Gemeinsamkeiten, die man im allgemeinen Auf-
treten, dem Anzug oder der Frisur beider jungen Bur-
schen hätte entdecken können, waren eigentlich uner-
heblich.

121
Als der junge Mann mit dem weißen Stock und sein
Begleiter bei dem Kerl mit der abgetragenen Kleidung
und der Arzttasche angekommen waren, haben sie
haltgemacht. Aber keiner von ihnen hat auch nur das
geringste zu erkennen gegeben. Es kam weder zu Be-
grüßungen noch zu jenen beim Empfang üblichen
Worten oder Gesten, die man unter ähnlichen Umstän-
den hätte erwarten können. Sie sind dort, ohne etwas
zu sagen, einander gegenüber, nunmehr regungslos
stehengeblieben.
Dann haben sie sich ganz langsam und präzise mit ein
und derselben regelmäßigen Bewegung, so als würden
ihre drei Köpfe von ein und derselben Maschine be-
wegt, uns zugewandt. Und sie haben so verharrt, von
neuem wie versteinert, ohne sich mehr zu bewegen als
drei Statuen: der junge Mann mit dem hellen, halb
durch die Brille maskierten Gesicht, flankiert von dem
Bürschchen zu seiner Linken und dem kleinen Mann
mit dem unförmig gewordenen grauen Anzug zu sei-
ner Rechten.
Sie hatten alle drei ihre Blicke auf mich gerichtet, auch
der Blinde, das hätte ich geschworen, hinter seinen
enormen schwarzen Brillengläsern. Das magere Ge-
sicht des Buben war von anomaler, geisterhafter
Blässe. Die garstigen Gesichtszüge des kleinen Mannes
waren in einem schrecklichen Grinsen erstarrt. Die
ganze Gruppe kam mir auf einmal so grauenerregend
vor, daß ich am liebsten geschrien hätte, wie um einen
Alptraum abzukürzen.
Aber genauso wie bei Alpträumen kam nicht der leise-
ste Ton aus meinem Mund. Warum sagte Caroline

122
nichts? Und warum brach Marie, die zwischen uns
beiden stand, nicht den Bann mit der Unbefangenheit
eines Kindes ohne Furcht und Respekt? Warum rührte
sie sich nicht mehr von der Stelle, sie, die ebenfalls,
unter der Wirkung welcher Verzauberung, verstummt
war?
Die Angst stieg in mir so gefährlich an, so unerbittlich,
daß ich befürchtete, das Bewußtsein zu verlieren. Um
das unerträgliche Mißbehagen, das meiner Natur so
wenig entsprach, zu bekämpfen, habe ich versucht, an
etwas anderes zu denken. Aber als etwas, woran ich
mich hätte klammern können, fand ich nichts außer
einer der törichten Reden, die Simon mir eine oder
zwei Stunden früher gehalten hatte:
Ich sei keine echte Frau, behauptete er, sondern nur
eine höchst vervollkommnete elektronische Maschine,
die von einem gewissen Doktor Morgan konstruiert
worden sei. Dieser führe nun verschiedene Experi-
mente an mir durch, um meine Leistungen zu erpro-
ben. Er unterwerfe mich einer Reihe von Prüfungen,
wobei er meine Reaktionen durch Agenten in seinem
Dienste überwachen lasse, die überall an meinem Wege
eingesetzt seien, und von denen einige ebenfalls nur
Roboter seien ...
Waren die Gesten dieses Pseudoblinden, der wie zufäl-
lig eben in meinem Blickfeld erschienen war, mir nicht
geradezu mechanisch und ruckartig vorgekommen?
Diese sonderbare Brille, deren Größe mir immer mon-
ströser vorkam, verbarg wahrscheinlich nicht echte
Augen, sondern ein hochentwickeltes Aufzeichnungs-
system, vielleicht sogar Sender von Strahlen, die ohne

123
mein Wissen auf meinen Körper und mein Bewußtsein
einwirkten. Und der Taxifahrer-Chirurg war kein an-
derer als Morgan selbst.
Die Fläche zwischen diesen Leuten und mir hatte sich
durch ich weiß nicht welchen Zufall oder welches Wun-
der geleert. Die Reisenden, die hier einen Augenblick
früher noch in großer Zahl hin und her gingen, waren
nun verschwunden ... Mit unbegreiflicher Mühe ist es
mir gelungen, meinen Kopf von diesen drei Blicken, die
mich hypnotisierten, abzuwenden. Und ich habe Hilfe
bei Marie und Caroline gesucht...
Auch sie starrten mich mit den gleichen, eisigen, un-
menschlichen Augen an. Sie standen nicht in meinem
Lager, sondern in dem anderen, dem gegnerischen ...
Ich fühlte, daß meine Knie weich wurden und mein
Verstand umkippte und in schwindelerregendem Fall
ins Leere stürzte ...
Als ich heute morgen erwachte, hatte ich einen leeren,
schweren Kopf und einen ganz trockenen Mund, als
hätte ich mich tags zuvor alkoholischen Exzessen hin-
gegeben oder als hätte ich irgendein starkes Schlafmit-
tel eingenommen. Das war jedoch nicht der Fall...
Was hatte ich eigentlich am Abend vorher getan? Ich
konnte mich nicht mehr daran erinnern ... Ich mußte
Caroline am Bahnhof abholen, aber irgend etwas hatte
mich daran gehindert... Ich wußte nicht mehr, was.
Ein Bild ist mir jedoch wieder in den Sinn gekommen,
aber ich konnte es mit nichts in Verbindung bringen.
Es war ein großes Zimmer, das mit nicht zusammen-
passenden Dingen in sehr schlechtem Zustand, wie

124
jenen durchgesessenen Stühlen und nackten Eisenbett-
gestellen, die man auf den Dachböden alter Häuser
aufbewahrte, möbliert war.
Dort standen vor allem eine große Anzahl von alten
Reisekoffern verschiedener Größen und Formen. Ich
habe einen davon geöffnet. Er war voller unmoderner
weiblicher Kleidungsstücke, Mieder, Unterröcke und
hübscher, verblichener Kleider von früher. Ich hatte
Mühe, ihre komplizierten Verzierungen und Sticke-
reien zu erkennen, denn das Zimmer wurde nur durch
zwei Kandelaber beleuchtet, auf denen Reste von Ker-
zen mit gelber, flackernder Flamme brannten ...
Dann habe ich an die Kleinanzeige gedacht, deren
Wortlaut Caroline mir vorgelesen hatte, als sie mich
anrief, um mir die Ankunft des Zuges mitzuteilen. Da
ich mir durch eine Nebenbeschäftigung zu meinem
Stipendium noch etwas Geld hinzuzuverdienen
suchte, hatte ich mich zu der Adresse begeben, die in
dem sonderbaren Stellenangebot stand, das meine
Freundin beim Lesen einer ökologischen Wochen-
schrift gefunden hatte. Ich hatte heute allerdings so
lange geschlafen, daß der Moment, mich fertigzuma-
chen, schon gekommen war, wenn ich noch zur fest-
gesetzten Zeit da sein wollte.
Ich bin pünktlich um sechs Uhr dreißig dagewesen. Es
war schon beinahe dunkel. Der Lagerschuppen war
nicht verschlossen. Ich ging hinein, indem ich die Tür,
die kein Schloß mehr hatte, aufstieß.
Drinnen war es ganz still. Im schwachen Tageslicht,
das von den Fenstern mit schmutzigen Scheiben her-
kam, hatte ich Mühe, die Dinge um mich herum zu

125
unterscheiden, die in großer Unordnung neben- und
übereinander standen und wahrscheinlich außer Ge-
brauch waren.
Als meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt
hatten, habe ich endlich den Mann mir gegenüber
bemerkt. Er stand regungslos da, hatte beide Hände in
den Taschen seines Regenmantels und schaute mich
wortlos an, ohne mich auch nur andeutungsweise zu
grüßen.
Fest entschlossen bin ich auf ihn zugegangen ...
Epilog

Hier endet Simon Lecœurs Erzählung.


Ich sage ganz bewußt ›Simon Lecœurs Erzählung‹,
denn niemand — weder bei uns noch seitens der Polizei
— ist der Meinung, das weiblich abgefaßte 8. Kapitel sei
wirklich von einem anderen geschrieben worden: es
fügt sich allzu auffällig dem Ganzen ein, sowohl in
grammatikalischer Hinsicht als auch gemäß der Logik
der erzählerischen Verläufe und Wendungen.
Simon ist — in diesem Punkt stimmen alle Aussagen
überein - am Donnerstag, dem 8. Mai, wie gewöhnlich
zur Schule in der Rue de Passy gekommen, um dort am
frühen Nachmittag seinen Unterricht abzuhalten. »Er
sah besorgt aus«, haben mehrere seiner Schüler wäh-
rend der Untersuchung beteuert. Aber die meisten
fügen hinzu, daß er immer besorgt aussah.
Er stellte nämlich eine verwirrende Mischung aus bei-
nahe krankhafter Nervosität, schlecht unterdrückter
Angst und einer leichten, lockeren, lächelnden Fröh-
lichkeit dar, die viel von dem unbestreitbaren Charme
ausmachte, den jeder ihm mit Vergnügen zuerkannte.
Bei der flüchtigsten Korridorunterhaltung mit einem
Kollegen, einer Studentin oder sogar einem Vorge-
setzten legte er oft eine redselige Freundlichkeit vcller
unvermuteter, unbekümmerter Erfindungen, eine
Spontaneität und einen harmlosen Humor an den Tag,
die bewirkten, daß alle ihn gern hatten, so wie man ein
Kind gern hat...
Dann plötzlich verschwand das unschuldige Lächeln
von seinen Lippen, die in wenigen Sekunden ihre hüb-

127
sehe, sinnliche Form verloren und hart und dünn wur-
den; seine Augen schienen in ihren Höhlen zu versin-
ken, und die Pupillen verdunkelten sich ... Und dann
kehrte er sich ruckartig um, als glaubte er auf diese
Weise einem Feinde die Stirn bieten zu können, der
sich heimlich hinter seinem Rücken genähert hätte ...
Aber da war niemand, und Simon nahm allmählich
seine frühere Haltung gegenüber seinem ratlosen Ge-
sprächspartner wieder ein. Der selber ratlose junge
Mann schien dann Tausende von Kilometern oder
Lichtjahre weit entrückt zu sein. Er verabschiedete
sich mit ein paar vagen, zusammenhanglosen, kaum
hörbaren Worten.
Am Freitag, dem 9. Mai, ist er nicht zur Schule gekom-
men. Man hat sich nichts dabei gedacht: sein Unter-
richt am Freitag, der an das Ende des Tages gelegt
worden war, war der letzte Unterricht der Woche, und
viele Schüler neigten — vor allem im Frühling — dazu,
ihn für nicht obligatorisch zu halten; es kam bisweilen
vor, daß junge Professoren sich genauso verhielten.
Aber am Montag, dem 12. Mai, hat man ihn auch nicht
wiedergesehen, und am Dienstag gleichfalls nicht. Sein
Zimmer war ohne Telefonanschluß. Am Mittwoch hat
ein stellvertretender Direktor die Studenten gefragt,
ob jemand von ihnen in der Rue d'Amsterdam vorbei-
gehen könnte, um sich nach der Gesundheit von ›Jan‹
zu erkundigen, der schwerkrank hätte sein können und
außerstande, rechtzeitig Bescheid zu geben. Die frei-
willige Botin fand die Tür verschlossen. Niemand hat
auf ihr wiederholtes Klingeln oder auf ihre Rufe geant-
wortet. Keinerlei Geräusch kam aus der Wohnung.

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Am Donnerstag, dem 15. Mai, war Himmelfahrtstag.
Am Freitag, dem 16., hat die Schulbehörde morgens
die Polizei alarmiert. Simon Lecœurs Tür ist in Anwe-
senheit eines Polizeikommissars an jenem Freitag um
die Mittagszeit aufgebrochen worden.
Im Zimmer, ebenso in der Toilette, haben die Inspek-
toren alles in Ordnung gefunden, genau so wie unsere
Agenten (die selbstverständlich einen Nachschlüssel
besaßen) schon zwei Tage zuvor. Es gab da keinerlei
Spur einer Auseinandersetzung, eines aufdringlichen
Besuchs oder eines überstürzten Aufbruchs. Die neun-
undneunzig getippten Seiten (die von unseren Leuten
nach dem Kopieren wieder an ihren Platz gelegt wor-
den waren) sind also schon bald zum einzigen Doku-
ment geworden, das als Indiz angesehen werden kann.
Das Interesse der Untersuchungsbeamten an diesem
Text hat, wie man sich denken kann, noch zugenom-
men, als am Sonntag, dem 18. Mai, gegen 19 Uhr in
einer stillgelegten Werkstätte nahe bei der Gare du
Nord der leblose Körper einer Unbekannten im Alter
von ungefähr 20 Jahren entdeckt wurde. Ihr Tod war
kaum länger als eine Stunde her, vielleicht weniger.
Das junge Opfer hatte keinerlei Papiere bei sich, die
seine Identifizierung erlaubt hätten. Aber seine körper-
liche Erscheinung, seine Kleidung, seine genaue Lage
auf dem Boden (so wie übrigens die Stelle selbst) waren
ganz genau so, wie sie im 6. Kapitel von Simon Le-
cœurs Erzählung beschrieben sind. Die Blutlache war,
wie er angegeben hatte, künstlich. Der Gerichtsmedi-
ziner hat sofort festgestellt, daß der Körper keinerlei
Verletzung und auch keine andere äußere Beschädi-

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gung aufwies, so daß die Todesursache rätselhaft
bleibt. Es schien nichtsdestoweniger beinahe unbe-
streitbar zu sein, daß man es mit einem Mord zu tun
hatte und nicht mit einem natürlichen Todesfall.
Alle Nachforschungen, die bezüglich der Identität der
jungen Frau angestellt wurden, sind bis jetzt vergeb-
lich geblieben: im ganzen Land ist niemand, auf den die
obige Personenbeschreibung zutrifft, als vermißt ge-
meldet worden. Wegen der Nähe des Bahnhofs werden
die Nachforschungen nunmehr in Richtung Antwer-
pen oder Amsterdam fortgesetzt.
Ein anderer Punkt noch kommt der Polizei bedenklich
vor: die mehr als merkwürdige Ähnlichkeit (allge-
meine Erscheinung, Körpermaße, Gesichtszüge,.
Farbe der Augen und des Haars usw.), die zwischen
der Toten und Simon Lecœur selbst besteht. Die An-
gelegenheit ist derart verwirrend, daß man sogar einen
Moment daran gedacht hat, es handelte sich um ein
und dieselbe Person: der charmante Professor der
Französisch-Amerikanischen Schule wäre eine verklei-
dete Frau gewesen. Diese reizvolle Hypothese ist je-
doch verworfen worden, denn der Schularzt hatte den
angeblichen Simon etwa zwei Wochen vorher gründ-
lich untersucht und bürgte für dessen Zugehörigkeit
zum männlichen Geschlecht.
Dieser Praktiker — Doktor Morgan — behandelte Si-
mon wegen Sehstörungen, akuten Störungen, wie es
scheint, wenngleich nervöser Natur. Der nun Ver-
mißte hatte nämlich immer behauptet, unter plötzli-
cher Sehschwäche zu leiden (Minderung der Leucht-
kraft der Netzhautbilder), die immer häufiger auftrete

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und bis zu völligem Blindsein führen könne, welches
manchmal lange Minuten andauere. Morgan, der von
der Psychoanalyse besessen war, hatte sofort an einen
banalen Ödipuskomplex gedacht.
Der Kranke hatte sich damit begnügt, ihm lachend zu
antworten, er habe nichts in Colonia zu tun. Dieser
Kalauer in Verbindung mit dem Thema der lückenhaf-
ten Pflasterung, stürzte den Doktor weiterhin in große
Ratlosigkeit und in neue Vermutungen. Es ist natür-
lich nicht ausgeschlossen, daß dieser zeitweilige Blinde
ein ganz gewöhnlicher Simulant gewesen ist, aber man
erkennt nur schwer die Beweggründe hierfür, da er
seinen Arbeitgeber weder um irgendeinen Krankheits-
urlaub, noch um die geringste Stundenplanänderung
bat.
Von allen Personen, die in seiner Erzählung auftau-
chen, existiert jedenfalls wenigstens eine ohne jeden
Zweifel: die kleine Marie. Von der stillgelegten Werk-
stätte aus haben die Untersuchungsbeamten ohne
Mühe die Gaststätte wiedergefunden, in der man keine
Pizza serviert. Ein Polizist hat dieses Lokal mehrere
Tage lang überwacht. Die kleine Marie, immer noch in
einem Kleid wie von 1880, hat es am 21. Mai abends
betreten (sie kam, wie man später erfuhr, um eine alte
Schuld zu begleichen). Als sie das Lokal verließ, ist der
Polizist ihr unauffällig gefolgt. Er ist bis zur Vercingé-
torix-Sackgasse hinter ihr hergegangen. Ungefähr in
der Mitte des langen Sträßchens haben Leute von uns
eingegriffen. Nachdem sie den allzu wißbegierigen
Ordnungshüter sachte angehalten hatten, haben sie ihn
wieder auf das Ausgangsfeld des Spiels gestellt.
Der Übersetzer dankt nicht nur dem Autor und Bir-
gitta Mogge für Hilfe und Ratschläge und den Germa-
nisten der Ecole Normale Supérieure, Paris, sowie den
Teilnehmern am Seminar »Beobachtungen vor Wort«
in der Gesamthochschule Essen für ihre kritische Auf-
merksamkeit bei der Erörterung von Übersetzungs-
schwierigkeiten, sondern auch dem Europäischen
Übersetzerkollegium Straelen e. V. für die Möglichkeit
der Benützung eines Textverarbeitungsgeräts, das die
Aufzeichnung und Speicherung von Arbeitserfahrun-
gen erleichterte.
E. T.

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