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DEFGH

WOCHENENDE
KULTUR, GESELLSCHAFT, POLITIK Samstag/Sonntag, 17./18. Juli 2010 Nr. 162
INTERVIEW – letzte Seite
Rolf Fehlbaum: „Schlaue Chefs wissen
inzwischen, dass der Sitzkomfort
die Motivation der Mitarbeiter fördert.“

Die neue „Vox populi, vox Rindvieh“ –


diese Sentenz über Volkes
Stimme liebte der große Latei-
ner Franz Josef Strauß so sehr,
dass er sie immer wieder zitier-
te. Der CSU ist aber seither

Bürgerwehr das Stimmvieh regelrecht ent-


laufen. Collage: Plainpicture (2)

In Bayern wird über das Rauchen und in Hamburg über


die Schule abgestimmt: Bürgerbegehren und Volksentscheide
bestimmen immer öfter die Politik. Sind wir vorbildliche
Demokraten oder nur Stimmvieh?
Von Heribert Prantl

Europa neu zu schöpfen: Auch nicht die


allergrößte Koalition in Berlin, keine
EU-Kommission und kein Europäischer
Rat haben die Macht, Deutschland zum
Teil eines europäischen Bundesstaats zu
machen. Das kann nur das Plebiszit. Nur
dieses kann das Grundgesetz ablösen
und an seine Stelle eine EU-Verfassung
setzen. So steht es im Artikel 146 Grund-
gesetz, so sagt es das höchste Gericht.
Das Karlsruher Lissabon-Urteil bedeu-
tete gewissermaßen auch die Wieder-
einsetzung des Volks in seine Rechte.
Das Plebiszit kann etwas Wunder-
bares sein, wenn es Ausdruck einer
kollektiven Verantwortung für das
Gemeinwesen ist. Dann ist es die Er-
füllung der Demokratie. Das Ple-
biszit kann aber auch etwas
Furchtbares sein, es kann die De-
mokratie zerstören, wenn sich
die Egoismen addieren und Vor-
urteile gegenüber Minderheiten
zuschlagen. Manchmal ist das
Plebiszit ein guter Hirte, küm-
mert sich um neue Kindergär-
ten und Umgehungsstraßen
und um den Umweltschutz; es
schreibt ihn, so wie einst in der
Schweiz, mit Sorgfalt und gro-
ßen Buchstaben in die dortige
Verfassung. Ein andermal aber
rüttelt es an den Grundfesten die-
ser Verfassung, weil es – wie bei der
Schweizer Abstimmung gegen Mina-
rette – im Namen der Mehrheit eine
Minderheit kujoniert und sie der Rech-
te beraubt, die diese braucht, um als Min-

F
ranz Josef Strauß selig, dessen arbeitet mit Stimmzetteln. Die alte Bür- durch sein Schweizer Exil, in die bayeri- stören, sich aber gern in den niedrigen Be- weil es weltweit den Trend zu mehr direk- derheit in der Mehrheit zu leben. Das Ple-
95. Geburtstag die CSU in Kürze gerwehr war ein meist unzulänglich aus- sche Verfassung. Der erste Volksent- reichen irgendwie nützlich machen. ter Demokratie gibt, und deshalb die Gut- biszit ist nicht per se gut. Wenn eine
feiert, war mit diesem Thema gerüsteter Haufen zur Verteidigung der scheid war dann gleich 1946; es wurde Im Bürgerlichen Recht gilt die Regel, achter immer mehr internationale Erfah- Mehrheit der Bürger die Todesstrafe gut-
gleich fertig. So gern er ansons- Städte und zur Einschüchterung von Stö- über die Annahme der Verfassung ent- dass derjenige, er sich auf Geschäftsun- rungen auswerten müssen. Der Schwei- heißt, besagt das nicht, dass die Todes-
ten davon redete, dass man als Politiker renfrieden, der aber dann in der demokra- schieden. Diese bayerische Verfassung fähigkeit beruft, ihre Voraussetzungen zer Sachverständige Hans-Urs Wili legte strafe auch richtig ist. Mehrheit ist nicht
dem Volk aufs Maul schauen müsse – für tischen Revolution von 1848/49 besonde- mag ihr Volk, sie vertraut ihm. Die Müt- zu beweisen hat. Die Politiker, die jed- den Bundestagsabgeordneten im Früh- unbedingt gleichzusetzen mit Wahrheit,
Volksabstimmungen hatte er nichts üb- re Bedeutung erlangte. Damals, als die ter und Väter des Grundgesetzes trauten wede Form des Bundes-Plebiszits ableh- jahr 2002 ein beeindruckendes rechtsver- Richtigkeit und Verfassungsmäßigkeit.
rig. „Vox populi, vox Rindvieh“ pflegte Bürger nicht mehr Untertanen sein wol- dem Volk nicht. Sie konnten und wollten nen, haben demzufolge darzulegen, dass gleichendes Konvolut von der Dicke ei- Das gilt im Parlament – das gilt auch für
er zu sagen. Damals, das ist gut dreißig len, wandelte sich die Bürgerwehr inner- ihm nicht verzeihen, dass es einst Adolf die Gründe für die grundgesetzliche ner Habilitationsschrift vor: Tabellen das Plebiszit. Die plebiszitäre Demokra-
Jahre her, haben die Leute noch begeis- halb von wenigen Monaten von einem Hitler gewählt und bis zuletzt die Treue Angst vor dem Volk nach wie vor berech- und detaillierte Übersichten über „Volks- tie braucht deshalb, genauso wie die par-
tert geklatscht, wenn man sie als Rindvie- Ordnungsfaktor der alten Mächte zu ei- gehalten hatte. Sie beschränkten also die tigt sind. Das wird ihnen nicht gelingen. rechte in den souveränen Staaten der lamentarische, ein Korrektiv, ein Kon-
cher bezeichnet hat. Die Zeiten sind vor- ner Miliz mit demokratischem Selbstver- Möglichkeiten des Volks, seinen Willen Die Deutschen haben über sechs Jahr- Welt“. Diese Erfahrungen sind, kurz ge- trollorgan: das Verfassungsgericht.
bei. Die weiland Rindviecher wollen heu- ständnis. In Baden kämpften die Bürger- wirksam zur Geltung zu bringen, auf das zehnte der Bewährung hinter sich. Das sagt, nicht schlecht, und die Bedenken Aus einem plebiszitären Grundrau-
te mitentscheiden: Sie haben, so fassen es wehren an der Seite der demokratischen absolute Minimum – auf die alle vier Jah- ökologische Bewusstsein hat sich in von konservativen Verfassungsjuristen, schen, das nun schon eine Generation
die Parteienforscher in den Talkshows Revolutionäre Friedrich Hecker und Gus- re fällige Neuwahl des Bundestags. Ab- Deutschland von unten nach oben entwi- die die Grundfesten der repräsentativen lang währt, ist mittlerweile eine kraftvol-
zusammen, „genug von ihren Politikern, tav von Struve gegen die preußischen grundtief war die Angst vor neuen Dema- ckelt. Im Osten haben die Menschen ein Demokratie von Plebisziten gefährdet se- le Bewegung geworden. Aktive und ehe-
aber Freude an der Politik“. Diese Freu- Truppen und für die Ansprüche des Bür- gogen und davor, dass die Volksabstim- diktatorisches Regime gestürzt. Und die- hen, stehen etwas schal daneben. malige Verfassungsrichter, Professoren
de, manchmal ist es eine Lust, ist biswei- gertums gegenüber dem Monarchen. Als mung als Hebel gegen die junge Demokra- se Menschen sollen nicht reif sein, sich des Staatsrechts und auch immer mehr
len kreativ und bisweilen destruktiv. der demokratische Aufstand von den tie missbraucht werden könnte. Deshalb hin und wieder in einer Volksabstim- Politiker loben das Plebiszit – nicht als
Fürsten und Herrschaften niedergeschla- wurde dem Plebiszit kein Millimeter mung zu äußern? Wundermittel, aber als Medizin. Es geht
gen war, wurden die Bürgerwehren ver- Raum gegeben. Anlass zum Nachdenken Carlo Schmid, der sozialdemokrati- Ein Plebiszit ist nicht nicht um Abstimmungsorgien, sondern
boten. Manche überlebten irgendwie in darüber, ob dies ein Dauerzustand blei- sche Vater der Bundesrepublik, hat recht nur um die Anreicherung des repräsenta-
Kein Zaubertrank, Feuerwehren, Schützen- und Traditions- ben dürfe, hatte man nicht: Das Grundge- behalten über Konrad Adenauer, ihren per se gut: Es kann tiven Prinzips durch plebiszitäre Elemen-
aber eine Medizin – vereinen; sie flickten die alten Fahnen, setz war ja nur als vorläufige Ordnung, christdemokratischen Großvater. Als die kreativ und destruktiv sein. te. Der Bürger- und Volksentscheid ist ge-
sie gründeten Spielmannszüge und ver- als Provisorium gedacht. beiden sich am 1. September 1949 ken- wiss kein Zaubertrank, den eine Demo-
mit Nebenwirkungen. anstalten bis heute historische Umzüge. Dieses Grundgesetz wird, zu Recht, nengelernt hatten, beschloss Adenauer kratie nur in sich hineinschütten müsste.
Die neue Bürgerwehr, die Bürgerwehr über den Schellenkönig gelobt. Aber das Gespräch so: „Was uns beide unter- Es ist ein Hilfsmittel. Jede Medizin hat
von 2010, tut anderes: Sie baut Bürger- man kann auch das Gute noch besser ma- scheidet, ist nicht nur das Alter, es ist Als der deutsche EU-Kommissar Gün- Nebenwirkungen; wer geheilt werden
steige. Diese Bürgersteige entstehen ne- chen. Die Deutschen werden nämlich auch noch etwas anderes: Sie glauben an ter Verheugen 2001 anregte, bei epocha- will, muss sie in Kauf nehmen. Und es ver-
Sie bricht sich Bahn in Bürgerbegeh- ben, manchmal auch abseits der gut aus- von ihrer Verfassung behandelt, wie frü- den Menschen, ich glaube nicht an ihn, len europäischen Fragen das Volk ent- hält sich mit Volksbegehren und Bürger-
ren und Bürgerentscheiden, in Volksbe- gebauten Bundes- und Landstraßen, auf her Menschen behandelt wurden, die we- und habe nie an den Menschen ge- scheiden zu lassen, erschien das selbst de- entscheid ebenso: Man muss sich Indika-
gehren und Volksentscheiden. Bürger denen die klassische Gesetzgebung ihren gen Geistesschwäche, Verschwendung, glaubt.“ Noch nach Jahren hat Adenauer nen als waghalsig und gefährlich, die an- tion und Dosierung genau überlegen.
dringen auf bessere Kindergärten und Lauf nimmt; auf den Bürgersteigen aber Trunk- oder Rauschgiftsucht entmün- den SPD-Kollegen bei Empfängen in ei- sonsten, wie die Grünen und die Sozialde- Bei alledem gilt: Wer eine lebendige
Schulen, Bürger bringen Gesetze zu Fall werden die Begehren der Bürger von die- digt waren – sie galten als nur be- ne Ecke gezogen und gefragt: „Glauben mokraten, die Einführung des Plebiszits Demokratie will, darf an den alten Be-
und neue zuwege, Bürger legen ihr Veto sen immer häufiger selbst transportiert. schränkt geschäftsfähig. Weil sich diese Sie immer noch an den Menschen?“ Car- auf Bundesebene fordern. „Wir haben quemlichkeiten nicht festhalten. Er muss
ein gegen die Privatisierung von Wasser- Die Zahl der kommunalen Bürgerbegeh- lo Schmid tat es. Die Geschichte der Re- nicht abgestimmt, als wir wiederver- es mit Carlo Schmid halten – und an den
und Stadtwerken, Bürger verhindern ren und Bürgerentscheide hat sich seit publik zeigte, dass er recht damit hatte. einigt wurden. Wir haben nicht abge- Menschen glauben. Der Demokrat ist
den Verkauf des kommunalen Abwasser- Mitte der neunziger Jahre verdreifacht. Das Plebiszit: Wenn es auf Länderebe- stimmt, als der Euro kam“, sagte der frü- kein Rindvieh.
kanalnetzes, Bürger stoppen den Bau Es gibt also mittlerweile eine Zweispurig- Muss man das Volk ne gut ist, kann es dann auf Bundesebene here Außenminister Klaus Kinkel, und
von Hochhäusern und Einkaufspassa- keit der Gesetzgebung: Auf den breiten des Teufels sein? Als nach der deutschen „aus gutem Grund“ sei das so gewesen.
gen, Bürger entscheiden über das Schick- Straßen des Bundes und der Länder ver- vor dem Volk Einheit eine große Verfassungsreform Den „guten Grund“ sehen die Gegner des
sal des alten Flughafens, Bürger lassen kehren die Volksvertreter. Und auf den beschützen? auf der Tagesordnung stand, da hatte Plebiszits darin, dass man die Verlässlich-
Inhalt
die Zusammenlegung zweier Bundeslän- Bürgersteigen verkehren die Volksbe- sich die Bundespoiltik an die Bequem- keit des repräsentativen Prinzips nicht in
der scheitern, Bürger überziehen das gehrer. Manchmal knistert es im Verhält- lichkeiten des repräsentativen Systems das Meer der Stimmungen und Irrationa-
Land Bayern mit einem radikalen gesetz- nis zwischen repräsentativer und direk- so gewöhnt, dass die Zweidrittelmehr- litäten werfen dürfe. Soll heißen: Man Harald Hordych
lichen Rauchverbot. Nun dringen immer ter Demokratie. Diese Knisterei signali- Betrachtungsweise ja streng genommen heit für eine Verfassungsänderung nicht muss das Volk vor dem Volk beschützen
mehr Bürger darauf, nicht mehr nur in siert Spannung – aber die Demokratie auch auf das allgemeine Wahlrecht er- zustande kam. Hans-Jochen Vogel warb (was manchmal nicht so falsch ist).
Im Härtetest
den Städten und Gemeinden und Bundes- braucht Spannung, sonst schläft sie ein. strecken müsste, wird dem Volk vom als Verfassungs-Obmann der SPD eben- Als der CSU-Abgeordnete Peter Gau- Adrien Brody war bisher meist der Anti-
ländern, sondern auch auf Bundesebene Plebiszite können pädagogische Veran- Grundgesetz alle paar Jahre ein lucidum so eindringlich wie vergeblich, er ließ weiler versuchte, mittels Verfassungsbe- held. Jetzt spielt er einen Söldner.
abstimmen zu können. Von der „Vox staltungen sein, bei denen die Entfrem- intervallum zugestanden, also ein lichter den Sekretär der Verfassungskommis- schwerde beim Bundesverfassungsge-
Rindvieh“ traut sich freilich heute kein dung zwischen Bürgern und Parteien Augenblick, und zwar just dann, wenn es sion einen Bericht über die Eingaben aus richt eine deutsche Volksabstimmung SZ-Autoren
Politiker mehr zu reden. Der alte Arg- schwindet; manchmal lernen die Initiato- um die Bestätigung seiner politischen Re- dem Volk vortragen: Eine halbe Million über die EU-Verfassung zu erzwingen,
wohn der professionellen Politik gegen ren auch, dass ein Justament-Stand- präsentanten geht. In der Zeit zwischen Eingaben hatten gefordert, plebiszitäre kam die Klage nicht mehr zum Zuge –
Die große Aufrüstung
die Amateure hat jetzt neue Namen, Na- punkt nichts bringt, dass sie Koalitionen den Wahlen hat sich der deutsche Wäh- Elemente ins Grundgesetz zu schreiben – weil schon Volksabstimmungen in Frank- Burgausstellungen, Ritterspiele: Was
men wie „Stimmungsdemokratie“. schmieden und Kompromisse schließen ler, auf Bundesebene, so zu verhalten, das war vor der Internetzeit. Im Jahr reich und den Niederlanden der EU-Ver- finden die Leute am Mittelalter so gut?
Gestern in Bayern für das Rauchver- müssen, um Erfolg zu haben. wie das die katholische Kirche von den 2002 unternahm dann die rot-grüne Re- fassung den Garaus gemacht hatten. Im
bot; heute, nämlich an diesem Sonntag in Alle deutschen Bundesländer kennen Laien, zumal von den Frauen, verlangt. gierung noch einmal einen solchen plebis- Jahr 2009, im Urteil zum Lissabon-Ver- Marlene Sørensen
Hamburg, gegen die Schulpolitik aller Plebiszite, sie funktionieren dort gut – in Sie sollen schweigen, das heißt: sich dar- zitären Anlauf, wieder vergeblich. trag, bekam Gauweiler dann nachträg-
Parteien: Es ist eine neue Bürgerwehr ent- Bayern seit 64 Jahren. Wilhelm Hoegner, auf verlassen, dass die Würdenträger Die Argumente drehen sich im Kreis. lich recht: Zum Kern dieses Urteils gehö-
Hauptsache Berlin
standen. Sie schleppt nicht mehr Spieße der erste bayerische Ministerpräsident schon alles richtig machen; sie sollen Und die wissenschaftlichen Gutachten ren diejenigen Sätze, die allein dem Volk Was ist unsere ach so coole Hauptstadt
und Hellebarden mit sich herum; sie nach dem Krieg, schrieb sie, inspiriert jedenfalls den laufenden Betrieb nicht werden immer länger, auch deswegen, die Kraft zumessen, die Verfassung und im Ausland wert? Ein Messversuch.

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