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Wehrpflicht aussetzen,
Freiwilligendienste fördern
Aufarbeitung
der Transformation der Bundeswehr zur
Freiwilligenstreitkraft unter Berücksichtigung
historischer, juristischer und gesellschaftspolitischer
Aspekte
Marco Penz
INHALT
Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................. III
Kurzfassung.................................................................................................................. 1
Einleitung ..................................................................................................................... 5
A. Historische Betrachtung .......................................................................................... 6
I. Das französische Vorbild...................................................................................... 6
II. Die Wehrpflicht im 19. Jahrhundert.................................................................... 7
III. Weimarer Republik .......................................................................................... 10
IV. Nationalsozialismus ......................................................................................... 11
V. Deutschland nach 1945 ..................................................................................... 12
VI. Ergebnis ........................................................................................................... 13
B. Die Sicherheitspolitische Lage der BRD............................................................... 15
I. Historischer Kontext ........................................................................................... 15
II. Aktuelle Situation.............................................................................................. 16
C. Juristische Betrachtung.......................................................................................... 18
I. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen ................................................................ 18
1. Verfassungsrecht ............................................................................................ 18
2. Einfaches Recht.............................................................................................. 21
3. Auftrag der Streitkräfte .................................................................................. 23
a) Landesverteidigung.................................................................................... 23
b) Außer zur Verteidigung ............................................................................. 24
(1) Auslandeinsätze.................................................................................... 24
(2) Amts- und Katastrophenhilfe ............................................................... 27
(3) Terrorismusbekämpfung....................................................................... 27
4. Verhältnismäßigkeit ....................................................................................... 29
II. Kriegsdienstverweigerung – Ersatzdienst (Art. 4 III i.V.m Art. 12a II GG)..... 34
1. Kriegsdienstverweigerung.............................................................................. 34
2. Ersatzdienst .................................................................................................... 38
III. Wehrgerechtigkeit (Art. 12a I i.V.m. Art. 3 I GG) .......................................... 42
IV. Frauen in der Bundeswehr ............................................................................... 49
V. Allgemeine Dienstpflicht .................................................................................. 51
VI. Ergebnis ........................................................................................................... 54
1. Abschaffung oder Aussetzung?...................................................................... 57
D. Ökonomische Betrachtung .................................................................................... 59
I. Volkswirtschaftliche Kosten............................................................................... 59
1. Die Wehrpflicht als Naturalsteuer.................................................................. 60
2. Wehrgerechtigkeit .......................................................................................... 61
3. Weitere Opportunitätskosten.......................................................................... 62
II. Betriebswirtschaftliche Kosten.......................................................................... 64
1. Effizienzgewinn ............................................................................................. 64
2. Kosteneinsparung durch Out-Sourcing .......................................................... 66
III. Zivildienst ........................................................................................................ 67
IV. Allgemeine Dienstpflicht ................................................................................. 69
V. Ergebnis............................................................................................................. 70
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung...................................................................... 74
I. Streitkräfte & Gesellschaft.................................................................................. 74
1. Die Bundeswehr als Parlamentsheer? ............................................................ 74
2. Der Staatsbürger in Uniform.......................................................................... 76
II. Wehrdienstleistende – Zivildienstleistende....................................................... 77
III. Wehrgerechtigkeit ............................................................................................ 81
II
Abkürzungsverzeichnis
Diss............................ Dissertation
DIW........................... Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
DVBl. ........................ Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift)
gem............................ gemäß
GG ............................. Grundgesetz
ggf. ............................ gegebenenfalls
GMBl. ....................... Gemeinsames Ministerialblatt
grds............................ grundsätzlich
GRe I, II usw. ............ Bettermann et al., Die Grundrechte (s. Lit.)
GWDL....................... Grundwehrdienstleistender, Grundwehrdienstleistende
NATO........................ Nordatlantikvertrag-Organisation
NJW .......................... Neue Juristische Wochenschrift (Zeitschrift)
Nr. ............................. Nummer
NRhZ......................... Neue Rheinische Zeitung
NVwZ........................ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (Zeitschrift)
NZWehrR.................. Neue Zeitschrift für Wehrrecht (Zeitschrift)
ParlBG....................... Parlamentsbeteiligungsgesetz
PrMtlg ....................... Pressemitteilung
teilw........................... teilweise
TVöD-AT.................. Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst – Allgemeiner Teil
Kurzfassung
Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes im Jahre 1989/90 muss allerdings erneut
nach der Legitimation der Wehrpflicht gefragt werden. Deutschland hat sich
wiedervereinigt und die Streitigkeiten zwischen Russland und den USA sind
beigelegt. Ein Angriff konventioneller Streitkräfte ist, auch nach Einschätzung des
BMVg, unwahrscheinlich. Der neue Auftrag der Bundeswehr findet sich nunmehr in
der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Dies sind jedoch Einsätze, die
überwiegend professionelle Soldaten voraussetzen und im Ausland zu bewältigen
sind.
Die Wehrpflicht findet ihre Legitimation in einer Kann-Bestimmung des Art. 12a I
GG. Dadurch ist dem Gesetzgeber die Einführung des Wehrpflichtgesetzes eröffnet
worden. Es steht dem Gesetzgeber allerdings frei, ob er die verfassungsrechtlich
gewährleistete Landesverteidigung auf der Basis von Wehrpflicht- oder
Freiwilligenstreitkräften realisieren möchte. Der Einsatz Wehrpflichtiger im Ausland
ist verfassungsrechtlich verwehrt. Die Wehrpflicht ist unter der sicherheitspolitischen
Lage nicht mehr erforderlich und scheitert somit am Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Die immer fortwährend steigenden KDV-Quoten lassen
vermuten, dass ein Vollzugsdefizit vorliegt. Die Wehrpflicht steht unter dem Gebot
der Wehrgerechtigkeit aus Art. 3 I GG. Es muss eine Lasten- und Pflichtengleichheit
existieren, damit die Wehrpflicht auch weiterhin aufrechterhalten werden kann. Die
Kurzfassung 2
Mit der Aussetzung der Wehrpflicht sollte die Förderung von Freiwilligendiensten
einhergehen. Finanzmittel, die frei werden, sollten ausnahmslos in die Förderung
eben dieser Dienste fließen. Freiwilligendienste müssen attraktiv gestaltet werden.
Dies muss ein gut durchdachtes Bonussystem beinhalten. Jugendliche, die sich für
einen Freiwilligendienst entschieden haben, sollten keine Nachteile davontragen. Der
Dienst muss dementsprechend bei der Studienplatzvergabe, aber auch bei der
Kurzfassung 4
Einleitung
1
Statt vieler VG Mainz, Beschl. v. 26.02.2009 – 6 L 109/09.MZ.
A. Historische Betrachtung 6
A. Historische Betrachtung
Bereits 1949, noch vor Gründung der Bundesrepublik Deutschland, äußerte sich der
spätere Bundespräsident Theodor Heuss vor dem Parlamentarischen Rat zur Frage
der allgemeinen Wehrpflicht und bezeichnete sie als „das legitime Kind der
Demokratie“2.
Seit jeher wird Heuss von Befürwortern der Wehrpflicht zitiert, obwohl der spätere
Bundespräsident eher ein distanziertes Verhältnis zur Frage der Wiederbewaffnung
Deutschlands hatte3.
Umso mehr muss also der Frage nachgegangen werden, wo die allgemeine
Wehrpflicht ihre Wurzeln hat und ob sie als legitimes Kind der Demokratie
bezeichnet werden darf.
Die allgemeine und gleiche Wehrpflicht findet ihren Ursprung in der Französischen
Revolution von 1789 4 , doch befand sie die Nationalversammlung noch am 16.
Dezember 1789 für unvereinbar mit der Freiheit und der Würde des Individuums5.
Das bisherige Stehende Heer in Form eines Söldnerheeres wurde vorerst beibehalten
6
und das Milizsystem wurde aufgehoben . Aber unter den Umständen der
Französischen Revolution und den Bemühungen des Königs diese mithilfe
benachbarter Staaten zu bekämpfen, gerieten die Volksvertreter 7 unter den Druck,
ein genügend großes Kontingent an Soldaten zur Verteidigung des Landes
aufzustellen. Als Vordenker der später folgenden Wehrpflicht gilt Carnot8, der den
Bürgern zu verdeutlichen versuchte, dass die innere Pflicht zur Verteidigung des
Landes der Freiheit und Vaterlandsliebe entspringe9. Eine administrativ auferlegte
2
Heuss vor dem Parlamentarischen Rat am 18. Januar 1949; zit. n. Opitz/ Rödiger, Allgemeine
Wehrpflicht, S. 208 – Heuss plädierte für die Streichung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, da
er einen „Massenverschleiß des Gewissens“ befürchtete.
3
Opitz, Allgemeine Wehrpflicht, S. 9.
4
Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 7; Graulich, NZWehrR 2005, 177 (178).
5
Wohlfeil, Absolutismus, S. 39; Bald, Wehrpflicht, S. 7.
6
Wohlfeil, aaO, S. 39.
7
Dass die allg. Wehrpflicht von einer Volksbewegung ausging, sei kennzeichnend für das Frankreich
jener Jahre. Siehe etwa Rößler, Nationale Bewegung, S. 94.
8
Statt aller: Graulich, NZWehrR 2005, 177 (179).
9
Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 19.
A. Historische Betrachtung 7
Pflicht lehnte er jedoch ab10. Eine zahlenmäßig ausreichende Rekrutierung auf dem
Prinzip der Freiwilligkeit blieb jedoch ohne Erfolg, sodass am 23. August 1793 das
Gesetz über die allgemeine Volksbewaffnung – sog. „levée en masse“ –
verabschiedet wurde11. Dieses Gesetz hatte aber provisorischen Charakter und war
„eine notbedingte Zwangsmaßnahme, getragen vom Willen zur Verteidigung des
Landes und der Errungenschaft der Revolution“ 12 . Auch Carnot sah in der
allgemeinen Wehrpflicht nur ein „zeitlich befristetes Aushilfsmittel in einer
Notsituation“13 und befürwortete sie nur, da das Allgemeinwohl dem des Bürgers
vorgehe 14 . Allerdings führte die allgemeine Wehrpflicht zu einem Millionenheer;
eine für Europa unbekannte Größe 15 . Insgesamt stieß die Wehrpflicht aber auf
starken Widerstand innerhalb des Volkes16.
Den Verfall der eigentlich demokratisch17 eingebrachten Wehrpflicht erfuhr sie unter
der Führung Napoleons. Dieser erschuf durch das Gesetz vom 17. Ventôse VIII die
Möglichkeit der Stellvertretung, sodass von einer allgemeinen und gleichen
Wehrpflicht keine Rede mehr sein konnte, und stattdessen das neue System der
Konskription eingeführt wurde18. Der Unwillen gegen diese Pflicht zum Kriegsdienst
erschließt sich auch daraus, dass es später sogar Versicherungen gegen diesen gab19.
In Deutschland wurde der Gedanke einer allgemeinen Wehrpflicht Anfang des 19.
Jahrhunderts aufgegriffen und als Reform des durch den Adel20 verkrusteten Heeres
eingeführt21.
Aber auch schon vor der Heeresreform von Preußen gab es an die Wehrpflicht
angelehnte Wehrsysteme: Das Königreich Westphalen führte durch Dekret vom 25.
10
Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 18.
11
Statt vieler: Wohlfeil, Absolutismus, S. 42 f.
12
Wohlfeil, aaO, S. 46.
13
Opitz, Allgemeine Wehrpflicht, S. 14.
14
Holm, aaO, S. 28.
15
Graulich, NZWehrR 2005, 177 (179); Holm, aaO, S. 74.
16
Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 10; Holm, aaO, S. 98, sagt aber auch, dass dieser Widerstand nur
gemäßigt zum Ausdruck kam und als „notwendiges Übel“ empfunden wurde.
17
Siehe etwa Bald, Wehrpflicht, S. 7.
18
Wohlfeil, Absolutismus, S. 47.
19
Holm, aaO, S. 139.
20
Siehe dazu Wohlfeil, aaO, S. 84.
21
Ausgehend insbesondere von Boyen, Gneisenau und Scharnhorst; Frank, in: AK-GG, nach Art. 87
Rn. 77.
A. Historische Betrachtung 8
April 1808 eine Militärkonskription für alle 20–25-jährigen ein, das jedoch die
Stellvertretung22 zuließ. Auch Bayern verfügte über ein „Konskriptionsgesetz“ vom
29. März 1812, das die allgemeine bedingte Wehrpflicht aufgriff. Als eine Pflicht des
Staatsbürgers, so wie es das französische Vorbild vorsah, kann diese Wehrpflicht
aber bei weitem nicht gesehen werden, da „es den ‚Staatsbürger’ nicht gab und die
Regierung in der Bevölkerung nur Untertanen sah“.23
Diese staatsbürgerliche Pflicht griffen dann zuerst die preußischen Reformer von
Scharnhorst und von Lottum wieder auf, die am 15. Juli 1807 einen Sonderauftrag
von Friedrich Wilhelm III. erhalten haben und die Militär-
Reorganisationskommission gründeten24. Ziel der Reform sollte es sein, die strikte
25
Trennung zwischen Armee und Volk aufzuheben und somit ein neues
Staatsverständnis zu schaffen, in dem es der Bürger als eine sittliche Pflicht sah, für
das Vaterland zu kämpfen26. Hinzu kam nach den Meinungen vom Stein, Altenstein
und Hardenberg, dass das Militär zu teuer sei27.
Aber ähnlich wie Carnot in Frankreich wollten die Reformer auf die Wehrpflicht als
solche verzichten und stattdessen eine Miliz neben die Linientruppen aufstellen28 und
die allgemeine Wehrpflicht nur im Kriegsfall einführen. Da aber auf diese Weise die
Trennung von Armee und Volk nicht überwunden werden konnte, schlug die
Kommission am 20. Dezember 1808 vor, die allgemeine Wehrpflicht im Stehenden
Heer mit kurzer Dienstzeit einzuführen. Der Wehrpflichtige sollte über ein Los
ermittelt werden.29
Dies waren die ersten Versuche ein liberales und demokratisches Wehrsystem
aufzustellen, dass den Bürger nicht mehr als Untertanen sah, sondern als
vollmündigen Staatsbürger. Die Gleichberechtigung zwischen Adel und Bürgertum
trieb damit immer mehr in den Vordergrund30. Daher verwundert es kaum, dass dem
König der Vorschlag vorerst missfiel, er sich am 3. September 1814 aber dennoch
entschied, ein Wehrgesetz einzuführen, das die allgemeine Wehrpflicht vorsah 31 .
22
Siehe dazu § 137 Abs. 7 (nicht in Kraft getreten) Paulskirchenverfassung 1849 und Art. 57
Reichsverfassung 1871, die die Stellvertretung später explizit ausschloss.
23
Wohlfeil, Absolutismus, S. 63 ff.
24
Ibid, S. 103.
25
Ibid, S. 115; Bald, Wehrpflicht, S. 4.
26
Wohlfeil, aaO, S. 124 – „Wenn diese Überzeugung einmal lebendig und allgemein ist, werde es
keines Zwanges zum Militärdienst mehr bedürfen.“
27
Wohlfeil, aaO, S. 101.
28
Opitz, Allgemeine Wehrpflicht, S. 18.
29
Wohlfeil, aaO, S. 121 ff.
30
Siehe hierzu auch Bald, Wehrpflicht, S. 5.
31
Wohlfeil, aaO, S. 128.
A. Historische Betrachtung 9
Klar ist aber auch, dass der Grund für dessen Einführung außerhalb demokratischer
Überlegungen zu finden ist, sondern vielmehr seinen Ursprung in
„Zweckmäßigkeitserwägungen“ hat 32 . So verwundert es auch nicht, dass diese
Armee eine monarchische und frei von jedwedem demokratischen Denken blieb33.
Dies lag auch letztlich daran, dass die Wehrpflicht einzig auf der Ebene des
einfachen Soldaten eingeführt wurde. Eine Verwirklichung der Wehrpflicht auch auf
der Führungsebene blieb aufgrund der fehlenden Zustimmung des Adels aus 34 .
Vielmehr entwickelte sich die allgemeine Wehrpflicht zu einem Instrument der
Militarisierung des Volkes, insbesondere der Jugend35.
Im November 1867 führte sodann auch der Norddeutsche Bund die allgemeine
Wehrpflicht nach preußischem Muster ein37 und auch Frankreich beschloss nach der
Niederlage im Deutsch-Französischem Krieg 1870/71 diese wieder einzuführen.
Russland führte sie 1874, Österreich-Ungarn 1868 und Italien 1875 ein.38 Und nach
den Einigungskriegen in Deutschland wurde die Wehrpflicht auch in
nichtpreußischen Bundesstaaten verwirklicht.
Insgesamt diente somit die Armee als Stabilisierungsfaktor, da sie vermochte die
Klassengegensätze zu mildern und das Verhältnis des Bürgers zum Staat zu
stärken.39 Da der Wehrdienst ein hohes Sozialprestige hatte, fanden sich auch viele
Freiwillige 40 . Die Sozialdemokratie hingegen vertrat im Kaiserreich die Position,
dass das Milizsystem die Demokratie besser zu fördern vermochte41.
Schließlich aber führte das Expansionsstreben des Kaisers und dessen Bündnispolitik
zum Ersten Weltkrieg im Jahre 1914. Die Wehrpflicht sorgte in diesem
Zusammenhang zu vielen und vor allem billigen Soldaten 42 . Nach Ausbruch des
Krieges wurde dahingehend sogar eine Dienstpflicht – sog. Hilfsdienstgesetz –
32
Wohlfeil, Absolutismus, S. 186; Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III, Rn. 3.
33
Messerschmidt, Preußisch-deutsche Armee, S. 60.
34
Kozielski, Die Bundeswehr, S. 6.
35
Messerschmidt, aaO, S. 60; Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 141; Auch Bald, Wehrpflicht, S. 13,
spricht von einer Umfunktionierung der Wehrpflicht.
36
Bald, Wehrpflicht, S. 13.
37
Holm, aaO, S. 147.
38
Schmidt-Richberg, Wilhelm II., S. 41 ff.
39
Ibid, S. 57 f.
40
Ibid, S. 83.
41
Ibid, S. 111.
42
Opitz, Allgemeine Wehrpflicht, S. 19; Kutz, Menschenschlachthaus, S. 52.
A. Historische Betrachtung 10
eingeführt, die auch Frauen verpflichtete43. Nach dem Kriegseintritt der USA war der
Krieg im Jahre 1918 militärisch verloren, was schließlich auch die Deutschen
erkennen mussten44.
Nachdem nun Wilhelm II. Bestrebungen fehlschlugen und der Krieg verloren war,
musste sich Deutschland den Bestimmungen der Siegermächte unterwerfen. Diese
diktierten dem geschlagenen Deutschland Verpflichtungen im Friedensvertrag von
Versailles vom 28. Juni 1919 45 , die auch die Reichswehr und diesbezüglich die
Wehrpflicht betrafen. Letztendlich wurde Deutschlands militärische Macht
weitestgehend eingeschränkt. Die Reichswehr durfte nur noch 100.000 Mann (Art.
160) umfassen und die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht wurde ihnen
untersagt (Art. 173). Zum letzteren trat schließlich das Gesetz über die Abschaffung
der allgemeinen Wehrpflicht und die Regelung der Dauer der Dienstverpflichtung
vom 21. August 1920 46 in Kraft, dessen § 1 die allgemeine Wehrpflicht für
unbestimmte Zeit abschafft. Ferner mussten sich freiwillige Soldaten für eine Zeit
von 12 Jahren verpflichten (§ 3).
Erstaunlich ist aber, dass die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 in
Art. 133 die Wehrpflicht nicht gänzlich ausschloss, sondern unter Gesetzesvorbehalt
stellte und des Weiteren die Pflicht, dem Staat zu dienen, regulativ festhielt.
Die von den Siegermächten auferlegte Versagung der Wehrpflicht sorgte innerhalb
Deutschlands zu „heftigen Kontroversen“. Die Alliierten griffen aber zu einer derart
restriktiven Regelung, da man den Militarismus in Deutschland für allemal zerstören
wollte.47 Insbesondere England und später die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG)
befürchteten, dass von der Wehrpflicht die „Gefahr einer gesellschaftlichen
Militarisierung und von dieser wiederum eine Kriegsgefahr“ 48 ausgehe. Auch die
SPD nahm 1929 die Wehrpflicht noch nicht wieder in ihr Magdeburger Programm
auf49.
43
Kutz, Menschenschlachthaus, 58 f.
44
Man denke z.B. an die symbolträchtige Befehlsverweigerung junger Matrosen am 28. Oktober 1918.
45
RGBl., 153 ff.
46
RGBl., 1608.
47
Wette, Abschaffung Wehrpflicht 1919, S. 67 f.
48
Wette, aaO, S. 73; im Ergebnis auch Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 82.
49
Wette, aaO, S. 73 f.
A. Historische Betrachtung 11
Das große Problem der Armee der Weimarer Republik lag aber, wie bereits zuvor in
Preußen, in der erneuten Trennung von Armee und Volk. Innerhalb der Armee
herrschte weiterhin eine „heimliche Verbindung zum monarchischem Prinzip“ 50 .
Durch die Verpflichtung von 12 Jahren war die Fluktuation dementsprechend gering.
Hinzu kam das Neutralitätskonzept von von Seeckt, welches dem Soldaten keine
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichte 51 . Als Soldat büßte dieser sein
aktives Wahlrecht ein. Dies führte dann unter anderem zu dem, schon unter
Scharnhorst52 so genannten, „Staat im Staate“. Hinzu kam außerdem die fehlende
politische Führung53 der Reichswehr.
IV. Nationalsozialismus
50
Obermayer, NJW 1967, 1837 (1838).
51
Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 73.
52
Vgl. Bald, Wehrpflicht, S. 4.
53
Breuer/ Fisch, Bundeswehr, S. 154.
54
Salewski, Wehrmacht, S. 134 f.
55
RGBl., 375.
56
Salewski, aaO, S. 139; Graulich, NZWehrR 2005, 177 (184).
57
Holm, Allgemeine Wehrpflicht, S. 175.
58
Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. Juni 1935 – RGBl., 769 –.
59
Holm, aaO, S. 176.
A. Historische Betrachtung 12
Die Deutsche Demokratische Republik 63 schaffte am 27. Oktober 1955 durch das
Gesetz zur Schaffung der Nationalen Volksarmee die Möglichkeit, die Bürger zur
Verteidigung zu verpflichten und führte daraufhin im Januar 1962 die Wehrpflicht
wieder ein. Auch hier knüpfte man an die Ideen der Reformer um Scharnhorst und
Gneisenau an und konstatierte, nur auf diesem Weg den Antimilitarismus und
Sozialismus fördern zu können.64
65
In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Frage nach der
verfassungsrechtlichen Einordnung der Streitkräfte zu Beginn noch nicht gestellt.
Das Bonner Grundgesetz von 1949 enthielt dementsprechend keine Regelung.
Allerdings war man sich bei der Gründung darüber einig, dass niemand mehr
verpflichtet werden sollte, Kriegsdienst mit der Waffe gegen sein Gewissen
ausführen zu müssen (Art. 4 III GG)66. Die Himmeroder Denkschrift schlug schon
1950 die Wehrpflichtarmee vor, um die beabsichtigte Truppenstärke zu erreichen67.
Dennoch fanden alle anderen Bestimmungen, die die Streitkräfte betreffen, „Zug um
Zug“ Einzug in die deutsche Verfassung 68 . Dem Bund wurde erst 1954 durch
Änderung des Art. 73 Nr. 1 GG die Zuständigkeit für die „Verteidigung
60
Vgl. hierzu Kutz, Menschenschlachthaus, S. 60 Fn. 1.
61
Graulich, NZWehrR 2005, 177 (184).
62
Graulich, NZWehrR 2005, 177 (185).
63
Auf eine eingehende Aufarbeitung der Militärgeschichte der DDR soll an dieser Stelle verzichtet
werden. Die außenpolitischen Rahmenbedingungen, die letztlich auch in der DDR zu der
Wiedereinführung der Wehrpflicht geführt haben, sollen im bundesrepublikanischen Teil näher
analysiert werden; zur näheren Auseinandersetzung sei auf Biechele, BKonF 4/ 1972, 61 verwiesen.
64
Bald, Restauration, S. 76 ff.
65
Zur näheren juristischen Auseinandersetzung siehe C I.
66
Siehe zur Diskussion Heuss im Parlamentarischen Rat (Fn. 2).
67
Burmeister, Hat die Wehrpflicht eine Zukunft, S. 5.
68
Graulich, NZWehrR 2005, 177 (185).
A. Historische Betrachtung 13
VI. Ergebnis
69
H. Schäfer, NJW 1956, 529; in Bezug auf eine „Grundpflicht“ verneinend Frank, in: AK-GG, nach
Art. 87 Rn. 79.
70
Zur tieferen Diskussion der Notstandsgesetzgebung siehe auch BT-Prot V/9313, 9413, insbesondere
zu der Frage, ob auch Frauen zu einem Sanitätsdienst verpflicht werden sollen.
71
Fleckenstein, APuZ 21/ 2005, 5 (6).
72
Schwarz, Ära Adenauer, S. 301.
73
Vgl. hierzu die Übersicht bei Graulich, NZWehrR 2005, 177 (186).
74
Opitz, Allgemeine Wehrpflicht, S. 28.
75
Steinlechner, WPlfG, Vorbem Rn. 55.
76
Zu gleichem Ergebnis kommt auch Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 28; krit.
Steinlechner, WPflG, Vorbem Rn. 66.
A. Historische Betrachtung 14
77
Salewski, Wehrmacht, S. 138.
78
Vgl. Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 3; Fleckenstein, BKonF 3/ 1982, 91 (94).
79
Werkner, Allgemeine Trends, S. 36.
80
Bald, Wehrpflicht, S. 2 ff.
81
Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 14.
82
Bald, Wehrpflicht, S. 5.
83
Fleckenstein, BKonF 3/ 1982, 91 (93).
B. Die Sicherheitspolitische Lage der BRD 15
I. Historischer Kontext
84
Siehe dazu auch Fischer, Zwölf Thesen zur Entstehungsgeschichte der Bundeswehr unter
besonderer Berücksichtigung wehrstruktureller Fragen, in: WehrKomm, Wehrstruktur, S. 325 ff.
85
BReg., Wehrpflicht, S. 7.
86
Siehe die näher gehende Erläuterung in E.
B. Die Sicherheitspolitische Lage der BRD 16
87
Art. 3 II 1 Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland (Zwei-plus-Vier-
Vertrag) vom 12. September 1990 (BGBl. II, 1318).
88
Siehe dazu Brandenburg, Aussenpolitik 1993, 76 (77 ff.).
89
Vgl. Woyke, Aussenpolitik 1993, 120.
90
v. Plate, IzpB 291 (2006), 68.
91
VPR, S. 8; Groß, Reform der Bundeswehr, S. 7, spricht sogar von militärischen Überkapazitäten
der Allianzmitglieder im Falle eines Angriffes.
92
Weizsäcker-Kommission, S. 23.
93
BT-Drs. 16/9834.
94
Weizsäcker-Kommission, S. 47.
B. Die Sicherheitspolitische Lage der BRD 17
95
VPR, S. 11.
96
Groß, Reform der Bundeswehr, S. 9.
97
Schaprian, Transformation, S. 12.
98
Clement, Das Parlament Nr. 05-06 v. 02.02.2004.
99
Staack, APuZ 21/ 2005, 32 (38).
C. Juristische Betrachtung 18
C. Juristische Betrachtung
1. Verfassungsrecht
Die allgemeine Wehrpflicht wird durch den im Zuge der Notstandsverfassung 1968
eingeführten Art. 12a I GG legitimiert.
Dieser lautet:
Dadurch wird die Wehrpflicht nicht wie zuvor nur kompetenzrechtlich, sondern auch
materiellrechtlich geregelt101.
Die ganz herrschende Meinung geht irrigerweise davon aus, dass es sich bei Art. 12a
I GG um eine Grundpflicht, teils einschränkend als verfassungsmittelbare Pflicht102,
103
handle . Rechtsphilosophisch geht zwar die Freiheit des Bürgers mit der
104
Verpflichtung seiner einher . Allerdings ist im Falle der Wehrpflicht
entgegenzuhalten, dass Art. 12a I GG eine „bloße Ermächtigungsnorm“105 darstellt,
die dem Gesetzgeber ein politisches Ermessen einräumt, die Wehrpflicht
einzuführen106; also auch, ob die Streitkräfte auf der Basis einer Wehrpflicht- oder
100
Die anderen in Betracht kommenden Dienstverpflichtungen werden aufgrund ihrer Beschränkung
auf den Spannungs- und Verteidigungsfall außer Acht gelassen.
101
Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 1; a.A. BVerfGE 12, 45 (50); Sannwald, in: Schmidt-
Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 73 Rn. 14.
102
Stober, Grundpflichten, S. 75.
103
BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 38, 154 (170); 48, 127 (163); 69, 1 (22); stRspr; Scholz, in:
Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 22; Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 20;
Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 12a Rn. 1; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art.
73 Rn. 14; Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 20 II 2; Stober, Grundpflichten, S. 43; Martens,
Grundgesetz und Wehrpflicht, S. 124; im Ergebnis auch Götz, VVDStRL 41 (1983), 23.
104
Hobbes, Leviathan, S. 168.
105
BVerfGE abwM 69, 1 (59).
106
So Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 12a Rn. 1; Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 82; Stern,
StaatsR, Bd. II, § 42 V 3 a; Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 193; Winkler, NVwZ 1993, 1151;
Heimann, ZRP 1996, 20 (23); ähnlich Kokott, in: Sachs, GG, Art. 12a Rn. 1; BVerfGE abwM 48, 127
(187); Lisken, ZRP 1983, 56.
C. Juristische Betrachtung 19
Freiwilligenarmee existieren107. Die Betonung des Art. 12a I GG muss daher auf dem
„kann“108 liegen.
Wenn die Wehrpflicht aber nicht zwingend aus den nach Art. 79 Abs.
3 GG wesentlichen Verfassungsprinzipien resultiert, dann besteht
auch kein Grund dafür, sie a priori als grundrechtsfeste Grundpflicht
den Freiheitsrechten vorzuziehen. Vielmehr muß im konkreten Fall
ausführlich geprüft werden, ob die Wehrpflicht durch ein
Freiwilligensystem ersetzt werden kann und daher keine notwendige
Voraussetzung für die Existenz des Staatswesens ist. Die
Wehrpflicht unterliegt insofern einer umfassenden
Erforderlichkeitsprüfung, die sich an den dienstbedingten
beeinträchtigten Grundrechten der betroffenen Soldaten orientiert,
und kann daher keine grundrechtsfeste Grundpflicht sein.113
Insbesondere die Grundrechte aus Art. 2 I und II114, sowie Art. 12 I115 GG scheinen
durch § 1 I WPflG in besonderem Maße tangiert116. Das Recht auf Leben aus Art. 2
107
BVerfGE 48, 127 (169); Ostermann, UBWV 2004, 217; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 12a
Rn. 2a; Baldus, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 87a Rn. 15; Henneke/ Ruge, in: Schmidt-
Bleibtreu, GG, Art. 87a Rn. 3; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 87a Rn. 8; a.A. Dürig, in: Maunz/ Dürig,
GG, Art. 87a Rn. 19.
108
Vgl. auch LG Potsdam, Vorlagebeschl. v. 5.3.1999 –23 (H) Ns 72/98; ähnlich Lange, MDR 1976,
89 (92).
109
Bethge, NJW 1982, 2145 (2149); dafür spricht auch, dass der Verfassungsgeber Grundpflichten
nicht expressis verbis ins Grundgesetz aufgenommen hat; so etwa Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1152);
aufgrund des Missbrauchs des Pflichtgedankens durch den nationalsozialistischen Staat, scheinen
Grundpflichten, die den Grundrechten gegenüberstehen, ebenso unangebracht; Siekmann, in:
Siekmann/ Duttge, StaatsR I, Rn. 959.
110
Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 193.
111
BGBl. I, 651.
112
Badura, StaatsR, G Rn. 80.
113
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 182.
114
Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1152 f.); Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 416; LG Potsdam, aaO;
siehe auch die Aufzählung bei Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 2 Rn. 146; a.A. Duttge,
in: Siekmann/ Duttge, StaatsR I, Rn. 231; Manssen, StaatsR, Rn. 275.
115
Giese/ Schunck, GG, Anm. 1 zu Art. 12a; J. Ipsen, StaatsR II, Rn. 651, spricht dagegen von
Suspendierung; – Dies scheint jedoch nicht zu überzeugen, da die Wehrpflicht, auch wenn die
Einschränkung nicht auf Dauer anhält, zum gegebenen Zeitpunkt die freie Wahl des Berufes nicht
zulässt.
C. Juristische Betrachtung 20
Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des
Staates willen.
Die Individualfreiheit geht dem Interesse des Staates vor123. Dieser Gedanke findet
sich auch in Art. 1 I GG, der dem Staat keinen Eigenwert zumisst und die
Einzelperson im Mittelpunkt allen staatlichen Handelns stehen sieht124. So gelangt
auch Grimm125 zu dem Ergebnis, dass Art. 1 I GG nicht mit dem „Gattungsbegriff
Mensch“ zu verbinden sei, sondern mit dem „Da-Sein“, im Gegensatz zu dem „So-
Sein“, des Einzelmenschen126, sodass ein Spannungsverhältnis zwischen Würdenorm
116
Weitere Grundrechtseingriffe finden sich in Art. 3 I und II, die aber aufgrund der Systematik erst in
C III und C IV erörtert werden, sowie in den Art. 5 I, 8, 11, 17; siehe ferner die Aufzählung bei
Schwenck, BwG IV, S. 40 ff.
117
Picht, Vom künftigen deutschen Soldaten, zit. n. Rittau, NJW 1960, 1477.
118
Dazu Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 47 ff.
119
So Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1153); Heimann, ZRP 1996, 20 (22).
120
BVerfGE 12, 45 (50); 28, 243 (263); Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 15; Kunig, in: v.
Münch/ Kunig, GGK I, Art. 1 Rn. 36; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 1 Rn. 68 f.
121
Vgl. Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 95.
122
BVerfGE 12, 45 (51).
123
Tietgen, DVBl. 1957, 86 (87).
124
Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 1 Rn. 1; Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 79; Nipperdey,
in: GRe II, S. 9.
125
Grimm sieht nicht ausschließlich einen Eingriff in die Würde des Menschen aufgrund der
Statuierung der Wehrpflicht, sondern insbesondere in Hinblick auf die Ausführung.
126
Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 55.
C. Juristische Betrachtung 21
2. Einfaches Recht
127
Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 70.
128
Vgl. Hamann/ Lenz, GG, Anm. B 8 zu Art. 12a; a.A. K. Ipsen/ J. Ipsen, in: BK-GG, Art. 12a Rn.
19; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 14; Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art.
12a Rn. 21.
129
BVerwGE 12, 270.
130
Roman Herzog anlässlich der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 15. November 1995 – die
von Herzog angesprochene Begründung wird im Verlauf dieser Arbeit noch aufgegriffen.
131
Die Frage, inwiefern auch Mehr- oder Doppelstaater, sowie Ausländer, zur Wehrpflicht
herangezogen werden können, soll hier nicht geklärt werden; krit. dazu Stober, Grundpflichten, S. 44.
C. Juristische Betrachtung 22
132
Zuvor lag die Regelheranziehungsgrenze beim 25. Lebensjahr. Dies hat erhebliche Auswirkungen
auf die Wehrgerechtigkeit; s. C III.
133
BVerfGE 65, 1.
134
Steinlechner, WPflG, § 17 Rn. 43.
C. Juristische Betrachtung 23
Belastungstörungen erlitten haben, da ihr freier Wille gebrochen wurde. Durch den
Gradationskatalog der Zentralen Dienstvorschrift wird versucht, den Wehrpflichtigen
zum Objekt zu machen. Die Tauglichkeitsuntersuchung ist ein technokratischer
Vorgang, der den Menschen nicht mehr als Subjekt betrachtet. In diesem Sinne läuft
auch die Musterungspraxis Gefahr, den Menschen zum Objekt im Staat zu machen,
was letztlich der Würdenorm des Art. 1 GG widerspricht, zumal die Notwendigkeit
einiger Untersuchungen zu hinterfragen ist.
Zudem müssen Männer nach dem vollendeten 17. Lebensjahr eine Erlaubnis
einholen, um das Bundesgebiet für mehr als 3 Monate zu verlassen (§ 3 II 1 WPflG).
Problematisch hingegen ist, dass die oben genannte Einschränkung des Lebensrechts
aus Art. 2 II 1 GG weder im Wehrpflichtgesetz noch im Soldatengesetz zitiert wird
und somit ein Verstoß gegen das Zitierungsgebot des Art. 19 I GG vorliegt135. Diese
Tatsachen bleiben bei der Diskussion über die Wehrpflicht meist außen vor.
Wenn sich der Gesetzgeber für die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
entschieden hat, dann stellt sich unweigerlich die Frage, über welchen
Aufgabenbereich sich das Tätigwerden der Bundeswehr und insbesondere der
Wehrpflichtigen, sofern es Abweichungen gibt, erstreckt.
Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob die Bundeswehr eine reine
Verteidigungsarmee, wie die einstige Idee der Französischen Revolution, ist oder ob
ihr noch weitere Aufgaben anheim fallen.
a) Landesverteidigung
Art. 26 GG gibt diesbezüglich den klaren Weg vor. Demnach darf die Bundeswehr
auf keinen Fall für Zwecke des Angriffs verwendet werden, da ein solcher
schlechthin verboten ist und das „friedliche Zusammenleben der Völker“ (Art. 26 I 1
GG)136 gefährden würde. Daher sind die Streitkräfte als reine Verteidigungsarmee zu
verstehen, deren Aufgabe in der Abwehr von Angriffen auf die Bundesrepublik
135
So Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 237.
136
Vgl. dazu auch die Präambel des GG.
C. Juristische Betrachtung 24
liegt 137 . Das Existenzrecht der Bundeswehr wird somit ausschließlich durch die
verfassungsrechtlich garantierte Landesverteidigung legitimiert.
Die Art. 73 Nr. 1 und 87a I GG regeln die kompetentiellen und organisatorischen
Gegebenheiten bezüglich der Verteidigung.
Der Art. 73 Nr. 1 GG weist dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung zu und Art.
87a I GG lautet:
Das BVerfG sieht in den Art. 12a I, 73 Nr. 1 und 87a I 1 GG eine
„verfassungsrechtliche Grundentscheidung für die militärische Verteidigung“138. Ob
dem so ist, mag hier nicht zur Disposition stehen, denn letztlich soll nicht die Frage
gestellt werden, ob die Bundeswehr schlechthin aufgelöst werden sollte139, sondern
einzig, ob die Streitkräfte zur Erfüllung ihrer Aufgaben auf die Wehrpflicht
angewiesen sind.
(1) Auslandeinsätze
Primäre Aufgabe der Streitkräfte kann gemäß dem GG nur die Landesverteidigung
sein. Darüber hinausgehende Aufgaben können nur erfüllt werden, sofern es das
Grundgesetz selbst bestimmt (Art. 87a II GG). Solch eine sekundäre Aufgabe findet
sich etwa in der Hilfe bei Naturkatastrophen oder schweren Unglücksfällen (Art. 35
II 2, III 1 GG). Art. 87a II GG ist jedoch aufgrund seiner Entstehungsgeschichte
restriktiv auszulegen140. Eine weitere Möglichkeit des Verfassungsvorbehalts aus Art.
137
Vgl. Pieroth, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 87a Rn. 9; Baldus, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG,
Art. 87a Rn. 13; Raap, JuS 1996, 980 (982).
138
BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 48, 127 (159 f.); 69, 1 (21); ebenso Baldus, in: v. Mangoldt/
Klein/ Starck, GG, Art. 87a Rn. 7 ff.; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 17; Henneke/ Ruge,
in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein, GG, Art. 87a Rn. 3; Hömig, in: Seifert/ Hömig, GG, Art. 87a Rn. 3; a.A.
BVerfGE abwM 69, 1 (57); Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 15.
139
Dies ist nach Meinung Baldus’ dem einfachen Gesetzgeber auch gar nicht möglich; Baldus, in: v.
Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 87a Rn. 4; ebenso Hernekamp, in: v. Münch/ Kunig, GGK III, Art.
87a Rn. 7; Fröhler hält gar eine Abschaffung der Streitkräfte durch verfassungsänderndes Gesetz für
verfassungswidrig, Wehrverfassungsrecht, S. 80 ff.
140
Baldus, NVwZ 2004, 1278 (1281).
C. Juristische Betrachtung 25
141
Franzke, NJW 1992, 3075 (3076 f.); Riedel, ZRP 1991, 5 (8).
142
Brunner, ZRP 1991, 133; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24 Rn. 56.
143
Zutreffend Tomuschat, in: BK-GG, Art. 24 Rn. 181; Randelzhofer, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 24
Rn. 17 ff.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 24 Rn. 20; Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/ Klein,
GG, Art. 24 Rn. 4a; Füßlein, in: Seifert/ Hömig, GG, Art. 24 Rn. 5; Stern, StaatsR, Bd. I, § 15 IV 3;
Badura, StaatsR, G Rn. 83; verneinend Classen, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 24 Rn. 94;
Frank, in: AK-GG, Art. 24 II Rn. 7.
144
Fraglich ist, inwieweit auch die EU solch ein System begründen kann.
145
Vgl. Art. 49 UN-Charta und Art. 5 Nordatlantikvertrag.
146
Friedenssichernde Maßnahmen (peace-keeping operations) beschränken sich im Wesentlichen auf
Militärische Beobachter-Missionen und Friedenstruppen; Hütter, Aussenpolitik 1985, 261.
147
Brunner, ZRP 1991, 133.
148
Siehe dazu Brunner, ZRP 1991, 133; Boldt, ZRP 1992, 218; Bachmann, MDR 1993, 397; Fibich,
ZRP 1993, 5; Thalmair, ZRP 1993, 201; Hopfauf, ZRP 1993, 321; Wenkholm, ZRP 1994, 97; Kriele,
ZRP 1994, 103; Hirsch, ZRP 1994, 120.
149
BVerfGE 90, 286.
150
Zu dem gleichen Ergebnis gelangt auch Tomuschat, Aussenpolitik 1985, 272 (278 ff.).
151
Siehe dazu die geschichtliche Aufarbeitung in A.
C. Juristische Betrachtung 26
Diese Frage ist vielmehr zu verneinen: Das BVerfG stellte 1960 fest, dass es nicht
grundgesetzwidrig sein könne, wenn „die Bürger zu Schutz und Verteidigung dieser
obersten Rechtsgüter der Gemeinschaft, deren personale Träger sie selbst
sind“ herangezogen würden 152 . Es greift somit das Vorbild der allgemeinen
Wehrpflicht auf und begründet die Verfassungskonformität mit dem persönlichen
Bezug des Bürgers zu seinem Staat. Insofern muss für Wehrpflichtige Verteidigung
im engeren Sinne verstanden werden 153 . Meinungen, die für Wehrpflichtige
dieselben Aufgaben wie für Berufssoldaten vorsehen, gehen, insbesondere in Bezug
auf Auslandseinsätze, fehl 154 . Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass
Wehrpflichtige nur zur eigentlichen Landesverteidigung der Bundesrepublik
Deutschland und ggf. zur kollektiven Selbstverteidigung herangezogen werden
dürfen155. Dies gebietet schon Art. 2 II 1 GG, für den das Wehrpflichtgesetz keine
Eingriffsermächtigung darstellt 156 und aufgrund der Wehrgerechtigkeit Bedenken
ausgesetzt wäre 157 , da die Wehrpflichtigen von der Gefährdung ihres Lebens
ungleichmäßig betroffen wären. Zudem hat sich aber auch der Gesetzgeber bewusst
dagegen entschieden, Wehrpflichtige zum Zwecke von Auslandseinsätzen
einzuberufen, sofern kein schriftliches Einverständnis (§ 6a WPflG) vorliegt 158 .
Insofern kommen nur Berufs- und Zeitsoldaten, sowie Wehrpflichtige, die freiwillig
zusätzlichen Wehrdienst leisten (FWDL) für Auslandseinsätze in Betracht. Der
Rückgriff auf Wehrpflichtige ließe sich auch seitens des Gesetzgebers schwerlich
erklären, da nach einhelliger Meinung ein neunmonatiger Grundwehrdienst
Wehrpflichtige nicht ausreichend auf Einsätze dieser Art vorbereiten kann159.
152
BVerfGE 12, 45 (51).
153
Brunner, ZRP 1991, 133 (137).
154
So aber Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 9; Randelzhofer, in: Maunz/ Dürig, GG, Art.
24 Rn. 71; Tomuschat, in: BK-GG, Art. 24 Rn. 175; Steinlechner, WPflG, § 3 Rn. 12; Raap, JuS 2003,
9 (11); Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 123.
155
So auch Hernekamp, in: v. Münch/ Kunig, GGK III, Art. 87a Rn. 51; Jarass, in: Jarass/ Pieroth,
GG, Art. 12a Rn. 2; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 87a Rn. 25 f.; Streinz, in: Sachs, GG, Art. 24 Rn. 59;
Brunner, ZRP 1991, 133 (137); Hirsch, ZRP 1994, 120; Heimann, ZRP 1996, 20 (25); Vosgerau,
ZRP 1998, 84 (87); Riedel, NJW 1989, 639 (641); im Ergebnis auch Bachmann, MDR 1993, 397;
Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1156); Baldus, NJW 1995, 1134 (1135); Zippelius/ Würtenberger,
DtStaatsR, § 51 III 1 c.
156
Baldus, NJW 1995, 1134; Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 299 f.
157
Brunner, ZRP 1991, 133 (137).
158
So auch der Vorschlag von Tomuschat, in: BK-GG, Art. 24 Rn. 175.
159
Burmeister, Hat die Wehrpflicht eine Zukunft, S. 10.
C. Juristische Betrachtung 27
(3) Terrorismusbekämpfung
In der heutigen Diskussion163 wird vor allem die Frage gestellt, ob als Reaktion auf
die Anschläge vom 11. September 2001 Streitkräfte auch zur Abwehr terroristischer
Angriffe – sog. asymmetrischer Bedrohungen – im Inneren verwendet werden dürfen
bzw. sollten.
160
BVerfGE 12, 45 (51).
161
Vgl. dazu auch C I 3 b (3) und Art. 87a IV; Denninger, in: HbVerfR, § 16 Rn. 59 f.
162
So Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht ade, S. 11.
163
Siehe z.B. Wiefelspütz, NZWehrR 2007, 12; Baldus, NZWehrR 2007, 133.
C. Juristische Betrachtung 28
164
BVerfG, NJW 2006, 751.
165
Vgl. Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 51 II 1 e.
166
BVerfG, NJW 2006,751 (755); siehe dazu den Vorschlag von Wiefelspütz, ZRP 2007, 17 (19 f.).
167
So Wiefelspütz, NZWehrR 2007, 12 (18 ff.).
168
Baldus, NVwZ 2004, 1278 (1281).
169
Dagegen Sattler, NVwZ 2004, 1286.
170
Lutze, NZWehrR 2003, 101 (109 ff.).
171
So Sattler, NVwZ 2004, 1286 (1291).
C. Juristische Betrachtung 29
Sache selbst – vorher nicht an. Eine Widerholung des Angriffsszenarios vom 11.
September 2001 ist unwahrscheinlich. Die kürzlich bekannt gewordenen
Anschlagsversuche am Kölner Hauptbahnhof oder die Bestrebungen der
festgenommenen Verdächtigen aus dem Sauerland verdeutlichen, dass dem
Terrorismus schwerlich mit militärischen Mittel entgegengewirkt werden kann.
Selbst für den Fall, dass terroristischen Angriffen verfassungsrechtlich unbedenklich
mit militärischen Mitteln begegnet werden könnten, blieb die Frage offen, ob für
diesen Fall der Einsatz Wehrpflichtiger geeignet erscheint. Die Entgegnung auf den
dargelegten Fall verlangt viel mehr den Einsatz professioneller Kräfte.
4. Verhältnismäßigkeit
Art. 12a I GG stellt, wie gezeigt, lediglich eine Grundrechtsschranke dar, die die
Einschränkung von Grundrechten zum Zwecke der Landesverteidigung überhaupt
erst ermöglicht. Die Wehrpflicht an sich erhält ihre normative Grundlage erst durch
das Wehrpflichtgesetz. Insofern unterliegt auch das Wehrpflichtgesetz dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 172 . Mit der Statuierung der Wehrpflicht sind
unmittelbar Eingriffe in die Grundrechte, insbesondere in das Lebensrecht aus Art. 2
II 1 GG, des Wehrpflichtigen verbunden. Das Leben aber ist „die vitale Basis der
Menschenwürde“173 und stellt somit einen Höchstwert dar174. Schließlich zielte auch
Herzog175 auf die Verhältnismäßigkeit ab, indem er den Gesetzgeber aufforderte, die
Wehrpflicht bzw. den Grundwehrdienst sicherheitspolitisch zu begründen. Wenn das
BVerfG das Individuum als „in der Gemeinschaft stehende[] und ihr vielfältig
verpflichtete[] Persönlichkeit“176 betrachtet, heißt das:
172
So auch LG Potsdam, aaO; Schmidt-De Caluwe/ Heselhaus, NJW 2001, 2680 (2681); a.A.
BVerfGE 12, 45 (52); Kokott, in: Sachs, GG, Art. 87a Rn. 8
173
BVerfGE 39, 1 (42).
174
BVerfGE 46, 160 (164).
175
Siehe oben C I 1.
176
BVerfGE 12, 45 (51).
177
BVerfGE 4, 7 (16).
C. Juristische Betrachtung 30
Die gesamte Staatsgewalt muss die Verhältnismäßigkeit wahren178; dies ergibt sich
in direkter Folge aus dem Rechtsstaatsprinzip 179 und den Grundrechten 180 . Dieser
Grundsatz gilt unmittelbar für alle grundrechtseinschränkenden Gesetze181.
Das Mittel, in diesem Fall die Wehrpflicht, muss geeignet, erforderlich und
182
angemessen sein, um den Erfolg herbeizuführen . Die Prüfung der
Verhältnismäßigkeit im Falle der Wehrpflicht muss allerdings schon vor dem
konkreten Eingriff in das Lebensrecht, also schon zu Friedenszeiten, erfolgen, da
gerade in Krisenzeiten kein Grundrechtsschutz möglich ist183.
Bei der Betrachtung der Verhältnismäßigkeit ist jedoch einzig der
Verteidigungsbegriff des Art. 87a I 1 GG heranzuziehen184. Es muss demnach die
Frage aufgeworfen werden, ob die Landesverteidigung auch durch eine
Freiwilligenarmee gesichert werden kann. Allgemeinpolitische, wirtschafts- und
gesellschaftspolitische Gründe vermögen hingegen nicht die Wehrpflicht zu
legitimieren 185 und können lediglich Nebenziele formulieren, die zwar in die
Verhältnismäßigkeitsprüfung einbezogen werden, aber letztlich dem vorrangigen
Schutz der Grundrechte unterliegen186.
Die allgemeine Wehrpflicht ist sicherlich ein geeignetes Mittel um den Staat vor
einer äußeren Bedrohung zu schützen. Sie ermöglicht es dem Gesetzgeber schnell
und günstig eine große Anzahl von Soldaten zu rekrutieren. Doch ist schon bei der
Geeignetheit das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs187 zu beachten. Dem zufolge
ist bei Gleichgeeignetheit zweier Mittel, hier nämlich einer Wehrpflicht- bzw. einer
Freiwilligenarmee, stets das schonendste Mittel zu wählen. In Anbetracht der
eingeschränkten Grundrechte des Wehrpflichtigen „bis hin zu mit Todesgefahren
verbundenen Einsätzen“ 188 , ist dies unzweifelhaft eine Freiwilligenarmee 189 . Das
BVerfG stellte schließlich fest, dass gesetzliche Eingriffe in elementare
Äußerungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit derart abgewogen werden
178
Maurer, StaatsR, § 8 Rn. 55.
179
BVerfGE 30, 1 (20); Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 12 II 6.
180
Bleckmann, JuS 1994, 177 (178).
181
v. Münch, StaatsR II, Rn. 263.
182
Maurer, StaatsR, § 8 Rn. 57.
183
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 251.
184
Schmidt-De Caluwe/ Heselhaus, NJW 2001, 2680 (2681); auch Riecke, IP 7/ 2002, 29 (33).
185
So aber BVerfGE 12, 45 (52); BVerwG, NVwZ 2000, 1290 (1294).
186
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 266 ff.
187
Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 12 II 6 b.
188
Stein/ Frank, 19StaatsR, § 15 V.
189
Vgl. Baldus, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 87a Rn. 16.
C. Juristische Betrachtung 31
müssen, dass der Einzelne nicht übermäßig belastet wird190. Diese Abwägung muss
umso mehr Beachtung finden, wenn das menschliche Leben zur Disposition steht.
Die Wehrpflicht könnte zwar aus Kostengründen, Repräsentationszwecken oder auch
aufgrund des Ansehens in europäischen Nachbarländern für erforderlich erachtet
werden191. Diese Nebenziele halten der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren
Sinne, also der Abwägung zwischen der Schwere des dadurch verursachten Eingriffs
und dem Gewicht und der Dringlichkeit der eventuell ihn rechtfertigenden Gründe192,
nicht stand193. Zwar obliegt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative194, die
ihm ein gewisses Maß an Ermessensspielraum gebietet; dennoch muss der
Gesetzgeber bedacht sein, vorerst den Erfolg auf der Stufe des weniger intensiven
Eingriffs zu erreichen195.
Fröhler 196 kritisiert zu Recht die Ansicht des BVerfG, das die Wehrpflicht dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für unzulänglich erachtet197, als unvollständig.
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit genießt Verfassungsrang 199 und ist somit
elementarer Bestandteil der Verfassung. Insofern gilt der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit bereits auf der Ebene des Verfassungsrechts200. Die Verfassung
selbst bildet eine Einheit201, dessen Prinzip als Interpretationsrichtlinie anzusehen ist.
Art. 12a I GG ist aufgrund seiner Entstehungsgeschichte dahingehend auszulegen,
dass die Wehrpflicht nur unter der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit besteht,
202
da ansonsten verfassungswidriges Verfassungsrecht vorliegen würde .
190
BVerfGE 17, 306 (314).
191
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 278 ff.
192
Stein/ Frank, 19StaatsR, § 30 V 3.
193
Fröhler, aaO, S. 284 ff.
194
Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 287.
195
Ibid, Rn. 296.
196
Fröhler, aaO, S. 261.
197
BVerfGE 12, 45 (52); mit Einschränkungen auch 105, 61 (71); BVerfG, NJW 2002, 1709 (1710).
198
BVerfGE 30, 1 (19); stRspr.
199
Kluth, JA 1999, 606.
200
Gretscher, Verwaltungsrecht, S. 155
201
BVerfGE 1, 14 (32); stRspr; BGHZ 1, 274 (276); Hesse, VerfR, Rn. 71; Stern, StaatsR, Bd. I, § 4
III 8 a.
202
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 305 ff.
C. Juristische Betrachtung 32
203
Stern, StaatsR, Bd. I, § 4 III 8 b.
204
Vgl. BVerfGE 30, 173 (195); Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, vor Art. 1 Rn. 49.
205
Götz, VVDStRL 41 (1983), 14.
206
Vgl. Gusy, Jus 1979, 254; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, vor Art. 1 Rn. 49.
207
BVerfGE 28, 243 (261).
208
Vgl. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 81.
209
Hesse, VerfR, Rn. 72.
210
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 419.
211
Hesse, in: HbVerfR, § 5 Rn. 67.
C. Juristische Betrachtung 33
212
Hesse, VerfR, Rn. 735; vgl. auch Hall, JZ 1968, 159 (165).
213
Steinlechner, WPflG, § 21 Rn. 13; K. Ipsen, ZRP 2001, 469 (470).
214
BVerfGE 92, 91 (119).
215
Kluth, JA 1999, 606 (612).
216
Siehe dazu insbesondere C III.
217
BVerfGE 48, 127 (162); 69, 1 (22).
218
Dass die Bundeswehr rein quantitativ gar keine Wehrpflichtarmee ist, wird noch zu zeigen sein;
vgl. insbesondere E.
219
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 291.
220
So auch Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 82; ders., Anmerkungen Wehrpflicht; Stein/ Frank,
19
StaatsR, § 15 V; Heimann, ZRP 1996, 20 (22); Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 297; ähnlich
Winkler, NVwZ 1993, 1151 (1156).
C. Juristische Betrachtung 34
1. Kriegsdienstverweigerung
Wie die chronologische Entwicklung des Grundgesetzes gezeigt hat, wurde bereits
vor Einführung der Wehrverfassung das Abwehrrecht der Kriegsdienstverweigerung
in Art. 4 III 1 GG verfassungsrechtlich verankert.
Die vom Parlamentarischen Rat verfolgten Ziele waren indes uneinheitlich:
Auch sollte der Art. 4 III GG nicht lediglich vor einer Heranziehung zum Wehrdienst
durch die Besatzungsmächte schützen 225 ; dennoch ergibt sich in dieser Hinsicht
keine Legitimation für die Wehrpflicht. Vielmehr entstammt der Art. 4 III GG der
„pazifistischen Mentalität“ der Nachkriegszeit226.
Art. 4 III GG gewährt ein Grundrecht und enthält nicht nur einen Grundsatz227; es
darf insofern nicht in seinem Wesensgehalt eingeschränkt werden (Art. 19 II GG). Es
ist einhellige Meinung, dass das Kriegsdienstverweigerungsrecht der Wehrpflicht
221
Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 3.
222
Mager, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 4 Rn. 66; Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S.
70 f.; Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. II, S. 559; unzutreffend Model/ Müller, GG,
Art. 4 Rn. 14.
223
Menzel, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. I, S. 283; a.A. Scheuner, in: Der Kampf um den
Wehrbeitrag, Bd. II, S. 106.
224
Schätzel, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. I, S. 337.
225
In dieser Hinsicht Scheuner, Kriegsdienstverweigerung, S. 252 gegen Smend, in: Der Kampf um
den Wehrbeitrag, Bd. II, S. 570.
226
Löwenstein, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. II, S. 356; ähnlich Klein, in: Der Kampf um
den Wehrbeitrag, Bd. II, S. 480; Schätzel, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. II, S. 648.
227
BVerfGE 12, 45 (53); BDH, NJW 1963, 1270.
C. Juristische Betrachtung 35
eine unüberwindliche Schranke entgegensetzt 228 , das nicht zur Disposition des
einfachen Gesetzgebers steht, auch wenn argumentiert wird, dass die allgemeine
Wehrpflicht i.V.m. der „verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die
militärische Verteidigung“ und das Kriegsdienstverweigerungsrecht den gleichen
229
verfassungsrechtlichen Rang genießen . Es schützt das Gewissen der
Einzelpersönlichkeit, wahrt somit die Menschenwürde aus Art. 1 I GG230, und geht
dem Interesse der Allgemeinheit vor231.
228
BVerfGE 28, 243 (260); 48, 127 (163); 69, 1 (54).
229
So Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rn. 129 f. gegen Arndt, JZ 1960, 273 (275).
230
Arndt, NJW 1957, 361; ders., JZ 1960, 273 (274); Scheuner, Kriegsdienstverweigerung, S. 274.
231
Hahnenfeld, NJW 1956, 1860 (1861); Schoch, Jura 1985, 127 (129).
232
BVerfGE 12, 45 (55).
233
Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 4 Rn. 53.
234
Dazu zählen auch sog. anonyme Waffen; Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 4 Rn. 181.
235
Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 4 Rn. 176.
236
J. Ipsen, ZRP 1978, 153 (154); Vosgerau, ZRP 1998, 84.
237
Oftmals als Inquisition bezeichnet; Finckh, Vorgänge 22 (1976), 90.
238
BVerfG, NJW 1982, 375.
C. Juristische Betrachtung 36
darf allerdings nicht dem auf das Grundrecht Berufenden auferlegt werden, da „ein
einziges durch Richterspruch vergewaltigtes Gewissen […] schwerer zu ertragen [ist]
als eine Anzahl möglicherweise zu Unrecht vom Wehrdienst freigestellte
Kriegsdienstverweigerer“239. Ein zu Unrecht auf Art. 4 III GG Berufenden bedeutet
für die militärische Verteidigung nur minimale Beeinträchtigungen, zumal der
Ersatzdienst die Pflichtengleichheit sicherstellt240.
Die Bundesregierung gestattete nur demjenigen die Inanspruchnahme des
Grundrechts, der Waffengewalt schlechthin ablehnte (§ 25 WPflG a.F.) – sog.
dogmatische Pazifisten241. Deshalb stellte sich schon früh die Hauptstreitfrage, ob
nicht auch eine partielle, situationsgebundene Kriegsdienstverweigerung berechtigt
sein könnte242. Das BVerfG beschloss 1960 schließlich, dass zwar nicht nur derjenige
berechtigt sei den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern, der Waffengewalt
absolut ablehnt, sondern auch derjenige, der aufgrund einer bestimmten Situation
veranlasst wurde, den Kriegsdienst mit der Waffe schlechthin abzulehnen. Eine
situationsbedingte Kriegsdienstverweigerung, also „gegen bestimmte Gegner, unter
bestimmten Bedingungen, in bestimmten historischen Situationen, mit bestimmten
Waffen“243, ist hingegen nicht zulässig.
Dies überzeugt jedoch nicht, denn, wie das BVerfG richtig erkennt, ist die
244
Gewissensentscheidung stets situationsbezogen . Eine partielle
Kriegsdienstverweigerung existiert in diesem Sinne gar nicht245. Finckh konstatiert
richtig, wenn auch zugespitzt, dass
demnach berechtigt seien, den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Art. 4 III
GG schützt alle Gewissensgründe, die zur Verweigerung des Kriegsdienstes führen,
„auch solche, die nur die Verwendung bestimmter Waffen oder die Beteiligung an
bestimmten Kriegen verbieten“247. Es würde dem Gewissensbegriff des Art. 4 GG
239
VG Wiesbaden, NJW 1973, 263; a.A. BVerwGE 9, 97 (100); 41, 53 (58); Döring, NJW 1973, 1294.
240
Berg, MDR 1974, 793 (796).
241
Vgl. BVerfGE 12, 45.
242
Dafür Hamann/ Lenz, GG, Anm. B 7 zu Art. 4; Arndt, NJW 1957, 361 (362 f.); Heinemann, NJW
1961, 355; Finckh, Vorgänge 22 (1976), 90 (92); krit. Hahnenfeld, NJW 1956, 1860 (1862); Lange,
MDR 1976, 89 (90); dagegen Flor, NJW 1957, 243 (244); Schoch, Jura 1985, 127 (130).
243
BVerfGE 12, 45 (57).
244
BVerfGE 12, 45 (55).
245
Arndt, NJW 1957, 361 (362).
246
Finckh, Vorgänge 22 (1976), 90 (92).
247
Hamel, in: GRe IV/1, S. 108.
C. Juristische Betrachtung 37
zuwiderlaufen 248 , wenn Art. 4 III GG nur vor dem Zwang des Tötens schützen
wollte249. Art. 4 III GG spricht eben nicht vom Schutz vor dem Töten, sondern vom
Schutz vor dem „Kriegsdienst mit der Waffe“.
Zumal fraglich ist, ob nicht auch der Soldat das Gewissen gem. § 11 I SG zu Hilfe
ziehen kann, um einen seinem Gewissen zuwiderlaufendem Befehl zu verweigern250.
Dies würde dann erst recht eine unzureichende Funktionsfähigkeit der Bundeswehr
nach sich ziehen251.
Im Jahre 1977 war der Gesetzgeber bemüht dieses Anerkennungsverfahren gänzlich
abzuschaffen und durch die sog. Postkartennovelle zu ersetzen. Diese sollte die
Kriegsdienstverweigerung einzig mit Hilfe des Rückgriffs auf Art. 4 III GG erlauben.
Eine Unterscheidung von echten und unechten Kriegsdienstverweigerern wurde
dadurch unmöglich, weshalb das BVerfG dieses Gesetz für nichtig erklärte 252 . Es
führte aus, dass das Anerkennungsverfahren zwar verfassungsrechtlich unbedenklich
durch eine geeignetere Alternative ersetzt werden könne, aber dass in Anbetracht der
Wehrgerechtigkeit nur solche als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werden dürften,
„bei denen mit hinreichender Sicherheit angenommen werden kann, daß in ihrer
Person die Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG erfüllt sind“253.
Allerdings stellte das BVerfG bereits 1970 fest, dass der Gesetzgeber nicht gehindert
sei, das Anerkennungsverfahren zu beseitigen254.
Aktuell verzichtet der Gesetzgeber in der Regel auf ein Anerkennungsverfahren255
nach altem Muster und hat dieses durch eine vom Kriegsdienstverweigerer
einzureichende schriftliche Erklärung seiner Beweggründe ersetzt (§ 2 II 3
KDVG) 256 . Dieses Vorgehen führt aber auch zu Kritik, da die schriftliche
Gewissensentscheidung nicht ausreichend sein könnte und die Gefahr der
257
„organisierten Gewissensentscheidungen“ birgt . Das derzeit praktizierte
Anerkennungsverfahren schafft de facto eine Wahlfreiheit bezüglich des Dienstes,
248
So Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 527.
249
So aber BVerfGE 28, 243 (262); 48, 127 (163 f.); Katz, StaatsR, Rn. 724.
250
Vgl. Hahnenfeld, NJW 1956, 1860 (1862); BVerwGE 127, 302.
251
Vgl. BVerfGE 28, 243 (261).
252
BVerfGE 48, 127.
253
BVerfGE 48, 127 (167 f.).
254
BVerfGE 28, 243 (259); ebenso abwM 48, 127 (186); Seidel, DVBl. 1974, 902 (903); Lange, MDR
1976, 89 (93), hält die Gewissensprüfung gar für verfassungswidrig, da man dem Grundrecht des Art.
4 III 1 GG seine praktische Durchsetzbarkeit beraube; ebenso v. Zezschwitz, JZ 1970, 233 (240);
Heilmann/ Wahsner, JZ 1972, 577 (581).
255
Siehe dazu krit. v. Münch, StaatsR II, Rn. 358.
256
Zusätzlich muss ein tabellarischer Lebenslauf eingereicht werden.
257
Schultz, MDR 1983, 991 (992); dafür sprechen in neuerer Zeit vor allem diverse Internetseiten, die
Formulierungshilfen für den KDV-Antrag bereitstellen.
C. Juristische Betrachtung 38
2. Ersatzdienst
Bis 1960 gab es allerdings keinen Ersatz für diejenigen, die sich zu Recht auf die
Kriegsdienstverweigerung beriefen. Folglich fand in diesem Sinne eine Bevorzugung
der Kriegsdienstverweigerer statt und die „staatsbürgerliche Pflichtengleichheit in
258
Kuhlmann/ Lippert, Kriegsdienstverweigerung, S. 21.
259
BVerfGE 28, 243 (262).
260
So BVerfGE 48, 127 (164).
261
Schultz-Gerstein, BKonF 4/ 1987, 37 (40).
262
Vgl. Mager, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 4 Rn. 78; Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 526; v.
Münch, StaatsR II, Rn. 357.
263
BVerfGE 12, 45 (56); Zippelius, in: BK-GG, Art. 4 Rn. 125; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 4
Rn. 53; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 4 Rn. 143; Hamel, in: GRe IV/1, S. 108.
264
So Schultz-Gerstein, BKonF 4/ 1987, 37 (50).
C. Juristische Betrachtung 39
Gestalt der Wehrgerechtigkeit“ 265 konnte nicht gewahrt werden. Insofern ist der
Gesetzgeber verpflichtet einen Ersatzdienst einzurichten, sobald er eine allgemeine
Wehrpflicht statuiert 266 . Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist eben keine
Exemtion von der Wehrpflicht und somit eine Befreiung von derselben, sondern
lediglich die Befreiung von der Waffendienstpflicht. Folglich stellt die
Kriegdienstverweigerung kein aliud dar, sondern ist im engen Zusammenhang mit
der Wehrpflicht zu betrachten267. Nach Arndt hingegen diente die Einführung des
Ersatzdienstes dem Schutz der Wehrdienstverweigerer, „um sie vor gesellschaftlicher
Ächtung zu bewahren“268.
Nunmehr regelt Art. 12a II GG, dass der aus Gewissensgründen Verweigernde einen
Ersatzdienst zu leisten hat. Der Zivildienst ist Erfüllung der Wehrpflicht (§ 3 I
WPflG i.V.m. § 1 II KDVG). Allerdings steht Art. 12a II im Verhältnis der
Surrogation zu Art. 12a I GG269. Primäre Pflicht kann also nur der Wehrdienst in den
Streitkräften sein. Ein Wahlrecht hinsichtlich des Wehrdienstes oder des
Zivildienstes besteht nicht270.
265
BVerfGE 48, 127 (166).
266
Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 29; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 12a Rn. 17.; Martens,
Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 131; Scheuner, Kriegsdienstverweigerung, S. 279; a.A. Gusy,
JuS 1979, 254 (256).
267
Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 129.
268
Arndt, NJW 1968, 979 (980).
269
Vgl. BVerfGE 48, 127 (165); Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 12a Rn. 9; J. Ipsen, ZRP
1978, 153 (154).
270
Schoch, Jura 1985, 127 (129).
271
Kokott, in: Sachs, GG, Art. 12a Rn. 16.
272
Götz, VVDStRL 41 (1983), 26.
C. Juristische Betrachtung 40
Des Weiteren darf nach Art. 12a II 2 GG die Dauer des Ersatzdienstes die des
Wehrdienstes nicht übersteigen. Damit ist zugleich sichergestellt, dass die
Gewissensentscheidung dahingehend nicht eingeschränkt werden darf (Art. 12a II 3
GG)273. Es ist dabei die tatsächliche Dauer des Wehrdienstes heranzuziehen274 und
nicht, wie nach Ansicht des BVerfG275, die rechtlich mögliche Dauer. Nach § 5 Ia
und 6 II WPflG wäre nämlich eine rechtliche Höchstdauer von 15 Monaten
zulässig276. Da der Gesetzgeber aber faktisch keinen Gebrauch von Wehrübungen
macht bzw. im Durchschnitt nur wenige Tage, würde es dem Art. 12a II 2 GG
zuwiderlaufen Unterschiede zu machen. Insofern ist die Argumentation des BVerfG
„nicht realitätsgerecht und damit wenig überzeugend“277. Art. 12a II GG spricht nicht
278
von Belastung , sondern expressis verbis von Dauer. Zudem wäre es
diskriminierend dem Zivildienstleistenden zu unterstellen, er wäre weniger belastet
als ein Wehrdienstleistender 279 . Zwar ist es möglich, dass die körperliche und
zeitliche Beanspruchung der Zivildienstleistenden im Vergleich zu
Wehrdienstleistenden geringer ausfällt, psychische Überforderungen, die je nach Art
des Dienstes zu beobachten sind, vermögen dies jedoch auszugleichen280. Dem ist
letztlich auch der Gesetzgeber auf Empfehlung der Kommission „Impulse für die
Zivilgesellschaft“281 gefolgt (§ 24 II 1 ZDG i.V.m § 5 Ia WPflG). Aktuell dauert
sowohl der Zivildienst als auch der Grundwehrdienst neun Monate. In der
Begründung des Zweiten Zivildienständerungsgesetzes heißt es dazu, dass sich die
„reale Belastungssituation der Grundwehrdienstleistenden und der
Zivildienstleistenden […] in den letzten Jahren weiter einander angenähert“ hätten282.
Wenn also die Wehrpflicht ausgesetzt werden würde, dann müsste folglich, da der
Zivildienst Surrogat zur Wehrpflicht ist, auch der Zivildienst ausgesetzt werden.
Umgekehrt kann aber nicht die Wehrpflicht aufrechterhalten werden, um den
273
Martens, Grundgesetz und Wehrverfassung, S. 128.
274
BVerfGE abwM 69, 1 (67); K. Ipsen/ J. Ipsen, in: BK-GG, Art. 12a Rn. 130; Gornig, in: v.
Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 100; Gubelt, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 12a Rn. 11;
Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 12a Rn. 7; Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 33; J. Ipsen, ZRP
1978, 153 (155); Klückmann, NJW 1979, 2281; Gusy, JuS 1979, 254 (257); Vosgerau, ZRP 1998, 84;
krit. Schoch, Jura 1985, 127 (134).
275
BVerfGE 69, 1 (29 f.); auch Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 108.
276
Siehe C I 2.
277
Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 51 III 2.
278
Vgl. BVerfGE abwM 69, 1 (67).
279
Vgl. auch Finckh, Vorgänge 22 (1976), 90 (91).
280
Vgl. Kuhlmann/ Lippert, Kriegsdienstverweigerung, S. 15.
281
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 39.
282
BT-Drs. 15/3279.
C. Juristische Betrachtung 41
Zivildienst beizubehalten283. Der Zivildienst darf bei der Frage nach der Aussetzung
der Wehrpflicht, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Insbesondere ist er nicht in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen 284 .
Verfassungsrechtliche Legitimationsversuche bleiben in der Hinsicht erfolglos.
Nach h.M. ist Art. 4 III GG abschließend285 und somit lex specialis zu Art. 4 I GG.
Besonders aber die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas
verweigern durch Zuhilfenahme des Art. 4 I GG regelmäßig auch den Ersatzdienst,
da jeder staatlich auferlegte Zwang gegen ihr Gewissen verstoßen würde und der
Zivildienst Erfüllung der Wehrpflicht darstellt.
Diese Ansicht der h.M. verkehrt aber die eigentliche Bedeutung des Art. 4 III GG in
ihr Gegenteil286: Eigentlich hätte es des Art. 4 III GG gar nicht bedurft, da bereits Art.
4 I GG das Gewissen umfänglich schützt287. Der Verfassungsgeber wollte damit aber
sicherstellen, dass das Gewissen sogar in Kriegszeiten, also auch in äußersten
Konfliktlagen, dem Staat eine unüberwindliche Schranke entgegenstellt288. Er sollte
zusammen mit Art. 26 GG Ausdruck einer pazifistischen Stoßrichtung sein 289 .
Darum wäre eine Bestrafung von Ersatzdienstverweigerern diskriminierend290.
Art. 4 III GG stellt also lediglich eine „Verstärkung“ 291 des in Art. 4 I GG
ausgedrückten Gewissensschutzes dar. Insofern ist die Verweigerung des
292
Ersatzdienstes durch Art. 4 I GG geschützt . Eine Beschränkung der
Gewissensfreiheit aufgrund Art. 140 GG i.V.m Art. 136 I WRV 293 , wonach der
Glaube bzw. das Gewissen nicht vor staatsbürgerlichen Pflichten schütze, ist
abzulehnen294.
283
Siehe auch Fröhler, ZRP 1996, 433 (435); über die gesellschaftspolitischen Vorzüge des
Zivildienstes siehe E.
284
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 282 f.
285
BVerfGE 19, 135 (138); Weber, NJW 1968, 1610 (1611); restr. Zippelius, in: BK-GG, Art. 4 Rn.
129; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rn. 96 f.
286
Stein, 16StaatsR, § 31 II 5 b.
287
Pieroth/ Schlink, StaatsR II, Rn. 525.
288
Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rn. 83; vgl. auch Arndt, NJW 1965, 2195 (2196); dens., NJW 1968,
979; Heilmann/ Wahsner, JZ 1972, 577 (579).
289
Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 3.
290
Stein, 16StaatsR, § 31 II 5 b; siehe ferner Peters, JZ 1966, 457.
291
Kempen, in: AK-GG, Art. 4 III Rn. 26; vgl. Dürig, JZ 1967, 426 (427); Hamann/ Lenz, GG, Anm.
B 4 zu Art. 4.
292
Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, Art. 12a Rn. 106; LG Baden-Baden, JZ 1964, 761.
293
So OLG Karlsruhe, JZ 1964, 761 (763).
294
Vgl. BVerfGE 33, 23 (30 f.); v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 136 WRV
Rn. 6.
C. Juristische Betrachtung 42
Die Beschränkung des Gewissens zugunsten des Zivildienstes erscheint mit der
Gewissensfreiheit aus Art. 4 GG unvereinbar, da die geschichtliche Reflexion
gezeigt hat, dass das Gewissen den Ansprüchen des Staates vorzuziehen ist:
Insofern sollte der Gesetzgeber im Zuge der Präferenzentscheidung bedacht sein, das
aufgeworfene Problem zu beseitigen, indem er entweder von seinem Diktum,
nämlich die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht, abweicht oder aber
Alternativlösungen schafft296.
Der Gesetzgeber hat sich für letzteres entschieden und versucht der
Ersatzdienstverweigerung vorzubeugen, indem er anerkannte
Kriegsdienstverweigerer, die aus Gewissensgründen gehindert sind, Zivildienst zu
leisten, vorläufig nicht heranzieht, sofern ein Arbeitsverhältnis in einem
Krankenhaus oder einer ähnlichen Einrichtung eingegangen wurde (§ 15a I ZDG)297.
Das BVerfG hat den Begriff der Wehrgerechtigkeit geprägt und stellt damit
unmissverständlich fest, dass die „staatsbürgerliche Pflichtengleichheit in Gestalt der
295
Arndt, NJW 1965, 2195.
296
So Podlech, JuS 1968, 120 (123).
297
Vgl. hierzu auch Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 4 Rn. 150; K. Ipsen/ J. Ipsen, in:
BK-GG, Art. 12a Rn. 153.
298
BVerfGE 48, 127 (162).
C. Juristische Betrachtung 43
299
BVerfGE 48, 127 (166).
300
Vgl. BVerfGE 48, 127 (163); Münster, DVBl. 2005, 789; im Ergebnis auch Walz, NZWehrR 2004,
153 (159); VG Köln, Beschl. v. 15.4.2005 – 8 K 8564/04, www.nrwe.de, Rn. 31; VG Köln, Beschl. v.
3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de, Rn. 29; VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8K 5791/08,
www.nrwe.de, Rn. 27; TDG Süd, Beschl. v. 31.7.07– S 7 BLb 04/07; a.A. BVerwGE 7, 325 (328 ff.),
BVerwG, NJW 2005, 1525 (1528); VG Koblenz, NJW 2004, 2321 (2322); VG Oldenburg, NJW 2004,
2323; Hahnenfeld, DVBl. 1960, 45.
301
Weizsäcker-Kommission, S. 69.
302
K. Ipsen, in: Weizsäcker-Kommission abwM, S. 150 f.; ders., ZRP 2001, 469 (471).
303
K. Ipsen, ZRP 2001, 469 (472).
304
Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn.12.
305
Siehe C I 2.
306
§ 8a II 1 Hs. 3 WPflG a.F. (BGBl. 2002 I, 954).
C. Juristische Betrachtung 44
T3) ist im Jahre 2004 gänzlich entfallen. Auch der erst 1994 durch das Zweite Gesetz
zur Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Zivildienstgesetzes 307 statuierte
Tauglichkeitsgrad „verwendungsfähig für bestimmte Tätigkeiten des
Grundwehrdienstes unter Freistellung von der Grundausbildung“ (T7), der angesichts
einer damaligen Untauglichkeitsquote von 21% statuiert wurde 308 , wurde bereits
309
2001 im Zuge des Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes wieder aus dem
Wehrpflichtgesetz entfernt .Demzufolge werden alle früher T3-gemusterten und auch
T7-gemusterten heutzutage T5, also „nicht wehrdienstfähig“ gemustert. Vor allem
wirkt sich auch die Herabsetzung der Regelheranziehungsgrenze zum
Grundwehrdienst im Sinne der auf den Jahrgang bezogenen Wehrgerechtigkeit
negativ aus. Das bedeutet aber auch, dass ein wesentlich größerer Teil als zuvor vom
Wehrdienst und gem. § 7 ZDG auch vom Zivildienst befreit ist.
Wenn aber schon von vornherein eine große Anzahl aller männlichen Bürger eines
Jahrgangs von der Wehrpflicht befreit ist, dann droht die Wehrpflicht und die durch
sie begründeten Einberufungen gem. § 1 I, § 3 I i.V.m. § 21 I 1 WPflG am
allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) zu scheitern 310 , insbesondere wenn die
derzeitige Heranziehung zu Wehr- und Ersatzdienst mehr als die Hälfte der
Wehrpflichtigen wegen Dienstunfähigkeit oder sonstiger persönlicher
311
Wehrdienstausnahmen ausschließt , auch wenn die Wehrdienstausnahmen
„verschiedenen Schutzzwecken“ dienen mögen312.
Sollte also die Wehrpflicht allgemein und gleich sein, dann kann es dem Gesetzgeber
nicht möglich sein, die Wehrdienstausnahmen fortlaufend zu erweitern, nur um den
Personalbedarf der Bundeswehr mithilfe einer scheinbaren Wehrgerechtigkeit zu
313
decken . Das BMVg legt der Wehrgerechtigkeit nämlich die Anzahl der
verfügbaren Wehrpflichtigen zugrunde314. Dass dies nicht nur moralisch verwerflich,
sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich ist, liegt auf der Hand. In der
307
BGBl. I, 1286.
308
Raap, NVwZ 1994, 978 (979).
309
BGBl. I, 4013.
310
Vgl. Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 51 III 1 a; v. Münch, StaatsR II, Rn. 673; dens., NJW
1993, 3244 (3245); VG Köln, Beschl. v. 15.4.2005 – 8 K 8564/04, www.nrwe.de, Rn. 24.
311
Vgl. Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 12; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG,
Art. 12a Rn. 25.
312
Walz, NZWehrR 2004, 153 (155).
313
So bereits WehrKomm, Wehrgerechtigkeit, S. 25.
314
BMVg, Moderne Wehrpflicht, S. 24.
C. Juristische Betrachtung 45
Wenn sich zwischen der Zahl der für die Bundeswehr verfügbaren
und der Zahl der tatsächlich einberufenen Wehrpflichtigen eine
Lücke auftut, die dem Grundsatz der Wehrgerechtigkeit widerspricht,
dann kann es nicht unbegrenzt in der Macht des Gesetzgebers stehen,
diese Lücke durch eine sachgerechte Neuregelung der
Verfügbarkeitskriterien und Erweiterung der Wehrdienstausnahmen
zu schließen.316
315
So auch VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de, Rn. 31.
316
VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de, Rn. 29.
317
BVerfGE 38, 154 (168); Steinlechner, WPflG, vor § 9 Rn. 26.
318
Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 12a Rn. 34.
319
Weizsäcker-Kommission, S. 65.
320
Unterreitmeier, ZRP 2007, 163 (165).
321
Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 83.
322
Zu Recht VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de, Rn. 31.
323
Anders VG Koblenz, NJW 2004, 2321 (2322); VG Oldenburg, NJW 2004, 2323.
324
Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 3 Rn. 80; Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 III
Rn. 115; Müller-Volbehr, JuS 1981, 728 (730).
325
Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 25.
326
Vgl. etwa BMVg, Bundeswehr, S. 12; BT-Drs. 15/3279, S. 10.
C. Juristische Betrachtung 46
327
Vgl. BVerfGE 84, 239 (268 ff.).
328
Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 4 Rn. 211.
329
BT-Drs. 16/10805, S. 11.
330
BT-Drs. 16/12522, S. 5.
331
So die BReg. in BT-Drs. 16/10805, S. 3.
332
BT-Drs. 16/12522, S. 4.
333
BT-Drs. 16/12522, S. 10.
334
Zivildienst (§ 3 I WPflG); FSJ/ FÖJ (§ 14c ZDG); ADiA (§ 14b ZDG).
335
BT-Drs. 16/12522, S. 15.
C. Juristische Betrachtung 47
336
Siemens, Forum Pazifismus III/ 2008, 16 (22).
337
BT-Drs. 16/12522, S. 8.
338
Vgl. BVerfGE 48, 127 (166).
339
BT-Drs. 16/12522, S. 20 ff.
340
BT-Drs. 16/12522, S. 26.
341
So Fröhler, ZRP 1996, 433.
342
Vosgerau, ZRP 1998, 84.
C. Juristische Betrachtung 48
343
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 329 ff.
344
Fröhler, ZRP 1996, 433 (434); ders., Wehrverfassungsrecht, S. 368 ff.
345
Vosgerau, ZRP 1998, 84 (86).
346
Fröhler, ZRP 1996, 433 (435 f.); vgl. außerdem Kokott, in: Sachs, GG, Art. 12a Rn. 19.
347
Vosgerau, ZRP 1998, 84 (85 ff.).
348
BVerfGE 84, 239 (284).
349
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 384 ff.
350
So auch Unterreitmeier, ZRP 2007, 163 (164 f.); Schmidt, Allgemeine Wehrpflicht, S. 3; VG Köln,
NJW 2004, 2609 (2611); offen gelassen BVerfG, NJW 2004, 2297 (2298); VG Oldenburg, NJW 2004,
2323 (2323 f.).
351
Schaprian, Transformation, S. 24.
352
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 404.
C. Juristische Betrachtung 49
Lange umstritten war die Frage, ob auch Frauen in der Bundeswehr Dienst an der
Waffe leisten dürfen. Nach Art. 12a IV 2 GG a.F. durften Frauen „auf keinen Fall
Dienst mit der Waffe leisten“, was letztlich nur den waffenlosen Dienst von Frauen
in den Streitkräften zur Folge hatte. Dass diese Interpretation fehl ging, ergibt sich
schon aus der damaligen Verfassungssystematik. Denn Art. 12a IV GG regelt die
unfreiwillige Heranziehung von Frauen im Verteidigungsfall. Demzufolge stand bzw.
steht Art. 12a IV GG einem freiwilligen Waffendienst von Frauen nicht entgegen353.
Diese Problematik wurde aber schließlich durch Urteil des EuGH354 und der darauf
folgenden Neufassung355 des Art. 12a IV 2 GG obsolet.
Für die Wehrpflicht ergibt dies allerdings neue Spannungsverhältnisse, da nunmehr
Frauen Dienst mit der Waffe leisten dürfen aber nicht müssen, denn die Wehrpflicht
beschränkt sich auf die Verpflichtung von Männern (Art. 12a I GG). Dies betrifft
insbesondere die speziellen Gleichheitssätze des Art. 3 II und III GG.
Nach herrschender Meinung ist allerdings Art. 12a I lex specialis zu Art. 3 II GG,
weshalb eine Beschränkung auf Männer zulässig sei356. Häufig wird dies durch die
Last begründet, die der Frau durch Gebären eines Kindes auferlegt wird 357 . Die
Wehrpflicht sei demzufolge ein „männliches Äquivalent“358. Dass dies in heutiger
Zeit mehr als fragwürdig ist, zeigen die Geburtenstatistiken359 der letzten Jahre.
Tiefgehender ist der Gedanke, dass Frauen, in Folge des nationalsozialistischen
Unrechtsregimes, als schützenswerter angesehen wurden 360 . Ihnen sollte nicht der
Kombattantenstatus anheim fallen361. Da aber die angeführten Argumente nicht mehr
der Verfassungswirklichkeit 362 entsprechen und die Gleichberechtigung von Mann
und Frau de lege lata vorhanden ist, ist eine Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen
oder aber die Umwandlung der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee politisch
353
Kokott, in: Sachs, GG, 1. Aufl. (1996), Art. 12a Rn. 4; v. Münch, StaatsR II, Rn. 600; Edelmann,
ZRP 1988, 144; Slupik, ZRP 1990, 305; Poretschkin, ZRP 1990, 482; Repkewitz, NJW 1997, 506;
Brocker, ZRP 1996, 127 (128); a.A. Grimm, ZRP 1987, 394.
354
EuGH, NJW 2000, 497.
355
Art. 12a IV 2 GG lautet nun: „Frauen dürfen auf keinen Fall zum Dienst mit der Waffe verpflichtet
werden.“; ob die Umsetzung des Urteils bindend gewesen wäre und ob es überhaupt einer
Grundgesetzänderung bedurft hätte ist an dieser Stelle irrelevant.
356
Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12a Rn. 195; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 12a Rn. 3.
357
So z.B. VG Stuttgart, NJW 2001, 2736 (2737).
358
Edelmann, ZRP 1988, 144.
359
Siehe StatBA, PrMtlg Nr. 122 v. 17.03.2006.
360
Vgl. Gail, Art. 12a GG und EU, S. 7.
361
BVerwG, NJW 1996, 2173 (2174).
362
Siehe dazu Maurer, StaatsR, § 1 Rn. 74 f.
C. Juristische Betrachtung 50
363
Siehe auch Schütz und Gramann bei Gail, Art. 12a GG und EU, S. 152.
364
Kokott, in: Sachs, GG, Art. 12a Rn. 7.
365
Schmidt-De Caluwe/ Heselhaus, NJW 2001, 2680 (2681).
366
Siehe BVerfGE 85, 191 (207); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 3 Rn. 307.
367
In dieser Hinsicht zustimmend, aber mit abweichendem Ergebnis, Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/
Starck, GG, Art. 12a Rn. 25.
368
Vgl. Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 4; Slupik, ZRP 1990, 305.
369
VG Stuttgart, NJW 2001, 2736 (2737).
370
VG Stuttgart, NJW 2001, 2744.
371
EuGH, NJW 2003, 1379; so auch Götz, JZ 2000, 413 (415 f.).
372
BVerwG, NJW 2006, 2871 (2872).
373
So AG Düsseldorf, 412 Ds/810 Js 929/00.
374
BVerfGE 92, 91 (109).
375
BVerfGE 92, 91 (112).
C. Juristische Betrachtung 51
Das BVerwG hält die oben genannte Entscheidung des BVerfG indes für nicht
anwendbar, da die Feuerwehrdienstpflicht als einfachrechtliche Bestimmung zu
377
bewerten sei . Allerdings ist zu bedenken, dass diese „überkommene
Rollenverteilung“ durch Art. 12a I GG von Verfassungs wegen aufrechterhalten wird,
was zu einer uneinheitlichen Verfassung führt. Grundsätzlich herrscht die
Auffassung, die Verfassung müsse als Einheit verstanden werden378. Dies bedeutet
jedoch nicht, dass Verfassungsnormen grundsätzlich verfassungskonform sein
müssen; also eine Prüfung der Verfassungskonformität einer Norm anhand der
Verfassung selbst schlechterdings unmöglich erscheint. Vielmehr dürfen jene letzen
Grenzen der Gerechtigkeit selbst nicht überschritten werden379.
Die Ausweitung der allgemeinen Wehrpflicht auch auf die weibliche Bevölkerung
bleibt bei der fortwährenden Verwirklichung der Gleichberechtigung beider
Geschlechter ein Novum. Da aber nicht ernsthaft eine Verpflichtung von Frauen
angestrebt wird und auch nicht angestrebt werden sollte, zumal die Ausweitung der
allgemeinen Wehrpflicht auf den weiblichen Bevölkerungsteil sowohl dem einfachen
Gesetzgeber, aufgrund der Art. 12a I und 12 II, III GG, als auch der
verfassungsändernden Mehrheit380, aufgrund des Art. 79 III GG, verwehrt ist, bleibt
folglich nur der Wegfall der Dienstpflicht für den männlichen Teil der Bevölkerung
geboten.
V. Allgemeine Dienstpflicht
376
Gusy, JuS 1982, 30 (33).
377
BVerwG, NVwZ 2000, 1290 (1294).
378
BVerfGE 1, 14 (32); stRspr; BGHZ 1, 274 (276); Hesse, VerfR, Rn. 71; Stern, StaatsR, Bd. I, § 4
III 8 a.
379
BVerfGE 3, 225 (233).
380
Steinlechner, WPflG, § 1 Rn. 18.
381
Siehe etwa Tönnies, Die Zeit 29/ 1996; W. Meyer, ZRP 2006, 266.
C. Juristische Betrachtung 52
382
Bevölkerung sind verfassungsrechtlich und insbesondere völkerrechtlich
unzulässig.
Einzig die Wehrpflicht gem. Art. 12a I GG konstituiert die Möglichkeit zum Zwecke
der Verteidigung des Staates auf junge männliche Bürger zurückzugreifen. Wollte
man aber die Pflicht etwa auf den Zivildienst ausweiten, da man erkannt habe, dass
der Zivildienst zuweilen eine weit größere Bedeutung einnimmt als der Wehrdienst,
fehlte es an einer verfassungsrechtlichen Legitimation; denn der Zivildienst selbst
begründet keine Pflicht, sondern ist einzig Ersatz des Wehrdienstes für diejenigen,
denen es aufgrund ihrer Gewissensentscheidung aus Art. 4 III GG verwehrt ist,
Wehrdienst zu leisten.
382
Siehe auch C IV.
383
Vosgerau, ZRP 1998, 84 (86).
384
Vgl. Dreist, UBWV 2003, 441 (443).
385
So aber Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12 Rn. 498.
386
BVerfGE 92, 91 (109 ff.).
C. Juristische Betrachtung 53
387
Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 12 Rn. 497.
388
Rittstieg, in: AK-GG, Art. 12 Rn. 152.
389
Held, DVBl. 1954, 345 (349).
390
Siehe dazu A IV.
391
Leibholz/ Rinck, GG, Anm. 16 zu Art 12; Bachof, in: GRe III/1, S. 261; Köhler, ZRP 1995, 140
(141 f.).
392
Raue, Allg. Dienstpflicht, S. 90.
393
Dreist, UBWV 2003, 441 (444); Köhler, ZRP 1995, 140 (142).
394
Raue, aaO, S. 94.
395
Dreist, UBWV 2003, 441 (445).
396
Dreist, UBWV 2003, 441 (446).
397
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 17.
C. Juristische Betrachtung 54
398 399
lassen . Von daher erscheinen Vorschläge, wie etwa von Meyer ,
verfassungsrechtlich verfehlt und die Kosten betreffend unzureichend.
VI. Ergebnis
Nach juristischer Betrachtung ist die allgemeine Wehrpflicht ein Institut, dass in die
Freiheitsrechte junger männlicher Bürger gravierend eingreift und teilweise die
Lebensplanung dieser nachgiebig beeinflusst. Demzufolge müssen hohe
Anforderungen gestellt werden, um die Wehrpflicht weiterhin aufrechtzuerhalten,
zumal gezeigt werden konnte, dass es sich dabei gerade nicht um eine
verfassungsimmanente Pflicht handelt, sondern einzig um eine
Eingriffsermächtigung, die es dem politischen Gefüge erlaubt, bei der Notwendigkeit
einer militärischen Verteidigung durch Zuhilfenahme von Wehrpflichtigen, die
allgemeine Wehrpflicht zu statuieren.
Die jetzige Wehrpflicht baut darauf auf, den jungen Bürger in die Verantwortung zu
nehmen, um eben seine staatliche Grundordnung und die seiner Mitmenschen zu
schützen. Folglich kann die alleinige Aufgabe Wehrpflichtiger nur in der
traditionellen Landesverteidigung gefunden werden. Friedenssichernde Operationen
oder andere Auslandseinsätze können nicht mithilfe der Wehrpflicht erfüllt werden.
Fraglich ist auch, ob Wehrpflichtige tatsächlich zur kollektiven Selbstverteidigung
herangezogen werden können, da auch dies der eigentlichen Konzeption des
Wehrpflichtgedankens zuwiderlaufen würde. Katastrophenhilfe oder
Terrorismusbekämpfung sind keine adäquaten Maßstäbe zur Aufrechterhaltung der
Wehrpflicht.
Daraus folgt aber auch, dass die Ausführung der Wehrpflicht unter dem
verfassungsimmanenten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu betrachten ist. Die
allgemeine Wehrpflicht kann also nur erhalten bleiben, wenn sie nicht dem
Übermaßverbot unterliegt. Dass dem aber so ist, wird insbesondere noch bei der
Betrachtung der ökonomischen Aspekte von Bedeutung sein. Es ist dem Staat
verwehrt, eine Wehrpflicht um jeden Preis zu statuieren bzw. aufrechtzuerhalten.
Dass die Wehrpflicht historisch betrachtet, vor allem während der Zeit des Kalten
Krieges, durchaus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprach, bedeutet hingegen
398
Vgl. Steinlechner, ZRP 1995, 321.
399
ZRP 2006, 266.
C. Juristische Betrachtung 55
nicht, dass sie von nun an der Unabänderlichkeit unterliegt. Das Wehrpflichtsystem
ist nicht von vornherein unantastbar400. Den Gesetzgeber trifft indes die Pflicht, eine
ursprünglich getroffene Regelung aufzuheben oder nachzubessern, sofern sich die
tatsächlichen Verhältnisse derart geändert haben, dass eine einstig legitime
Eingriffsermächtigung bei aktueller Rechtslage nicht mehr gerechtfertigt erscheint401.
Bei der ganzen Diskussion muss bedacht werden, dass der Wehrpflichtige nicht zum
„bloßen Objekt im Staat“ gemacht werden darf, da dies der Würdenorm des Art. 1 I
GG zuwiderläuft 402 . Eben diese Gefahr besteht aber, sofern die Wehrpflicht „um
jeden Preis“ aufrechterhalten wird, ohne zwingende Gründe anzuführen.
Insbesondere ist es dem Staat verwehrt über Wehrpflichtige nach Belieben zu
Verfügen, um vermeintliche haushaltspolitische Defizite aufzufangen.
400
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 269.
401
Vgl. BVerfG, NJW 1980, 2569 (2571); Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 194.
402
BVerfGE 27, 1 (6).
403
Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 71.
404
So z.B. Weizsäcker-Kommission, S. 62; ähnlich Germroth/ Hudson, Aussenpolitik 1992, 33 (37).
C. Juristische Betrachtung 56
Auch das Problem der Ersatzdienstverweigerung würde sich nach Aussetzung der
Wehrpflicht nicht mehr stellen.
Als letzteres spricht besonders die mangelnde Wehrgerechtigkeit für die Aussetzung
der Wehrpflicht. Wenn nur knapp ein Drittel tatsächlich den Wehrdienst absolviert,
kann von einer staatsbürgerlichen Pflichtengleichheit keine Rede mehr sein.
Einberufungen ergehen häufig willkürlich 405 , was deren Aufhebungen zur Folge
406
haben und die ohnehin unsichere Zukunft der jungen Wehrpflichtigen
planungsunfähig machen. Das Thema der Wehrgerechtigkeit ist besonders wichtig,
da ansonsten die Wehrpflicht an Glaubwürdigkeit verliert. Zwar könnte der
Wehrgerechtigkeit durch die Absenkung der Grundwehrdienstdauer entgegengewirkt
werden, allerdings nur mit verheerenden Folgen für die Organisation der Streitkräfte.
Eine kürzere Dienstzeit als neun Monate wird allgemein als ungeeignet erachtet407.
Der seit neuerem zulässige Waffendienst von Frauen in der Bundeswehr verschärft
dieses Ungerechtigkeitsempfinden zudem. Auf die gesellschaftspolitische Bedeutung
dieser Entscheidung soll aber später noch näher eingegangen werden.
Auch die neuere Literatur408 und immer häufiger die Rechtsprechung409 tendieren zur
Verfassungswidrigkeit der Wehrpflicht bzw. halten diese für rechtspolitisch illegitim.
Diese Tendenz belegen insbesondere die erst kürzlich ergangenen Beschlüsse des VG
Köln, das die Wehrgerechtigkeit aufgrund normativer Wehrdienstausnahmen verletzt
sieht und daher die Frage dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat410.
Auch das BVerfG hat in seinen letzten Entscheidungen 411 nicht eindeutig die
Wehrpflicht bestätigt. Sie hielt die Vorlage des LG Potsdam für unzulässig, da dieses
nicht ausführen konnte, zu welchem Zeitpunkt die Wehrpflicht verfassungswidrig
geworden sei 412 . Auch die Vorlage des VG Köln wies das BVerfG aus formalen
Grünen als unzulässig ab, ohne auf die Problematik der Wehrgerechtigkeit
einzugehen. Eine verfassungsrechtliche Aufarbeitung des Themas blieb in beiden
Fällen somit aus. Es stärkte lediglich die bisherige Rechtsprechung und sieht die
405
Siehe z.B. Flohr/ Popp, SPIEGEL-ONLINE v. 30.08.07.
406
VG Köln, Beschl. v. 15.4.2005 – 8 K 8564/04, www.nrwe.de.
407
Schaprian, Transformation, S. 14.
408
v. Münch, StaatsR II, Rn. 673; Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 51 III 1 a.
409
LG Potsdam, aaO; VG Köln, Beschl. v. 15.4.2005 – 8 K 8564/04, www.nrwe.de; VG Köln, Beschl.
v. 3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de; VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K 5791/08,
www.nrwe.de; AG Düsseldorf, Vorlagebeschl. v. 30.10.01 – 412 Ds/810 Js 929/00.
410
VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K 5913/08, www.nrwe.de; VG Köln, Beschl. v. 3.12.2008 – 8 K
5791/08, www.nrwe.de.
411
BVerfGE 105, 61; BVerfG, Beschl. v. 22.07.2009 – 2 BvL 3/09, www.bverfg.de.
412
BVerfGE 105, 61 (66 f.); ebenso BVerfG, NJW 2002, 1709.
C. Juristische Betrachtung 57
Verantwortung für das Für und Wider in den Händen der Politik413. Dies bestärkt den
Verzicht des BVerfG „Politik zu treiben“; bedeutet jedoch nicht, dass der dem
Gesetzgeber eröffnete Ermessensspielraum gänzlich der Kontrolle des BVerfG
entzogen wäre414.
Alle hier ausgeführten Aspekte sprechen für die Aussetzung der Wehrpflicht, zumal
sich aus dem Friedensgebot des Grundgesetzes eine „verfassungsrechtliche Pflicht
zur Abrüstung und zur Friedens- und Entspannungspolitik“415 herleitet.
Indes ist die Frage zu klären, ob die gänzliche Abschaffung oder aber die Aussetzung
der Wehrpflicht zu bevorzugen ist. Dabei liegt der Unterschied weniger im Ergebnis
als in der Definition und dessen Folge für den Gesetzgeber. Abschaffung meint die
konsequente Streichung des Art. 12a I GG, wohingegen die Aussetzung als
Aufhebung der mit dem Wehrpflichtrecht korrelierenden einfachgesetzlichen
Bestimmungen zu verstehen ist.
Dass die Aussetzung einen entscheidenden Vorteil hat, ergibt sich aus folgenden
Gründen: Eine Abschaffung würde bedeuten, dass der Bundestag mit einer 2/3-
Mehrheit verfassungsändernd agieren müsste. Fraglich ist, ob im Bundestag und im
Bundesrat eine solche Mehrheit erreicht werden könnte. Aber auch in der Folge stellt
die Abschaffung einen enormen Unterschied dar. Würde sich die
sicherheitspolitische Situation verändern und sollte dadurch abermals die
Wehrpflicht für erforderlich gehalten werden, dann könnte diese wiederum nur durch
eine 2/3-Mehrheit erwirkt werden. Daher sind der Aussetzung größere Chancen
einzuräumen.
Für die Aussetzung der Wehrpflicht bedarf es hingegen keines verfassungsändernden
Gesetzes416. Der einfache Bundesgesetzgeber ist ungehindert, das Wehrpflichtgesetz
und die anderen das Wehrpflichtrecht betreffenden Gesetze (Zivildienstgesetz,
Arbeitsplatzschutzgesetz, Unterhaltssicherungsgesetz, Wehrsoldgesetz) außer Kraft
413
BVerfGE 105, 61 (72); so auch Kreßin, FoR 2004, 103.
414
Vgl. BVerfGE 36, 1 (14).
415
Grimm, Allg. Wehrpflicht und Menschenwürde, S. 72.
416
K. Ipsen/ J. Ipsen, in: BK-GG, Art. 12a Rn. 29; Gornig, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art.
12a Rn. 19.
C. Juristische Betrachtung 58
zu setzen 417 . Der Zustimmung des Bundesrates bedarf es bei völliger Aufhebung
eben dieser Gesetze nicht.418
417
Steinlechner, WPflG, Vorbem Rn. 64.
418
Walz, NZWehrR 2003, 116 (116 ff.).
D. Ökonomische Betrachtung 59
D. Ökonomische Betrachtung
I. Volkswirtschaftliche Kosten425
Es ist legitim das Kollektivgut „Äußere Sicherheit“ über Steuern zu finanzieren und
damit dem privaten Markt zu entziehen, da der Verzicht des Einzelnen auf eben
dieses Gut nicht möglich ist426.
419
So z.B. Struck, Rede anlässlich der Wehrpflichttagung v. 25.05.2004.
420
Siehe Grafik im Anhang; die Bundeswehr umfasst 187.500 Berufs- und Zeitsoldaten, 34.534
Grundwehrdienstleistende und 25.346 freiwillig länger Wehrdienstleistende; im Internet:
http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd443cTQCS
YGYxgEh-
pEwsaCUVH1fj_zcVH1v_QD9gtyIckdHRUUATi3qcg!!/delta/base64xml/L3dJdyEvd0ZNQUFzQUMv
NElVRS82X0NfNENM (Stand: 13.08.2009).
421
Haltiner spricht gar von einer ‚Pseudowehrpflichtstreitkraft’; zit. n. Szvircsev Tresch, Europas
Streitkräfte, S. 42.
422
Weizsäcker-Kommission, S. 62; a.A. Mey, IP 4/ 1997, 57 (57 f.).
423
Groß schlägt sogar einen Personalumfang von 200 000 Soldaten und Soldatinnen vor, Reform der
Bundeswehr, S. 11.
424
Lemke, Bundeswehr für den neuen Auftrag, S. 6; Koppelin, IP 4/ 1997, 55.
425
Zur detaillierten Rechnung der volkswirtschaftlichen Kosten siehe Krelle, Volkswirtschaftliche
Kosten, S. 359 f.
D. Ökonomische Betrachtung 60
Daher ist es aber aus finanzwissenschaftlicher Sicht notwendig, dass sich die
Aufgabe der Bundeswehr innerhalb der sicherheitspolitischen und militärischen
Kernfunktionen bewegt. Alle anderen Aufgaben, die sich durch die Aufstellung von
Streitkräften ergeben, werden durch den privaten Markt kostengünstiger
ausgeführt 427. Das ökonomische Prinzip verlangt, dass vorgegebene Aufgaben mit
den geringsten Kosten zu erfüllen sind428.
Nach den Grundzügen der Ökonomie geht es der Gesellschaft am besten, wenn das
Prinzip der freiwilligen Arbeitsteilung eingehalten wird 429 . Dass dieses bei der
Wehrpflicht nicht eingehalten wird, liegt in der Terminologie selbst. Es ist daher zu
überprüfen, ob es dennoch geboten sein könnte, von diesem Prinzip abzuweichen.
Die Wehrpflicht ist eine nur noch selten vorkommende Form der Naturalsteuer und
bildet somit eine implizite Einkommenssteuer der Wehrdienstleistenden 430 . Die
Tatsache, dass die Abgabenordnung (AO) der Bundesrepublik diese Form der Steuer
nicht kennt, bedeutet indes nicht, dass es keine Naturalsteuer geben könne 431 ,
sondern verdeutlicht lediglich, dass das nicht-monetäre Steueraufkommen keine
Berücksichtigung findet. In dieser Hinsicht ist von steuertheoretischen Überlegungen
auszugehen. Diese Naturalsteuer wiegt doppelt, da sowohl ein geringeres zukünftiges
Einkommen, insbesondere das geringere letzte Einkommen vor dem Renteneintritt,
als auch ein niedrigeres Einkommen während der Dienstzeit zu erwarten ist 432 .
Wollte man die Naturalabgabe als monetäre Größe messen, so würde die Differenz
aus dem gezahlten Wehrsold zuzüglich der erhaltenen Sachleistungen und dem
entgangenem Lohn aus einem zivilen Beschäftigungsverhältnis die implizite
Einkommenssteuer richtig beziffern433. Diese Differenz ist der Pauschalierung jedoch
entzogen, da das zivile Einkommen des Einzelnen naturgemäß schwankt. Somit
426
Vgl. Funk, Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 3 f.
427
Wandsbeker Kreis, Ökonomische Überlegungen, S. 171.
428
Huber, Gedanken zur Wehrpflicht, S. 1.
429
W. Schäfer, Wehrpflicht, S. 2.
430
Neubauer, in: HbÖVP, S. 1082 ff.; Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht; Funk,
Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 6; Lau/ Poutvaara/ Wagener, Dynamic Cost, S. 3.
431
So aber BT-Drs. 16/10468, S. 8.
432
Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht ade, S. 14.
433
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht; vgl. Krelle, Lastenverteilung, S. 352.
D. Ökonomische Betrachtung 61
wiegt die Belastung der Wehr- und Zivildienstleistenden durch diese implizite
Einkommenssteuer unterschiedlich stark, da die implizite Einkommenssteuer bei
einem Wehr-/ Zivildienstleistenden, der in einem zivilen Beschäftigungsverhältnis
ein höheres Einkommen als den Wehrsold zu erwarten hat, größer ist, als bei einem
ansonsten arbeitslosen Wehrdienstleistenden.
Diese implizite Einkommenssteuer bewirkt aber zudem, dass die expliziten Steuern
der Nichtdienstleistenden geringer sind434.
Problematisch hingegen ist, dass die Naturalsteuer nicht als budgetäre Kosten
aufgeführt werden. Dies aber widerspricht den Anforderungen an ein gerechtes
Besteuerungssystem435, da die Finanzverfassung grundsätzlich davon ausgeht, dass
Gemeinlasten aus Steuern finanziert werden 436 . Insofern scheint es legitim die
Naturalsteuer in Folge der Wehrpflicht als „Fremdkörper“ zu titulieren437.
2. Wehrgerechtigkeit438
Die Wehrpflicht muss nicht nur von Verfassungs wegen der Wehrgerechtigkeit
genügen, sondern auch aus Gründen der Steuergerechtigkeit. Steuergerechtigkeit
bedeutet, dass das Gebot der Allgemeinheit gewahrt wird und somit alle Bürger
gleichermaßen zur Finanzierung von Staatsleistungen herangezogen werden 439 .
Gerade weil die Abgabenordnung den Begriff der Naturalsteuer nicht kennt, kann
von einer Steuerungerechtigkeit gesprochen werden, da die körperlich erbrachte
Leistung keinen Niederschlag als erbrachte Steuer erfährt. Hinzukommt, dass von
der Wehrpflicht Frauen und untaugliche Wehrpflichtige ipso iure befreit sind. Es
wäre im Sinne der Steuergerechtigkeit legitim der Frage nach zu gehen, ob befreite
Taugliche, untaugliche Erwerbsfähige und Frauen eine Wehrsteuer als Surrogat zur
440
Wehrpflicht zu entrichten hätten . Statistiken verdeutlichen zudem, dass
Abiturienten am seltensten von einem Dienst „verschont“441 bleiben.
434
Vgl. Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, S. 73.
435
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht.
436
BVerfGE 92, 91 (113).
437
W. Schäfer, Wehrpflicht, S. 5.
438
Siehe dazu insbesondere Neubauer, in: HbÖVP, S. 1082 ff.
439
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht.
440
Funk, Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 36.
441
Schneider/ Trabold, aaO.
D. Ökonomische Betrachtung 62
Würde man von der Wehrpflicht hingegen abweichen, dann ergäbe sich erst keine
Wehrungerechtigkeit und im Zuge keine Steuerungerechtigkeit, da alle Steuerzahler
gleichermaßen für die Finanzierung der Streitkräfte aufkommen müssten442.
3. Weitere Opportunitätskosten
Nicht nur der Wehrpflichtige selbst erleidet durch seine Einberufung einen
Einkommensverzicht und Nutzenverlust, sondern auch der Volkswirtschaft entgeht
die Wertschöpfung 443 . Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes liegt der
Bruttomonatsverdienst eines unter 25 Jahre alten männlichen Arbeitnehmers bei ca.
2.118 Euro. Bei 68.270 Grundwehrdienstleistenden im Jahr 2008 444 und einer
Arbeitslosenquote von etwa 12 Prozent innerhalb dieser Altersgruppe, entgeht der
Bundesrepublik ein jährlicher Wertschöpfungszuwachs von rund 1,5 Mrd. Euro
aufgrund der Wehrpflicht445. Hinzu kommen Unsicherheitskosten und Nachteile bei
der Arbeitsplatzsuche. Auch dem Staat entstehen durch Wehrpflichtvermeidung, so
etwa aufgrund von Einsprüchen gegen Einberufungsbescheide, weitere Kosten446.
Zudem bindet nicht nur der Verteidigungshaushalt fiskalische Kosten. Vor allem der
zivile Ersatzdienst belastet den Haushalt447. Weitere Kosten entstehen zum Beispiel
aufgrund der unentgeltlichen Heilfürsorge, des Unterhaltssicherungsgesetzes, wegen
Wehr- bzw. Zivildienstbeschädigungen und aufgrund von Effizienz- und
Reibungsverlusten, da angenommen werden kann, dass Wehrpflichtige weniger
sorgsam mit technischem Gerät umgehen. Aber auch „Wehrerfassungs-, Ablöse- und
Ausbildungskosten“448 entstehen, da vor allem die Ausbildung Ressourcen bindet449.
Für das Jahr 1996 wurde angenommen, dass die tatsächlichen Kosten für
Grundwehrdienstleistende nahezu bei dem Dreifachen der haushaltswirksamen
Kosten lagen450.
Würde man annehmen, dass durch Wegfall der Wehrpflicht auch die Musterung
obsolet werden würde, dann könnten Sach- und Personalausgaben im Etat der
442
Trabold/ Schneider/ Vogel, Wehrpflicht statt Berufsarmee, S. 10; Funk, Finanzwissenschaftliche
Aspekte, S. 3 f.
443
Funk, Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 7.
444
BT-Drs. 16/12522, S. 20.
445
Siehe Rechnung im Anhang.
446
Funk, aaO, S. 18.
447
Schnell/ Straub, Studien H, S. 5 f.
448
Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht, S. 16.
449
Schnell/ Straub, aaO, S. 8; Riecke spricht 2002 von 20 000 Mann; IP 7/ 2002, 29 (32).
450
Huber, Gedanken zur Wehrpflicht, S. 6.
D. Ökonomische Betrachtung 63
Vor allem aber führt die Wehrpflicht zu einer Fehlallokation von Arbeit und
Kapital 451 , da eine Beseitigung von Arbeitsmobilität vorliegt. Einem privaten
Arbeitgeber ist es verwehrt einen Wehrpflichtigen selbst durch Zahlung eines
höheren Lohnes abzuwerben 452 . Hinzu kommt, dass auch Arbeitgeber durch eine
Arbeitsplatzgarantie (§ 2 ArbPlSchG) und eine Wiedereinstellungspflicht (§ 6
ArbPlSchG) an den Kosten der Wehrpflicht beteiligt werden453.
Durch eine Freiwilligenarmee hingegen entstünde ein volkswirtschaftlicher Gewinn
in Form eines höheren Sozialproduktes 454 . Addierend müsste außerdem bedacht
werden, dass Berufssoldaten selbst der Einkommenssteuer unterliegen; im Falle einer
Anhebung des Umfangs an Berufssoldaten also auch eine Anhebung der Steuerzahler
innerhalb dieser Gruppe erfolgen würde455.
Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik des Deutschen Instituts für
Internationale Politik und Sicherheit kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die
Freiwilligenarmee mit rund 220.000 Soldaten die kostengünstigste Wehrform
darstellt. Sie hat errechnet, dass „für die Bundeswehr mit neunmonatiger
Allgemeiner Wehrpflicht […] im Jahr 2010 rund […] 0,4 Milliarden Euro mehr
aufzuwenden [wären] als für die gleich befähigte Freiwilligenarmee“ 456 . Die
vorgestellte Freiwilligenarmee hätte einen Finanzbedarf von 24,2 Mrd. Euro,
währenddessen die neunmonatige Wehrpflichtarmee Finanzmittel in Höhe von 24,6
Mrd. Euro bedarf 457 . Die Studie veranschaulicht zudem eindrucksvoll, dass die
Kosten für die Anwerbung zu verpflichtender Wehrdienstleistender
unverhältnismäßig hoch sind. Um 3.000 Freiwillige anzuwerben, entstehen der
Bundeswehr durch die Wehrpflichtarmee mit neunmonatigen Grundwehrdienst
Kosten in der Höhe von 400 Mio. Euro. Lemke konstatiert, dass „mit diesem Betrag
451
Trabold/ Schneider/ Vogel, Wehrpflicht statt Berufsarmee, S. 8.
452
Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht ade, S. 15.
453
Koppelin, IP 4/ 1997, 55 (56).
454
Krelle, Lastenverteilung, S. 358.
455
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht.
456
Lemke, Bundeswehr für den neuen Auftrag, S. 17.
457
Ibid, Abb. 5a.
D. Ökonomische Betrachtung 64
[…] in der Freiwilligenarmee die pro Jahr benötigten 28 000 Neuverpflichtungen mit
abgestuften Prämien von durchschnittlich 14 000 Euro honoriert werden“ könnten458.
Auch ausländische Studien stellen fest, dass Streitkräfte, die auf Wehrpflichtige
zurückgreifen, der Volkswirtschaft schaden459.
Darin zeigt sich die Widersinnigkeit der Wehrpflicht, die nach diesen Betrachtungen
die eindeutig kostenintensivere Alternative ist.
1. Effizienzgewinn
Eine Transformation der Bundeswehr wirkt sich aber nicht nur unbedingt
volkwirtschaftlich positiv aus. Auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht sollte dies
begutachtet werden.
Freiwilligenarmeen profitieren in erster Linie von ihrer gesteigerten Effizienz im
Vergleich zu der einer Wehrpflichtarmee, da eine Spezialisierung, also eine
Ansammlung von Wissen und Erfahrung, stattfindet460 und dies eine Steigerung der
Leistungsfähigkeit nach sich zieht 461 . Die vorhandene bzw. eine gewünschte
Einsatzkapazität kann auch bei Umfangsreduzierungen erhalten bleiben, wenn dabei
der GWDL-Anteil entsprechend gesenkt wird 462 . Die Leistungsfähigkeit von
Streitkräften ist nämlich dann am größten, wenn sie nur noch aus Freiwilligen
besteht463. Es kann insofern mit einem Substitutionsverhältnis von 10 : 5 gerechnet
werden 464 . Zehn Wehrpflichtige können also ohne Leistungseinbußen durch 5
Freiwillige ersetzt werden. Dies erlaubt wiederum eine deutliche Verkleinerung der
Streitkräfte, da nach Wegfall des Ost-West-Konfliktes eine derart große Armee
überdimensioniert wäre465. Zur Zeit des Kalten Krieges konnte unterstellt werden,
458
Lemke, Bundeswehr für den neuen Auftrag, S. 18.
459
So auch eine Studie des Helsinki Center of Economic Research (HECER); Keller/ Poutvaara/
Wagener, Military Draft and Economic Growth in OECD Countries (= Discussion Paper No. 228),
Helsinki 2008.
460
Trabold/ Schneider/ Vogel, Wehrpflicht statt Berufsarmee, S. 6.
461
Schnell/ Straub, Studien H, S. 5.
462
Huber, Gedanken zur Wehrpflicht, S. 3.
463
Huber, Umfangsreduzierungen, S. 4.
464
Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht ade, S. 14.
465
Vgl. Riecke, IP 7/ 2002, 29 (33).
D. Ökonomische Betrachtung 65
466
Huber, Gedanken zur Wehrpflicht, S. 4.
467
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht; Funk, Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 22.
468
W. Schäfer, Wehrpflicht, S. 6.
469
Riecke, IP 7/ 2002, 29 (31 f.).
470
Huber, Umfangsreduzierungen, S. 11.
471
Huber, Untersuchungen, S. 3.
472
BT-Drs. 16/10468, S. 6.
D. Ökonomische Betrachtung 66
Wie bereits dargestellt, sollte sich der Aufgabenbereich der Bundeswehr einzig auf
die Verteidigung beschränken. Es ist also zu überlegen, gewisse Bereiche dem Bund
zu entziehen und privaten Unternehmen zu übergeben (Out-Sourcing) 473 . Dies
steigert abermals die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr. Die Privatisierung hat mit
der Gründung der Gesellschaft für Entwicklung, Beschaffung und Betrieb mbH
(g.e.b.b.) teilweise stattgefunden 474 . Auf diese Weise können 40 Prozent des
Verteidigungshaushaltes durch „Public Private Partnerships“ abgedeckt werden 475 .
Solch einer Privatisierung steht auch das Grundgesetz nicht entgegen476. Es versteht
sich von selbst, dass solche Auslagerungen von Aufgaben nur an der Peripherie der
Bundeswehr vorgenommen werden können. Militärische Kernaufgaben, also die
Bereiche, die den unmittelbaren Einsatz von Soldaten fordern, müssen dem Staat
überlassen bleiben. So ist etwa die Auslagerung von militärischen Aufgaben an
private Unternehmen in bewaffneten Konflikten aus humanitär-völkerrechtlichen
Aspekten abzulehnen 477 . Lediglich nicht-militärfachliche Aufgaben können durch
private Anbieter ersetzt werden.
Im Übrigen sind die Empfehlungen der Kommission „Gemeinsame Sicherheit und
Zukunft der Bundeswehr“ zu beachten, die z.B. eine Verringerung der
Kreiswehrersatzämter nahe legt478.
Viele Aufgaben innerhalb der Streitkräfte werden nur aufrechterhalten, da man über
genügend Wehrpflichtige verfügt. Müssten diesen Arbeitskräften die üblichen
Marktpreise gezahlt werden, hätte die Bundeswehr von der Erfüllung dieser
Aufgaben abgesehen 479 . Freiwilligenstreitkräfte würden das ökonomische Handeln
somit fördern.
473
Funk, Finanzwissenschaftliche Aspekte, S. 21; Weizsäcker-Kommission, S. 123; Groß, Reform der
Bundeswehr, S. 11.
474
Allerdings mit zu hoch angesetzten Profiterwartungen; Riecke, IP 7/ 2002, 29 (31).
475
Wieland, NZWehrR 2003, 1 (4).
476
Wieland, NZWehrR 2003, 1 (10).
477
Vgl. Schaller, Auslagerung militärischer Aufgaben, S. 4.
478
Weizsäcker-Kommission, S. 123 ff.
479
Kuhlmann/ Lippert, Wehrpflicht ade, S. 15.
D. Ökonomische Betrachtung 67
III. Zivildienst
Für den Zivildienst finden die vorigen Ausführungen ebenso Anwendung. Bei
480
84.604 Zivildienstleistenden im Jahr 2008 geht der Bundesrepublik ein
Wertschöpfungszuwachs von ca. 1,9 Mrd. Euro verloren 481 . Zivildienstleistende
stellen preiswerte und billige Arbeitskräfte dar, die den Schranken des Arbeitsrechts
entzogen sind482.
Der Zivildienst ist aber aus einem entscheidenden Grund in einem weiteren Aspekt
für die Volkswirtschaft schädlich: Während die Verteidigung privaten Anbietern
gänzlich entzogen ist, tritt der Staat aufgrund des Zivildienstes als Konkurrent auf
dem Markt für soziale Dienstleistung auf. Da aber der Lohn in Analogie zum Sold
der Wehrdienstleistenden unterhalb der Marktpreise angesiedelt ist, findet eine
Verzerrung eben dieses Marktes statt.
Der Staat hält somit auch das Monopol im Bereich der sozialen Dienstleistung,
obwohl dergleichen Dienste durch Private billiger, besser und nachfragegerechter
erfüllt werden könnten485.
Privilegierte Beschäftigungsstellen, insbesondere die der freien Wohlfahrtspflege486,
haben gegenüber nicht anerkannten Beschäftigungsstellen erhebliche
Wettbewerbsvorteile. Die Zivildienststelle ist verpflichtet, dem Dienstpflichtigen
Geld- und Sachbezüge auszuzahlen487. Der Sold beträgt derzeit in den ersten drei
Monaten 9,41 Euro kalendertäglich je Dienstleistenden 488 . Zu den Sachbezügen
zählen Unterkunft, Verpflegung und Arbeitskleidung. Für den Fall, dass die
480
BT-Drs. 16/12522, S. 23.
481
Siehe im Anhang.
482
Kuhlmann/ Lippert, Armee ohne Marschzahl, S. 19.
483
W. Schäfer, Wehrpflicht, S. 7.
484
WB beim BMF, Gutachten, S. 49.
485
Wandsbeker Kreis, Ökonomische Überlegungen, S. 176.
486
§ 23 UStDV.
487
LF, F 2 I Nr. 2.1.1.
488
Analog zu den Geldbezügen der GWDL = § 35 I ZDG i.V.m. Anlage 1 zu § 2 I WSG (SG 2: 10,18
EUR; SG 3: 10,95 EUR).
D. Ökonomische Betrachtung 68
489
§ 3 II WSG i.V.m. LF, F 6 Nr. 7.
490
§ 35 IV ZDG i.V.m. LF, F 8 Nr. 1.4 f.
491
§ 35 I ZDG i.V.m. § 7 II WSG (= LF, F 5).
492
§ 35 I ZDG i.V.m. § 9 II WSG (= LF, F 10 Nr. 3).
493
Dem Betrag wurde die Soldgruppe 2 zugrunde gelegt, sowie die Beträge des Entlassungs- und
Weihnachtsgeldes auf den Monat heruntergerechnet.
494
§ 6 II ZDG i.V.m. LF, F 2 II Nr. 3.2.
495
Siehe z.B. Diakonie, Eingruppierungskatalog.
496
Diakonie, Zukunft Zivildienst, S. 4.
D. Ökonomische Betrachtung 69
Außerdem würde ein Verzicht auf die Wehrpflicht und als direkte Folge auch auf den
Zivildienst Kosten im Haushalt des BMFSFJ einsparen. Das BFM veranschlagt für
das Jahr 2008 Ausgaben für das BAZ in Höhe von 615 Mio. Euro 497 . Es wäre
natürlich zu überlegen, inwiefern neue Beschäftigungsmöglichkeiten gefunden
werden können, sollte es zur Aussetzung der Wehrpflicht und somit zur Aussetzung
des Zivildienstes kommen.
Aber auch der Zivildienst selbst ist ökonomisch zu hinterfragen: Es ist fraglich, ob
der Zivildienst bei einer Dienstdauer von unter zehn Monaten noch ökonomische
Vorteile bietet. Bei einer neunmonatigen Dienstzeit entfallen annähernden zwei
Monate auf Urlaub und Lehrgänge, sodass der Zivildienstleistende der Dienststelle
de facto lediglich sieben Monate zur Verfügung steht. Sobald der Zivildienstleistende
also vollends in seine Beschäftigung eingearbeitet wurde, beendigt er seinen Dienst
schon wieder.
Eine allgemeine Dienstpflicht, also sowohl für Männer als auch für Frauen, wäre ein
ebenso „teures Arrangement“, da auch diese Alternative volkswirtschaftliche
Opportunitätskosten induziert. Die Dienstpflichtigen des exemplarisch gewählten
Jahrgangs 1983 würden einem „impliziten Durchschnittssteuersatz von rund 50
Prozent, also einer exorbitant hohen Besteuerung“ unterliegen.
Ein weiteres Problem würden die zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze darstellen.
Eine Beschränkung auf den sozialen Sektor wäre bei etwa 885.000 Dienstpflichtigen
nicht mehr aufrechtzuerhalten. Diesbezüglich müsste das Aufgabenspektrum
ausgedehnt werden (z.B. Umweltschutz, Bauwirtschaft, Land- und Forstwirtschaft),
sodass letztlich alle „Güter als ‚öffentlich’ deklariert“ werden können, einzig
aufgrund der Tatsache, dass eine erhöhter Bedarf an Arbeitskräften innerhalb dieser
Bereiche besteht.
497
BMF (Hrsg.), Bundeshaushalt 2008, Epl. 17, Titel 17 04, Berlin.
498
Diakonie, Zukunft Zivildienst, S. 12.
D. Ökonomische Betrachtung 70
V. Ergebnis
499
W. Schäfer, Allg. Dienstpflicht.
500
B. Meyer, Dauerkontroverse Wehrpflicht, S. 23.
501
Lau/ Poutvaara/ Wagener, Dynamic Cost, S. 18.
502
Schnell, Akt. Studien H, S. 16.
503
WehrKomm, Wehrstruktur, S. 101.
D. Ökonomische Betrachtung 71
504
WehrKomm, Wehrstruktur, S. 29.
505
VPR, S. 30.
506
Siehe dazu auch Schmückle/ Deinzer, IfdT 1970, 33 ff.
507
Zur tieferen Auseinandersetzung Fischer, in: HbÖVP, S. 301 ff.
D. Ökonomische Betrachtung 72
Sowohl der Zivildienst als auch die allgemeine Dienstpflicht sind ökonomisch
ebenso wenig sinnvoll. Es tritt sogar ein weiteres Problem hinzu, da der Staat als
Konkurrent auf dem Markt für soziale Dienste auftritt. Folglich liegt nicht nur eine
Verschwendung von Ressourcen vor, sondern auch eine Verzerrung des Marktes für
soziale Dienste. In diesem Sinne ist es fraglich, ob an der Wehrpflicht festgehalten
werden sollte, um den Zivildienst beizubehalten. Würde man den Zivildienst
weiterführen und eventuell eine allgemeine Dienstpflicht statuieren wollen, was, wie
gezeigt, eine Ausweitung des Aufgabenspektrums mit sich zöge, würde die
freiheitlich demokratische Grundordnung negiert, da nicht mehr ein System freier
bzw. sozialer Marktwirtschaft vorläge, sondern ein Rückfall in eine Planwirtschaft
stattfinden würde, der großen Schaden verursachen könnte. Soziale Dienste müssen
sich, um der sozialen Marktwirtschaft gerecht zu werden, am vorhandenen Bedarf
messen. Dass ein Anstieg der Preise stattfinden könnte, steht außer Frage. Aber auch
auf dem Markt für soziale Dienstleistungen richten sich die Preise nach Angebot und
Nachfrage. Diese erhöhten Marktpreise stellten zudem ein Signal für den
tatsächlichen Wert sozialer Dienste dar 508 . Eine Privilegierung gemeinnütziger
Zwecke würde nicht mehr stattfinden und keine weiteren Probleme aufwerfen.
Würde man das System zwangsrekrutierter Dienstpflichtiger ad absurdum führen
wollen, müsste hinterfragt werden, warum nicht auch in anderen Bereichen des
Staatsdienstes (z.B. Polizei, Verwaltung etc.) auf Verpflichtete zurückgegriffen
wird509. Die geringe Verfügbarkeit von Personal in den Diensten und mögliche unter
den Marktpreisen liegende Bezahlung Verpflichteter stellen für die Bundesrepublik
Deutschland keinen wirtschaftlichen Vorteil dar. Durch die Aussetzung der
Wehrpflicht könnten budgetäre Ausgaben in Höhe von ca. 1,2 Mrd. Euro eingespart
werden. Im Gegenteil leidet die Volkswirtschaft unter einem System, dass auf
Zwangsverpflichtete zurückgreift. Ob die Bundesrepublik unter diesen Bedingungen
auf einen jährlichen Wertschöpfungszuwachs von rund 3,4 Mrd. Euro verzichten
sollte, ist tunlichst zu hinterfragt.
508
W. Schäfer, Wehpflicht, S. 7.
509
So etwa W. Schäfer, aaO, S. 9.
D. Ökonomische Betrachtung 73
510
Huber, Armee der Zukunft, S. 10.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 74
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung
Abschließend soll gezeigt werden, dass die Bundeswehr in einem Maße in der
Gesellschaft und deren Ordnung verankert ist, dass eine Entfremdung zwischen den
Streitkräften und der Zivilbevölkerung nicht zu befürchten ist. Außerdem gilt es zu
zeigen, dass diese Verankerung nicht auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass die
Bundeswehr auf Wehrpflichtige zurückgreift.
Schließlich darf die gesellschaftliche Bedeutung des Zivildienstes bei der Diskussion
nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn die Subalternität des Zivildienstes
hinreichend dargelegt wurde.
Die heutige Bundeswehr hat mit der damaligen „Schwarzen Reichswehr“ 511 der
Weimarer Zeit nichts gemein, da sie eben nicht der Kontrolle des Parlamentes
entzogen ist. Statt dessen bestimmt Art. 87a I 2 GG, dass sich die zahlenmäßige
Stärke der Streitkräfte aus dem Haushaltsplan ergeben muss, obwohl es dieser Norm
512
aufgrund der Vorschrift aus Art. 110 GG gar nicht bedurft hätte . Der
Verfassungsgesetzgeber hat damit aber unmissverständlich zum Ausdruck bringen
wollen, dass eine „Parlamentarisierung der Militärgewalt“513 stattfinden soll514 und
die Bestimmung der Stärke und der Gliederung dem Bundestag anheim gegeben
ist515.
Sowohl der Spannungs- (Art. 80a I 2 GG) als auch der Verteidigungsfall (Art. 115a I
2 GG) wird vom Bundestag durch eine Mehrheit von zwei Dritteln festgestellt.
Dadurch ist einem Missbrauch der Streitkräfte von Staats wegen vorgebeugt.
Während der Weimarer Zeit hatte der Reichpräsident, also eine dem Parlament
entzogene Person, zugleich den Oberbefehl über die Reichswehr (Art. 47 WRV).
511
Model/ Müller, GG, Art. 87a Rn. 1.
512
Hernekamp, in: v. Münch/ Kunig, GGK III, Art. 87a Rn. 9.
513
Baldus, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, GG, Art. 87a Rn. 19.
514
Vgl. BVerwGE 15, 63 (65).
515
Meyer-Dalheuer, DVBl. 1957, 185 (187); Brenner/ Hahn, JuS 2001, 729 (730).
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 75
516
Der BMV darf während seiner Amtszeit kein weiteres besoldetes Amt bekleiden, also auch kein
aktiver Soldat sein; Raap, JuS 1996, 980 (981).
517
Raap, JuS 1996, 980 (981).
518
Meyer-Dalheuer, DVBl. 1957, 185 (186).
519
Hahn, DVBl. 1960, 409 (414).
520
BGBl. I, 775.
521
BVerfGE 108, 34 (44); vgl. Brenner/ Hahn, JuS 2001, 729.
522
So etwa Roemer, JZ 1956, 193 (196).
523
Brenner/ Hahn, JuS 2001, 729 (733).
524
Brenner/ Hahn, JuS 2001, 729 (730); Schroeder, JuS 1995, 398 (405).
525
Zippelius/ Würtenberger, DtStaatsR, § 51 II 2 a.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 76
Der Verfassungsgesetzgeber hat der Fehler der Weimarer Republik gedacht und sah
eine besondere Bedeutung in der Verbindung zwischen den Streitkräften und der
Gesellschaft. Es galt dem Weimarer „Staat im Staate“ vorzubeugen und Regelungen
zu finden, die es ermöglichten, auch dem Soldaten völlige Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben zu gewähren.
526
Finckh, Problematik Wehrpflicht, S. 7.
527
Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 74.
528
Dürig, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 17a Rn. 4.
529
Rauball, in: v. Münch/ Kunig, GGK I, Art. 17a Rn. 13; Fröhler, Wehrverfassung, S. 227.
530
Leisner, DVBl. 1960, 617 (623).
531
Ablehnend v. d. Heydte, Wehrverfassung, S. 205.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 77
ermöglicht wird. Dieses Motiv führt zu dem Gedanken, dass die demokratische
Grundordnung auch innerhalb der Streitkräfte zu verwirklichen gelingt. Das
bedingungslose „Befehls-Gehorsams-Schema“ wird durchbrochen von dem
mitdenkenden Soldaten. Zwar ist ein Befehl eines Vorgesetzten unmittelbar bindend,
aber nur solange er die Menschenwürde achtet und nicht gegen das Gesetz verstößt
(§ 11 SG)532. Der mitdenkende Soldat entwickelt somit die Idee der Inneren Führung,
die dem Soldaten das Friedensziel des demokratischen Rechtsstaates verinnerlichen
soll und sein handeln dahingehend ausrichtet 533 . Die Idee des Staatsbürgers in
Uniform ist nicht an eine Wehrpflichtarmee gebunden, da diese Einengung eine
Diskriminierung der Zeit- und Berufssoldaten nach sich zöge534. Für die Wehrpflicht
gilt allerdings: „Zwang ist keine Integration“535. Insofern ist die Entstehung eines
Staates im Staate nicht zu befürchten536.
Vielfach wird vorgebracht „über die allgemeine Wehrpflicht kommt die gesamte
Bandbreite schulischer und beruflicher Qualifikationen unserer Gesellschaft in die
Streitkräfte“ 537 . Insbesondere ist der Frage nachzugehen, ob die Bundeswehr ein
Spiegelbild der Gesellschaft darstellt; einzig dann kann von der Wehrpflicht als
Regulativ gesprochen werden, die Sorge trägt, dass die Bundeswehr nicht zum Staat
im Staate wird.
Diese Bedingung erfüllt die Bundeswehr jedoch nicht. Die weibliche Bevölkerung ist
aus der Gruppe der wehrpflichtigen Soldaten gänzlich ausgeschlossen. Insofern ist
ihre Repräsentanz nicht gegeben und der Anteil freiwilliger Soldatinnen beschränkt.
Der wehrpflichtige Soldat ist zur Zeit seines Ableistens des Grundwehrdienstes
zwischen 18 und 23 Jahre alt. Insofern repräsentieren die Wehrpflichtigen innerhalb
der Bundeswehr diesen Altersbereich überwiegend. Aber auch die
Tauglichkeitskriterien, die zwar aus militärischen Effizienzgründen durchaus legitim
sind, führen dazu, dass eine Selektion stattfindet. Junge Männer mit Behinderungen
532
Ausführlich Schwenck, BwG IV, S. 67 ff.
533
Vgl. Frank, in: AK-GG, nach Art. 87 Rn. 75.
534
Steinlechenr, WPflG, Vorbem Rn. 66.
535
v. d. Heydte, Wehrverfassung, S. 191.
536
Fröhler, Wehrverfassungsrecht, S. 276.
537
BMVg, Wehrpflicht im 21. Jahrhundert, S. 16.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 78
538
Vgl. Kozielski, Die Bundeswehr, S. 9 ff.
539
Schaprian, Transformation, S. 19; Kozielski, Die Bundeswehr, S. 14.
540
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht.
541
Kohr, Orientierungsmuster, S. 22.
542
Kozielski, Die Bundeswehr, S. 29 ff.
543
So auch Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, S. 184 f.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 79
Zudem stellte Szvircsev Tresch in seiner Dissertation heraus, dass ethnische oder
sprachliche Minderheiten generell in den deutschen Streitkräften „ziemlich
unterrepräsentiert“ sind546.
Aber auch hinsichtlich der Bildung sind Differenzierungen zu erkennen.
Berechnungen des DIW 547 haben ergeben, dass die Mehrheit der Männer mit
Hauptschulabschluss Wehrdienst (47%) und nur wenige Zivildienst (9%) leisten.
Heranwachsende mit Abitur hingegen erfüllen ihre Pflicht besonders häufig durch
den Zivildienst (29%). Somit scheint auch die schulische Bildung die Wahl des
Dienstes zu beeinflussen 548 . Aber auch ein weiteres Problem ist festzustellen:
Während 44 Prozent der Hauptschüler und der gleiche Anteil Realschüler von
jeglichem Dienst „verschont“ bleibt, sind dies bei Gymnasiasten lediglich 31 Prozent.
Insofern ist ein Gefälle zu erkennen, das zeigt, dass Abiturienten in besonderem
Maße betroffen sind. Dies ist am ehesten dadurch zu erklären, dass Haupt- und
Realschüler nach ihrem Abschluss die Volljährigkeit noch nicht erreicht haben und
an den Schulabschluss anschließend eine Ausbildung beginnen. Dies bewirkt eine
Zurückstellung bis Ausbildungsende. Nach Beendigung der Ausbildung sieht das
Kreiswehrersatzamt entweder aufgrund des Alters von einer Einberufung ab oder der
Auszubildende tritt in ein Beschäftigungsverhältnis, das die
Unabkömmlichkeitsstellung zur Folge haben könnte. Abiturienten hingegen treten
ihren Dienst in den meisten Fällen gleich nach ihrem Schulabschluss an.
544
Kozielski, Die Bundeswehr, S. 26.
545
B. Meyer, Dauerkontroverse Wehrpflicht, S. 30.
546
Vgl. Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, Tabelle 8.9 (S. 187).
547
Schneider/ Trabold, Berufsarmee statt Wehrpflicht.
548
Ebenso bereits Fleckenstein/ Schössler, BKonF 2/ 1973, 31 (59); Kuhlmann/ Lippert,
Kriegsdienstverweigerung, S. 17; Kozielski, Die Bundeswehr, S. 15.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 80
Ferner kann festgestellt werden, dass aus den neuen Bundesländern weniger
Zivildienstleistende kommen als aus den alten Bundesländern549.
Die Wahl des Dienstes ist indes nicht ausschließlich eine ideelle Entscheidung.
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass das Individuum, wenn es schon
gezwungen ist, einen Dienst zu verrichten, versucht ist, seinen Nutzen in Bezug auf
seine Ausbildung zu maximieren 550 . Wenn also einer der Dienste ökonomisch
sinnvoller erscheint, so wird, unabhängig von der ideellen Überzeugung, stets dieser,
materiell ergiebigere Dienst gewählt. Hinsichtlich des Wehr- und Zivildienstes
konnte Straubhaar 1999 jedoch keine monetären Vorteile eines Dienstes ausmachen.
Allerdings wirken die nicht-monetären Faktoren, wie Individualisierung,
551
Bequemlichkeit und Wohnortsnähe zugunsten des Zivildienstes . Dies trifft umso
mehr zu, als die Anpassung der Zivildienstdauer dieses Verhältnis in noch größerem
Maße verschoben haben dürfte.
Bartjes vergleicht bildlich die Wehrpflichtzeit mit einer Urlaubsreise, in der der
Zivildienst von einem „exotischen Reiseort“ zu einem „massentouristischen
Urlaubsziel“ geworden sei; während das Entscheidungsverhalten früher gründlich
vorbereitet wurde, wird heute im „Zeichen von last-minute-Flügen“ kurzfristig
entschieden, ohne sich zuvor näher mit dem jeweiligen Dienst auseinandergesetzt zu
haben 552 . Dennoch stellt auch er wichtige Aspekte heraus, die über die Wahl,
entweder Wehrdienst oder Zivildienst zu leisten, entscheiden:
549
Kozielski, Die Bundeswehr, S. 15.
550
Straubhaar, Der Soldat als Ökonom, S. 7; vgl. Bartjes, Zivildienst, S. 169.
551
Straubhaar, aaO, S. 17.
552
Bartjes, Zivildienst, S. 101.
553
Ibid, S. 156.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 81
III. Wehrgerechtigkeit
Auch wenn diese Bewertung subjektiv und daher aus der Sicht derer,
die ihre Statistiken dagegen halten, widerlegbar ist, so akkumulieren
sich die vielen Einzelurteile über das Maß an Gerechtigkeit, das bei
der Einberufungspraxis waltet, zu einem wichtigen Aspekt im
gesellschaftlichen Meinungsbild über Wehrpflicht und
556
Bundeswehr.
Auch die Tatsache, dass Frauen nicht zum Wehrdienst herangezogen werden, mag
juristisch vertretbar, gesellschaftspolitisch hingegen zweifelhaft sein. Junge
Erwachsene sind mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass Frauen und Männer in
jeder Hinsicht gleichberechtigt sind. Im Falle der Wehrpflicht aber erfährt die
554
B. Meyer, Dauerkontroverse Wehrpflicht, S. 6.
555
Dass dem nicht so ist, wurde bereits in C III umfassend erläutert.
556
B. Meyer, aaO, S. 7.
557
VG Köln, Urt. v. 15.4.2005 – 8 K 8564/04, www.nrwe.de, Rn. 33.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 82
männliche Bevölkerung ein Abweichen von diesem Grundsatz. Dies ist in der
fortschreitenden Zeit ein steigendes Problem, dass die Akzeptanz der Wehrpflicht
nur für männliche Staatsbürger weiter schrumpfen lässt. Oftmals wird angeführt,
dass der Wehrdienst zwar eine Belastung und Benachteiligung junger Männer sei,
dies aber durch die „systematische Benachteiligungen“ von Frauen ausgeglichen
werde. So seien Frauen insbesondere durch Kinderaufzucht, pflegerische Betreuung
und beruflicher Unterprivilegierung benachteiligt 558 . Es ist aber nachzuprüfen, ob
denn tatsächlich eine „systematische Benachteiligung“ von Frauen vorliegt.
Zumindest auf die verfassungsrechtliche Erörterung sei auf das oben gesagte
verwiesen.
Bei der gesellschaftlichen Abhandlung der Problematik sollte dennoch auch der
Vorteile des Zivildienstes bedacht werden.
Unzweifelhaft nimmt der Zivildienst in einer Zeit ohne ernsthafte militärische
Bedrohung eine wesentlich bedeutendere Position ein als der Wehrdienst. Der
Zivildienst ist nicht lediglich Erfüllung der Wehrpflicht, sondern nimmt mit der
Wehrpflicht eine gleichwertige Rolle ein 560 . In einer Gesellschaft, in der der,
aufgrund des demographischen Wandels, immerfort wachsende Anteil älterer
Menschen der sozialen Pflege bedarf, kompensieren Zivildienstleistende die
fehlenden Arbeitskräfte innerhalb des sozialen Dienstleistungsbereiches.
558
Seifert, Frauen und Militär, S. 14.
559
B. Meyer, Wehrpflicht am Ende, S. 2.
560
Beher et al., Zivildienst und Arbeitsmarkt, S. 128.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 83
Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn suggeriert wird, der soziale Markt bräche
zusammen, wenn der soziale Sektor auf die Arbeit Zivildienstleistender verzichten
müsste 562 . Zivildienstleistende sind jedoch arbeitsmarktneutral einzusetzen (§ 4
ZDG) 563 . Insbesondere dürfen durch die Beschäftigung von Zivildienstleistenden
keine regulären Arbeitsplätze ersetzt oder verhindert werden. Dass diese
Arbeitsmarktneutralität in dieser generellen Form nicht mehr gegeben ist, hat eine
Studie im Auftrag des BMFSFJ ergeben. Demzufolge sind insbesondere zwei
Tätigkeitsgruppen zu unterscheiden: (1) Der Einsatz Zivildienstleistender im Bereich
der stationären und ambulanten Pflegedienste und (2) der Einsatz im Bereich des
Rettungsdienstes.
Im Falle der stationären und ambulanten Pflegedienste würde ein Wegfall des
Zivildienstes nicht zu einer existenzbedrohenden Situation der Dienststellen führen,
sondern lediglich Einschränkungen der Qualität nach sich ziehen. Dies liegt
insbesondere daran, dass der Kern des Pflegeversicherungsgesetzes durch Fachkräfte
abgedeckt wird und Zivildienstleistende Hilfs- und Unterstützungsleistungen erfüllen,
die durch die Sozialversicherung eben nicht erbracht werden. Eine Abschaffung des
Zivildienstes innerhalb dieses Bereichs würde überwiegend zu einer Mehrbelastung
des hauptberuflichen Personals führen.564
Eine andere Situation ergibt sich allerdings im Bereich der Rettungsdienste.
Zivildienstleistende verrichten in diesem Bereich keine zusätzliche Arbeit, sondern
sind voll integrierter Bestandteil der Rettungswachen. Insofern fungiert der
Zivildienst teilweise als „Arbeitsmarktneutralisierer“, indem er Arbeitsplätze
verhindert.565 Auch die Diakonie äußert sich ähnlich, indem sie feststellt, dass der
Einsatz von Zivildienstleistenden immer weniger „zusätzlich“ erfolgt und die
„Koalition von Gesetzgeber, Kostenträgern und Verbänden bzw. Einrichtungen der
561
Kuhlmann/ Lippert, Kriegsdienstverweigerung, S. 10 f.
562
Vgl. Schaprian, Transformation, S. 20.
563
Kritisch dazu Kuhlmann/ Lippert, Kriegsdienstverweigerung, S. 11, die postulieren, dass ein
Verstoß gegen das Gebot der Arbeitsmarktneutralität vom BAZ schwerlich nachzuweisen sei.
564
Beher et al., Zivildienst und Arbeitsmarkt, S. 335 ff.
565
Beher et al., Zivildienst und Arbeitsmarkt, S. 581 ff.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 84
566
Diakonie, Zukunft Zivildienst, S. 3 f.
567
Bartjes, Zivildienst, S. 34 f.
568
Ibid, S. 136.
569
Ibid, S. 144 ff.
570
Ibid, S. 164 ff.
571
Diakonie, Zukunft Zivildienst, S. 3.
572
Beher et al., Zivildienst und Arbeitsmarkt, S. 235.
573
In diesem Zusammenhang spricht K. Ipsen, ZRP 2001, 469 (471), von einem unwiederbringlichen
Verlust, der den Männern durch die Wehrpflicht entsteht.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 85
1. Allgemeine Dienstpflicht
574
Drieschner, Zeit.de v. 23.04.2004.
575
Bartjes, Zivildienst, S. 148.
576
Beher et al., Zivildienst und Arbeitsmarkt, S. 233.
577
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 7.
578
Die Zeit 29/ 1996 v. 12.07.1996.
579
Siehe BVerfGE 74, 102 (116).
580
Siehe die Antwort auf Tönnies’ Beitrag von Kleine-Brockhoff, Die Zeit 31/ 1996 v. 26.07.1996.
581
Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 86
Wie aber steht die Öffentlichkeit zu der Frage, ob die Wehrpflicht ausgesetzt werden
sollte? Dabei sind sowohl die Positionen der Parteien, verschiedener Institutionen,
als auch und vor allem die Meinung der Bürger selbst entscheidend.
1. Parteien
Bei der Betrachtung der Positionen der Parteien, sind nur die im Bundestag
vertretenen Parteien zu beachten, da das politische Gewicht anderer Parteien so
gering ist, dass es keine hinlängliche Größe zur Beurteilung der Fragestellung bietet.
Die SPD bildet einen Sonderfall in der Diskussion, da sie am 28. Oktober 2007 ein
gänzlich neues Modell vorgestellt hat. Bisher zählte auch die SPD, mit Ausnahme
der innerparteilichen Linken, zu den traditionellen Befürwortern der Wehrpflicht. So
bekennt sie sich im Koalitionsvertrag mit der CDU noch zur Wehrpflicht584.
582
CDU, Grundsatzprogramm 2007, S. 110.
583
So z.B. Jens Spahn (MdB) im Interview mit dem Hamburger Abendblatt v. 01.11.2006.
584
CDU/ SPD, Koalitionsvertrag 2005, S. 154.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 87
Auf dem Hamburger Parteitag beschloss sie aber eine „Fortentwicklung der
Wehrpflicht“585. Der Beschluss dazu lautet wie folgt:
Dies ist der Ausdruck einer persönlichen Entscheidung, sich für die
Gesellschaft und für das Gemeinwohl zu engagieren. Dazu wollen
wir die Attraktivität dieses freiwilligen Wehrdienstes steigern (z. B.
über eine Ausweitung der FWDLer) und über ein Bonussystem
positive Anreize setzen, etwa durch die Anrechnung von Dienst- auf
Ausbildungszeiten und andere Vergünstigungen.
Die SPD hat den sicherheitspolitischen Wandel erkannt und versucht nun einen Weg
zu finden, das Problem Wehrpflicht elegant zu umgehen, indem versucht werden soll,
den Bedarf an Soldaten auf freiwilliger Basis zu decken, aber die bisherigen
wehrerfassungstechnischen Elemente zu erhalten, um im Falle einer Nichtdeckung
auf die immer noch Wehrpflichtigen zurückgreifen zu können. Dieses neue Modell
schlug sich als „freiwillige Wehrpflicht“587 in der Presse nieder und löste teils heftige
Kontroversen im politischen Gefüge aus.
Indes ist aber zu beachten, dass das vorgestellte Modell der SPD einer
verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhält. Das Problem dürfte darin liegen,
dass nur ein auserwählter Teil der Wehrpflichtigen einberufen würde, falls der
Bedarf nicht durch die gewünschte Freiwilligkeit gedeckt werden kann. Welche
Kriterien sollten aber herhalten, um zu entscheiden, wer einberufen wird und wer
nicht? Die Wehrgerechtigkeit würde an dieser Stelle scheitern und das Modell würde
aufgrund der Unvereinbarkeit mit Art. 3 I GG nichtig. Letztlich ist der Vorschlag der
SPD gar nicht neu, denn die Kommission „Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der
585
SPD, Grundsatzprogramm 2007, S. 26.
586
SPD, Parteitag HH 2007, Antrag A 7.
587
So z.B. Löwenstein, FAZ v. 18.08.2007 Nr. 191, S. 4.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 88
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN lehnen den Wehr- und den damit verbundenen
Zivildienst ab. Sie empfinden die Wehrpflicht als nicht mehr legitimierbaren Eingriff
in die Grundrechte der Bürger. In der Partei bedeutet Friedenspolitik zudem eine
Verkleinerung der Streitkräfte.591
Während ihrer Regierungszeit (1998–2005) zusammen mit der SPD wurde ein
Abweichen von der Wehrpflicht jedoch unterlassen. Im Koalitionsvertrag hieß es
lediglich:
588
Weizsäcker-Kommission, S. 65 f.
589
Weizsäcker-Kommission abwM, S. 150 f.
590
Noll, dw-world.de v. 22.08.2007.
591
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, Grundsatzprogramm 2002, S. 162.
592
SPD/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Koalitionsvertrag 1998, Kap. XI Nr. 9.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 89
Auch die FDP verlangt die Aussetzung der Wehrpflicht und fordert stattdessen die
Aufstellung einer Berufsarmee. Sie vertritt die Meinung, dass eine Wehrpflichtarmee
nicht mehr erforderlich sei und von unseren Verbündeten nicht gefordert werde.
Stattdessen solle eine Verkleinerung der Streitkräfte und eine Steigerung der
Attraktivität angestrebt werden, sodass sich „leistungsstarke junge Menschen in
ausreichender Zahl freiwillig für den Dienst in den Streitkräften entscheiden“ 595 .
Dies war jedoch nicht der einzige Antrag, den die Fraktion gestellt hat. Schon seit
Jahren fordert sie die Aussetzung der Wehrpflicht596.
e) DIE LINKE
DIE LINKE fordert eine gänzliche Abschaffung der Wehrpflicht. Darüber hinaus
streben sie aber eine enorme Verkleinerung der Bundeswehr an und fordern eine
erhebliche Absenkung der Verteidigungsausgaben597. Sie vertritt die Meinung, dass
eine aus 100.000 Mann bestehende Berufs- und Freiwilligenarmee ausreichend sei.
Der Anteil der Zeitsoldaten solle aber hingegen erhöht werden.598
593
BT-Drs. 16/6393.
594
BT-Drs. 16/7432.
595
BT-Drs. 16/393.
596
BT-Drs. 15/4178; 15/1357; 14/4256.
597
BT-Drs. 16/7315, S. 2.
598
DIE LINKE, Bundeswehr.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 90
2. Kirchen
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) lehnt die Wehrpflicht zwar nicht
konsequent ab, hält sie jedoch nur im Rahmen der Landesverteidigung legitim und
nur, solange „1. Gerechtigkeit bei der Heranziehung zum Wehrdienst, die auch so
empfunden werden kann, 2. eine Gestaltung des Wehrdienstes, die den
Wehrpflichtigen eine gute Ausbildung vermittelt, angemessene Ausrüstung
bereitstellt und das Bewusstsein gibt, gebraucht zu werden“ 600 vorherrscht. Die
Kammer fand zur Frage der Wehrpflicht keinen Konsens. Aus biblischer Sicht ist
nichts Schlechtes an der Wehrpflicht zu erkennen, solange es um das Leitbild des
„gerechten Friedens“ geht. Die internationalen Einsätze verschärfen allerdings die
Situation 601 . Die EKD spricht sich gegen eine Allgemeine Dienstpflicht aus.
Stattdessen fordert sie Freiwilligendienste als Alternative, da diese „einem Grundsatz
602
protestantische Ethik“ entsprechen . Die Wehrpflicht scheitere jedoch am
Grundsatz der Wehrgerechtigkeit, weshalb eine Transformation der Bundeswehr in
eine Freiwilligenarmee konsequent wäre603. Zudem unterstützen viele evangelische
Unterorganisationen die Zentralstelle für Recht und Schutz der
Kriegsdienstverweigerer (KDV) 604 , die ihrerseits die Abschaffung der Wehrpflicht
fordert.
Auch die Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der
Kriegsdienstverweigerer (EAK) lehnt eine allgemeine Dienstpflicht ab, da solch eine
Pflicht die Anerkennung und Qualifizierung professionell in der Pflege tätiger
Personen verhindert und verantwortlichem Engagement entgegenwirkt605.
599
Schriftliche Stellungnahme vom 14. November 2008 im Anhang.
600
EKD, Gottes Frieden, Nr. 155 (S. 98 f.).
601
Pausch, Zur Sache.BW 8/ 2005, 10 (13 f.).
602
EKD, Freiheit und Dienst, S. 10.
603
Tagesspiegel.de v. 31.08.2007, im Internet:
http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Wehrpflicht;art122,2370229 (Stand: 14.09.2008).
604
Siehe im Internet: http://www.zentralstelle-kdv.de/z.php?ID=55 (Stand: 14.09.2008).
605
EAK-Stellungnahme v. 13.06.2002.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 91
Die Katholische Kirche bezieht keine eindeutige Stellung bezüglich der Wehrpflicht.
Die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) hat sich aber dafür ausgesprochen, die
607
Entwicklung der Wehrpflicht zu verfolgen . Angesichts der abnehmenden
Wehrgerechtigkeit hat sie aber Forderungen gestellt, diese wieder herzustellen und
insbesondere das Recht der Kriegsdienstverweigerer in Zeiten zunehmender
ausländischer Einsätze zu stärken608.
Die Katholische Kirche führt aus, dass die Wehrpflicht in ihrem Sinne einen Eingriff
in die Freiheits- und Grundrechte junger Männer darstellt und nur solange
aufrechterhalten werden könne, solange sie notwendig erscheint609. Insbesondere die
fehlende Wehrgerechtigkeit wird bemängelt, da diese lediglich formaljuristisch
existiere und bezweifelt werden kann, dass überhaupt noch von einer allgemeinen
Wehrpflicht gesprochen werden könne 610 . Gleichzeitig werden jedoch Zweifel
geäußert, ob durch die Abschaffung der Wehrpflicht eine Distanz zwischen
Gesellschaft und Streitkräfte stattfinden könnte 611 . Kritisch wird jedoch die
Beibehaltung der Wehrpflicht unter der Prämisse des Zivildienstes gesehen: „Sie
spricht eher für die Reformbedürftigkeit unseres Sozialsystem als gegen die
Abschaffung der Wehrpflicht.“612
Aber auch innerhalb der Katholischen Kirche gibt es unterorganisierte
Friedensbewegungen, die die Abschaffung der Wehrpflicht fordern. So hat sich die
ebenfalls der Zentralstelle KDV angehörende Pax Christi gegen die Wehrpflicht
ausgesprochen613.
Eine besondere Bedeutung liegt indes in der Förderung von Freiwilligendiensten, die
sowohl junge als auch ältere Menschen ansprechen sollen 614 . Insbesondere die
Vielfalt der Dienste müsse gefördert werden, indem etwa die Ausweitung auf alle
606
Schreiben vom 17. November 2008 im Anhang.
607
Siehe z.B. im Internet: http://www.dbk.de/aktuell/meldungen/3179/index.html#II-1 (Stand:
14.09.2008).
608
katholisch.de v. 06.05.04, im Internet: http://www.katholische-kirche.de/10152.html (Stand:
14.09.2008).
609
DBK, Gerechter Friede, Nr. 146 (S. 82).
610
Justitia et Pax, Dienst am Frieden, S. 31 f.
611
DBK, aaO, Nr. 147 (S. 82).
612
Ibid, Nr. 149 (S. 83).
613
Im Internet: http://www.paxchristi.de/news/news.er.005293550ef00000/index.html (Stand:
14.09.2008).
614
Justitia et Pax, Dienst am Frieden, S. 24.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 92
3. Gewerkschaften
a) DGB
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich einst für die „Beibehaltung einer
reduzierten Wehrpflicht“ ausgesprochen 616 . Die DGB-Jugend fordert indes die
Abschaffung der Wehrpflicht. Sie argumentiert, die Wehrpflicht sei ungerecht und
die Abschaffung fördere neue Arbeitsplätze, da die Zivildienststelle für zwei
Zivildienstleistende 14.000 Euro pro Jahr aufbringen müsste, die für die
Finanzierung eines Ausbildungsplatzes ausreichend wären617.
b) ver.di
4. Wohlfahrtsverbände
615
Justitia et Pax, Dienst am Frieden, S. 43.
616
DGB, Sozialstaat, S. 99.
617
DGB-Jugend, Abschaffung der Wehrpflicht.
618
Debatte zu A 76, im Internet:
http://bundeskongress2007.verdi.de/antragsdebatte/bundeswehr/debatte_zu_a_76 (Stand: 14.09.2008).
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 93
Die AWO vertritt die Position, dass die Qualität der sozialen Dienste nicht vom
Zivildienst abhänge. Insofern würde der Markt für soziale Dienste nicht an Qualität
einbüßen oder gar zusammenbrechen, sollte es zur Aussetzung des Zivildienstes
kommen. Die AWO sieht durchaus die Möglichkeit, einen wegfallenden Zivildienst
durch eine verstärkte Förderung von Freiwilligendiensten aufzufangen.
Der DCV lehnt eine allgemeine Dienstpflicht ab und favorisiert vielmehr Formen des
bürgerschaftlichen Engagements, die auf der freien Entscheidung des Bürgers
beruhen. Aufgrund der abnehmenden Anzahl an Zivildienstleistenden, setzt der DCV
in verstärktem Maße Freiwillige ein, um die Qualität zu erhalten. Die Aussetzung des
Zivildienstes hätte nach Ansicht des DCV keinesfalls den Zusammenbruch der
sozialen Dienste zur Folge.
Das DRK lehnt eine allgemeine Dienstpflicht aus verfassungs- und völkerrechtlichen,
finanziellen und jugendpolitischen Gründen ab.
Nach Ansicht des DRK verrichten Zivildienstleistende unverzichtbare Aufgaben für
unsere Gesellschaft, die schwer ersetzbar seien. Ferner wirke das DRK bei der
619
Siehe Schreiben der BAGFW vom 10. März 2009 im Anhang.
620
Schriftliche Stellungnahme vom 27. März 2009 im Anhang.
621
Schriftliche Stellungnahme vom 12. März 2009 im Anhang.
622
Schriftliche Stellungnahme vom 24. März 2009 im Anhang.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 94
Der DPWV lehnt eine allgemeine Dienstpflicht als Zwangsdienst ab. Der Zivildienst
stelle in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, da er der rechtlich gebotene Ersatz für
den Wehrdienst ist. Problematisch seien außerdem das fehlende Interesse und die
Bereitstellung ausreichend vieler Dienstplätze.
Der DPWV vertritt die Ansicht, dass Zivildienstleistende wichtige Arbeiten
verrichten und diese dadurch erstmalig in Kontakt mit sozialen Diensten kommen.
Der Zivildienst stellt somit einen sinnvollen Lerndienst dar. Die Aussetzung des
Zivildienstes würde aber nach der Meinung des DPWV keine
„Katastrophe“ darstellen. Unabhängig von der Frage der Zukunft des Zivildienstes
steht der DPWV für die verstärkte Förderung von Freiwilligendiensten ein, ist
allerdings skeptisch zu der Annahme, dass der wegfallende Zivildienst durch
Freiwilligendienste aufgefangen werden kann.
Das DWEKD lehnt eine allgemeine Dienstpflicht aus vielerlei Gründen ab. Nach
Ansicht des DWEKD ist die Weiterentwicklung des Zivildienstes zum Lerndienst
durch das 3. Zivildienstgesetzänderungsgesetz zu begrüßen. Allerdings verdeutlicht
das DWEKD, dass der Zivildienst nicht als Entscheidungsgrundlage für die
623
Stellungnahme nach telefonischer Rücksprache mit Thomas Niermann vom 27. März 2009.
624
Schriftliche Stellungnahme vom 20. Mai 2009 im Anhang.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 95
Aussetzung bzw. Abschaffung der Wehrpflicht dienen kann und die Politik vor einer
„nicht gemachten Hausaufgabe“ steht, wenn die Dienstpflicht nicht als eine „gerecht
empfundene“ wahrgenommen wird.
Sollte es zur Abschaffung des Zivildienstes kommen, so müssten andere
Möglichkeiten für die Aufrechterhaltung der Lebensqualität der betreuten Menschen
gefunden werden. Freiwilligendienste stellen dabei eine, aber nicht die einzige
Option dar. Der Ausbau von Freiwilligendiensten ist dennoch eine Forderung des
DWEKD. Die Abschaffung des Zivildienstes würde allerdings eine gewisse
Übergangszeit erfordern.
5. Bevölkerung
Das gewichtigste Moment in der Debatte um das Für und Wider bei der Aussetzung
der Wehrpflicht, ist die Sicht der Bevölkerung. Die Regierung muss den Willen
seines Volkes wahren, da sie ein Abbild der Gesellschaft darstellen soll. Wie verhält
es sich aber mit der Zustimmung zur Wehrpflicht?
Das SWInstBW stellte in seiner Bevölkerungsbefragung 2008 fest, dass 47 Prozent
der Befragten der Forderung „Die Wehrpflicht sollte abgeschafft und die
Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee umgewandelt werden“ zustimmen 625 . Dies
bedeutet einen Anstieg um vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr (43%)626. Eine
SPIEGEL-Umfrage aus dem Jahr 2007 kam zu einem ähnlichen Ergebnis, wonach 45
Prozent der Befragten die Beibehaltung der Wehrpflicht ablehnten627. Auch sind vor
allem die Jüngeren und die besser Gebildeten kritischer in Bezug auf die
Wehrpflicht 628 . Der Vorschlag der SPD hat aber aktualisierte Umfrageergebnisse
hervorgebracht. Nach einer Emnid-Umfrage für den Nachrichtensender N24
befürworten 73 Prozent eben diesen Vorschlag der SPD und nur 23 Prozent lehnen
ihn ab. Sogar 55 Prozent der CDU/ CSU-Wähler stimmen der „freiwilligen
Wehrpflicht“ zu629. Ein ähnliches Ergebnis in der Verteilung konstatierte auch das
SWInstBW in 2007. Demnach stimmen 65 Prozent der Befragten für die
Beibehaltung der Wehrpflicht, mit der Einschränkung, dass zuvörderst Freiwillige
625
Bulmahn, Bevölkerungsbefragung 2008, S. 39.
626
Bulmahn et al., Bevölkerungsbefragung 2007, S. 139.
627
Szandar, Der Spiegel 18/ 2007, S. 42.
628
Bulmahn, Bevölkerungsbefragung 2008, S. 38.
629
Tagesspiegel.de v. 21.08.2007, im Internet:
http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Bundeswehr-SPD;art122,2362470 (Stand: 03.03.08).
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 96
rekrutiert werden sollen630. Dies zeigt wiederum, dass ein dogmatisches Festhalten
an der Wehrpflicht von der Bevölkerung nicht erwünscht ist. Der Bevölkerung geht
es nicht darum, die Wehrpflicht unangetastet aufrechtzuerhalten, sondern
konstruktive Verbesserungen zu realisieren.
Zudem sind die Positionen derer zu beachten, die unmittelbar betroffen sind. Eine
Umfrage der Jugendoffiziere der Bundeswehr im Jahr 2005 hat ergeben, dass „die
Wehrpflicht […] unter Schülern keine ausgeprägte Akzeptanz“ hat und diese
„Wehrform […] übereinstimmend in allen Schulformen als Auslaufmodell“ gilt.
Zudem wird berichtet, dass unter Jugendlichen die Fehleinschätzung vorherrscht, es
gäbe eine Wahlmöglichkeit zwischen Wehr- und Zivildienst und dass viele die
Meinung vertreten, „stillhalten [sei] besser […] als zu verweigern, da man dann
große Chancen [habe], nichts mehr vom Bund zu hören“631. Diese Ergebnisse werden
durch die Befragung der Jugendoffiziere von 2007 bestätigt. Demnach plädiert die
Mehrheit der Schülerinnen und Schülern für die Abschaffung der Wehrpflicht.
Insbesondere wird die fehlende Wehrgerechtigkeit bemängelt, da viele Schülerinnen
und Schüler nicht nachvollziehen können, dass „scheinbar gesunde Menschen
ausgemustert werden“. Erstaunlich ist zudem, dass den Befragten die Möglichkeit
der freiwilligen Verlängerung des Wehrdienstes weitgehend unbekannt ist.632
Eine Analyse von Kuhlmann und Lippert im Auftrag des Sozialwissenschaftlichen
Instituts der Bundeswehr hat 1993 ergeben:
Ein weiteres Ergebnis war jedoch, dass ein allgemeiner Gesellschaftsdienst nicht von
vornherein auf Ablehnung stoßen würde, sondern 1990 jeder zweite Bürger den
Sozialdienst wichtiger halte als den militärischen Dienst.
630
Bulmahn et al., Bevölkerungsbefragung 2007, S. 139.
631
Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr 2005, S. 14.
632
Jahresbericht der Jugendoffiziere der Bundeswehr 2007, S. 13.
633
Kuhlmann/ Lippert, Armee ohne Marschzahl, S. 13.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 97
Die Forderung nach einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen findet
auch heute noch durchaus Zustimmung. Dennoch ist der Anteil der Befürworter von
55 Prozent in 2006634 auf 48 Prozent in 2007635 gesunken.
VI. Ergebnis
634
Bulmahn/ Fiebig/ Sender, Bevölkerungsbefragung 2006, S. 135.
635
Bulmahn et al., Bevölkerungsbefragung 2007, S. 139.
636
Gabriel, Die Zeit 31/ 2003 v. 24.07.2003, S. 6.
E. Gesellschaftspolitische Betrachtung 98
Der internationale Weitblick macht besonders deutlich, dass die Aussetzung der
Wehrpflicht keinen deutschen Sonderweg darlegen würde, sondern eine Folgerung
des internationalen Trends bedeutet.
Dem Vergleich sind vor allem die Fakten europäischer Armeen, sowie die der
allianzgebundenen Streitkräfte zugrunde zu legen.
Dr. Tibor Szvircsev Tresch erkennt einen deutlich verlaufenden Trend hin zur
Aussetzung der Wehrpflicht in Europa und zeichnet insbesondere gesellschaftliche,
technologische, ökonomische und geostrategische Triebkräfte verantwortlich. Er
kommt, zu dem Ergebnis, dass die Freiwilligenstreitkraft im Jahr 2010 das
Standardwehrsystem Europas sein wird, insbesondere derer Staaten, dessen
Wehrpflichtrate unter 50 Prozent angesiedelt ist637. Alle Staaten die seit 1990 die
Wehrpflicht ausgesetzt haben, taten dies aus dem Status der „Pseudo“-Wehrpflicht,
sodass anzunehmen ist, dass weitere Entwicklungen in Richtung Freiwilligenarmee
insbesondere aus dieser Gruppe zu erwarten sind638. Szvircsev Tresch vertritt ferner
die Ansicht, der europäische Trend knüpfe an die „Entscheidung der USA von 1973,
vom Rekrutierungssystem der Draft abzurücken“ 639 an. Indizien für diesen Trend
findet er in dem seit Ende des Kalten Krieges rückläufigen Streitkräfteumfang und
in der negativen Veränderung der europäischen Wehrpflichtrate von 1993 bis 2003
um 55 Prozent640. Des Weiteren hat sich die Wehrdienstdauer in Europa seit dem
Ende des Kalten Krieges verringert, sodass die Existenz von Wehrpflichtstreitkräften
gefährdet ist641. Für Gesamteuropa lässt sich ferner ein Allianzeffekt feststellen, was
bedeutet, dass Staaten, die in ein inter- bzw. supranationales Allianzsystem
eingebunden sind, ihre Wehrpflichtrate senken oder die Wehrpflicht gänzlich
aussetzen642.
So entschlossen die USA bereits 1973 auf Empfehlung der Gates-Kommission von
1970 auf die Wehrpflicht zu verzichten. Die Kommission vertrat die Ansicht, dass
637
Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, S. 206.
638
Werkner, Allgemeine Trends, S. 29.
639
Szvircsev Tresch, aaO, S. 9.
640
Ibid, S. 117 ff; so auch Werkner, Allgemeine Trends, S. 27.
641
Werkner, Allgemeine Trends, S. 31.
642
Ibid, S. 16 ff.
F. Der internationale Vergleich 100
die All Volunteer Armed Forces die besser geeignete Wehrform sei, da keine
versteckten Kosten entstünden und nicht nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine
Steuer zu entrichten hätte, von der aber die gesamte Bevölkerung profitiert643.
In Europa folgten nach dem Ende des Kalten Krieges immer mehr Staaten: Belgien
entschloss sich am 31. Dezember 1993 für die Aussetzung der Wehrpflicht aus
Gründen der Wehrgerechtigkeit; Frankreich begann 1996 mit der Reform der
Streitkräfte und setzte die Wehrpflicht schließlich im Dezember 2001 aus. Auch in
Frankreich war besonders die fehlende Wehrgerechtigkeit, aber auch das Problem,
dass Wehrpflichtige nicht für Auslandseinsätze zur Verfügung standen,
ausschlaggebend. Stattdessen wurde der Service National und die Pflichtteilnahme
aller Jungen und Mädchen am Journée d’appel de préparation à la défense
eingeführt. Auf diese Weise soll die junge Bevölkerung für die Thematik der
Verteidigung sensibilisiert werden. Zudem wurde ein Attraktivitätsprogramm
eingerichtet. Großbritannien verfügt traditionell über eine Berufsarmee. Nur die
beiden Weltkriege unterbrachen diese Tradition und sorgten für die kurzzeitige
Einführung der Wehrpflicht. In Italien wurde die Aussetzung der Wehrpflicht am 14.
November 2000 verkündet. Seit 2005 rekrutiert die italienische Armee lediglich
Freiwillige. Auch in Italien spielte die sinkende Wehrgerechtigkeit, aber auch das
Ende des Kalten Krieges und stärkere Spezialisierungserfordernisse eine bedeutende
Rolle bei der Diskussion um die Aussetzung der Wehrpflicht. Die Niederlande
beriefen am 1. August 1997 die letzten Wehrpflichtigen ein. Grund war vor allem die
veränderte sicherheitspolitische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges. Portugal
schlug den gleichen Weg ein und verfügt seit 2004 über eine reine
Freiwilligenstreitkraft. Spanien rekrutiert seit 2002 keine Wehrpflichtigen mehr.644
Als Mitgliedsstaaten der NATO unterhalten auch Kanada, Luxemburg, Tschechien,
Ungarn, Bulgarien, Lettland, Rumänien, die Slowakei und Slowenien
Freiwilligenstreitkräfte. Polen hat letztmalig Ende 2008 Wehrpflichtige einberufen.
Seit Juni 2009 unterhält auch Litauen eine Freiwilligenstreitkraft. Der neue
Mitgliedsstaat Albanien plant die Wehrpflicht 2010 auszusetzen.
Dänemark ist ein Sonderfall in der Diskussion: Dänemark hält zwar an der
Wehrpflicht fest, versucht aber ihren Bedarf über Freiwillige zu decken. Falls sich
nicht genügend Freiwillige melden, wird per Los über die Einberufung
643
vgl. Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, S. 31 f.
644
Burmeister, Hat die Wehrpflicht eine Zukunft, S. 13 ff.
F. Der internationale Vergleich 101
Allerdings muss auch bedacht werden, dass das Ziel eines europäischen
Sicherheitssystems, so wie es in Maastricht vereinbart wurde, eine Europäische
Armee induziert. Diese „kann langfristig nicht aus Soldaten zusammengesetzt sein,
die aus unterschiedlichen Streitkräftestrukturen kommen. Die Europäische Armee
wird deshalb voraussichtlich eine Freiwilligen Armee sein.“650
645
Kalnoky, Welt-Online v. 07.10.2008.
646
NATO, Handbuch, S. 183.
647
Szvircsev Tresch, Europas Streitkräfte, S. 204.
648
Werkner, Allgemeine Trends, S. 13.
649
Ibid, S. 39.
650
Schaprian, Transformation, S. 23.
F. Der internationale Vergleich 102
Die Aussetzung der Wehrpflicht und des Zivildienstes muss die unmittelbare Folge
aus den oben genannten Gründen sein. Andere Pflichtdienste, wie ein allgemeines
soziales Jahr, sind, wie dargelegt, kein adäquates Mittel, um den Übergang von der
Wehrpflicht- zur Freiwilligenstreitkraft zu realisieren. Stattdessen müssen
Alternativen gefunden werden, die zudem den Prinzipien der Demokratie
entsprechen.
Das freiwillige bürgerschaftliche Engagement muss an die Stelle eines den jungen
Bürger verpflichtenden Dienstes treten. Das Ehrenamt muss wieder mehr in den
Vordergrund aller politischen Diskussion gerückt werden.
Der Begriff des Lernens wird längst nicht mehr ausschließlich mit
Wissenserwerb und rein schulischem Lernen verbunden. Für die
Persönlichkeitsentwicklung können informelles und soziales Lernen
einen sehr viel wichtigeren Beitrag leisten. Hervorzuheben ist auch
die größere Intensität selbst motivierten Lernens, wie es Erfahrungen
im freiwilligen Engagement ermöglichen.654
651
Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22 (28).
652
Enquete-Kommission, Bürgerschaftliches Engagement, S. 33; [Hervorhebung des Verfassers].
653
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 18.
654
Gensicke/ Picot/ Geiss, Freiwilliges Engagement, S. 249.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 104
655
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 38.
656
Evers/ Olk, APuZ B 9/ 2002, 6.
657
Kommission Impulse, aaO, S. 8.
658
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 19 f.
659
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 30.
660
Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22 (29); [Hervorhebung des Verfassers].
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 105
ganztägige Tätigkeit, die zwischen 6 und 18 Monate dauert, wobei 2/3 der
Teilnehmer den Dienst volle 12 Monate leisten. Abgebrochen wird der Dienst meist
661
nur aufgrund der Zusage eines Ausbildungs- oder Studienplatzes.
Freiwilligendienste erfolgen ohne Gewinnerzielungsabsicht, sondern gewähren ein
Taschengeld im Sinne einer Kostenerstattung662.
661
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 80 ff.
662
Ibid, S. 53.
663
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 104.
664
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 59, befürworten jedoch die Eingrenzung der
Freiwilligendienste wegen ihres Bildungscharakters auf junge Menschen.
665
Alt et al., GüF, S. 65.
666
Siehe E IV.
667
Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22 (24).
668
BT-Drs. 16/11605, S. 4.
669
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 169.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 106
der Freiwilligendienste670. Ohne eine Begleitung der Freiwilligen könnte dies schnell
671
zu Überforderungen und Frustrationen führen . Die Relevanz der
sozialpädagogischen Begleitung zeigte sich vor allem im Freiwilligen Sozialen
Trainingsjahr (FSTJ):
670
Vgl. Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 61; Alt et al., GüF, S. 67.
671
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 31.
672
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 61.
673
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 125; so auch 92% im GüF Alt et al., GüF, S.
79.
674
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 144 ff.
675
Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22.
676
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 165.
677
Alt et al., GüF, S. 17.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 107
Die Gruppe der 16–25-Jährigen leistete ihren Dienst im Durchschnitt neun Monate.
Die positiven Erfahrungen sowohl mit den Jugendfreiwilligendiensten FSJ bzw. FÖJ
und dem Modellprogramm Generationsübergreifender Freiwilligendienst zeigt, dass
durch Freiwilligendienste das „soziale Kapital“ enorm gesteigert wird679.
Die Gruppe der Jugendlichen zwischen 14 und 24 Jahren ist eine der öffentlich
aktivsten Gruppen der Bevölkerung680. Auch im Modellprogramm GüF stellten die
16–25-Jährigen mit 22 Prozent die am stärksten vertretene Gruppe681. Nach Angaben
der Bundesregierung steigt die Nachfrage von Freiwilligendiensten kontinuierlich.
Im Jahre 1993 haben rund 7.100 Jugendliche ein FSJ geleistet; 2008 waren es
hingegen 18.600 junge Menschen, die entweder ein FSJ oder ein FÖJ abgeleistet
haben682. Die Statistiken683 des BAZ zeigen ebenfalls, dass die Bereitschaft für die
Ableistung von Freiwilligendiensten nach § 14c ZDG kontinuierlich gestiegen ist. Im
Jahr 2005 haben insgesamt 3.887 anerkannte Kriegsdienstverweigerer einen
derartigen Dienst geleistet; 2007 waren es hingegen schon 5.740 Zivildienstpflichtige,
die sich für einen Freiwilligendienst entschieden haben. Der Anteil der Absolventen
684
eines EFD-Projektes ist ebenfalls seit Jahren steigend . 2,6 Prozent der
Jugendlichen eines Freiwilligenjahrganges leisten einen Freiwilligendienst. Das
Potential ist also durchaus zu erkennen und könnte 34.000 Freiwillige für ein FSJ
und 4.000 Freiwillige für ein FÖJ erreichen 685 . Dass sich die Zuwachsraten der
letzten Jahre abgeschwächt haben, bringt vor allem zum Ausdruck, dass die
Erhöhung der angebotenen Plätze stagniert 686 . Die Anzahl der Bewerbungen um
einen Freiwilligendienstplatz übersteigt die Anzahl der verfügbaren Plätze bei
weitem, sodass nicht allen Interessierten ein Platz zur Verfügung gestellt werden
678
Alt et al., GüF, S. 45.
679
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 18.
680
BMFSFJ, Stellungnahme, S. 2; vgl. Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 48 ff.
681
Alt et al., GüF, S. 23.
682
BMFSFJ, Für mich und für andere, S. 8; siehe auch Tabellen bei BMFSFJ, FSJ/ FÖJ, S. 2 und
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 26 Abb. 2.
683
BAZ, Dienstantritte im FSJ/ FÖJ.
684
BT-Drs. 16/10542, S. 2.
685
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 128.
686
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 27.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 108
kann687. Dabei sollte ein Freiwilligendienst von allen Interessierten einmal im Leben
abgeleistet werden können688.
Insbesondere durch den § 14c ZDG sind Probleme entstanden. Einzig FSJ/ FÖJ-
Stellen, auf denen Kriegsdienstverweigerer nach § 14c ZDG eingesetzt werden,
werden finanziell in weit größerem Umfang gefördert. Insofern besteht die Gefahr,
dass Dienststellen aufgrund der höheren finanziellen Zuschüsse bevorzugt
anerkannten Kriegsdienstverweigerern einen Freiwilligendienstplatz zur Verfügung
stellen689. Diese Entwicklung ist insbesondere im Rettungsdienst690 und im Bereich
691
„Sport“ zu beobachten, sodass junge Frauen und nicht anerkannte
Kriegsdienstverweigerer vermehrt Schwierigkeiten haben, ihren Freiwilligendienst in
diesen Einsatzfeldern abzuleisten. Insofern ist die derzeitige Bezuschussung durch
das BAZ kontraindiziert. Jakob und Rauschenbach/ Liebig bemängeln außerdem,
dass ein Dienst nach § 14c ZDG keinen Freiwilligendienst darstellt, da er aufs Engste
mit der Wehrpflicht verknüpft ist. Dies bestätigt letztlich auch die Evaluation des
ISG, demnach für 67 Prozent der anerkannten Kriegdienstverweigerer der
Freiwilligendienst nach § 14c ZDG Erfüllung der Wehrpflicht ist692.
687
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 128.
688
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 61.
689
Jakob, APuZ B 9/ 2002, 2 (26); Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 47.
690
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 116.
691
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 98.
692
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 148.
693
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 61; Kommission Impulse, Perspektiven, S. 8.
694
GMBl. 2003, 290.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 109
Mio. Euro für die Förderung von FSJ und FÖJ eingeplant695. Je nach Bundesland
bekommen die Träger weitere Zuschüsse 696 . Einzig bei Freiwilligen, die ihren
Freiwilligendienst aufgrund § 14c ZDG ableisten, erhalten die Einsatzstellen
aufgrund des § 14c IV ZDG i.V.m. § 3 II KDVZuschV nachträglich einen Zuschuss
von 421,50 Euro monatlich pro Teilnehmer für die pädagogische Begleitung, ein
697
angemessenes Taschengeld und die Sozialversicherungsbeiträge .
Dementsprechend ist das Taschengeld bei Freiwilligen nach § 14c ZDG meist höher
als bei weiblichen Freiwilligen oder nicht anerkannten Kriegsdienstverweigerern698.
Die Bundesregierung gibt an, ihr fehle die gesetzliche Grundlage um
Freiwilligendienstplätze, die nicht aufgrund § 14c IV ZDG durch Haushaltsmittel des
BAZ bezuschusst werden, vermehrt zu fördern 699 . Der Andere Dienst im Ausland
(ADiA) nach § 14b ZDG erfährt gar keine finanzielle Unterstützung700. Stellt man
die Aufwendungen des BMFSFJ für Freiwilligendienste (19,2 Mio. Euro) und den
Zivildienst (615 Mio. Euro) gegenüber, wird die Relevanz der Förderung freiwilligen
Engagements ersichtlich.
Aus dieser momentanen defizitären finanziellen Förderung von Freiwilligendiensten
durch den Bund ergibt sich ein besonderes Interesse, Freiwilligendienste vor allem
für die Träger attraktiv zu gestalten, damit diese ausreichend viele
Freiwilligendienstplätze anbieten können. Dieses Problemfeld könnte durch eine
„Stiftung für Freiwilligendienste“701 aufgefangen werden. Insbesondere bei Wegfall
des Zivildienstes werden Haushaltsmittel in Höhe von 615 Mio. Euro frei, die, bei
702
vorheriger Schaffung der rechtlichen Grundlage , für die Förderung von
703
Freiwilligendiensten zur Verfügung stünden . Diese Stiftung würde demnach mit
öffentlichen, sowohl mit Bundes- als auch Landesmitteln, und privaten Geldern
gespeist, sodass Freiwilligendienste durch die Stiftung und die Kofinanzierung durch
Träger und Trägerorganisationen getragen werden könnten 704 . Die Stiftung böte
Bürgern, die sich selbst nicht aktiv engagieren können oder nicht wollen, die
695
BMFSFJ, FSJ/ FÖJ, S. 3.
696
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 45 f.
697
Brecht, ZDG, Anm. 6 zu § 14c; BT-Drs. 16/12522, S. 26.
698
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 54.
699
BT-Drs. 16/11605, S. 3.
700
BT-Drs. 16/12522, S. 26.
701
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 13; Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 63.
702
Vgl. Kommission Impulse, aaO, S. 36.
703
Vgl. Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22 (26).
704
RBS, Jugend, S. 1.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 110
Auf diese Weise eröffnet sich die Möglichkeit, dass ein Anbieter, der einen
Freiwilligendienstplatz vergeben hat, durch Meldung an die Stiftung einen Zuschuss
erhält. Diese „Stiftung für Freiwilligendienste“ sollte allgemein für alle
Freiwilligendienste Zuschussmöglichkeiten bieten und diese nicht auf die beiden
gesetzlich geregelten Jugendfreiwilligendienste beschränken.
Sofern die finanzielle Förderung gesichert ist und Freiwilligendienste in
entsprechend ausreichender Anzahl angeboten werden können, muss die Attraktivität
des Dienstes auf Seiten der Freiwilligen gesteigert werden, sodass auch ein großer
Teil der wegfallenden Zivildienstleistenden zu einem Freiwilligendienst motiviert
werden kann. Diese Attraktivitätssteigerung gelingt vor allem über geldwerte und
monetäre Formen, wenngleich das Taschengeld auch weiterhin nicht als Lohn,
sondern als Kostenerstattung zu begreifen ist, aber auch über immaterielle
Vergünstigungen706 und die Schaffung einer ausgedehnten Anerkennungskultur. Ein
wichtiges Mittel einen geleisteten Freiwilligendienst anzuerkennen lässt sich etwa in
einem qualifizierten Teilnahmenachweis und -zeugnis finden, das Auskunft über das
Gelernte und die Leistung des Dienstleistenden gibt707. Dieses Zeugnis agiert somit
als Kompetenznachweis und muss von Bildungseinrichtungen anerkannt werden708.
705
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 65.
706
Kommission Impulse, Perspektiven, S. 13.
707
So bereits BMFSFJ, Stellungnahme, S. 7.
708
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 263.
709
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 105.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 111
Aus diesem Grund sollte dieses Zeugnis einheitlich gestaltet sein. Teilnehmer eines
Freiwilligendienstes sollten dadurch besser gestellt sein, als gleichaltrige Jugendliche,
die keinen Freiwilligendienst geleistet haben. Ein abgeleisteter Freiwilligendienst
muss in verstärktem Maße Vorteile bei der Studienplatz-, Ausbildungsplatz und
Arbeitsplatzvergabe bieten. Vor allem bei Bewerbungen auf Stellen der öffentlichen
Hand sollten bevorzugt Teilnehmer eines Freiwilligendienstes ausgewählt werden710.
Auch hilft eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit die Anerkennungskultur zu stärken
und die Bekanntheit der Freiwilligendienste zu vergrößern 711 . Freiwilligendienste
müssen Gegenstand des schulischen Unterrichts werden, sodass möglichst alle
Jugendlichen das Angebot kennen lernen712 und dies nicht den bereits engagierten
und informierten Jugendlichen vorbehalten bleibt. Auch die Ergebnisse zum
Modellprogramm GüF belegen, dass die nicht-materielle Form der Anerkennung
einen hohen Stellenwert genießt, sodass die persönliche Wertschätzung der
Freiwilligen oder Einladungen zu Festen eine besondere Bedeutung im Rahmen einer
Anerkennungskultur hat713.
Die monetäre Attraktivitätssteigerung muss vor allem über eine Anhebung des
Taschengeldes erreicht werden. Die durchschnittlichen Zuwendungen 714 liegen im
FSJ bei 355 Euro pro Monat 715 . Im Generationsübergreifenden Freiwilligendienst
erhielt die Gruppe der 16–25-Jährigen durchschnittlich 128 Euro monatlich716. Ohne
die Unterstützung der Eltern sowohl während als auch nach dem Freiwilligendienst,
würde das Einkommen der Freiwilligen für die eigene Lebensführung nicht
ausreichen717. Dementsprechend verwundert es nicht, dass 2/3 der Freiwilligen mit
der Höhe des Taschengeldes unzufrieden ist718. Insbesondere unterscheidet sich die
Höhe des Taschengeldes von Einsatzstelle zu Einsatzstelle erheblich. Insofern sollte
über einen gesetzlich geregelten Festbetrag nachgedacht werden.
Freiwillige sollten während ihres Dienstes Vergünstigungen erhalten, so wie sie für
Wehr- und Zivildienstleistende oder Studenten üblich sind. Durch einen bundesweit
710
Vgl. dazu auch § 11 ArbPlSchG; Böttcher, ZRP 1998, 399; Kommission Impulse, Perspektiven, S.
10.
711
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 181.
712
Vgl. Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 95.
713
Alt et al., GüF, S. 51.
714
Taschengeld, Unterkunft und Verpflegung.
715
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 54.
716
Alt et al., GüF, S. 54 f.
717
Engels/ Leucht/ Machalowski, aaO, S. 144.
718
Ibid, S. 56.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 112
Vor allem ist es ratsam bisher nicht oder nur wenig erreichte Telnehmergruppen, wie
etwa Jugendliche mit Migrationshintergrund oder minderjährige Jugendliche, gezielt
zu fördern. 724 Der GüF hat indes gezeigt, dass sich der „Freiwilligendienst als
wirksames Instrument zur gesellschaftlichen Integration von Menschen mit
719
Siehe im Internet: http://www.juleica.de.
720
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 185.
721
Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 13.
722
Ibid, S. 63 Fn. 45.
723
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 32.
724
Engels/ Leucht/ Machalowski, Evaluation FSJ/ FÖJ, S. 259 f.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 113
725
Migrationshintergrund“ erwiesen hat . Insbesondere das FSTJ vermochte
Jugendliche anzusprechen, die über eine vergleichsweise geringe Schulbildung
verfügen726.
Freiwilligendienste sollten, aufgrund der Planungssicherheit seitens der Träger und
der Freiwilligen, klaren gesetzlichen Vorgaben unterliegen. In diesem Sinne wäre ein
alle Freiwilligendienste – sowohl Jugendfreiwilligendienste, als auch
Generationsübergreifende Freiwilligendienste – umfassendes Gesetz –
727
Bundesfreiwilligendienstegesetz und Bundesfreiwilligendiensteplan –
wünschenswert728. Die Ergebnisse der Begleitung des GüF haben gezeigt, dass ein
rechtlicher Rahmen unabdingbar ist, insbesondere im Hinblick auf Haftpflicht- und
Unfallversicherungen. Es muss gesetzliche Regelungen geben, die klarstellen, dass
es sich bei Freiwilligendiensten nicht um sozialversicherungsrechtliche
729
Beschäftigungsverhältnisse handelt. Auch ein freiwilliger Dienst in der
Bundeswehr sollte als Freiwilligendienst anerkannt werden und entsprechend der
oben genannten Überlegungen gehandhabt werden. Ein freiwilliger Dienst in der
Bundeswehr ermöglicht noch unsicheren Frauen und Männer den Dienstbetrieb der
Bundeswehr kennen zu lernen, auf diese Weise die Verteidigungsbereitschaft der
Bundesrepublik zu stärken und im Krisenfall als Reserve zur Verfügung zu stehen.
Für die Dienste im Ausland müssen gesetzliche Rahmenbedingungen in Absprache
mit der EU geschaffen werden730.
Die neuerlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit dem bürgerschaftlichen
Engagement und Freiwilligendienste sind zu begrüßen731. Die Schaffung der beiden
Freiwilligendienste „weltwärts“ unter Federführung des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und „kulturweit“ unter
Federführung des Auswärtigen Amtes sind bedeutende Fortschritte in der
Weiterentwicklung der Freiwilligendienste und erweitern das Einsatzspektrum enorm.
Insbesondere aber der Freiwilligendienst „kulturweit“ schafft es nicht die Gruppe der
benachteiligten Jugendlichen in das freiwillige Engagement einzubeziehen, da die
725
Alt et al., GüF, S. 43.
726
Liebig, Machbarkeitsstudie, S. 60.
727
BMFSFJ, Stellungnahme, S. 14; Rauschenbach/ Liebig, Freiwilligendienste, S. 66.
728
Dies erachtet auch die Bundesregierung für sinnvoll; BT-Drs. 16/6145, S. 7.
729
Alt et al., GüF, S. 100 ff.
730
Vgl. Jakob, APuZ B 9/ 2002, 22 (27).
731
So auch der Antrag der Fraktionen CDU/ CSU und SPD, BT-Drs. 16/11774.
G. Die Alternative – Freiwilligendienste 114
732
Freiwillige müssen über Abitur […] oder einen Haupt- oder Realschulabschluss in Verbindung mit
einer abgeschlossenen Ausbildung verfügen. Zudem müssen Freiwillige die deutsche
Staatsangehörigkeit besitzen und/oder ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben. Voraussetzung
sind ebenfalls Deutschkenntnisse auf muttersprachlichem Niveau in Wort und Schrift und gute
Grundkenntnisse in Englisch“, BT-Drs. 16/12574, S. 8.
H. Fazit 115
H. Fazit
primäre Pflicht ist. Demnach sind neue Tauglichkeitskriterien nicht rechtmäßig und
widersprechen der Lastengleichheit des Art. 12a I i.V.m. Art. 3 I GG. Hinzukommt
die starke Ungleichbehandlung von Wehr- und Zivildienstleistenden. Wenn doppelt
so viele Zivildienststellen existieren wie Wehrdienststellen, dann widerspricht auch
dies der Pflichtengleichheit.
Unter Beachtung der rechtlichen Situation verstößt die Aufrechterhaltung der
Wehrpflicht nach § 1 WPflG gegen die verfassungsimmanenten Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit und der Wehrgerechtigkeit. So verwundert es nicht, dass
mehrere Gerichte die Wehrpflicht für verfassungswidrig betrachteten und die Lehre
immer mehr dazu übergeht, die Wehrpflicht als verfassungsrechtlich bedenklich
einzustufen.
Zu allen geschichtlichen und juristischen Argumenten führen aber auch ökonomische
Überlegungen zu dem Schluss, dass eine Freiwilligenarmee billiger käme. Zudem
entgeht dem Staat ein jährlicher Wertschöpfungszuwachs von 3,4 Mrd. Euro.
Außerdem werden durch die Aussetzung der Wehrpflicht und der damit verbundenen
Aussetzung des Zivildienstes Mittel im BMFSFJ frei, die umpositioniert werden
könnten. Fiskalische Kosten von 1,2 Mrd. Euro könnten eingespart werden.
Eine allgemeine Dienstpflicht als Ersatz für die Wehrpflicht kommt aus
völkerrechtlichen Gründen nicht in Betracht.
Es besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass die Wehrpflicht immer weniger
notwendig ist. Der große Teil der im Bundestag vertretenen Parteien befürworten
ebenfalls die Aussetzung der Wehrpflicht, auch wenn abweichende Nuancen
gezogen werden.
Alles in Allem ist die Wehrpflicht weder zeitgemäß noch verfassungsrechtlich
haltbar. Das BVerfG hat sich nicht abschließend zu dem Thema geäußert. Es sieht
vielmehr die Verantwortung innerhalb der Politik.
Insofern ist der Bundestag dazu angehalten, die Wehrpflicht auszusetzen.
Stattdessen muss die Förderung von Freiwilligendiensten in den Vordergrund der
Debatte gestellt werden. Frei werdende Mittel müssen für die Schaffung von
Anreizen aufgebracht werden, um Freiwillige zum Ableisten eines
„Gesellschaftsdienstes“ zu überzeugen. Ohne Anreize ist der Fehl, insbesondere im
sozialen Sektor schwerlich aufzufangen, da Zivildienstleistende durchaus eine
wichtige Aufgabe erfüllen. Es muss jedoch Ziel des Staates sein, diese wichtige
H. Fazit 117
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Anhang
Anhangverzeichnis
Vollzeitbeschäftigte Durchschnittlicher
männliche Arbeitnehmer Bruttomonatsverdienst Bruttomonatsver-
(unter 25 Jahre) Anzahl Einkommen 10/2005 insgesamt dienst
Angestellte (West) 317.275 2.170 688.486.750
Angestellte (Ost) 30.822 1.754 54.061.788
Arbeiter (West) 394.819 2.188 863.863.972
Arbeiter (Ost) 64.717 1.608 104.064.936
Σ 807.633 1.710.477.446 2.117,89
Zunahme an
Erwerbsfähigen im Arbeitslosen Zunahme an Jährl.
Zivilsektor (1) GWDL (2) 2007 Zivilbe- Bruttomonatsverdienst der Wertschöpfungs-
ZDL (12,075 %) schäftigten zusätzl. Zivilbeschäftigten zuwachs
68.270 8.243,60 60.026,40 127.129.276,65 1.525.551.319,80
84.604 10.215,93 74.388,07 157.545.705,61 1.890.548.467,26
Σ 3.416.099.787,06
Die Wehrformen der NATO-Staaten
Staaten Wehrform
Albanien Freiwilligenarmee ab 2010
Belgien Freiwilligenarmee seit 1994
Bulgarien Freiwilligenarmee seit 2008
Dänemark Auswahlwehrpflicht*
Deutschland Wehrpflicht
Estland Wehrpflicht
Frankreich Freiwilligenarmee seit 2001
Griechenland Wehrpflicht
Großbritannien Freiwilligenarmee seit 1963/64
Island keine Streitkräfte
Italien Freiwilligenarmee seit 2005
Kanada Freiwilligenarmee
Lettland Freiwilligenarmee seit 2007
Litauen Freiwilligenarmee ab 2009
Luxemburg Freiwilligenarmee
Niederlande Freiwilligenarmee seit 1996
Norwegen Wehrpflicht
Polen Freiwilligenarmee ab 2009
Portugal Freiwilligenarmee seit 2004
Rumänien Freiwilligenarmee seit 2007
Slowakei Freiwilligenarmee seit 2006
Slowenien Freiwilligenarmee seit 2004
Spanien Freiwilligenarmee seit 2002
Tschechien Freiwilligenarmee seit 2005
Türkei Wehrpflicht
Ungarn Freiwilligenarmee seit 2004
USA Freiwilligenarmee seit 1973
Freiwilligenarmee 20
Wehrpflichtarmee 6
Die Wehrformen der NATO-Staaten
Verteilung
Wehrpflicht-
armee
23%
Freiwilligen-
armee
77%
Dienstposten bei der Bundeswehr
Stand: Juni 2009
FWDL
25.346
10%
GWDL
34.534
14%
BS/SaZ
187.500
76%
Geburtsjahrgang 1985
GWDL/FWDL
15%
Sonstige
21%
Zivildienst und
andere
Ersatzdienste
Nicht gemustert 19%
12%
Ausgemustert
33%
Anträge auf Kriegsdienstverweigerung
200.000
180.000
160.000
140.000
120.000
100.000
80.000
60.000
40.000
20.000
58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08
19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 19 20 20 20 20 20