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Humanwissenschaftliche Fakultät
Institut III für Allgemeine Didaktik und Schulforschung
1. Einleitung ..............................................................................................................................2
2. Entwicklungen im Schulwesen.........................................................................................11
2.1 Die Schulverwaltung..........................................................................................................12
2.2 Das niedere Schulwesen.....................................................................................................13
2.3 Das höhere Schulwesen......................................................................................................16
4. Fazit………………..............................................................................................................29
5. Literaturverzeichnis ...........................................................................................................31
2
1. EINLEITUNG
Das deutsche Bildungssystems wurde bei seiner Entstehung besonders durch das erste
Drittel des 19. Jahrhunderts geprägt. Hier wurden aufbauend auf den Entwicklungen im
späten 18. Jahrhundert die Weichen für das heutige Bildungswesen gestellt. In der Zeit der
preußischen Reformära, wie auch im nachfolgenden Zeitalter der Restauration wurden
zahlreiche Reformen zur Modernisierung des preußischen Staates in Angriff genommen – und
dies nicht nur im Bereich des preußischen Schulwesens. Nach dem Zusammenbruch des alten
Reiches im Jahre 1806 erschien eine grundlegende Reformierung des überkommenen Staats-
und Gesellschaftssystems dringend erforderlich. Triebkräfte waren liberale Staatsbeamte, die
sich von der Erneuerung des Schulwesens als einem bedeutenden gesellschaftlichen
Teilbereich positive Impulse für das gesamtstaatliche bzw. gesamtgesellschaftliche
Reformprojekt versprachen.
Die vorliegende Arbeit liefert damit einen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens
im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die gesellschaftlichen Auswirkungen, die von den
Veränderungen im Schulwesens bewirkt bzw. verstärkt werden, sind über diese Zeit
hinausgehend relevant. So kommt beispielsweise der entstehenden Klasse des
Bildungsbürgertums im gesamten 19. Jahrhundert eine wesentliche Bedeutung zu.
2. ENTWICKLUNGEN IM SCHULWESEN
Die eigentliche preußische Reformära beginnt mit der militärischen Niederlage Preußens im
Jahre 1806. Die Erkenntnis der Notwendigkeit von Bildungsreformen bzw. der Anspruch des
Staates, das Schulwesen zentral und einheitlich zu steuern, entsteht jedoch nicht erst mit
Beginn der Reformära, sondern existiert verstärkt seit dem letzten Drittel des 18.
Jahrhunderts. Die Entwicklung der Verstaatlichung des Schulwesens weist sozusagen
Kontinuitätslinien auf, gewinnt aber durch den Zusammenbruch Preußens und den
Außendruck Napoleons wesentlich an Dynamik. Der preußische Staat verstärkt in der Phase
der Reformära zunehmend seine Kontrolle und Interventionen in das Schulwesen. In der
nachfolgenden Periode der Restauration werden die staatlich normierenden Eingriffe mit dem
Ziel ein einheitliches Schulsystem aufzubauen wieder schwächer, ohne dass dies einen
Rückschritt in der Entwicklung bedeutete.
Die nachfolgende Darstellung umfasst primär die Entwicklungen in der preußischen
Reformära und stellt die zentralen und bedeutenden Schulreformen vor. Zum besseren
Verständnis des Zusammenhangs wird im Folgenden je nach Notwendigkeit auch die frühere
Entwicklung knapp erwähnt. Sofern es sich um wichtige Entwicklungen in der Phase der
3
Restaurationsära handelt, die im Kontext mit den Maßnahmen der Reformära zu sehen sind
und von denen eine bedeutende Wirkung auf das Schulwesen ausgeht, werden auch diese kurz
beschrieben.
Für die nachfolgende Darstellung ist es wichtig an dieser Stelle das Allgemeine Landrecht
von 1794 zu erwähnen. Dieses war die entscheidende und allgemeine Handlungsgrundlage
der späteren staatlichen Schulpolitik, denn es legitimierte die staatlichen Eingriffe in das
Bildungswesen. Neben der bereits mehrfach proklamierten Unterrichtspflicht bestimmte es,
dass Schulen und Universitäten Veranstaltungen des Staates sind und nur mit vorheriger
staatlicher Genehmigung errichtet werden dürfen. 1
4
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in der Reformära eine Verwaltungsstruktur
institutionalisiert wurde, die es der Bildungspolitik ermöglichte, einen richtungsweisenden
Einfluss auf das Schulwesen zu nehmen.
5
ein inhaltlich etwas höheres Niveau als die Dorfschulen auf. Die insgesamt mangelnde
Unterrichtsqualität wird verständlich angesichts der ungenügenden Befähigung der Lehrkräfte
im niederen Schulwesen. Es gab nur vereinzelt Ausbildungsstätten, sogenannte
Lehrerseminare, deren forcierter quantitativer Ausbau erst in der Restaurationsphase ab 1825
begann. Infolge der dürftigen Vorbildung der angehenden Lehrer verblieb die Ausbildung in
den bereits existierenden Seminaren in der Reformära und auch darüber hinaus auf einem sehr
niedrigen Niveau.12 Nicht selten waren es Küster, Dienstboten, Handwerker oder sogar
Militärinvaliden, die ihr Auskommen in der Schule fanden. Sie hatten bestenfalls eine
Stadtschule absolviert und beherrschten selbst kaum die elementaren Kulturtechniken.13
Überdies ging die Einrichtung von Lehrerseminaren vorerst nicht – wie im höheren
Schulwesen - mit der gesetzlichen Anordnung einher, dass die seminaristisch ausgebildeten
Lehrer den Lehrkräften ohne Ausbildung trotz ggf. höherer Bezahlung vorzuziehen waren. 14
Den Bildungsreformern war durchaus bewusst, dass ihr neuhumanistisches Bildungskonzept
im Sinne einer umfassenden Nationalerziehung zum Scheitern verurteilt war, wenn nicht die
Lehrer dazu befähigt wurden, dieses zu vermitteln. Einen Lösungsansatz sahen sie in
Pestalozzis Idee der Elementarbildung, die primär die allgemeine Charakterbildung und die
Vermittlung des Prinzips des „Lernen des Lernens“ zum Ziel hatte. Dass dies mit geringsten
materiellen und personellen Mitteln möglich sein sollte15 kam den Bildungsreformern
angesichts der Finanznot des preußischen Staates
Anfang des 19. Jahrhunderts sehr entgegen. Der Aufbau von Einrichtungen, welche Lehrer
gemäß der Pestalozzischen Methode ausbilden sollten, kam jedoch nicht über einige wenige
Institute hinaus, so dass dadurch keine merkliche Verbesserung der Unterrichtsqualität zu
erwarten war.16
Der Hauptgrund, warum eine durchgreifende und zentral gesteuerte Reform im niederen
Schulwesen in der Reformära nicht in Angriff genommen wurde bzw. nicht möglich war, ist
darin zu sehen, dass die Verantwortlichkeiten für das Elementarschulwesen größtenteils in der
Hand der lokalen und traditionellen Schulträger lagen. Für die Errichtung von
Elementarschulen waren die lokalen Schulpatrone, d.h. die städtischen Magistrate bzw. die
Gemeindevorstände und die meist adligen Großgrundbesitzer zuständig. Letztere hatten von
den intendierten Reformen den Verlust ihrer Privilegien zu befürchten, so dass sie den
Schulausbau eher zu verhindern versuchten als ihn aktiv voranzutreiben. Die Eltern
finanzierten durch Schulgeld die Schulunterhaltung, d.h. vor allem die Bezahlung des Lehrers.
Da sich der Staat in der Reformära und auch darüber hinaus nur zu einem sehr geringen Teil
an den Kosten des niederen Schulwesens beteiligte, blieb eine umfassende Reform, wie sie
die Bildungsreformer beabsichtigten, lediglich Wunschdenken. Anzumerken bleibt, dass die
fehlende finanzielle Unterstützung des Staates auch eine missliche Lage für die Lehrer mit
sich brachte. Sie besaßen ein geringes soziales Ansehen, waren finanziell von Schulpatronen,
schulgeldzahlenden Eltern oder auch der Kirche abhängig und lebten aufgrund der schlechten
Bezahlung nicht selten am Rande des Existenzminimums.17 Vielfach erzwang die staatliche
Finanznot auch eine Zusammenarbeit mit der Kirche, die in dem Fall für die personelle
Ausstattung der Elementarschule aufkam.18 Darüber hinaus oblag ihr die Schulaufsicht. In den
Schuldeputationen, denen die Aufsicht über das niedere Schulwesens zustand, bewahrten –
wie bereits erwähnt - der Adel und vor allem aber die Kirche einen erheblichen Einfluss
12
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 465.
13
Vgl. WEHLER (1989), S. 287.
14
Anm.: Eine normierte Abschlussprüfung für seminaristisch ausgebildete Lehrer im niederen Schulwesen und
ein damit verbundenes Anstellungsvorrecht wurde erst im Jahre 1826 gesetzlich festgelegt. Vgl. TENORTH
(2000), S. 145
15
Vgl. FRIEDRICH (1989), S. 124.
16
Siehe hierzu ausführlich BAUMGART (1990), S. 63-65.
17
Vgl. BAUM GART (1990), S. 61-63
18
Vgl. FRIEDRICH (1989), S. 130
6
hinsichtlich der Ausgestaltung des lokalen Elementarschulwesens. Die Elementarschule war
meist eine konfessionelle Schule und eng mit der Kirche verbunden. Dennoch war sie keine
reine Kircheninstitution mehr. Formal war sie zu einer staatlichen Einrichtung geworden.19 So
ist es als Erfolg der Reformära zu werten, dass im Rahmen des Aufbaus der Schulverwaltung
die lokalen und traditionellen Schulträger – so auch die Kirche - gezwungen wurden, sich in
staatlichen Gremien zu organisieren und unter dem Einfluss und der Einwirkung der
übergeordneten staatlichen Behörde standen.
Hinsichtlich der Schulwirklichkeit im niederen Schulwesen lässt sich resümierend festhalten,
dass sich der schlechte Zustand des Elementarschulwesens in der Reformära nur sehr wenig
und zögerlich verbesserte. Der Reformbewegung ist es jedoch zu verdanken, dass die
entscheidenden Voraussetzungen für die zukünftige Professionalisierung der Lehrer sowie für
einen kontinuierlichen, wenn auch zunächst heterogenen Ausbau des niederen Schulwesens
geschaffen wurden. 20
7
Entweder war eine Zulassung an der Universität ohne bestandene Prüfung möglich oder es
war eine nicht sehr streng gehandhabte Eingangsprüfung an der Hochschule zu absolvieren.
Mit der Vereinheitlichung der Abiturprüfung ging die Ausarbeitung eines einheitlichen
Lehrplanes für das humanistische Gymnasium im Jahre 1812 einher. Der erste sogenannte
Normallehrplan, der sich durch eine starke Gewichtung der klassischen Sprachen (Griechisch,
Latein) sowie der Fächer Deutsch und Mathematik am neuhumanistischen Bildungsideal und
damit am Prinzip der allgemeinen Menschenbildung orientierte, trat formell nie in Kraft,
wurde jedoch im Jahre 1816 als vorläufige Richtlinie erlassen. Diese verfügte, dass nur solche
Schulen die Entlassprüfung abnehmen durften, welche den curricularen Anforderungen
gerecht wurden. Daraus resultierte für das höhere Schulwesen, dass im Einzelfall die
gewünschte Einstufung der jeweiligen Schule nur durch einen entsprechenden Ausbau
erreicht werden konnte oder als Alternative der Verlust der Lateinschule bzw. deren
Abwertung in Kauf genommen werden musste.24 Der Normallehrplan, der für alle Stufen des
Gymnasiums einheitliche curriculare Anforderungen bestimmte, war eine Beschreibung des
Soll-Zustandes. Im Hinblick auf die Schulwirklichkeit lässt sich feststellen, dass gerade für
die unteren Stufen des Gymnasiums Anpassungen im Lehrplan vorgenommen wurden. Ihre
Notwendigkeit ergab sich aus dem Sachverhalt, dass die Vorläufer des Gymnasiums als eine
Art Gesamtschule fungierten. Es war durchaus üblich, dass auch der Schulpflichtige, der kein
Studium anstrebte, sondern eine mittlere Laufbahn in Wirtschaft oder Verwaltung, seine
Schulpflicht in einer höheren Schule ableistete.
Den Qualifikationsbedürfnissen der Frühabgänger kam man insofern entgegen, als dass
anstatt der griechischen Sprache realistische Unterrichtsfächer wie z.B. moderne
Fremdsprachen und bürgerliches Rechnen und Zeichnen als Parallelkurse angeboten wurden.
25
Mit dem umfassenden Abituredikt aus dem Jahre 1834 wurde eine weitere einschneidende
Verordnung erlassen, die den Abgrenzungsprozess des Gymnasiums von den nicht-
berechtigten Schulen vorantrieb und die vorrangige Stellung des Gymnasiums absicherte. Das
humanistische Gymnasium erlangte nun endgültig die alleinige Berechtigung,
Entlassprüfungen abzunehmen und die Studierfähigkeit zu zertifizieren. Außerdem war die
bestandene Prüfung obligatorische Voraussetzung für die Immatrikulation an einer
Universität. Damit intendierten die Bildungsreformer u.a. die Sicherung ihrer eigenen
Herrschaftsposition. Wer in den höheren Staatsdienst eintreten wollte, musste zuvor „ihre“
Schule absolviert haben sowie nach mehrjährigem wissenschaftlichen Studium eine
mehrjährige Probezeit bestanden haben. Der Zugang zum höheren Staatsdienst war somit
ausschließlich den humanistisch Gebildeten vorbehalten.26Wie bereits bei der
Abiturverordnung aus dem Jahre 1812 zog auch dieses Abituredikt einen Normallehrplan
(1837) als verbindliche Vorgabe für alle Gymnasien nach sich.27 Dieser Normallehrplan, mit
dem das humanistische Gymnasium vollständig etabliert wurde, hielt weiterhin an der
formalen und allgemeinen Menschbildung fest. Wie vielleicht zu vermuten wäre, kam es nicht
zu einem Einzug von realistischen Fächern in den Normallehrplan, sondern zu einer
Aufwertung der lateinischen Sprache auf Kosten der Stundenanzahl für Deutsch und
Mathematik.
Der Aufbau eines staatlichen Berechtigungswesen beinhaltete nicht nur die Reformierung von
curricularen Anforderungen für Entlassprüfungen und Lehrpläne, sondern auch die
Normierung der Gymnasiallehrerausbildung. Das Edikt aus dem Jahre 1810 bestimmte, dass
an höheren Schulen, welche zu Entlassprüfungen berechtigt waren, nur noch Lehrer angestellt
werden durften, die zuvor eine staatliche Prüfung, das sogenannte „Examen pro facultate
24
Vgl. LUNDGREEN (1980), S. 66.
25
Vgl. LUNDGREEN (1980), S. 44, 70
26
Vgl. HERRLITZ et al. (2001), S. 35.
27
Vgl. LUNDGREEN (1980), S. 67.
8
docendi“ abgelegt hatten.28 Mit der Festsetzung von Kriterien für die Anstellung weitete der
Staat sein Kontroll- und Aufsichtsrecht auf das Lehrpersonal an den berechtigten höheren
Schulen aus.29 In den Jahren nach dem Erlass kann jedoch davon ausgegangen werden, dass
die Mehrheit der Lehrer den Zugangskriterien noch nicht genügte und ohne Staatsprüfung
unterrichtete. Erst in den Jahren nach 1831 absolvierten jährlich ungefähr 100
Lehramtskandidaten die Staatsprüfung. Diese wurde im selben Jahr durch den Erlass einer
neuen Prüfungsordnung deutlich anspruchsvoller, indem die Allgemeinbildung gegenüber
Spezial- und zu engem Fachwissen aufgewertet wurde. Ein großer Anteil der
Lehramtskandidaten, der sich dem „Examen pro facultate docendi“ unterzog, bestand aus
Studierenden der klassischen Philologie. Eine pädagogische Ausbildung fehlte gänzlich und
wurde überdies nicht für notwendig erachtet.30
Ein weiteres Element des staatlichen Berechtigungswesens ergab sich aus der Verbindung von
Militär- und Bildungsverfassung. Üblicherweise musste nach der Reformierung der
Militärverfassung ein zwei- bzw. später dreijähriger Wehrdienst auf Kosten des Staates
absolviert werden. Das Privileg und die Berechtigung, stattdessen den einjährigen-freiwilligen
Wehrdienst zu wählen, verbunden mit der Auflage zur Kostenübernahme von Bekleidung und
Bewaffnung, war an die Dauer und an den Erfolg des Besuchs einer höheren Schule geknüpft.
Noch vor 1814 war die „Exemtion“, die bedingungslose Freistellung vom Wehrdienst, dem
Adel und dessen Söhne sowie bestimmten bürgerlichen Berufsgruppen vorbehalten. Danach
wurde das Privileg, den einjährigen Wehrdienst zu absolvieren, ausschließlich von den
Bildungsmerkmalen der Wehrpflichtigen abhängig gemacht. Zunächst war bis 1818 die
Immatrikulation für die Bevorrechtigung erforderlich, bis 1822 das Abitur und bis 1831 nur
noch ein halbes Jahr Untertertia. Danach wurden die Bildungserfordernisse wieder
schrittweise bis zur Absolvierung der Untersekunda (1877) angehoben.31 Für einen
bestimmten Schulabschluss wurde schließlich die Bezeichnung des „Einjährigen“ geläufig.
An dieses Bildungsmerkmal schloss sich wiederum die Berechtigung an, eine Tätigkeit auf
mittlerer Hierarchieebene in der Verwaltung oder in öffentlich kontrollierten Berufen (z.B.
Apotheker, Bauberufe) aufzunehmen.32
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das staatliche Berechtigungswesen eine klare
institutionelle Trennung zwischen den zu Entlassprüfungen berechtigten Gymnasien und den
nicht-berechtigten Schulen nach sich zog. Das humanistische Gymnasium wurde zur
Staatsschule und war zugleich die prestigeträchtige Leitinstitution, deren Reformierung bzw.
Normierung sich die Bildungsreformer mit besonderer Aufmerksamkeit widmeten. Im
Vergleich zum niederen Schulwesen war die Ausgangssituation für die Bildungsreformer
ungemein günstiger. Erstens konnten sie, wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, an bestehende
Reformbestrebungen anknüpfen. Zweitens waren die Möglichkeiten der Einflussnahme
aufgrund der geschaffenen Verwaltungsstruktur vorteilhafter, denn mit den
Provinzialkonsistorien bzw. den späteren Provinzialschulkollegien lag die Zuständigkeit für
die Gymnasien in den Händen staatlicher Fachbeamten. Die Provinzialkonsistorien bzw. die
Provinzialschulkollegien waren, wie bereits in Kapitel 2.1. beschrieben, direkt dem
Ministerium unterstellt. Das Gymnasium war somit Staatsanstalt, wurde aber hinsichtlich der
Schulunterhaltung – ähnlich wie die Elementarschulen - von den Kommunen 33 sowie von
schulgeldzahlenden Eltern mitfinanziert. 34 Trotzdem war das Gymnasium durch laufende
staatliche Zuschüsse vor allem in der Reformära in seiner finanziellen Situation besser gestellt
28
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 62
29
Vgl. HERRLITZ et al. (2001), S. 34
30
Vgl. WEHLER (1987), S. 493-494.
31
Vgl. LUNDGREEN (1983), S. 40-41, 66, 68
32
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 459.
33
Vgl. JEISMANN (1987c), S. 155.
34
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 458
9
als die Schulen des niederen Schulwesens.35 Neben den günstigen äußeren Bedingungen
spiegelt die Intention der Bildungsreformer, die eigene Reproduktion zu sichern, deren großes
Interesse an der Reformierung des höheren Schulwesens wieder. Damit verbunden war auch
die Absicht, die Privilegien und Vorzugsrechte des Adels zurückzudrängen sowie die
aufkommenden Ansprüche der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten abzuwehren. Das
Gymnasium durfte jedoch gemäß den liberalen Vorstellungen der Reformer auch keine
Standesschule für die höheren Schichten sein, sondern es musste die Ansprüche durch ein
staatliches Berechtigungswesen legitim abwehren bzw. kanalisieren. Seiner Idee nach sollte
das Gymnasium die zukünftige Elite schulen und damit auf soziale Exklusivität angelegt sein.
Diese Absicht verdeutlicht sich durch den hohen geistigen Anspruch und die
Schwerpunktsetzung auf formale Menschenbildung, welche in deutlicher Distanz zur
praktischen Arbeitswelt und den realen Lebensbedingungen steht.36 Wie bereits angedeutet,
kam dem Gymnasium jedoch zumindest in den unteren Stufen eine Art
Gesamtschulcharakter zu, was auf eine gewisse soziale Offenheit hinweist. Die soziale
Zusammensetzung der Schülerschaft wird noch einmal im Zusammenhang mit dem folgenden
Kapitel Erwähnung finden. Dann geht es darum, die gesellschaftlichen Auswirkungen, welche
aus der Reformierung des Schulwesens resultierten, näher zu untersuchen. Dabei wird direkt
an einige Aspekte der bisher beschriebenen Schulreformen angeknüpft.
Das vorige Kapitel vermittelte einen Überblick über die Entwicklungen in der
Schulverwaltung, über den Zustand des Elementarschulwesens sowie über die Reformierung
der höheren Schulen. Die Darstellung umfasste primär die Zeit der Reformära, wobei aber
auch auf Entwicklungen in der nachfolgenden Restaurationsära und vereinzelt auf bedeutsame
frühere Reformbewegungen Bezug genommen wurde. Insgesamt gesehen war die Zeitspanne
der preußischen Reformära (1806-1819), in der die liberalen Beamten ihre Schulreformpläne
verstärkt in Angriff nehmen konnten, relativ kurz. Bedingt durch das Erstarken der
konservativen Gegenkräfte und durch den Widerstand der traditionellen Gewalten und
Privilegienbesitzer konnten nicht alle Reformpläne in vollem Ausmaß verwirklicht werden.
Dennoch konstituierten die Bildungsreformer insbesondere mit den Erlassen und
Verordnungen im höheren Schulwesen das Fundament unseres heutigen Schulwesens. Der
Kontinuität der Entwicklung in der Phase der Restauration ist es zu verdanken, dass die
Schulreformen nachhaltige Veränderungen im Schulsystem bedingten. Die enorme Tragweite
und Bedeutung der Schulreformen wird verständlich, wenn man einerseits die Konsequenzen
für die institutionelle Entwicklung des Schulsystem sowie die Auswirkungen für die
Lehrkräfte im Schulwesen berücksichtigt und andererseits die Schulreformen im
Zusammenhang mit dem gesamten gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses
betrachtet. Wenn im Folgenden die zentralen Auswirkungen der Schulreformen untersucht
werden, steht dabei nicht nur die begrenzte Zeitspanne der Reformära bzw. der Restauration
im Blickfeld. Die institutionelle Entwicklung des Schulsystems sowie die Auswirkungen der
Schulreformenfür die Lehrkräfte traten zeitversetzt mit den Schulreformen auf und wurden
primär durch diese verursacht, während sich der allgemeine Wertewandel und die
Veränderungen in der gesellschaftlichen Sozialstruktur bereits vor den Schulreformen
abzeichneten und durch diese maßgeblich verstärkt wurden. Die im Folgenden beschriebenen
Entwicklungstendenzen, die bereits existierten oder erst durch die Schulreformen verursacht
wurden, setzten sich im weiteren Zeitverlauf fort und waren somit für das gesamte 19.
Jahrhundert typisch.
35
Vgl. BAUMGART (1990), S. 67; siehe auch HERRLITZ et al. (2001), S. 38-39
36
Vgl. HERRLITZ et al. (2001), S. 38
10
3.1 Bedeutung für die institutionelle Entwicklung des Schulsystems
In diesem Kapitel soll die bereits mehrfach angedeutete institutionelle Absonderung des
höheren Schulwesens vom niederen Schulwesen Erwähnung finden. Zurückzuführen ist diese
Abgrenzung auf das umfangreiche Berechtigungswesen im höheren Schulwesen, welches das
humanistische Gymnasium konstituierte und aus der Masse der höheren Schulen heraushob.
Die zentrale Scheidelinie zwischen Schultypen wurde von der Berechtigung das Abitur zu
verleihen gesetzt. Das humanistische Gymnasium, welches diese Berechtigung inne hatte,
wurde somit zur Leitinstitution im Schulwesen. Die neuhumanistischen Bildungsreformer
hatten mit den Abituredikten und Lehrplannormierungen dafür gesorgt, dass der Weg zur
universitären Ausbildung und damit zum höheren Staatsdienst ausschließlich über die
humanistische Bildung führte. Auch die Berechtigung zum „Einjährigen“ war an das
Gymnasium und dessen humanistischen Lehrplan gekoppelt. Dies löste einen enormen
Anpassungsdruck auf die berechtigungslosen und von der humanistischen Bildung
abweichenden Schulen aus. Sie versuchten denselben Status wie das humanistische
Gymnasium zu erlangen, um die gleichen bevorzugten Abschlüsse und die damit
verbundenen Berechtigungen zu verleihen.
Auf der anderen Seite war die herausgehobene Stellung des Gymnasiums der Ursprung eines
sich über das gesamte 19. Jahrhundert hinwegziehenden Gleichberechtigungskampfes
zwischen humanistischem Gymnasium und Schultypen mit realistischen bzw.
praxisorientierten Bildungsinhalten.37 Neben dem Gymnasium existierten wie bereits erwähnt
eine Vielzahl von nicht-berechtigten weiterführenden Schultypen, von denen sich einige auf
die Vermittlung einer „nützlichen“ Bildung (moderne Fremdsprachen, Naturwissenschaften,
bürgerliches Rechnen und Zeichnen) konzentrierten. Diese befriedigten vor allem die
Bildungsansprüche des aufstrebenden Wirtschaftsbürgertums. Aus der Bandbreite der
realistischen Bildungsanstalten gliederte der Staat ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch
weitere zahlreiche Normierungen, die im Detail an dieser Stelle nicht wiedergegeben werden
können, einzelne höhere realistische Schulen aus. Die sogenannten Realschulen 1. und 2.
Ordnung von 1859 (bzw. Realgymnasium und Oberrealschule von 1882) waren zu
Entlassprüfungen bzw. zur Abnahme der Abiturprüfung berechtigt, welche vorerst jedoch
nicht mit der allgemeinen Berechtigung zum Studium bzw. zum höheren Staatsdienst
verbunden war. Diese Schulen beschränkten sich vornehmlich auf die Vorbereitung ihrer
Schüler auf ein technisches Studium oder auf die Offizierslaufbahn. Der Anpassungssog der
von dem humanistischen Gymnasium und seinen privilegierenden Berechtigungen ausging
sorgte dafür, dass im Gleichberechtigungskampf der höheren realistischen Schulen eine
gewisse Angleichung an den humanistischen Lehrplan zu beobachten war. So blieben
beispielsweise die Realgymnasien zunächst Lateinschulen.38 In der Ausdifferenzierung
realistischer Schultypen mit aber auch ohne Berechtigungen kommt die Intention des Staates
zum Ausdruck, die Anzahl der Frühabgänger des humanistischen Gymnasiums zu reduzieren
und dieses von den „falschen“ Schülern zu befreien. Der bereits beschriebene
Gesamtschulcharakter des humanistischen Gymnasiums weicht somit ab der Mitte des 19.
Jahrhunderts einer Entwicklungstendenz, die als Vorbote eines dreigliedrigen und vertikalen
Schulsystems angesehen werden kann.39
37
Vgl. LUNDGREEN (1983), S. 68-69
38
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 461-462; siehe hierzu auch TENORTH et al. (2000), S. 152-153
39
Vgl. ebd., S. 461-462; siehe hierzu auch LUNDGREEN (1983), S. 76-77
11
heraus: der des Gymnasiallehrers und des Elementarschullehrers. Der Abgrenzungsprozess
der beiden Berufsstände hinsichtlich der fachlichen Ausbildung, dem sozialen und rechtlichen
Status sowie hinsichtlich des Selbstverständnisses war ebenfalls auf die normierenden
Maßnahmen der Bildungsreformer im Bereich des höheren Schulwesens zurückzuführen.40 In
diesem Zusammenhang ist das sogenannte „Examen pro facultate docendi“ (1810) von
Bedeutung. Mit dieser obligatorischen Staatsprüfung entschied der Staat über die für die
Anstellung der zukünftigen Lehrkräfte erforderlichen Qualifikationen. Damit schuf er den
neuen professionalisierten Berufs stand des Gymnasiallehrers, der sich durch ein eigenes
Selbstverständnis und ein neues Selbstwertgefühl als homogene und relativ geschlossene
Gruppe konstituierte. Der Gymnasiallehrer trat durch das Lehrerexamen in ein unmittelbares
Verhältnis mit dem Staat und separierte sich fortan von den Theologen, 41welche die
Lehrerstelle bis dahin häufig als Übergangslösung bis zum Eintritt in das geistliche Amt
genutzt hatten. Der Zugang zum Lehrerberuf an höheren und zur Entlassprüfung berechtigten
Schulen war nun nicht mehr über andere Ausbildungsgänge möglich. 42Indem für die Lehrer
an niederen Schulen vorerst auf eine einheitliche und staatlich geregelte Ausbildung
verzichtet wurde, entwickelten sich die Berufsstände des Gymnasiallehrers und
des Elementarschullehrers weiter auseinander. Ferner wurde der Absonderungsprozess
dadurch verstärkt, dass mit der Einrichtung von vereinzelten Lehrerseminaren im niederen
Schulwesen zunächst kein Anstellungsvorrecht für die ausgebildeten Lehrer galt, so dass
weiterhin unqualifizierte und geringer bezahlte Lehrkräfte bevorzugt eingestellt wurden. Der
Entstehungsprozess des Berufsstand des Elementarschullehrers stand erst am Anfang,
während sich der Berufsstand des Gymnasiallehrers bereits weiter professionalisierte. Die
Elementarschullehrer mussten sich zunächst einmal eine erste Anerkennung bzw. Aufwertung
ihrer Tätigkeit in Form der Gleichstellung mit den unteren bzw. mittleren Beamten erstreiten.
Solange besaßen sie eine unsichere Rechtsstellung, waren in der Dorfgemeinschaft häufig
sozial isoliert und verfügten lediglich über eine miserable Bezahlung, die wenn überhaupt das
Existenzminimum deckte. Die Bezahlung der Gymnasiallehrer hingegen lag aufgrund von
staatlichen Zuschüssen und Anhebungen des Schulgeldes um ein Vielfaches über der der
Elementarschullehrer. Letztere mussten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts warten,
ehe sie eine Angleichung ihres Berufsstandes an das mittlere Beamtentum erreichten und
damit auch ihre wirtschaftliche Lage und ihren sozialen Status verbessern konnten.43
Die Abgrenzung der Lehrerstände wurde des Weiteren von den inhaltlichen Ansprüchen der
staatlich vorgeschriebenen Ausbildung voran getrieben. Während der angehende
Gymnasiallehrer ein mindestens dreijähriges Studium und das bestandene „Examen pro
facultate docendi“ vorweisen musste, war für die große Mehrheit der Lehrer an
Elementarschulen lediglich eine praktische Ausbildung in einem Lehrseminar von Nöten. Die
„staatsnahe“ Sonderstellung des Gymnasiallehrers sowie die Verwissenschaftlichung seiner
Laufbahn führte zu einer enormen Aufwertung dieses Lehrerstandes und damit zu einer
bewusst distanzierenden Haltung gegenüber der Lehrerschaft an niederen Schulen.
Die Gymnasiallehrer profitierten letztendlich von der führenden und prestigeträchtigen
Position des Gymnasiums innerhalb der Schullandschaft. Hinsichtlich ihres sozialen und
rechtlichen Status näherten sie sich zunehmend der privilegierten Berufsklasse der höheren
Staatsbeamten an.44 In den 40er Jahren wurde der „Oberlehrer“, welcher verschiedene Stufen
als„wissenschaftlicher Hilfslehrer“ und „ordentlicher Lehrer“ durchlaufen musste, dem Rang
der höheren Staatsbeamten gleichgestellt. Dabei ist jedoch festzustellen, dass trotz einer
wesentlich besseren Bezahlung als die Elementarschullehrer immer noch eine große
40
Vgl. HERRLITZ et al. (2001), S. 40.
41
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 62-63, siehe hierzu auch WEHLER (1987), S. 495
42
Vgl. TENORTH (2000), S. 145
43
Vgl. WEHLER (1987), S. 488
44
Vgl. HERRLITZ et al. (2001), S. 42; siehe hierzu auch WEHLER (1987), S. 493-494
12
Diskrepanz zwischen sozialem Status und Bezahlung (im Vergleich zum höheren
Beamtentum) existierte.45
45
Vgl. WEHLER (1987), S. 495
46
Vgl. LUNDGREEN (1980), S. 68
47
Vgl. WEHLER (1989), S. 211, 479
13
Abgrenzung von den oberen Gesellschaftsschichten, sondern auch nach „unten“ gegenüber
der Klasse der Ungebildeten bzw. minder Gebildeten differenzierte sich das
Bildungsbürgertum und etablierte ein eigenes spezifisches Selbstverständnis.48
Als Folge der Verknüpfung von Bildung und Amt bzw. von Bildung und Sozialstatus
entfaltete das humanistische Gymnasium einen starken Akademisierungssog.49 Zuerst einmal
war das Gymnasium Schule der Kinder aus höheren und gehobenen Schichten. Da jedoch
auch Abschlussmöglichkeiten unterhalb des Abiturs (z.B. das „Einjährige“) existierten, war es
bis in die 60er Jahre, d.h. bis zum Ausbau der realistischen Schultypen durchaus üblich, das
Gymnasium als Frühabgänger zu verlassen. Auch Kinder des städtischen Kleinbürgertums,
d.h. Kinder aus handwerklichen und kaufmännischen Mittelschichten sowie Kinder von
unteren und mittleren Beamten besuchten das Gymnasium, meist jedoch ohne die Intention,
sämtliche Bildungsstufen bis zum Abitur zu durchlaufen. Das mit Berechtigungen versehene
humanistische Gymnasium konnte in Preußen ab den 20er Jahren aufgrund der Schulreformen
und den damit verbundenen attraktiven zertifikatsabhängigen Karrieren einen erheblichen
Zuwachs an Gymnasiasten und einen Anstieg in geringerem Ausmaß an Abiturienten
verzeichnen. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass mit der Normierung des Abiturs und
den Lehrplänen eigentlich die entgegengesetzte Intention einherging, nämlich die Begrenzung
des Überangebotes an Akademikern und die Aufwertung des Gymnasiums als sozial
exklusive Bildungsinstitution. Hintergrund dieser Begrenzungsabsicht war die Tatsache, dass
sich die Lage hinsichtlich des akademischen Überangebots in den Jahren nach 1825
verschärfte, da der Staat als hauptsächlicher Arbeitgeber seine Nachfrage nach
Hochschulabsolventen stark reduzierte und auch die Konstituierung eines Arbeitsmarktes für
liberale Professionen noch nicht so weit vorangeschritten war, um den Überschuss an
Akademikern aufzufangen. Trotz der ursprünglichen Begrenzungsabsicht der
Bildungsreformer war das Gymnasium insbesondere für das städtische Kleinbürgertum eine
Schule des sozialen Aufstiegs geworden.50 In dem Maße wie die Gleichheit der Startchancen
für verschiedene gesellschaftliche Schichten verwirklicht wurde, entschied zunehmend das
Kriterium der Leistung bzw. der durch die eigene Anstrengung erreichte Bildungsgrad über
den individuellen sozialen Status.
Hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Schülerschaft fällt weiterhin auf, dass Kinder
von Kaufleuten und Unternehmern an den Gymnasien unterrepräsentiert waren. Dies kann als
Folge des neuhumanistischen Lehrplans interpretiert werden, der sich verstärkt an formaler
und allgemeiner Menschenbildung anstatt an realistischer Bildung orientierte. Dadurch dass
sich das Wirtschaftsbürgertum vom humanistischen Gymnasium weitgehend fern hielt,
verstärkte sich die Distanz der neuhumanistisch Gebildeten, d.h. des Bildungsbürgertums von
den kapitalistischen Privatunternehmern, der sogenannten Industriebourgeoisie. Die
neuhumanistisch
Gebildeten distanzierten sich bewusst von der aufkommenden marktbedingten Klasse des
Wirtschaftsbürgertums und der in ihren Augen materialistischen Wirtschaftswelt.51 Die
Einführung eines Prüfungs- und Berechtigungswesen eröffnete nicht nur für die
aufstiegswilligen städtischen Mittelschichten die Aussicht auf einen sozialen Aufstieg,
sondern brachte ebenso für den Adel fundamentale Veränderungen im Hinblick auf den
Machterhalt und die Sicherung des sozialen Status mit sich. Der Besuch einer staatlichen
Schule wurde für den Adel, dessen Kinder bisher überwiegend eine Privaterziehung genossen,
unumgänglich, wollte er sich doch auch zukünftig seinen Machterhalt und Einfluss im Staats-
und Verwaltungsapparat bewahren. Die Bezeichnung der „Verbürgerlichung des Adels“
verdeutlicht, dass der Adel durch die Bildungsauflagen gezwungen wurde, seine
48
Vgl. TENORTH (2000), S. 164-165.
49
Vgl. LUNDGREEN (1980), S. 73
50
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 216, 459-460; siehe hierzu auch LUNDGREEN (1980), S. 82, 84-85.
51
Vgl. NIPPERDEY (1983), S. 457, 460
14
Geburtsprivilegien und Vorzugschancen aufzugeben und sich vermehrt an einem einheitlichen
Leistungskriterium messen zu lassen. Andererseits kann auch davon ausgegangen werden,
dass gerade die Verbürgerlichung des Adels zur sozialen Exklusivität und zur
gesellschaftlichen Aufwertung des Bildungsbürgertums beigetragen hat.52 Der neue
Stellenwert von Bildung und die soziale Offenheit des Gymnasiums ermöglichte
zwar für einige Kindern aus dem kleinbürgerlichen Milieu einen sozialen Aufstieg in das
gehobene bzw. höhere Bürgertum, trotzdem darf nicht verkannt werden, dass gerade dieser
Wertewandel neue soziale Ungleichheiten entstehen ließ. Die entsprechende Bildung wurde
einerseits zum Bestimmungsfaktor für den sozial gehobenen Status und förderte die soziale
Mobilität bzw. die Durchlässigkeit der Gesellschaftsschichten. Andererseits wurde Bildung
aber auch zum Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium und unterstützte die Abtrennung der
gebildeten von der ungebildeten Klasse.53 Ingesamt gesehen wies die Klasse des
Bildungsbürgertums eine aus geprägte soziale Geschlossenheit auf, indem sie als verbeamtete
Staatsdiener den Zugang zu Gymnasial- bzw. Universitätsausbildung regulierte und damit die
Rekrutierung ihrer Nachkommenschaft aus den eigenen Reihen begünstigte. Obwohl sich das
Bildungsbürgertum durch marktbedingte Elemente wie das Leistungskriterium auszeichnete,
kultivierte es auf diese Weise zunächst die Überreste einer ständisch geprägten
Gesellschaftsschicht.54
15
Jahrhunderts rund 90 Schüler und in den Städten bis zu 180 Schüler. 57 Wie bereits in Kapitel
2.2 erwähnt, kann überdies von einem schlechten Ausbildungsniveau der Seminaristen
ausgegangen werden. Dieser Sachverhalt bestärkt die These, dass im Rahmen der allgemeinen
Volksbildung häufig nur die Ansätze der elementaren Kulturtechniken vermittelte wurden.
Dennoch kann dieser Sachverhalt als Forschritt gewertete werden, denn im Vergleich zu ihren
Eltern besuchte nun ein Großteil der Schulpflichten die Schule und beherrschte wenn auch nur
in Ansätzen das Lesen, Schreiben und Rechnen.58 Der unaufhaltsame Prozess der
Alphabetisierung hatte begonnen und wurde im weiteren Zeitverlauf im Hinblick auf die
qualitative Verbesserung der Ausbildung verstärkt vorangetrieben.
4. Fazit
Das preußische Schulwesen verzeichnete aufgrund der zahlreichen staatlichen Interventionen
im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Entwicklungsschub. Dies gilt
insbesondere für das höhere Schulwesen, aus dem sich durch vereinheitlichende
Reformmaßnahmen die Leitinstitution des humanistischen Gymnasiums ausdifferenzierte. Im
Vergleich zum niederen Schulwesen verlief der Prozess der Verstaatlichung des höheren
Schulwesens mit einem erheblichen Tempo- und Zeitvorsprung und kann bereits als
Systembildungsprozess bezeichnet werden. Die Privilegierung des humanistischen
Gymnasiums war die Ursache für vielfältige gesellschaftliche Auswirkungen im Hinblick auf
das Schulsystem selbst, die Lehrerschaft sowie auf die Sozialstruktur und auf den allgemeinen
gesellschaftlichen Wertewandel. Bedeutend für die weitere Entwicklung des Schulwesens ist
hierbei der Gleichberechtigungskampf zwischen humanistischem Gymnasium und den
realistischen Schulanstalten sowie der Kampf um die Aufwertung des Status des
Elementarschullehrers im Vergleich zum Gymnasiallehrer. Die herausgehobene Stellung des
Gymnasiums verstärkte des Weiteren die Etablierung der Klasse des Bildungsbürgertums,
welches sich einerseits durch einen universalistischen Leistungsanspruch auszeichnete und
auf der anderen Seite ständische Züge kultivierte. Diese Konstellation verdeutlicht, dass sich
die Gesellschaft bzw. die soziale Ordnung in einer Übergangsphase vom Ständesystem hin zu
einem Gesellschaftssystem mit marktbedingten Klassen befand. Erst gegen Ende des
Jahrhunderts war die aufkommende Industriebourgeoisie als klassische Vertreter der
kapitalistischen und marktorientierten Wirtschaftsweise stark genug, um die Machtposition
des Bildungsbürgertums in Frage zu stellen. Im Bereich des niederen Schulwesens konnten
die Bildungsreformer nicht annähernd eine einheitliche und mit dem höheren Schulwesen
vergleichbare Schulorganisation verwirklichen. Insbesondere auf dem Land hatten sich die
lokalen Gewalten mit ihren Partikularinteressen einen entscheidenden Einfluss auf die
Ausgestaltung des niederen Schulwesens bewahrt. Neben den mangelnden finanziellen
Ressourcen und dem im Vergleich zum höheren Schulwesen geringeren Interesse der
Bildungsreformer an einer Reformierung des niederen Schulwesen war der Einfluss des Adels
und der Kirche einer der Hauptgründe, warum der Prozess des staatlichen Schulausbaus im
Bereich des Elementarschulwesens wesentlich langsamer und heterogener voranschritt als im
höheren Schulwesen. Dennoch konnte aus gehend von den Jahren der Reformära die
Schulbesuchsquote merklich gesteigert und die Analphabetenquote
reduziert werden, was Preußen eine Vorreiterrolle im europäischen Ländervergleich
einbrachte. Es ereignete sich sozusagen ein gewaltiger Bildungsschub zuerst in quantitativer
dann auchin qualitativer Hinsicht, der für das gesamte 19. Jahrhundert charakteristisch ist.
Insgesamt gesehen soll noch einmal betont werden, dass die preußische Schulpolitik im ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts mit den vorgestellten Maßnahmen das Fundament für die weitere
Schulentwicklung errichtete. Obwohl es bereits früher Maßnahmen zur Verstaatlichung des
57
Vgl. ebd., S. 485; siehe hierzu auch NIPPERDEY (1983), S. 463
58
Vgl. BAUMGART (1990), S. 116.
16
Schulwesens gegeben hatte, wurde nun die Reformierung bzw. die Organisation des
Schulwesens als zentrale Aufgabe des entstehenden neuzeitlichen Staates erkannt. Von nun an
war
primär der Staat für die Ausgestaltung des Schulsystems und die Bildungsversorgung der
Bevölkerung verantwortlich.
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5. LITERATURVERZEICHNIS
JEISMANN, KARL-ERNST (1987a): Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert, in:
Jeismann, Karl-Ernst/Lundgreen, Peter (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte,
Band III (1800-1870), Verlag C. H: Beck: München
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