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Das Sterben der Einbeinigen

Kriegsversehrte gehören in Deutschland nicht mehr zum Stadtbild. Die Veteranen des Zweiten
Weltkrieges sterben langsam aus. Die Erinnerung an das Schlachtfeld Europa verblasst.
Darum geht es bei der polnischen Polemik im EU-Verfassungsstreit.

Als Jaroslaw Kaczynski die europäischen Regierungschefs mit der polnischen Demografie
konfrontierte, war er zuvor schon als Sündenbock im hiesigen Medienzirkus vorgeführt
worden. Wer die Teletubbies zur ernsten Gefahr für das Rollenverständnis der zukünftigen
Generation erkläre, könne einfach nicht ernstgenommen werden.

Das Bild des homophoben Befürworters der Todesstrafe kann der wenig telegene
Ministerpräsident im protestantischen Nachbarland schwer abschütteln. Als böser Zwilling
steht er ohnehin unter dem Verdacht gefährlicher Machtkonzentration. Die Satire des
polnischen Magazins Wprost ließ die hiesigen Gemüter schließlich überschäumen. Die
Fotomontage saugender Zwillinge an einer üppigen Merkelschen Mutterbrust bezeichneten
deutsche Tageszeitungen sogleich als Verleumdung.

Der hitzige Schlagabtausch der ehemaligen Kriegsgegner erstickt leisere Töne wie die
Empfehlung Horst Köhlers, „die Ängste in Polen [...] ernst zu nehmen“1. Doch längst leben
wir nach der Parole Münteferings in einem „normalen Land“2, das mit dem Sommermärchen
seine Gastfreundschaft bewiesen und seine Unschuld zurückgewonnen hat. Sind die Sorgen
Polens also unberechtigt?

Deutschlands Aussöhnung mit Europa fand ohne Polen statt. Die EWG als Grundlage
europäischer Zusammenarbeit markierte mit ihren Institutionen entlang der früheren Fronten
deutsch-französischer Zusammenstöße in erster Linie die Nähe zur Vierten Republik. Die
Grenze zu Polen wurde zum undurchdringlichen Eisernen Vorhang erklärt und erschwerte
diplomatische Bemühungen zusätzlich. Am Ende des Kalten Krieges begegneten sich ein
unabhängiges Polen mit einer instabilen Großmacht im Nacken und ein wiedervereinigtes
Deutschland, eingebettet in NATO, EU und Marktwirtschaft.

Nun begegnen sich die Nachbarn in Brüssel und Polen fordert gleiche Augenhöhe. Dass
Kaczynski seine innenpolitischen Mehrheitssorgen durch außenpolitische Standhaftigkeit zu
kompensieren sucht, sollte hierzulande nicht erstaunen, schließlich leisteten deutsche Kanzler
Pionierabeit auf diesem Gebiet. Allerdings darf man enttäuscht sein über die Art und Weise,
wie kühl Merkel und Kaczynski sich begegnen – keine Massagepraktiken, kein Handkuss.
Körperliche Zuwendung bleibt den alten Bündnispartnern Amerika und Frankreich
vorbehalten, Merkel lässt nicht jeden ran.

Dabei haben der Chef und die Chefin einiges gemeinsam. Beide kommen aus Akademiker-
Familien und wurden im Sozialismus groß, beide waren zunächst in Bildungseinrichtungen
tätig. Kaczynski begann seine politische Arbeit rund zehn Jahre früher als seine deutsche
Amtskollegin, zunächst an der Warschauer Universität, in den Achtziger Jahren dann in der
Gewerkschaft Solidarnosc, die 1990 mit Lech Walesa den Staatspräsidenten stellte.

In jenem Jahr begann der kometenhafte Aufstieg der deutschen Kanzlerin. Anders als ihr
polnischer Amtskollege war sie keine Oppositionelle. Die promovierte Physikerin arbeitete
1
Am 2. September 2006 in einer Rede zum „Tag der Heimat“ im Berliner Kongresszentrum.
2
Am 29. Oktober 2002 in einer Rede im Bundestag.
zunächst als Sekretärin für Agitation und Propaganda bei der FDJ, ehe sie zum Jahreswechsel
1989/1990 ihr Engagement beim Demokratischen Aufbruch begann. Aus taktischen Gründen
holte die CDU den DA in ihr Wahlbündnis Allianz für Deutschland. Der DA erlitt bei der
Volkskammerwahl im März 1990 eine herbe Schlappe: 0,9 Prozent stimmten für das neue
Bürgerforum ohne Profil. Dem Bündnispartner CDU verdankt der DA den faktischen
Wahlsieg des historischen Urnengangs. Merkels Aufstieg innerhalb der CDU ermöglichten
Ziehvater Kohls Zuwendungen.

Die polnischen Sorgen dürften der ehemaligen Sozialistin aus dem Schulunterricht bekannt
sein. Das Grenzland hinter dem antifaschistischen Schutzwall vereinte alle kapitalistischen
und imperialistischen Machtmerkmale des Klassenfeindes innerhalb des propagandistischen
Pädagogiksystems der DDR.

Die Sorge über ein wiedervereintes und aufgeblähtes Deutschland ist aber kein rein
polnisches Thema. Im Zuge der Wiedervereinigung äußerten zahlreiche westliche Nachbarn
ähnliche Bedenken, woraufhin die BILD-Zeitung die Welt mit der Überschrift „Jetzt wissen
wir, wer unsere Freunde sind“3 in gut und böse aufteilte.

Kamellen und Rhetorik sind also uralt. Die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, der als
Argument im EU-Streit um das Stimmengewicht herhalten muss und die politische
Entwicklung der beiden Nachbarn lange Zeit trennte, formte und allmählich wieder
zusammenführt, sind es leider auch. Die Einbeinigen sterben. Erinnern wir uns, bevor wir uns
entrüsten.

3
Am 13. Dezember 1989.

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