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Geschichten aus der Realität

© 1989, 1990 Stefan Hinz

Ein nicht ganz gewöhnlicher Balkon


Als Sej die Balkontür öffnete, nieselte es draußen immer noch wie beim
letzten Mal, als er hinausgetreten war. Er stützte die Hände auf die flache
Brüstung und blickte auf das nasse Kopfsteinpflaster der Straße, das die Lichter
der Gaslaternen reflektierte. Ein Laster kam angeschossen und zerriß für eine
Weile die Klangkulisse der Nebenstraße - das ferne Rauschen der
Hauptverkehrsstraße, ein bellender Hund an der Ecke, der versuchte, seinen
angeleinten, betrunkenen Menschen in die richtige Richtung nach Hause zu
ziehen. Der Lastwagen geriet außer Sicht, während seine Bremsleuchten noch
rot auf dem Pflaster schimmerten. Der Hund war um die Ecke verschwunden,
wo er mit seinem Menschen anscheinend eine heftige Diskussion begann, wenn
Sej die Lautäußerungen des Menschen richtig einschätzte. Schon bald darauf
waren sie nicht mehr zu hören, wahrscheinlich hatte der Hund bei diesem
Wetter die besseren Argumente.
Sej fand, daß er das alles schon oft genug gesehen hätte und daß es an der
Zeit wäre, zu verschwinden und etwas Neuem Platz zu machen. Er schaute
nach oben in den stadtnachtgrauen Himmel - eine Farbe, die etwas eigentüm-
lich Gewöhnliches hat, und die Nässe der Luft legte sich ihm auf die Augen, so
daß er, als er wieder die Fenster des gegenüberliegenden Hauses ansah, diese
nur als verschwommene Lichtflecke wahrnahm. Hinter ihm in der Tür miaute
seine Katze. Sej hockte sich hin, um sie zu streicheln, wobei er den Blick aber
nicht von den Lichtflecken nahm, aus denen allmählich wieder gewöhnliche Alt-
baufenster wurden. Er wußte, wo die Katze stehen würde: nämlich mit den
Vorderpfoten auf der Türschwelle, so daß er gar nicht hinsehen brauchte, um
sie zu berühren. Aber heute war etwas anders.
Sej schaute verwundert auf seine Katze hinunter, die ihren Kopf an seinem
rechten Bein rieb und schnurrte. Die Katze haßte gewöhnlich den Lärm der
Straße oder die Kälte des Balkonbodens oder beides und kam deshalb nie her-
aus, außer an den wenigen Tagen des Sommers, an denen nachmittags die
Sonne auf die Blumenkästen schien, was sie als Aufforderung ansah, sich auf
die Blumen zu legen und sich den Pelz wärmen zu lassen. Heute nieselte es,
und sie stand hier draußen und schnurrte. Sej nahm sie auf den Arm und dreh-
te sich um, um hineinzugehen. Er hätte das mit Sicherheit auch gemacht, wenn
sich zwischen dem Balkon und der Wohnung nicht ein fünf Meter breiter Spalt
befunden hätte, der sich rasch vergrößerte. Die Wohnung befand sich in der
vierten Etage, und der Balkon war auf den Erker der darunter liegenden
Wohnung gebaut oder vielmehr: gebaut gewesen. Sej fragte sich, ob es nun in
diese Wohnung hineinregnete. Direkt danach fragte er sich, worauf der Balkon
denn nun stände. Wiederum kurz danach fragte er sich, ob er vielleicht träume.
Andererseits hatte er sicher im Traum im Nieselregen gestanden, aber er konn-
te sich nicht erinnern, sich jemals so täuschend echt naß gefühlt zu haben.
Außerdem wurde ihm langsam kalt.
"Nun gut", sagte Sej zu seiner Katze, "ich sollte mir ziemlich bald klar
werden, ob ich das nur träume, sonst werden wir uns erkälten. Was hältst du
von der Sache?"
"Hmmm...", schnurrte die Katze, weil sie noch überlegen mußte. Dann aber
grub sie ihre Krallen in Sejs Pullover, wie sie das immer tat, wenn er sie in einer
fremden Umgebung umhertrug.
Der Balkon hatte mittlerweile die Straße überquert und war dabei unmerklich
höher gestiegen. Nun stand er beinahe auf dem Dach des gegenüberliegenden
Hauses. Sej hielt sich jetzt mit der einen Hand am Gitter fest, das auf die Bal-
konbrüstung montiert war, um die Blumenkästen am Herunterfallen zu hindern,
mit dem anderen Arm hielt er noch immer die Katze. Der Balkon beschleunigte
nun merklich und stieg immer höher. Als Sej es wagte, einen Blick hinter sich
zu werfen, konnte er schon fast das gesamte Stadtviertel erkennen: die drei
Hauptstraßen, die die Gegend auseinandertrennten wie geronnene Lava, auf
denen jetzt nur wenige Autos fuhren, den Rathausturm, die große Kirche. Ein
Schauder lief über seinen Rücken. Der Fahrtwind blies ihm den Nieselregen ins
Gesicht wie Gischt an Bord eines Schiffes. Die Katze vergrub ihren Kopf in sei-
ner Armbeuge und schnurrte nur noch ganz leise.
"Hätte mir jemand gesagt, daß Balkone fliegen können, hätte ich mir heute
nicht nur diesen Kimono angezogen," murmelte Sej vor sich hin. Er war
erstaunt darüber, so wenig erstaunt zu sein, daß er sich mit derartig Trivialem
beschäftigen konnte, während er mit dem vermutlich ersten fliegenden Balkon
der Menschheitsgeschichte auf einer nicht ganz alltäglichen Reise unterwegs
war. Mittlerweile waren die beiden in die niedrighängenden Wolken einge-
taucht, aber nasser konnte es sowieso nicht werden. Durch den immer stärker
werdenden Fahrtwind und die größere Höhe wurde es allerdings empfindlich
kühl. Am Balkongeländer bildeten sich die ersten dünnen Eisschichten. Schräg
vor ihnen erschien urplötzlich ein grelles Licht, und Sej kniff vor Schmerz die
Augen zusammen.
Der folgende Knall war so stark, daß er ihn fast vom Balkon gefegt hätte,
doch dieser raste gleichzeitig in einer scharfen Kurve zurück in die Richtung,
aus der sie kamen, so daß Sej und die Katze gegen die Balkonbrüstung
gedrückt wurden. Der Balkon bremste nun heftig ab, wobei er aber immer noch
an Höhe gewann, und das schneller als zuvor, bis er wie ein Aufzug in den
Himmel schoß. Schließlich zerriß der Wolkenschleier wie ein Vorhang und die
Sterne und der fast volle Mond wurden so plötzlich sichtbar wie in einem 3D
Trickfilm, so daß es Sej schier den Atem verschlug. Der Balkon stieg nun immer
langsamer und vollführte noch einige Drehungen, bis er zum Stillstand kam.
Das überraschende Auftauchen des Sternenhimmels war schon
überwältigend gewesen, aber was Sej nun sah, hätte ihn wirklich von den
Socken gehauen, wenn er welche getragen hätte.

Die Aggregatzustände der Zeit


Nachrichten von Ebene 9, formatiert für Lebensformen bis Ebene 10. Eine
scheinbare Unmöglichkeit ist jetzt nicht mehr ganz so unmöglich. Wie uns Be-
wohner eines Cerebralplaneten im System Alpha Centauri mitteilten, ist es ih-
nen angeblich gelungen, die auf allen Ausprägungen der Ebenen 10 und darun-
ter vorliegende Standardsimulation "Zeit" von einem Aggregatzustand in einen
anderen umzuwandeln. Daß diese Simulation überhaupt einen Aggregatzu-
stand besitze, war bisher von wissenschaftlichen Kreisen unserer Ebenen kate-
gorisch bestritten worden. Bei den genannten Bewohnern des Cerebralplaneten
handelt es sich (auf Ebene 10) um Virenähnliche, die verblüffenderweise Radi-
kal Erweiterten Insekten ähnlich sehen.
Die Geschichte selbst eines Staubkorns auf den Ebenen 10 und darunter ist
eng verbunden mit einer Standardsimulation, die von Humanoiden im Sol-
System als "Zeit" bezeichnet wird, allerdings sagen andere dort auch "time"
zum selben Phänomen, wieder andere nennen es "temps", "tiempo" usw., und
nur die Worte aufzuzählen, die auf Ebene 10a (einer Raum-Zeit(!)-Simulation
mit einer Krümmung von 56 Trillionen Lichtjahren) dafür verwendet werden,
würde mehr als ein Buch wie dieses füllen. Eine Bezeichnung sei jedoch
erwähnt, weil sie durch ihre Art einen ganzen Planeten auf die Suche nach den
verschiedenen Aggregatzuständen dieser Simulation schickte: Auf dem
Cerebralplaneten Medulla wurde Zeit nämlich als "Das Fließende" ausgedrückt,
was gewisse virenähnliche Bewohner dieses Planeten veranlaßte, mit dieser
Simulation herumzuexperimentieren, daß es Gott eine Freude gewesen wäre,
hätte es ihn gegeben. Das letztendliche Ergebnis war für die Virenähnlichen
eine Sensation; für einige Programmierer auf Ebene 5 bedeutete es
bedauerlicherweise, eine Wette mit Kollegen auf Ebene 4 verloren zu haben,
wofür sie tief in ihre Taschen greifen mußten, die sich unpraktischerweise zwei
kosmische Ebenen unter ihnen befanden.
Auf Sejs Heimatplaneten im Sol-System hatte es vor dem Auftauchen der Hu-
manoiden, die sich seitdem rasant über die gesamte Landfläche ausgebreitet
hatten (mit Ausnahme einiger schöner Sonnenplätze, die sie "Wüsten" nann-
ten, und vieler hoch gelegener Aussichtsplattformen und -spitzen, in ihrer Spra-
che "Hochgebirge"), einige hochinteressante Lebensformen gegeben, die sich
(teilweise zu ihrem eigenen Bedauern, teils unter der Anteilnahme fast des ge-
samten fühlenden Universums) selbst wieder ausgerottet hatten. Die meisten
waren nicht auf dem Planeten selbst entstanden, sondern von Reisenden der
Ebene 9 zu Versuchszwecken oder zum Spaß ausgesetzt worden. Einige hatten
sich gar selbst eingeschleust, wie z.B. die SAURIER (Superintelligente AUßer-
irdische Riesen In Eigentümlichen Rüstungen), die sich einige Milliarden Plane-
tenumdrehungen damit vergnügt hatten, die Landoberflächen kahlzufressen,
bevor ihnen das zu langweilig wurde und sie unter Hinterlassung des größten
Teils ihrer Körpermasse auf einen nahegelegenen Planeten desselben Systems
übersiedelten, wo sie es dann so toll trieben, daß dieser zum Schluß in Stücke
zersprang, die von den Humanoiden später "Asteroiden" genannt wurden.
Viele Rassen waren allerdings auch von den Humanoiden verdrängt worden,
wie der Knatschmaulflosser, der einzige bekannte wasserscheue Fisch, der
hauptsächlich in Laubwäldern wohnte. Sein Geistes- und Sozialleben basierte
auf hochempfindlichen Logikschaltkreisen, die denen späterer, von den Huma-
noiden "erfundener" Computer sehr ähnlich waren, mit dem Unterschied, daß
die Schaltungen des Knatschmaulflossers Gedankenimpulse verarbeiteten und
nicht elektrische oder optische Signale. Mit der Zunahme humanoider Ge-
dankenaktivität wurde dem Knatschmaulflosser das Leben zuerst versaut und
im weiteren Verlauf unmöglich gemacht, woraufhin sich die letzten Exemplare
ins Ungewisse auflösten.

Intelligentes Leben auf dem Planeten Erde


Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, daß bis zum beziehungsweise mit
dem Auftauchen der Humanoiden sämtliches intelligente Leben von dem Plane-
ten verschwand.
Zwei Exemplare einer Rasse intelligenten Lebens schwammen in diesem
Augenblick (eine höchst hypothetische Angabe; korrekt müßte es heißen:
würden zu möglichen, programmgleichen Simulationseindrücken als
Schwimmende erschienen sein; aber das verunmöglicht flüssige Schreibweise)
direkt vor der Küste einer Region, die von den Humanoiden Kalifornien genannt
wird, und erfreuten sich am Spiel der untergehenden Sonne mit den kleinen
Wellen, die sie beim Durchbrechen der Wasseroberfläche hervorriefen.
"An Tagen wie heute werde ich immer philosophisch," sagte Ssnfrneingh der
Jüngere und blickte zu Arrgnflrt dem Unbeirrten hinüber, der heute seinen Ge-
burtstag feierte (er wußte allerdings nicht mehr, den wievielten, da er seit dem
500000. nicht mehr mitgezählt hatte). "Tage wie diese gab es schon, als wir
zum ersten Mal in diesen Planeten eintauchten," fügte er hinzu, "und in man-
chen Bereichen scheint sich nichts zu ändern, während es in anderen nie
zweimal denselben Zustand gibt."
"Denkbar wäre," entgegnete Arrgnflrt, "daß sich die Kontinua seit unserem
Eintreffen übereinandergelagert haben, und dass sich durch äußere
Einwirkungen, die wir nicht verstehen, dort in den gestapelten Schichten
Brüche und Risse bilden, die durch ihre Anomalie erst erlauben, Einblicke in
diese Dualzeit zu gewinnen, wie du sie anscheinend hast."
"Wenn es so wäre, hätten wir allerdings keine Möglichkeit mehr, durch
rekursive Spiegelungen entlang der Zeitachse das Geschehen von Anbeginn zu
rekonstruieren," behauptete Ssnfrneingh.
Derart zog sich die Unterhaltung hin, bis die Sonne schon lange im Ozean
verschwunden war. Arrgnflrt und Ssnfrneingh schwammen jetzt knapp unter
der Oberfläche in der großen Bucht, an deren Ufer sich eine der größten Huma-
noiden-Siedlungen des Planeten befindet. Nur noch ihre Rückenflossen ragten
aus dem Wasser, während sich ihre Unterhaltung einem höchst theoretischen
Ende zuneigte. Lebensformen ihres Charakters haben eine ausgesprochene Ab-
neigung gegen letztendliche Schlußfolgerungen, die es ja unmöglich machen,
ein Gespräch mit demselben Thema auf dieselbe Art bis ins Unendliche wei-
terzuverfolgen. Daher traf es sich gerade richtig, daß über ihnen ein defektes
Verkehrsflugzeug mit qualmenden Triebwerken zur Bruchlandung auf dem
Wasser ansetzte.
"Die Humanoiden haben eine merkwürdige Einstellung zu ihrer Technik,"
sinnierte Ssnfrneingh, "wenn etwas schiefgeht, glauben sie, das sei ein Fehler,
den man in Zukunft vermeiden kann, selbst wenn es schon tausendmal schief-
gegangen ist."
"Wir sollten uns darüber nicht beklagen," lachte Arrgnflrt (Humanoide
würden beim Anblick dieses Lachens nicht behaupten, daß Lachen unbedingt
etwas mit Humor zu tun hat), "außerdem ist es Zeit, etwas zu essen."
Mit einem gewaltigen Krach landete das Flugzeug gar nicht weit von ihnen
auf dem Wasser, wobei es sofort in zwei Teile auseinanderbrach. Ssnfrneingh
drehte und schwamm gemächlich neben Arrgnflrt her auf die abgestürzte
Maschine zu. "Du hast recht," sagte er, "laß uns Abend essen gehen."

Hightech zum Reinkuscheln


Sej setzte die Katze auf die Balkonbrüstung zwischen zwei Blumenkästen und
hielt sich mit beiden Händen am Gitter fest. Er versuchte, tief Luft zu holen,
zwinkerte ein paarmal heftig mit den Augen und versuchte sich einzureden,
daß er doch nur träume. Die Katze sah ihn an und miaute, machte aber keinen
ängstlichen Eindruck. Was ihn verwunderte, war, daß auch er überhaupt keine
Angst hatte. Unter seinem Balkon war einige tausend Meter nichts, und
dennoch fühlte er sich sicher wie auf festem Boden. Er drehte sich um und
nahm das Objekt, das ihn von den Socken gehauen hätte, wenn er welche ge-
tragen hätte, genauer in Augenschein. Als wäre das das Normalste von der
Welt, lag dort eine kleine weiße Wolke mit allerdings sehr symmetrischen
Formen. Sie lag dort wie ein Schiff, das am Kai des Balkons angelegt hatte. Sej
schätzte sie auf drei Meter Länge und vielleicht knapp zwei Meter Breite.
Die Oberfläche formte einige Dinge, deren Sinn einfach zu erkennen war, und
einiges, was ihm unverständlich blieb. Da waren zwei Sitzkuhlen nebenein-
ander, eine große und eine kleine, zwischen denen sich eine Art Tastatur
befand mit Tasten verschiedener Größe und Dicke. Vor den Sitzen befand sich ?
schräg "eingebaut" ? eine Art Monitor, dessen Schirm in einer etwas anderen
Farbe als der Rest schimmerte.
Überhaupt diese Farbe! Die Wolke war aus dem reinsten Wolkenweiß über-
haupt, ohne eine Spur von Regen. Hinter den Sitzen befanden sich Erhöhungen,
deren Sinn er nicht erkennen konnte, und hinter diesen etwas, das der
Heckflosse eines Flugzeugs ähnelte. Diese Flosse war der Teil der Wolke, der
am weitesten herausragte, vielleicht einen knappen Meter vom Boden der Sitze
aus gerechnet. Die Katze war auf den Balkonboden gesprungen und
schnupperte vorsichtig an der Wolke herum. Sej beugte sich herunter und faßte
das Gebilde an. Es fühlte sich unbeschreiblich an: Da war viel mehr als bei
einer gewöhnlichen Wolke, durch die er hindurchgefaßt hätte (dachte er
jedenfalls, denn soweit er sich erinnern konnte, hatte er vorher noch nie eine
Wolke berührt). Andererseits war das Material auch nicht wirklich fest, eher so
wie dichte Watte. Auch konnte er nicht sagen, ob es sich warm oder kalt
anfühlte. Insgesamt hatte er den Eindruck, daß die Bezeichnungen für
Tasteindrücke, die er wie alle anderen Menschen verwendete, einfach nicht
ausreichend waren für dieses Gefährt.
Ein Gefährt: Er war sich ganz sicher, daß diese Wolke so etwas war, obwohl
er auch ganz sicher war, so etwas noch nie gesehen zu haben. Die Katze setzte
vorsichtig eine Pfote darauf: Das Material gab ganz leicht nach. Das gleiche ge-
schah, als Sej mit der Handfläche kräftiger drückte, die Wolke an sich jedoch
bewegte sich überhaupt nicht. Danach beugte er sich hinüber bis zu der Tasta-
tur. Er zögerte einen Moment, dann drückte er den größten der Knöpfe, den er
vom Balkon aus erreichen konnte. Wie um eine Vorahnung zu bestätigen, er-
schienen auf dem Monitor die Worte: "Bitte treten Sie näher!"
Er drückte noch einmal auf den Knopf, und darunter erschien die Nachricht:
"Guten Tag! Was Sie hier vor sich sehen, ist der Prototyp eines neuartigen
Reisesimulators, der auf einer neuentwickelten Design-Philosophie basiert. Erst-
mals wurden hier nicht nur sämtliche interstellaren Simulationen implantiert,
sondern auch Zeit-Simulationen, die auf neuesten Erkenntnissen beruhen. Pa-
tente sind bisher für die Ebenen 10 bis 7 angemeldet."
Die Schrift verblaßte, bis sie fast nicht mehr sichtbar war und wurde dann
wieder stärker. Die Nachricht ging weiter: "Zögern Sie nicht einzusteigen. Dies
ist, wie gesagt, ein Prototyp. Wenn Sie ihn nicht ausprobieren möchten, werden
wir ihn in Kürze ins nächstgelegene Sonnensystem lancieren, um ihn dort anzu-
bieten. Bedenken Sie: Die Fabrikation kann erst im nächsten Zeitgrad aufge-
nommen werden. Für Ihren Planeten (hier kamen jetzt die genauen Zeit-Raum-
Koordinaten samt einer atemberaubenden 3D-Grafik) wird dies erst im Jahre
50384 Ihrer Zeitrechnung der Fall sein. Sollten Sie unser Probeangebot aber
annehmen, können Sie den Reisesimulator vorerst bis zum Jahr 2024 Ihrer Zeit-
rechnung behalten. Sollten Sie sich danach zum Kauf entscheiden, kann Ihnen
unsere Kreditabteilung günstige Bedingungen anbieten. Sollten Sie auf den
Kauf verzichten, entstehen Ihnen aus der probeweisen Nutzung keinerlei Ver-
pflichtungen."
Dieser Text blieb auf dem Monitor stehen, und Sej drückte noch einmal auf
den Knopf. Das führte dazu, daß alles jetzt noch einmal akustisch dargeboten
wurde, mit einer sympathischen, säuselnden Stimme, von der man nicht sagen
konnte, ob sie einem Mann oder einer Frau gehörte: "Bitte treten Sie näher! Gu-
ten Tag! Was Sie hier vor sich sehen, ist der Prototyp ..."
Sej hörte nicht lange zu. "Du hältst das vielleicht für feige," sagte er zu der
Katze, "aber ich bin sicher, das nichts Schlimmes passiert."
Er nahm sie hoch und setzte sie auf die Wolke, in die Vertiefung des großen
Sitzes. Sie sah ihn etwas vorwurfsvoll an, lief dann über die Tastatur hinüber
und nahm auf dem kleinen Sitz Platz. Sej setzte einen Fuß auf den großen Sitz,
verlagerte vorsichtig sein Gewicht vom Balkon auf die Wolke und setzte sich
schließlich richtig hin. Zu seiner Überraschung saß man hier sehr angenehm;
das Material paßte sich der Körperform an. Außerdem fühlte er sich jetzt nicht
mehr kalt, obwohl sein Kimono immer noch durchnäßt war. Die Katze saß da
und leckte sich die Pfoten. Sej sah zu ihr hinüber. Sie stoppte mitten in der Be-
wegung und sah ihm in die Augen. Sej lachte und lehnte sich zurück.
Mit einem Mal war der Balkon verschwunden. Sej schaute über den Rand der
Wolke hinunter und sah, wie er nach unten raste. Auf dem Monitor erschien die
Mitteilung: "Ihr Aufzug wird jetzt wieder dauerhaft im Erdgeschoß geparkt. Sie
werden ihn wahrscheinlich nicht mehr benötigen."
Sej legte die rechte Hand auf die Tastatur, was den Bildschirm veranlaßte,
ihm mitzuteilen, daß die Wolke jetzt auf ihn kalibriert sei und von nun an die
Raum-Zeit-Koordinaten in bezug auf den Punkt Erde ausgeben werden würden.
Er wagte nicht zu hoffen, auch nur im Entferntesten zu verstehen, was ein
Reisesimulator wäre; dennoch hätte er gerne gewußt, wie das Ding zum Laufen
gebracht werden könnte. Er drückte wieder auf die große Taste.
"Hallo! Sie möchten jetzt sicher losfliegen. Neben der Taste, die Sie gerade
bedient haben, befindet sich ein Hebel, mit dessen Hilfe Sie verschiedene
Menüpunkte ansteuern und aufrufen können. Folgen Sie den Anweisungen, die
ausgegeben werden, und genießen Sie Ihre erste Reise. Proviant, Kleidung und
weitere Dinge, die Sie benötigen werden, befinden sich hinter Ihnen. Stellen Sie
Temperatur, Luftdruck und -feuchtigkeit, Gravitation, Strahlungsgemisch und
-stärke Ihren Wünschen gemäß ein. Eine Standardeinstellung, die die nach un-
seren Erkenntnissen optimalen Werte für Ihre Lebensformen enthält, ist bereits
aktiviert."

Die Wette
Nachrichten im Subkanal der Ebenen 4/5: Parameterübertragungen unkon-
trolliert impliziert Rückwirkungen in Kontinua-Aspekten ergo kontinuierlich dis-
relevant. Damit sollte jetzt dem letzten Programmierer der Subebene 10a klar
sein, daß DIE WETTE verloren ist! Wir bitten, die Begleichung der dadurch ent-
standenen Schuld am Buß- und Bettag diesen Jahres vorzunehmen. Haha! Hu-
hu. Hehehe! Höhöhöh. Hihi.

Das extramaristrische Spektroskop


Arrgnflrt der Unbeirrte war ein verfressenes Tier, wie er selbst nicht ohne
Stolz zugab. Dennoch hatte das Angebot an Abendessen an diesem Tag trotz
der Hilfe einiger Dutzend Artgenossen, die schleunigst herbeigekommen waren,
sein Können bei Weitem übertroffen. Das havarierte Flugzeug hatte sich wieder
einmal als eine vollbesetzte Boeing 747 herausgestellt, und Arrgnflrt beschloß
insgeheim, diese Bucht bis auf Weiteres zu meiden, da nichts ihn so sehr ver-
drießen konnte wie Essen, das ungefressen wegschwamm.
Auch den anderen quollen vor Sattheit schon fast die kleinen Augen aus den
feisten silbrigen Körpern, und es war klar: Da man heute schon mal versammelt
war und außer Entspannen nicht mehr viel drin war, würde früher oder später
wieder eine hochphilosophische Diskussion entbrennen, auf die Arrgnflrt an
diesem Abend überhaupt keine Lust mehr hatte.
Überhaupt hatte er sich in der letzten Zeit (eine Spanne, die die Humanoiden
mit "während der letzten Jahrtausende" bezeichnet hätten) ganz schön
verändert, wie er meinte. Hatte er früher noch jahrelang am Stück über ein
einziges Thema plaudern können, so war er heute meist nach ein paar Monaten
ziemlich gelangweilt. Auch fühlte er sich von Zeit zu Zeit müde, was ihn
anfangs reichlich erschreckt hatte. Zwar hatte er in der letzten halben Million
Jahre nicht geschlafen, aber das war für Angehörige seiner Rasse normal. Wenn
einer von ihnen mal schlief, dann nur, weil er keine andere Chance mehr sah,
verrückt zu werden, und es partout nicht mehr aushielt, normal zu sein. Arrgn-
flrt hatte es am Anfang seiner jetzigen Existenz aus Neugier ausprobiert und
hegte seitdem einen tiefen Abscheu gegenüber Lebensformen, die regelmäßig
schliefen, was auf diesem Planeten merkwürdigerweise fast alle waren.
(Diese Tatsache ist tatsächlich merkwürdig, denn das Phänomen Schlaf ist im
übrigen Universum nichts weiter als ein Kuriosum, das allenfalls in billigen
Ratespielen, Boulevardzeitungen und vereinzelt auf entlegenen Planeten zu
finden ist. Die Attraktion von Lea Ulterior ist der Faltige Schnurzpiep, der seit
mehreren Jahrtausenden in einem Glaskasten schläft, wobei er durch eine
Batterie von Schläuchen künstlich ernährt wird. Böse Zungen behaupten, daß
sein Schlafzustand schon seit Langem chemisch verlängert wird, aber die Lea-
Ulterioraner streiten das natürlich energisch ab. Eine Filmfirma, die viel Geld
dafür bezahlt, die Gedankenströme des Schnurzpiep ableiten zu dürfen, um
daraus Drehbuchvorlagen für Nachmittags-Kinderserien herzustellen, legte
neulich sogar ein Gutachten eines Schlafschutzvereins vor, das beweisen soll,
daß der Schlaf des Schnurzpiep völlig natürlich ist.)
Arrgnflrt hatte auch herausgefunden, daß die Neigung zu schlafen etwas mit
der Neigung zu sterben zu tun hatte. Deshalb wunderte er sich, daß die vielen
Humanoiden, die versuchten, ihre Neigung zu sterben abzuschaffen oder doch
hinauszuzögern, nicht versuchten, ihre Neigung zu schlafen zu verändern.
Dabei hatten sie doch trotz ihrer minimalen Intelligenz vor Kurzem bereits er-
kannt, daß - wie sie sich ausdrückten - der Schlaf der Bruder des Todes sei.
Nun, für Arrgnflrt war es natürlich unmöglich, sich in so niedrige Lebensformen
hineinzuversetzen; aber manchmal reizte ihn das schon, weil er dann vielleicht
etwas mehr über seine eigene Müdigkeit dazugelernt hätte. "Leider", so
sinnierte er, "schließt die Evolution die Türen zur Rückentwicklung..."
Arrgnflrt war einige Zeit in ziemlich schnellem Tempo südwärts
geschwommen, um seine diskussionsfreudigen Artgenossen abzuwimmeln,
jetzt schwamm er eher gemächlich gegen den sanften kühlen Strom, der um
diese Jahreszeit die gesamte Küste dieses Kontinents entlangstrich. Hin und
wieder begegnete er großen Fischschwärmen, die bei seinem Anblick hastig
abbogen oder auseinanderstoben, aber Arrgnflrt achtete nur darauf, keinem
Artgenossen über den Weg zu schwimmen, weil er in Ruhe seinen Gedanken
nachhängen wollte. Sein Hunger war ohnehin für ein paar Tage gesättigt, und
die Pflanzengewebe und Tierhäute, die die Humanoiden sich über ihre Haut zu
hängen pflegten, waren ziemlich schwer verdaulich.
Arrgnflrt hing noch einige Tage seinen Gedanken nach (für die ein
humanoider Philosoph vermutlich sein Leben gegeben hätte, wenn er sie nur
hätte hören können), bis er schließlich einen Entschluß faßte: Er würde auf dem
schnellsten Wege zum extramaristischen Spektroskop schwimmen, das seit
etlichen Jahrhunderttausenden in einem vergleichsweise ruhigen Meeresarm
aufgestellt war, den die Humanoiden Ägäis nannten (in Arrgnflrts Sprache hieß
dieser Teil des Ozeans Sflng Krzm Krzn Pflpfl, was nicht nur in Kurzform
durchschnittliche Tiefe, Salzgehalt, Strahlungsaktivität und andere
wissenswerte Parameter dieses Seitenmeeres angab, sondern auch einige
Anekdoten und Legenden aus den Zeiten beinhaltete, in denen dieses Meer
trockenes Land gewesen war).
Das extramaristische Spektroskop war von den ersten Ankömmlingen von
Arrgnflrts Rasse ursprünglich in einem pazifischen Graben aufgestellt worden;
dort war es jedoch von pazifischen Tiefseeröchlern, den einzigen Fischen mit
meßbarer Intelligenz, als eine Art Kino mißbraucht worden, und war daher
irgendwann einmal nach Sflng Krzm Krzn Pflpfl geschafft worden, wo es nur ein
paar hundert Meter unter der Oberfläche stand (und damit zu hoch und auch
zu weit entfernt für die Tiefseeröchler, die seitdem die pazifischen Gräben mit
ziemlich barbarischen Spielen terrorisierten, auf die aus Gründen der Ästhetik
nicht weiter eingegangen werden soll).
Für ein humanoides Gehirn wäre das extramaristische Spektroskop
tatsächlich eine Art Kino gewesen (wenn das humanoide Gehirn etwa fünfmal
schwerer und das Kino vierdimensional gewesen wäre). In ihm waren alle
Erkenntnisse des belebten Universums seit dem Urknall und bis zum
Endplumps in komprimierter Wellenform aufgezeichnet. Äußerlich bestand es
aus einer Anzahl Metallringe, die im Abstand von einigen Metern in
unterschiedlicher Höhe und Ausrichtung aufgestellt waren und fast gleiche
Durchmesser hatten. Dieser Durchmesser war schwer zu schätzen, da die
Ringe ein irisierendes Flirren von sich gaben, was es zusammen mit der
ständigen Bewegung des Wassers in ihrer Nähe sogar schwierig machte, ihren
genauen Standort zu bestimmen.
Nichtintelligente Lebensformen wurden durch sie gewöhnlich so stark
verunsichert, daß sie es vorzogen, die Metallringe überhaupt nicht zu
bemerken. Mit den Eindrücken im Unterbewußtsein konnte man sich schließlich
im Schlaf beschäftigen... Arrgnflrts Rasse nutzte das Spektroskop fast nur noch
in Augenblicken des Zweifels und wenn einer Schwierigkeiten hatte, sich zu
irgendetwas zu entscheiden (dafür war es besonders vorteilhaft, denn wenn
man mal wieder gesehen hatte, was für Schwierigkeiten das Universum
gewöhnlich hatte, sich zu entscheiden, fühlte man sich irgendwie gestärkt).
Und genau daran dachte Arrgnflrt, während er, jetzt wieder mit höherer
Geschwindigkeit, an Baja California vorbeizog, in Richtung der Einöden vor der
südamerikanischen Küste, und in Richtung des riesigen Strudels, der sich einige
Wochen im Jahr vor dem antarktischen Kontinent bildete (und von dem die
Humanoiden bisher merkwürdigerweise nichts bemerkt hatten, mit Ausnahme
derer, die darin untergegangen waren), in Richtung eines Naturphänomens
also, das selbst für Arrgnflrt gefährlich werden konnte, und an das er, da er
schon wieder in Gedanken versunken war, überhaupt nicht dachte.

Fahren lernen
Sej spielte eine Weile auf dem Bildschirm herum. Die Informationen, die dort
erschienen, und die phantastischen Möglichkeiten, die dort angedeutet waren
(in Wirklichkeit war das der eher trockene Ebene-10a-Standard nach der ESN
C2-007), brachten ihn in eine Art euphorischen Rauschzustand. Daher dachte
er vorerst gar nicht daran, sich für irgend etwas zu entscheiden, sondern ließ
sich von einer Menüleiste in den nächsten Unterordner und eine weitere Menü-
leiste von etwas, das ein Unterprogramm zu sein schien, in eine dreidimensio-
nale Farbgrafik hineintragen, die Walt Disney's Trickfilmexperten als blasse
Stümper hätte dastehen lassen. Der Effekt war dermaßen überzeugend, dap
Sej sogar versuchte, in den Monitor hineinzufassen, was zu seiner Überra-
schung möglich war: Er konnte den momentan dargestellten Planeten (die
ätherische Version eines Gasplaneten am Rande der 10a-Ebene) mit den
Fingern berühren, seine Konsistenz ertasten, fühlen, wie kalt er war, ihn drehen
und sogar eindellen (hätte er sich bereits besser mit Simulationen ausgekannt,
hätte er auch mit dem Planeten sprechen können). Er konnte auf bestimmte
Punkte zeigen und dazu wiederum Menüleisten aufrufen, die andere Grafiken
vor, hinter, oder, fast durchsichtig, in den Monitor stellten, und er war so fas-
ziniert von diesen Möglichkeiten, daß er erst wieder daraus auftauchte, als sei-
ne Katze miaute.
Sej schaltete die diversen Grafiken und schriftlichen Informationen mit einem
Tastendruck ab und kraulte die Katze hinter den Ohren. "Wollen wir mal sehen,
was der Schlitten sonst noch so kann?" fragte er sie, und sie gab ein Miauen
von sich, das Zustimmung andeuten sollte. Sej schaltete den Monitor wieder
ein und ging auf "Run", was bewirkte, daß ihm eine verwirrende Anzahl von
Optionen zur Steuerung der Wolke angeboten wurde. Er wählte "Handsteue-
rung" und klickte bei "Mit wieviel Händen? Eins/zwei/drei/vier/Anzahl frei und
stufenlos einstellbar" "eine Hand" an, dann aktivierte er noch vorsichtshalber
die "Anfängerstufe mit zugeschalteten Hilfsprogrammen".
Jetzt erschien an der Stelle der Tastatur ein Schalthebel, der nichts ähnlich
sah, was man auf der Erde einsetzte, um Maschinen zu bedienen: Es war ein
Griff in der Form eines platten, umgedrehten U, der entlang einer Achse vor
und zurück bewegt werden konnte, wobei man den ganzen Teller, auf den er
montiert war, auch drehen sowie nach vorn und hinten kippen konnte. Trotz
dieser vielen Freiheitsgrade konnte man komfortabel damit umgehen, da sich
der Gegendruck genau den beabsichtigten Aktionen anpaßte, so daß man
beispielsweise in einer Rechtskurve nicht zu weit oder zu schnell nach rechts
drehte. Ein Drücken des U-Griffs nach vorn bewirkte Beschleunigung, je stärker,
desto schneller. Genauso bewirkte ein Zurückziehen Abbremsung. Das Kippen
des Tellers führte zu veränderter Flughöhe.
Sej war noch damit beschäftigt, vorsichtig die verschiedenen
Steuermöglichkeiten auszuloten, als er vom Monitor gefragt wurde: "In wieviel
Dimensionen möchten Sie reisen? Stufenlos einstellbar von 0 bis 5,3." Sej
stellte fürs Erste auf 3,0, was aber zu einem ziemlich verrückten Gehopse
führte, wobei immer nur ganz kurz die merkwürdigsten Umgebungen zu sehen
waren, bis Sej die Zeit in den Sinn kam und er auf 4,0 erhöhte, was ihn wieder
in die gewohnte Umgebung zurückbrachte. Ganz vorsichtig erhöhte er dann auf
4,1. Nichts schien sich zu verändern, auch nicht, als er bis auf 4,3
hochgeschaltet hatte. Dann aber, bei etwa 4,5, passierte etwas Komisches:
Wenn man die Zeit hören könnte, Sej hätte geschworen, daß sie gerade
gedonnert hätte. Dann war plötzlich der Steuergriff verschwunden, und er
wurde durch eine unglaublich starke Beschleunigung in den Sitz gepreßt. Er
konnte gerade noch den Kopf drehen und sah, daß die Katze die Ohren
angelegt hatte und sich so tief es ging in ihren Sitz drückte. Dann
verschwanden die Wolken unter ihnen, die Sterne und der Mond waren wie
weggewischt, und sie zischten mit immer noch zunehmender Geschwindigkeit
durch ein vorbeirasendes schwarzes Nichts.

Dimensionsreisen für Anfänger


In der Allgemeinen Enzyklopädie der Ebene 10a, die auf allen bewohnten
Planeten von einiger Bedeutung öffentlich - meist in optisch oder magnetisch
gespeicherter Form - ausliegt, steht unter dem Stichwort 'Dimensionsreisen'
und nach Anwählen von 'Kurzinformation' folgendes: "Für Lebensformen un-
serer Ebene (und wahrscheinlich auch für die der -b und -c-Ebenen) ist abzu-
raten von:
a) Dimensionsmischungen mit einer Gesamtsumme größer als 10,
b) Einzeldimensionen jenseits von 4,5 ohne Erfahrungen in xenophiler Tiefen-
hypnose,
c) Einzeldimensionen jenseits von 5,3 ohne eine Intelligenz, die mindestens
4,84 mal 10 hoch 953 Synapsen von Humanoiden oder Insektoiden der Katego-
rie C4-121-c nach ESN entspricht,
d) das Betreten negativer Dimensionen ohne Jagdschein.
Das Wort 'Reisen' erweckt bei vielen minderbemittelten Organismen einen
falschen Eindruck: Die Sinneseindrücke sind meist eher schwach, und wenn sie
stark sind, eher exotisch. So gefährlich das Dimensionsreisen für Neulinge ist,
so gering sind allerdings auch die Chancen, dabei völlig zu verschwinden: Bis
zum Endplumps sollen nur genau 1343 Individuen, 42 Duuduen, 3,1415 Tri-
glomerate sowie eine 'unerkleckliche' Anzahl siebenköpfiger Säbelfußschne-
cken verschwunden sein. Da diese Angaben jedoch von einem Individuum
stammen (genauer gesagt: stammen werden), das in der Zukunft verschollen
ist, müssen sie mit einiger Skepsis betrachtet werden.
Schlimmer ist schon, daß man sich dabei sämtliche bekannten chronischen
Krankheiten mit Ausnahme von Geschlechtskrankheiten (wegen der Geschwin-
digkeit) und rheumatischen Erkrankungen der Fühler (wegen gewisser, nicht er-
klärter Desensibilisierungen) zuziehen kann. Was Dimensionsreisen nun genau
ist, kann aus Zeit- und Kostengründen nur in unserer 4,2-dimensionalen Aus-
gabe erläutert werden."
Simulationsparameter, die eine Übernahme in eine andere Dimension
erlauben, sollten vorher auf Konsistenz überprüft werden... Andernfalls sind oft
krasse Nebenwirkungen nicht auszuschließen", erklärt die Allgemeine
Enzyklopädie der Ebene 10a. "Idioten, die ohne einen blassen Schimmer in den
Submodulen rumhüpfen, brauchen vor dem Verlust ihres bißchen Existenz nicht
besonders geschützt zu werden." donnert Der Moralische Leitfaden für den
Ebene-5-Programmierer zum gleichen Thema, der immerhin so imposant
klingende Themen wie "Das Für und Wider der Implementierung der 10 Gebote
im Sub-Submodul-10a-Sol-III-Menüpunkt:Frühzeit/hum-x2" drauf hat. Für
wirklich Gläubige kann noch hinzugefügt werden, daß Gott selbst - kryptisch
wie immer - zu diesem Thema bemerkt haben soll: "Ich bin in vielen
Dimensionen zu Hause." Bitte erwarten Sie hier keine Erklärung.

Zurück in der Zukunft


Sej fühlte ein Zittern durch die Wolke gehen. Er starrte auf den Monitor, auf
dem jetzt ein zehnstelliges Zählwerk rasant vorwärts zählte. Die Geschwindig-
keit verlangsamte sich jedoch, so daß er auf der ersten Stelle die einzelnen Zif-
fern erkennen konnte. Einige kamen ihm bekannt vor, da sie den arabischen
Zahlzeichen stark ähnelten, andere sahen Buchstaben ähnlich. Das Zählwerk
verblaßte schließlich und machte einem Zeiger Platz, der eine Weile um eine
Stelle der Skala herumzitterte, die jetzt immer schärfer zu sehen war, bis er
schließlich dort hängenblieb.
Jetzt war auch das Gefühl von Bewegung vorbei, das Sej gehabt hatte, seit
die Wolke ihre Reise durch die Dimensionen angetreten hatte. Der Zeiger zeigte
auf eine Zahl, die jetzt für ihn lesbar dargestellt wurde: 2222. Eine Jahreszahl?
Er hangelte sich mit Hilfe der Tastatur, die gerade wieder aufgetaucht war,
durch die Menüs, und fand heraus, daß er wieder im 4,0-dimensionalen Raum
gelandet war (er dankte den Steuerungs-Hilfsprogrammen für die Null hinter
dem Komma) und daß 2222 das Jahr nach seiner gewohnten Zeitrechnung
angab. Genau gesagt war heute der 22. Februar dieses Jahres, was vielleicht
ein skurriler Zufall war.
Der dreidimensionale Raum dagegen war in etwa der gleiche geblieben; Sej,
die Katze und die Wolke befanden sich etwa fünf Kilometer über der Oberfläche
des Planeten Erde, unter ihnen lag ein ausgedehntes Wolkenfeld, so daß man
davon ausgehen konnte, wieder am selben geographischen Punkt der Erdober-
fläche gelandet zu sein.
Bevor er mit dem Abstieg begann, wollte Sej sicher gehen, diesmal solange
in einer bestimmten Dimension zu bleiben, wie er wollte, und teilte das dem
Monitor mit, so gut er konnte. Glücklicherweise schien nicht nur er über das
System zu lernen, sondern auch das System über ihn, so daß ihm der Monitor
und das Tastenfeld nach so kurzer Zeit schon wie alte Bekannte vorkamen.
Die Katze streckte die Tatzen vor, drückte den Rücken durch und gähnte, of-
fensichtlich hatte sie der Dimensionssprung nicht nachhaltig beeindruckt. Mit
einem Satz war sie über den Tasten auf Sejs Schoß, guckte ihm in die Augen
und legte sich hin.
Sej streichelte sie und dachte darüber nach, was für eine merkwürdige
Stunde er gerade hinter sich hatte (wenn nach dem Dimensionssprung eine
solche Zeiteinteilung noch angebracht war). Vor einer (subjektiven) Stunde war
sein Weltbild noch einigermaßen anders gewesen, irgendwie fester. Materie
hatte für ihn immer Wirklichkeit, Sicherheit bedeutet, und fast alles hatte aus
Materie bestanden: Die Menschen, die er kannte, die Straßen, die Autos, selbst
'unwirklichere' Dinge wie Lärm waren immer noch letztendlich von materiellen
Dingen verursacht worden. Auch die Illusionen, Kino, Musik, Fernsehen, waren
real, wenn man die materiellen Dinge kannte, durch die sie verursacht wurden:
die Kameras, in den Kameras die Mikroprozessoren, die geätzten Silizium-
scheiben unterm Elektronenmikroskop... Jetzt war diese Realität wie selbstver-
ständlich von etwas abgelöst worden, was einem Traum sehr ähnlich war, und
Sej wunderte sich, daß er nicht so etwas wie einen 'Kulturschock' erlitten hatte.
Den würde er wohl bekommen, wenn er die Welt dreißig Jahre, nachdem er sie
vor einer Stunde verlassen hatte, wieder betreten würde. Er hatte früher schon
viel über Zeitreisen spekuliert, sie aber letztlich als Illusionen abgetan. Was
könnte man wohl tun, wenn man in der Zukunft war? Konnte man vielleicht nur
als Zuschauer am Geschehen teilnehmen, konnte man wie ein Geist darauf ein-
wirken, der seinen Willen nur höchst subtil mitteilen kann? In welche Rich-
tungen konnte man die gewohnte Zeitschiene verlassen? War die abendlän-
dische Vorstellung von Zeit vielleicht nur eine weitere Verschleierung eines
ziemlich komplizierten Phänomens?
Tatsache war, daß die Menschen viel über die Zeit herausgefunden hatten,
und seit fast einem Jahrhundert wußten sie sogar schon, daß sie gekrümmt war
und nicht gerade wie der Zeitpfeil der Alten, wenn sich das auch kein Mensch
vorstellen konnte, ohne gleich in die Abstraktionen der höheren Mathematik
abzuschweifen. Verwirrend war, daß es da ein Ding gab, über dessen
Funktionieren man ziemlich gut Bescheid wußte, ohne auch nur vage sagen zu
können, was für ein Ding das überhaupt war. Und jetzt hatte dieses Ding Sej
gezeigt, daß es als Sache existierte und sich verändern konnte wie jedes Ding,
das er zur Realität zählte. Er hatte es beinahe hören können. Wie auch immer,
jetzt war er mit seiner Katze in einem Kontinuum, das er noch vor kurzem als
'ferne Zukunft' bezeichnet hatte und war immer noch am zweifeln, ob er den
Abstieg wagen sollte. Hier oben war alles immer noch eine Möglichkeit, eine
Anzeige auf einem Monitor. Unter den Wolken würde diese Möglichkeit der
sicheren Realität Platz machen, und er wußte nicht, ob er das wirklich wollte.
Zuerst konnte er ja noch das Wolkenschiff ein bißchen inspizieren. Er öffnete
den Gepäckraum hinter den Sitzen: Als er gegen die Erhöhung drückte, zog sie
sich zurück wie das Faltdach eines Autos und gab den Blick frei auf mehrere
handliche Boxen aus demselben Material wie die Wolke. Bei Berührung öffneten
sich deren Deckel. Das sah aus, als ob die Deckel wegschmelzen und in die ver-
bleibenden Gehäusereste laufen würden. Sej tat der Katze einen ganzen Batzen
von etwas, das wie Hackfleisch aussah, auf eine Art flachen Teller, und nahm
sich dann selbst etwas, das bei unvoreingenommener Betrachtung ein Schin-
kensandwich hätte sein können. Zu seiner Überraschung schmeckte es auch
so. Dazu trank er ein Bier einer Marke, die er nicht kannte (eigentlich war das
kein Bier, aber es schmeckte wie ein hervorragendes Pils; in Wirklichkeit war es
Quellwasser von Delta Centauri Beta, was in dieser Galaxis auf den meisten zi-
vilisierten Planeten hochgeschätzt wird), aus einer umweltschonenden Flasche,
die sich, nachdem er sie über Bord geworfen hatte, aufzulösen begann, bevor
sie außer Sichtweite geriet, und es klingt hoffentlich nicht unglaubwürdig, wenn
hier berichtet wird, dass sie nach oben fiel ...
Mittlerweile hatte auch die Katze ihr Fleisch bis auf den letzten Krümel ver-
schlungen und den Teller saubergeleckt (vielleicht hätte sie das Fleisch weniger
enthusiastisch gefressen, wenn sie gewußt hätte, daß es eigentlich aus arktu-
ranischen Ringelwürmern bestand, die obendrein noch lebendig waren, aber
stillgehalten hatten, weil sie durch eine Laune der Natur gezwungen waren,
sich fressen zu lassen, wenn sie sich vermehren wollten (und nichts taten sie
lieber), da ihre Anzahl nie tausend Individuuen (bzw. fünfhundert Duuduen
während des Vermehrungsaktes) pro galaktischem Morgen überschreiten konn-
te). "Jetzt oder nie," hätte Sej früher gesagt, aber ihm fiel jetzt keine ange-
messene Definition für "nie" mehr ein. Er packte den Teller in eine der Boxen
und wartete, bis sich diese und der Gepäckraum wieder geschlossen hatten.
Dann versicherte er sich noch einmal, daß sein Fahrzeug wie eine Art hoch-
entwickeltes Flugzeug funktionieren würde und nicht wie eine Zeitschleuder
oder was es sonst noch so drauf hatte, und begann er den Abstieg.

Mit dem Ich auf du und du


Duuduen (Definition in der Allgemeinen Enzyklopädie): von Du (Deklination:
duner, dunus, dung, dumm, dumm). Bezeichnung für einen speziellen Existenz-
zustand einiger Lebensformen unserer Ebene (auf anderen Ebenen wurden
Duuduen ethnisch verfolgt und sollen angeblich völlig ausgerottet sein). Unter-
schieden wird in zeitweiliges Duuduum (Duuduum = Vorhandensein von Duu-
duen), hauptsächlich zum Zweck der Vermehrung, und permanentes Duuduum,
dies hauptsächlich aus Freude an schlechtem Geschmack oder aus schierer
Not. Sollte Letzteres auf Sie zutreffen, so können ihnen möglicherweise karita-
tive Organisationen helfen, die in den Slumgebieten der meisten zivilisierten
Planeten anzutreffen sind - vorausgesetzt, Sie können sich mit deren brutalen
religiösen Wahnvorstellungen anfreunden.

Gesellschaftsspiele
Seine Freunde waren zwar heute ganz besonders schweigsam, dennoch
genoß es Titus, wieder einmal unter Menschen zu sein. Titus war
Programmierer und einer der wenigen Spezialisten, die sich mit SIXTHSENSE
2.0 auskannten, einer Anwendung, die es erlaubte, hyperrationale
Datenbanksysteme mit Hilfe von ADATALK, einer sehr verbreiteten
Programmiersprache, zu bearbeiten. Titus war einer der Handvoll Leute
gewesen, die SIXTHSENSE konzipiert hatten; und wie die anderen der Gruppe
rechnete er fest mit einem der nächsten Nobelpreise für Nichtlineare
Informatik. Wie beinahe immer, wenn er und seine Freunde sich trafen, spielten
sie GAME.S.WITCH, das seit über drei Jahren die Hitliste der elektronischen
Freizeitvergnügungen anführte.
Sie spielten zu dritt, und Michael war am Zug. Auf dem Pseudo-3D-Monitor,
der wie eine halbrunde Projektionswand aussah, in deren Center die drei in
gemütlichen schwarzen Kunstledersesseln saßen, rollte der elektronische
Würfel größer werdend in die Bildmitte. Der Zufallsgenerator hatte Michael mit
einer 14 bedacht. Er verzog das Gesicht ohne eine Lautäußerung und rückte
seinen elektronischen Spielstein mit der Redisc 14 Felder weiter. Percy, der ihn
beobachtet hatte, zeigte fast so etwas wie ein Lächeln. Die Runde würde heute
mit fast 90%iger Wahrscheinlichkeit an ihn gesehen, wie er befriedigt dem
Display seiner Redisc entnahm. Am liebsten hätte er den anderen das
verkündet, aber er fand Sprechen allgemein 'definitiv indiskret'(Titus, der älter
war als Percy, meinte, 'Quatschen sei uncool').
Michael war auf Haunted House gelandet und öffnete das erste Bild. Sein
Blick wurde starr wie üblich, als er sich zurücklehnte und in die Projektionen
rutschte. Das Einzige, woran man in den nächsten Minuten erkennen konnte,
daß er noch bei Bewußtsein war, war sein unaufhörliches Schalten mit der
Redisc. Seine Augenlider klappten nicht ein einziges Mal, aber wenigstens seine
Finger bewegten sich. Für den Spieler, der gerade dran war, stellte sich das
Spiel durch Rückkopplungen auf seine Redisc, die magnetisch auf das
Nervensystem einwirkten, fast wie die Realität dar (THE GAME, die
GAME.S.WITCH vertrieben, gaben einen Overlap von sensationellen 98% an),
während es für die Mitspieler eher wie ein Spielfilm war. Kids, die versucht
hatten, diese Funktion zu cracken, um für alle Spieler den gleichen hohen
Overlap zu erzielen, waren, wenn es ihnen geglückt war, zumeist mit ihren
bedauernswerten Mitspielern in den staatlichen Irrenanstalten gelandet,
woraufhin THE GAME gezwungen wurden, extrem komplizierte (und extrem
teure) Sicherheitsvorkehrungen einzubauen. Aber es gab immer noch das
Problem der Kopien gecrackter Spiele, die auf dem Schwarzmarkt waren, und
von dort für den Nachschub frischer Mädhäusler sorgten.
Titus zündete sich eine Zigarette an. Während er Michaels Spiel zusah,
dachte er an seinen letzten verrückten Soloeinsatz auf N-LAB 2010-09, einer
Raumstation, die geostationär 20000 Meilen über der Mondoberfläche stand. Es
handelte sich um eine eher kleine Verwaltungsstation, die die Flugkoordination
US-amerikanischer Lastfähren zur Aufgabe hatte, die vom Mond zur Erde
flogen, beladen mit Rohstoffen, oder zu anderen Raumstationen, oder
(seltener) zum Mars. N-LAB 2010-09 hatte eine Besatzung von 5 Leuten (oder
vielmehr: hatte eine Besatzung gehabt), und lief wie die meisten Stationen
autonom gesteuert. Diese Steuerung hatte in einem Anfall von Hyperlogik das
Luftgemisch der Station derart kostengünstig optimiert, daß die Besatzung
knapp zwei Stunden später tot war. Titus' Job war es nun gewesen, dem neuro-
nalen Computer schonend beizubringen, daß er einen schwerwiegenden Fehler
gemacht hatte, und herauszufinden, wie um alles im Weltall die Maschine auf
den Gedanken gekommen war, an Systemen herumzumanipulieren, die fest
eingestellt und mit dem Vermerk "NIEMALS ÄNDERN" versehen waren.
Diese Arbeit hatte ihn unerwartet volle fünf Wochen auf der Station
festgehalten, da der Neuronalrechner nach Titus' Mitteilung dermaßen beleidigt
war, daß er sich weigerte, sich softwaremäßig über Funk ansteuern zu lassen.
Titus sah sich gezwungen, Teile des Rechners abzuschalten, und von da an war
es klar, daß er wenigstens bis zur Grundlösung des Problems auf der Station
würde bleiben müssen. Bis er die Luftversorgung und die anderen
Lebenserhaltungssysteme wieder in Ordnung gebracht hatte und sicher war,
daß sie diesmal dem Zugriff der Maschine entzogen waren, hatte er zu allem
Überfluß im Raumanzug arbeiten und schlafen müssen. Aus Kostengründen
waren die Leichen der Besatzung erst drei Tage nach seiner Ankunft (er war mit
seinem privaten Gleiter hingeflogen) von einem planmäßigen
Personaltransporter abgeholt worden, und obwohl Titus nicht abergläubisch war
und er sie alle in eine Mannschaftskabine gestopft hatte (da die Leichenstarre
eingetreten war, eine unschöne Angelegenheit), hatte ihn ein Vorfall in der
ersten 'Nacht' (als was er seine Schlafzeit etwas unpassend bezeichnete)
einigermaßen aus der Ruhe gebracht.
Er war gerade eingedöst, als er von einem knarrenden Geräusch geweckt
wurde. Das Glas seines Helmes war etwas beschlagen, und das Surren des Lüf-
ters, den er anschaltete, machte für einen Moment die Wahrnehmung von
Außenlauten unmöglich. Dann aber hörte er dasselbe Knarren wieder, und es
kam eindeutig aus der Kabine, wo er die Toten gestapelt hatte. Kurzent-
schlossen ging Titus dorthin und öffnete die Tür. Bei dem Anblick zuckte er zu-
sammen, ein würgendes Gefühl umklammerte seine Kehle und er fiel flach
nach hinten um. Er mußte für einen Moment das Bewußtsein verloren haben,
und als er wieder zur Tür sah, war er froh, schon am Boden zu sein: Eine Leiche
hatte sich aufgesetzt und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Titus Arme
und Beine fingen an, unkontrolliert zu zittern.
Als eine Weile nichts weiter passiert war, nahm Titus allen Mut zusammen
und trat mit einem Bein gegen die Tür, um sie zu schließen. Sie knallte auch in
den Rahmen, wurde aber sofort wieder geöffnet, und zwar durch die Leiche, die
nach vorn gekippt und gegen die Tür gefallen war. Der Tote, der als oberster auf
den anderen gelegen (oder vielmehr gesessen) hatte, machte einen merk-
würdigen Purzelbaum aus der Tür heraus, knallte mit dem Kopf zuerst auf den
Boden und blieb dort so liegen, als hätte man einen im Sitzen Erfrorenen nach
vorn gekippt. Sein Kopf war jetzt direkt vor Titus' Helm, aber diesmal war Titus
im Handumdrehen auf den Beinen und rannte, so schnell er konnte, zum Video-
Terminal. Als er sich umdrehte, bemerkte er keine Veränderung der Szenerie.
Wenigstens schienen die Leichen ihn nicht zu verfolgen.
Nach einigen Gesprächen über Spacewatch, den interplanetarischen Kanal,
mit desinteressierten Technikern, nach jeder Menge Flüchen und
Beschimpfungen, die ihm wieder etwas Mut machten, gelang es ihm, mit einem
kompetenten Menschen Kontakt aufzunehmen. Der nette ältere Mann war
Psychologe und Mediziner und erklärte ihm vollkommen ruhig, daß das, was
Titus eben erlebt hatte, eine völlig normale Erscheinung sei, die durch
Zersetzungsprozesse in der Leiche hervorgerufen wäre. Am Ende des
Gesprächs brachte Titus es sogar fertig, den Toten wieder in die Kabine
zurückzustopfen und die Tür sorgfältig zu verriegeln. Der Psychologe hatte ihm
die Nummer von RENT-A-PSYCH gegeben, und den Rest der Nacht verbrachte
Titus damit, sich von einem Psychologen vom Krisen-Service detraumatisieren
zu lassen, zum horrenden Stundensatz von $ 2000 plus der Spacewatch-
Gebühren.
Den Betrag schlug er natürlich auf die Spesen. Am Ende seines Jobs
präsentierte er der Betreiberfirma des N-LAB eine Rechnung, die dem jungen
coolen Manager der Finanzabteilung schier die Sprache verschlug. Titus konnte
sehen, wie dem Krawattentypen die Tränen in die Augen stiegen, während er
vorrechnete, daß die Firma davon beinahe drei neue Stationen gleicher Größe
im All hätte stationieren lassen können. Titus hatte schulterzuckend darauf
verwiesen, daß sie ja wenigstens keine zusätzlichen Kosten für den Lei-
chentransport gehabt hätten, und machte sich auf den Weg zu seinen
Freunden.
Titus war so sehr in Gedanken versunken gewesen, daß er jetzt erst
bemerkte, das Michael 'tot' war (oder, um es in der Terminologie von Haunted
House auszudrücken, ein 'sabbernder Untoter' geworden war). Haunted House
war eins der gemeinsten Unterspiele von GAME.S.WITCH, aus dem man kaum
eine Chance hatte, heil herauszukommen. Auf der Suche nach dem Buchstaben
'S' (ein ganz spezielles 'S', in grün und Sütterlin geschrieben) hatte er den hin-
teren Teil der heimgesuchten Hauses betreten, der erstaunlicherweise einem
Bürogebäude der 1940er Jahre ähnlich gesehen hatte, und der in einem völlig
heruntergekommenen Zustand war. Dort war er in eine obere Etage gestiegen
und hatte Zimmer 31 betreten. Er hatte versucht, dort das Licht einzuschalten,
aber die Glühbirnen waren wohl von früheren Besuchern entfernt worden. Er
hatte festgestellt, daß er mit einem Mal einen Topf schwarzer Lackfarbe in der
Hand hatte, was ihm als ein böses Omen erschien. Er hatte das Fenster in der
Ecke des Raums geöffnet und den Farbtopf hinausgeworfen, der in einem
verwilderten Hintergarten aufschlug.
Der Raum war fast leer, und Michael dachte daran, diesen Teil des Hauses
möglichst flott zu verlassen, da ihn ein ungutes Gefühl überkam. Als er die Tür
öffnen wollte, hielt irgend etwas sie zu. Schließlich schaffte er es doch, sie auf-
zudrücken, und er rannte in Panik ins Treppenhaus und hinunter in die Etage,
wo er diesen Teil des Hauses betreten hatte. Oder vielmehr bis fast dorthin hin-
unter. Auf einem der letzten Treppenabsätze stand eine traurige Gestalt, die ein
bekannter Videodesigner entworfen hatte, dem die Klatschblätter nachsagten,
er befasse sich in seiner Freizeit intensiv mit schwarzer Magie (wie oft bei
Klatsch, zielte das haarscharf neben die Wahrheit: in Wirklichkeit ließ er sich
seine krankhaften magischen Experimente von THE GAME fürstlich als Arbeits-
zeit entlohnen).
Die Gestalt war etwa 2,50 Meter groß und trug zerlumpte Kleidung, die
hervorragend zu seinem zerlumpten Körper paßte: Dieser bestand aus wenig
mehr als Knochen mit einigen Fetzen Haut und Fleisch daran, riesigen
glühenden Augäpfeln und einer guterhaltenen Zunge, die lang und feucht aus
den zerklüfteten Resten seines Mundes hing. Michael ergötzte sich nicht lange
an dem Anblick, sondern rannte direkt auf das Un-Wesen zu, das ihm den Weg
versperrte. Er schaffte es sogar, das Monster zur Seite zu stoßen und einige
Schritte weiter die Treppe hinunterzustürzen. Das nützte ihm allerdings wenig,
denn mit einer Parodie von Lachen hob die Gestalt die knochigen Arme und
schleuderte eine Verwünschung in Michaels Richtung. Dieser fühlte sich
plötzlich wie tiefgefroren, seine Beine versagten und er fiel die Treppe hinunter.
Als er auf dem Absatz liegenblieb, fühlte er, daß er sich den Hals gebrochen
hatte. Er blutete heftig aus dem Kopf. Dieser fiel beim Versuch, ihn zu heben,
unnatürlich weit nach hinten, bis auf seine Schulterblätter. Mit beiden Händen
hob Michael ihn an und konnte nun wieder das Monster sehen, das langsam die
Treppe hinab auf ihn zukam. Es streckte ihm seinen rechten Arm entgegen und
murmelte ein einziges Wort: "Willkommen...". Michael fing an zu schreien.
Percy schaltete die Szene mit der Redisc ab. Damit war er der Sicherheits-
automatik etwa eine Sekunde zuvorgekommen, die Szenen immer dann be-
endete, wenn sie zu nachhaltigen Schädigungen der Persönlichkeitsstruktur zu
führen drohten. Auch diese Sicherung hatten THE GAME erst eingebaut, nach-
dem sie von einem Gericht zu einem horrenden Schadenersatz verurteilt
worden waren, den die gesetzlichen Vertreter eines inzwischen entmündigten,
äußerst bekannten Showmasters erstritten hatten, der die Rolle eines 'sabbern-
den Untoten' dermaßen fest in seine Persönlichkeit integriert hatte, daß alle
Therapieversuche zwecklos blieben. Hohn der Geschichte war, daß er später
eine überaus gut bezahlte Anstellung in einer Sendung namens "Zombie's Tal-
kshow" bekam und sich auch sonst sehr am (Nicht-) Leben zu erfreuen schien,
so daß ein Pressesprecher von THE GAME lakonisch bemerkte, daß der Staat
allmählich auch juristisch anerkennen müsse, daß auch unkonventionelle
Persönlichkeitsänderungen Sache des Individuums seien. Dennoch setzte die Fi-
nanzabteilung der Firma durch, daß die Sicherungsautomatik eingebaut wurde.
Michael atmete schnell und heftig. Er nahm sich eine Zigarette und steckte
sie mit zitternden Fingern an. Percy gab ihm ein leicht verächtliches Grinsen
rüber und betätigte die Redisc zum Würfeln. Titus schaute gerade auf seine
Redisc und sah auf deren Display die drei Buchstaben S, E und J. Darauf hatten
sie sich geeinigt. Kurz gesagt bestand der Ablauf von GAME.S.WITCH darin, daß
sich die Mitspieler vor Spielbeginn auf eine Bedingung einigten, die erfüllt
werden mußte. Wer sie als erster erfüllt hatte, war Sieger. In der Wahl der
Bedingung hatte THE GAME den Spielern völlig freie Wahl gelassen: Man konnte
ebensogut vereinbaren, 10 Sahnetorten zu sammeln, wie, das Universum vor
parasitären Kleinstrobotern zu retten (eine Variante, die GAME.S.WITCH für
etliche Leute zum alleinigen Lebensinhalt gemacht hatte). Da die drei Freunde
diesmal nicht viel Zeit hatten, waren sie übereingekommen, Buchstaben zu
sammeln, eben die drei genannten, und damit es nicht zu einfach wäre, sollten
diese in grün und in Sütterlin geschrieben sein. Das war nicht besonders
originell und im Übrigen eine der Standardvarianten, die GAME.S.WITCH für
kurze Spiele vorschlug. Die Buchstabenkombination hatte der Zufallsgenerator
ermittelt.
Die drei Freunde spielten jetzt schon seit 35 Stunden, und Percy hatte bereits
ein E und ein J und war auch noch am Zug, während Titus erst ein E hatte und
Michael noch gar nichts. Darüber hinaus hatte Percy eine clevere Strategie ein-
geschlagen, so daß er jetzt fast sicher sein konnte, in beinahe jedem Unterspiel
eine Bibliothek oder ein Lesezimmer oder zumindest einen Teller Buchstaben-
suppe zu finden, wo er ein grünes Sütterlin S suchen konnte. Bei
GAME.S.WITCH ging es zwar allgemein mehr um den Weg als um das Ziel, aber
wie wichtig der Weg werden kann und wie unwichtig das Ziel, das sollte Percy
erst in den nächsten Minuten lernen. Und manche lernen auf die harte Tour...
Percy grinste. Er hatte eine 8 gewürfelt.

Eine Spielanleitung
Aus der Spielanleitung zu GAME.S.WITCH - DAS ULTIMATIVE SPIEL.
NATÜRLICH VON THE GAME. Herausgegeben von der Marketingabteilung von
THE GAME Corporation C.I.A., Luna City/Hong Kong/Tokyo/New York/Reit im
Winkel. Copyright 2018, all rights reserved bla bla... Copyleft für die Staaten
des ehemaligen COMECON 2019, all lefts reserved bla bla... Copymiddle für die
GR China 2019, all middle of the road bla bla... Für Abdrucke auf das
Naturholzprodukt Papier wenden Sie sich nicht an uns, sondern die Abteilung
für Altertumskunde Ihrer örtlichen Universität und/oder Ihre örtliche Öko-
Gruppe. ... Haftungsausschluß: THE GAME Corporation C.I.A. sowie die
führenden, mittleren und inkompetenten Kader sämtlicher Abteilungen
schließen jegliche direkte, indirekte, ordentliche, außerordentliche, normale
und jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens liegende Haftung sowie
haftungsähnliche und haftungsgleiche oder möglicherweise haftungsähnliche
und haftungsgleiche UWSWSNSHK Tatbestände von vornherein, im Moment und
hinterher absolut, total, völlig und gänzlich aus und ... und (einige Seiten
später, Anmerkung des Herausgebers) danken für Ihr volles Verständnis für
diesen Haftungsausschluß. Vor Inbetriebnahme des Spiel, von Teilen des Spiels,
Teilen von Teilen des Spiels ... (etwa fünf Seiten später, Anm.d.Hrsg.:) etc. (!)
müssen Sie uns eine Bestätigung zukommen lassen ... (auch über die genauen
Formalitäten hiervon etliche Seiten, der Hrsg.), daß sie obigen
Haftungsausschluß gelesen im Sinne des Gesetzes über das Lesen vom
20.1.1999, § 4.2 Ziffer 7 zweiter Halbsatz, haben, und darüber hinaus den
Inhalt (Inhalt nach DIN 66578/a) verstanden ... und akzeptiert ... haben. Da das
Spiel selbst von seiner Struktur her so einfach, logisch konzipiert und
selbsterklärend ist, haben wir darauf verzichtet, Sie mit langweiligen
Vorbemerkungen aufzuhalten. Viel Spaß! Ihre THE GAME-Marketingabteilung

Gefährliches Wasser
Arrgnflrt ließ sich in der Strömung treiben und genoss es, wie das kühle
Wasser um seinen aquadynamischen Körper strich und ihn langsam um seine
Längsachse drehte. Er befand sich mittlerweile in der Magellan-Straße an der
Südspitze Amerikas und war im Begriff, in die Wasser des Atlantik hinauszusch-
wimmen. Diese Gegend wurde von seiner Rasse "Klrt" genannt, eine Bezeich-
nung, die natürlich wieder einen Haufen Information enthielt, aber es war der
Anfang des Reibelauts zwischen dem "r" und dem "t", der dazu führte, daß Arr-
gnflrt plötzlich heftig mit der Schwanzflosse ausschlug. Dieser hatte nämlich
die Bedeutung von "sich periodisch aufgrund von ... (die Erklärung wollen wir
lieber weglassen, sie würde einige Seiten füllen, die nur für Ozeanologen von
unschätzbarem Wert wären) bildender Strudel". Ferner sagte "Klrt" über den
Strudel noch aus, daß er nach humanoiden Maßstäben einen oberen
Durchmesser von etwa 5 Kilometer, eine Tiefe von etwa der Hälfte (das hieß bis
an den Meeresgrund) und eine Drehgeschwindigkeit von 15 Umdrehungen pro
Stunde besaß, was bedeutete, daß das Wasser am oberen Rand eine
Geschwindigkeit von über 200 km/h hatte.
Das war's! Arrgnflrt wackelte heftig mit der Rückenflosse, was etwa dem
humanoiden 'Hand-vor-den-Kopf-schlagen' entspricht. So schnell er konnte (und
er konnte ziemlich schnell) wendete er und schwamm mit aller Kraft in die
Gegenrichtung. Dabei kam er jedoch kein Stück vorwärts, sondern blieb
lediglich auf der Stelle. Der Strudel hatte hier schon einen derartigen Sog, daß
es einem Flugzeugträger schwer gefallen wäre, ihm zu entkommen. Arrgnflrt
begann sich "zn" zu fühlen, eine Art erstauntes Zur-Kenntnis-Nehmen mit
Anzeichen aufkeimender Wut. Soweit er sich erinnerte, hatte er sich noch nie
"zn" gefühlt, und er fühlte schon, wie es zu "znm" überging, als es ihm nicht
gelang, auch nur ein bißchen vorwärts zu kommen. Er brauchte eine Sekunde,
um durchzurechnen, was als nächstes passieren würde, und eine weitere
Sekunde, um sich das vorzustellen. Noch eine Sekunde später fühlte er sich
daher ziemlich eindeutig "znmgrrr...". So hatte er sich noch nie gefühlt.
"Znmgrrr..." beinhaltet zwar unglaublich viel Information, denn es beschreibt
präzise, wie sich einer von Arrgnflrts Rasse fühlt, wenn er völlig unerwartet in
einen Strudel gerät, der ihn letzten Endes in Stücke zerschmettern wird, läßt
sich aber, ohne allzusehr zu vereinfachen, mit "ohnmächtiger Wut" übersetzen.
Arrgnflrt merkte, wie der Strudel ganz allmählich begann, ihn zu besiegen.
Zuerst wurde er nur leicht nach hinten gezogen, dann immer schneller, bis er
schließlich den Widerstand aufgab und sich drehen ließ. Vor sich konnte er jetzt
ein brodelndes Weiß sehen, auf das er mit immer größerer Geschwindigkeit zu-
schoß. Sein "Znmgrrr..." steigerte sich gleichermaßen, biß es weit über die ma-
terielle Ebene hinausreichte. Auf dem ganzen Planeten durchlief die Angehö-
rigen seiner Rasse ein Schaudern, und selbst die für solche Schwingungen un-
sensiblen Humanoiden wurden derart stimuliert, daß sich in den südlichen
Ländern Amerikas die Selbstmordrate in dieser Nacht aus ungeklärter Ursache
verzehnfachte.
Arrgnflrt fühlte das Wasser dichter werden. Er konnte noch etwas seine
Schwimmhöhe korrigieren; momentan schwamm er fünfzig Meter unter der
Oberfläche. Er wollte möglichst weit oben in den Trichter eintauchen. Dann hät-
te er die unter diesen Umständen größtmögliche Zeit zur Verfügung, seine Lage
zu überblicken und zu analysieren, nachdem er in den Trichter eingetaucht
wäre, bevor ihn der Strudel dann unweigerlich nach unten und damit zum si-
cheren Ende seiner materiellen Existenz ziehen würde. Das Wasser wurde jetzt
unerträglich dicht. Arrgnflrt schloß die Augen und spannte alle Muskeln seines
Körpers an, um nicht zerquetscht zu werden. Gleich mußte er die Trichterwand
durchstoßen. Noch immer erhöhten sich seine Geschwindigkeit und der Druck
des Wassers. Er fühlte, wie seine Haut um die Kiemen herum aufzureißen be-
gann. Das tat ziemlich weh, was er aber nicht bemerkte, da er erstaunt war,
daß er in seinen Berechnungen den Wasserwiderstand falsch kalkuliert hatte.
Eine Zehntelsekunde später schoß er durch die Trichterwand in die freie Luft,
mitten hinein in den Trichter. Während er hinausschoß, öffnete Arrgnflrt die
Augen und sah, daß ihn der Schwung satte zwanzig Meter aus dem Wasser
propellerte. Dann begann er zu fallen; und auf was er da zufiel, war zwar
Wasser, aber Wasser, das mit über 200 km/h dahinschoß und so stark kom-
primiert war, daß es nichts geändert hätte, wenn er stattdessen auf eine
kreisende Betonwand gefallen wäre. Arrgnflrt hatte noch eine Sekunde zu
leben. Diese Sekunde verfluchte er, denn sie ließ ihm Zeit, sich die Sekunde da-
nach auszumalen. Daraufhin hatte auch sein Magen noch Zeit, sich einmal zu
drehen. Noch einen Gedanken sandte Arrgnflrt aus, und Gott, der zufällig ge-
rade zusah, hätte schwören können, daß das ein Stoßgebet gewesen war. Dann
kam das Ende.

Ein böses Spiel


Sej sah mit Erstaunen die konzentrischen grünen Ringe, die plötzlich auf dem
Monitor erschienen waren, kurz bevor er die Wolkengrenze erreicht hatte. Die
Ringe schienen ineinander zu fließen oder auseinander hervorzugehen, jeden-
falls waren sie ständig in Bewegung. Jetzt war das Gefährt in die Wolken einge-
taucht, aber diesmal wurde es nicht feucht oder kühl wie auf der Fahrt mit dem
Balkon. Obwohl zwischen ihnen und dem Dunst nichts zu sein schien, blieb die
Temperatur konstant; nicht einmal der Luftdruck schien sich bei diesem Abstieg
zu verändern. Sej erinnerte sich, daß er beim Aufstieg mit dem Balkon zum
Schluß erste Anzeichen von Höhenkrankheit bemerkt hatte, die aber sofort
verschwunden waren, nachdem er die Wolke betreten hatte. Der Abstieg schien
unverändert und konstant weiterzugehen; in der Wolkenschicht ging allerdings
jedes Gefühl für Bewegung verloren, selbst oben und unten konnte man nicht
mehr eindeutig bestimmen. Das Einzige, was ihn aber wirklich irritierte, waren
diese grünen Ringe auf dem Bildschirm, die seine Aufmerksamkeit fesselten. So
sehr er wollte, er konnte den Blick nicht mehr von ihnen abwenden, als sie jetzt
immer langsamer wie Rauchringe durcheinander hindurchglitten.
Sej begann, sich körperlich in sie hineingezogen zu fühlen, was ihm einiges
Unbehagen verursachte. Plötzlich war die Umgebung verschwunden. Er
merkte, wie er kopfüber in die grünen Ringe hineingetaucht war, die jetzt
überall um ihn herumglitten, teils in großer Entfernung, teils ganz nah, ohne ihn
jedoch zu berühren. Er wußte nicht, wie das passiert war. Vor einem kurzen
Augenblick hatte er noch auf der Wolke gesessen, und jetzt war alles
verschwunden, alles bis auf eine Menge metallisch grün glitzernder Ringe. Sej
drehte den Kopf, versuchte, nach hinten zu schauen, aber er konnte seinen
Körper kaum bewegen, der von den Ringen in ein Kraftfeld-Korsett eingezwängt
zu sein schien. War bisher die Richtung, in die er sich bewegte, unbestimmt
gewesen, so ging es jetzt eindeutig nach unten. Er wußte nicht, warum er
annahm, daß er sich nach unten bewegte, aber er war sich darin völlig sicher.
Dort unten konnte er allmählich auch etwas erkennen, das erst wie ein großer,
dunkler Fleck aussah, ohne irgendwelche Konturen, bis das Bild schärfer wurde.
Was er jetzt sah, war alles andere als dazu angetan, ihm zu gefallen. Der
schwarze Fleck war anscheinend der Boden eines Kellers, denn darum herum
sah Sej Mauern, die in die Erde gesetzt waren. Das Ganze hatte komischer-
weise keine Decke, so daß es wie eine ummauerte Grube wirkte. Direkt
daneben stand allerdings etwas, das verblüffend normal war: Eine große Villa,
dem Stil nach ein Gebäude aus dem 19.Jahrhundert. Sie war ziemlich zerfallen
und die ganze Hauswand, die neben dem "Keller" hochragte, war mit Efeu be-
wachsen bis zum Dach. Die Ringe hatten jetzt alle einen Durchmesser von etwa
zwei Metern und bildeten eine Flucht, die genau in das Kellerloch hineinführte.
Sej schoß mit atemberaubender Geschwindigkeit durch sie hindurch. Mit
zunehmender Panik sah er den Kellerboden auf sich zurasen. Er öffnete den
Mund zu einem Schrei; aber plötzlich verlangsamte sich sein Fall dramatisch, er
wurde geradezu in Zeitlupe gedreht, so daß seine Beine nun nach unten hin-
gen, und unglaublich sanft setzte er auf dem Boden auf. Das war schon
einigermaßen erstaunlich.
Sej blickte nach oben und sah eine Kellerdecke direkt über seinem Kopf, aus
den gleichen Steinen gemacht wie die Wände an drei Seiten. An einer Stelle
war ein vergittertes Fenster eingelassen. Das war auch recht erstaunlich. Er
hätte nie durch das Gitter gepaßt, und einen weiteren Zugang gab es von oben
nicht. Die Stelle, an der er stand, stellte sich als eine Kellernische heraus, die
wohl zur Belüftung eines einzigen großen Kellerraums gebaut worden war.
Sobald Sej sich einigermaßen von dem Schreck erholt hatte, schaute er sich
um. Das erste, was ihm auffiel, war ein eher kleiner Mann, der gebückt dastand
und ihm den Rücken zuwandte.
"Hallo," sagte Sej erst etwas schüchtern, dann, als keinerlei Reaktion eintrat,
noch einmal lauter: "Hallo!" Auch hierauf tat sich nichts, der kleine Mann
schaukelte nur unmerklich vor und zurück. Sej bewegte sich vorsichtig einen
Schritt auf ihn zu. Noch immer tat sich nichts. Der Mann trug einen waden-
langen, schäbigen grauen Mantel, die Hände hatte er in den Manteltaschen.
Sein Haar war dunkel, fettig und hing ihm etwas ins Gesicht. Sej stand jetzt
neben ihm und versuchte es mit einem weiteren "Hallo". Dann trat er ent-
schlossen vor und sah dem Mann ins Gesicht.
Was er da sah, schnürte ihm die Kehle zusammen und ließ ihn nach Atem
ringen: Das Gesicht des Mannes war eine Maske des trostlosesten Entsetzens,
das ein Mensch sich vorstellen konnte. Seine Augen starrten ins Leere, und was
sie dort noch immer zu sehen schienen, lähmte den kleinen Mann vor Schre-
cken und Furcht. Er mußte etwas derart Schreckliches gesehen haben, daß es
ihn den Verstand gekostet hatte, und Sej wagte nicht, sich vorzustellen, was
das wohl gewesen war. Ganz langsam kam Bewegung in den linken Arm des
Mannes. Bis auf das leichte, automatische Vor- und Zurückwippen blieb er an-
sonsten regungslos. Sej blickte hektisch im Raum umher. Doch da war nichts
Besonderes zu sehen. An der gegenüberliegenden Wand war eine Tür, aber sie
war geschlossen.
Der Mann zog die linke Hand aus der Manteltasche, und jetzt sah Sej, daß er
einen grün fluoreszierenden flachen Gegenstand in der verkrampften Faust
hielt. Irgendetwas veranlaßte Sej, danach zu greifen. In diesem Moment ließ
der Mann den Gegenstand los, gleichzeitig flog die Tür auf. Was dort stand, ließ
Sej das Herz stocken: Die Gestalt sah eigentlich wie ein gewöhnlicher Mensch
aus, aber sie strahlte etwas derartig Gemeines, Hinterhältiges und Brutales
aus, daß es fast wie eine Aura sichtbar schien. Die Gestalt gab ein bösartiges,
trockenes Lachen von sich und bedachte Sej mit einem Blick, der seinen Körper
veranlaßte, sich abrupt umzudrehen und sich in die Nische zu verziehen, in der
er gelandet war. Die Kellerdecke war weg, und da waren wieder die Ringe. Be-
vor sein Geist die Lage erfassen konnte, schwebte Sej durch die Ringe auf-
wärts, zuerst langsam, dann mit steigender Geschwindigkeit. Er sah noch, wie
die Gestalt auf die Nische zurannte und dort stehenblieb. Dann spürte er, wie
ihn eine Kraft wieder nach unten zu ziehen begann. Er verwandte seine ganze
Willenskraft darauf, nach oben zu steigen, denn er wollte möglichst schnell weg
von diesem namenlosen Grauen dort unten, aber das Grauen wollte wohl, daß
er zurückkäme.
Eine Weile schaffte er es noch, wenigstens nicht viel an Höhe zu verlieren. Er
sah - eher zufällig - auf den Gegenstand, den er fast unbewußt dem zerlumpten
Mann abgenommen hatte. Es handelte sich um ein flaches, grünes Stück Plas-
tik in den Form eines altertümlichen, verschnörkelten Buchstabens. Soweit er
wußte, war das ein altdeutsches "S". Plötzlich ging ihm auf, daß die grausige
Gestalt dort unten vielleicht gar nicht seine Bekanntschaft machen wollte, son-
dern nur hinter diesem Plastikbuchstaben her war, wenn es auch schwer fiel,
diesem Gedanken irgendwelche Logik zuzubilligen. Aber was war seit seinem
Eintauchen in den Monitor schon logisch gelaufen? Oder vielmehr, was war
logisch gewesen, seit der Balkon zu seiner Flugreise angetreten war? War nicht
überhaupt sein ganzes Leben einigermaßen unlogisch verlaufen?
Sejs Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er merkte, daß er jetzt
wieder furchtbar schnell nach unten schoß. Diesmal schien es keine sanfte
Landung geben zu wollen. Sej sah die ausgestreckten Arme und das
abgrundtief böse Grinsen der Gestalt, auf die er jetzt direkt zuschoß, Beine
voran. Er schloß die Augen und hoffte, daß es - wie auch immer - schnell
vorüber wäre. Es gab ein zischendes Geräusch, als die Hauswand an ihm
vorbeischoß. Das war eine Zehntelsekunde vor dem Ende.

Versteckt im Großen Brimborium


So du nicht wöllest dir dem Fingers verbrennen, fassest du nicht an keinen
Sonnen" beginnt Vers D/1249 im zweiten Kapitel des dritten Bandes des
Großen Brimboriums, des heiligen Buches der Mineralgötter der Ebene 3, und
in dem üblichen, verquasten Kauderwelsch geht es weiter: "Höre alsdenn des
schrecklichen Geschehens, welch sich ärreygnete bey der Thalfahrrt des edlen
Symbolicus." Aus Gründen des guten Geschmacks wurde der Rest übersetzt:
Der edle Symbolicus fuhr mit seinem vieldimensionalen Wagen, gezogen von
einem Gespann edler mehrdimensionaler Huftiere, hinunter in die Ebene der
Ausscheider (damit meinen die Mineralgötter die primitiven Lebensformen, die
noch einen Stoffwechsel haben).
Er kam zuerst zu einem Planeten von Insektoiden, und das Gebrumme und
Gesurre ging ihm auf den edlen Geist. Danach besuchte er einen Planeten von
Philatelisten, und die verschrobenen Spießer gingen ihm auf den edlen Geist.
Dann gelangte er zu einem Planeten von Regenschirmen, und das Wetter
ging ihm auf den edlen Geist.
Schließlich erreichte er einen Planeten von Humanoiden, und das
Gequatsche ging ihm total auf den edlen Geist.
Da rief der edle Symbolicus: "Ist ja voll ätzend hier," und es erboste ihn so,
daß er nach der nächsten Sonne griff, um diese so zu komprimieren, daß eine
Hyperfusion entstünde, die dieses Universum vernichtet hätte, das ihm so auf
den edlen Geist ging. Stattdessen aber kreischte der edle Symbolicus: "Teufel,
ist das Ding heiß," ließ die Sonne los und schwirrte fluchend ab, zurück in die
dritte Ebene.
"So söllet ihr als davonn lärnen, des ihr nichtens yberträtet eueren eigenes
Gesettzen," schließt Vers D/1249 im Originalwortlaut. Der Rest der Lektüre, vor
und nach diesem Vers, ist ähnlich banal und nervtötend, und die Ausdrucks-
weise ist so gemein, daß nur wenige perverse Völker des belebten Universum
aller Ebenen die Lektüre unbeschadet überstehen können, weshalb das Große
Brimborium zu den großen, vergessenen Büchern des Weltraums gehört.
Das wäre an sich nicht weiter schlimm, wenn dort nicht der Vers F/0815 im
vierten Band wäre. Dort steht nämlich - zugegebenermaßen ziemlich unver-
mittelt - daß es "eggstrehm unkuhl" ist, den Pseudo-Beta auf Goodbye zu schal-
ten, wenn betriebssystembedingte Störungen in Ebene 10a auftreten. Fast nie-
mand hätte allerdings verstanden, was damit gemeint war. Chadawak jeden-
falls hätte es gewußt, und wenn er das Große Brimborium gelesen hätte, hätte
er niemals den Pseudo-Beta auf Goodbye geschaltet. Und die Mineralgötter der
Ebene 3 und viele nettere Dinge der anderen Ebenen wären uns erhalten ge-
blieben, auch Chadawak, einer der fähigsten Programmierer der fünften Ebene
vor der Reduzierung des Weltalls auf drei Ebenen. Aber davon später.

Ein bisschen mehr als Alltag


Gott nahm seine Brille von der Nase und putzte sie. Was er da gerade sah,
war ziemlich unglaublich. Ein Humanoide, der bis gerade eben der absolute
Herrscher seiner kleinen Welt gewesen war, blickte zum letzten Mal in dieses
Universum, und zwar nach oben, und zwar zu Tode erschreckt. Ein anderer
Humanoide, der vor Kurzem seine Wolke verloren, dafür aber einen großen,
grünen Plastikbuchstaben gefunden hatte, blickte ebenfalls zum letzten Mal in
dieses Universum, und zwar nach unten, und zwar so erstaunt, daß er nicht
einmal erschreckt war. Auf dem Planeten Erde wurde zufällig zur gleichen Zeit
eine Sekte gegründet, die endlich wirklich im Besitz der Wahrheit war.
Anderswo nahm eine Anerkannte Gottheit gerade einen tiefen Schluck aus der
Flasche und rülpste. Dann knallte der zweite Humanoide von oben mit voller
Wucht auf den ersten. Daraufhin gab es eine Staubwolke, die endlich mal
genauso aussah wie in Bugs Bunny- und Roadrunner-Filmen. Dann war es eine
Weile ruhig, während der Staub sich legte. Auf dem Planeten Erde warb die
Sekte gerade ihr zweites Mitglied. Die Anerkannte Gottheit nahm noch einen
Schluck, woraufhin sie ins Stolpern kam und voll gegen eine Galaxis knallte.
Gott fand das alles unheimlich lustig, kicherte und sabberte in seinen weißen
Bart. Wenig später flog ein riesiger Fisch auf die beiden Humanoiden zu. Er sah
so verdutzt aus, wie ein Fisch nur aussehen kann, bis er krachend auf den
beiden Bewußtlosen landete. Danach sah auch er nur noch bewußtlos aus,
bevor eine noch größere Staubwolke die Szenerie für eine Weile verhüllte. Auf
dem Planeten Erde hatte die Sekte jetzt schon drei Mitglieder, von denen
allerdings gerade das erste wegen Ketzerei ausgeschlossen wurde. Die
anerkannte Gottheit landete in nullkommanix vor dem Höchsten Kadi, wo sie
der Höchste Richter wegen Trunkenheit und Vernichtung mehrerer Billionen
Lebensformen zum Hilfsgott degradierte. Gott sah noch eine Weile zu, aber als
sich dann länger nichts Bewegendes tat, wandte er sich gelangweilt ab und
spielte weiter mit Jesus Schach.

Ebene 5
Die Ebene 5 wird vom Chaos regiert. Das Chaos ist ein liebenswertes Lebe-
wesen der vierten Ebene mit großen, blauen Augen, die immer ein bißchen
traurig gucken, weil es das Chaos betrübt, daß es nur Verwirrung stiftet, egal,
wo es hinkommt.
Die Ebene 5 ist riesig groß. Wie groß, davon kann sich eine Lebensform der
unteren Ebenen nur eine Vorstellung machen, wenn sie schon einmal zu Fuß
(bzw. zu Saugnapf, zu Huf, zu Springbein, zu Federantenne usw.) von der
östlichen Milchstraße zur Magellangalaxis gelaufen ist. Das ist immerhin über
200 Millionen Lichtjahre weit. Selbst Rollerman, der fanatischste
Rollschuhfahrer des Universums, würde es in der Zeit vom Urknall bis zum
Endplumps nicht einmal schaffen, sie zur Hälfte zu durchqueren. Sie besteht
nicht, wie die unteren Ebenen, aus Ansammlungen von Materieklumpen, die
inmitten von stabilen Magnetfeldern zwischen Unmengen von Nichts hängen.
Die Ebene 5 ist wirklich eine große Ebene, mit sanften Hügeln unter dem
sanften Licht einer nie untergehenden Sonne, die alles bis in den letzten Winkel
sanft ausleuchtet. Allerdings ist die Ebene 5 in sieben Dimensionen gefaltet,
aber das fällt nur auf, wenn man sie von außen sieht (und einige hundert
mehrdimensionale Augen hat). Was aber jedem sofort auffällt, ist eins: Die
Ebene 5 ist unheimlich unaufgeräumt. Sie ist in der Tat dermaßen voller Müll,
daß es selbst den Golgathianern die Sprache verschlagen würde, die von allen
Ökofreaks der unteren Ebenen gehaßt werden, weil sie durch ihre schlampige
Lebensweise schon so manchen Planeten völlig ruiniert hinterlassen haben.
Überall stapeln sich kilometerhoch Computerausdrucke, die die sanften Hügel
bei Weitem überragen. Dazwischen stehen wahllos extrem teure, extrem
leistungsfähige Superrechner, abgewrackte ältere Modelle bis hin zu völligen
Ruinen, deren zerkratzte Monitore ab und zu trübe aufflackern, wenn ihre
abgeschalteten Prozessoren von einer Ladung Datenschrott geschüttelt
werden.
Um das Bild zu vervollständigen, ist jeder freie Raum meterhoch aufgefüllt
mit leeren Cola- und Billigbier-Dosen, und darauf flattern munter im stetigen,
sanften Wind der Ebene 5 leere Tüten von Gummibärchen und ekelhaften
Lakritzverlockungen. Ab und zu liegt eine Dose Vitamintabletten herum, und
gelegentlich findet man eine halbvolle Packung Aspirin. An manchen Stellen
läuft ein Strang Breitbandkabel oberirdisch durch den Müll. Überragt wird dieser
ganze Dreck nur von dem riesigen Sendeturm in der Mitte der Ebene, von wo
die Programmierer ihre Updates ins Universum schießen.
In dieser Szenerie der Verwüstung hasten nervös die Programmierer umher
(wenn sie nicht vor den Bildschirmen sitzen, was sie meistens tun), über-
nächtigte Systemoperatoren sitzen auf Stapeln von Computerausdrucken her-
um und trinken zusammen Bier, Datentypisten spielen alberne Computerspiele,
und abgeflippte Systemanalytiker malen mit stumpfen Bleistiften riesige,
verzweigte Diagramme auf die Rückseiten von Computerausdrucken. Ab und zu
kommt der Chef, aber wegen der Größe der Ebene kommt das im Schnitt nur
alle 14 Milliarden Binärjahre vor.
Diese Beschreibung zeigt allerdings nur, wie sich die Ebene einer
vierdimensionalen Lebensform der unteren Ebenen dargestellt hätte. In
Wirklichkeit haben jahrmillionenlange Berechnungen auf den modernsten,
leistungsfähigsten Rechnern gezeigt, daß die Ebene 5 allein 27 geradzahlige
Dimensionen hat. Weshalb Rollerman sich auch oft verfährt.
An einem schönen Nachmittag (eine etwas unzutreffende Bezeichnung, denn
auf Ebene 5 ist eigentlich immer Nachmittag, weil das die Zeit ist, wo die Pro-
grammierer aufstehen, und der Boß meinte, daß sie da am fittesten wären) saß
Chadawak (das heißt wörtlich: Rate meinen Code!) auf einem Stapel Ausdrucke
und dachte an /KURSIVa Die Behörde/KURSIVz , was ihn wütend mit den Zäh-
nen knirschen ließ. Die Behörde hat einige Milliarden Beschäftigte, deren
einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, Gutachten auszuarbeiten, die lang
und breit (und jeglicher Vernunft und Einsicht trotzend) "beweisen", daß Die
Behörde wichtige Aufgaben wahrnimmt. Wenn sie dann noch Zeit haben (und
nicht gerade mit fröhlichem Plaudern oder Kaffeetrinken und Kuchenessen
beschäftigt sind, was meist der Fall ist), arbeiten die Mitarbeiter (alles Beamte
mit Rentenanspruch nach 15 Milliarden Dienstjahren) an Plänen zur Müllbeseiti-
gung oder einer Steuerreform, die permanent daran scheitert, daß es auf
Ebene 5 gar keine Steuern gibt. Die Behörde wird von den Programmierern ge-
haßt, weil sie unheimlich viel Rechenzeit verbrät.
Chadawak wurde von einem Flackern des Multi-Synch-Alpha-Monitors aus
seinem mürrischen Grübeln geweckt. Dort tauchte plötzlich ein humanoides
Gesicht auf, streckte ihm die Zunge heraus und verschwand wieder. Locker
schaltete Chadawak die Suchfunktion ein, die ihm in wenigen Nanosekunden
mitteilen würde, um wessen Gesicht es sich gehandelt hatte (Angaben z.B.:
Alter, Größe, Hautfarbe, Zahl der Augen, Ohren und Nasen, Zugehörigkeit zu
welcher Ebene usw.).
Als die Zeichen über den Multi-Synch-Alpha liefen, kippte Chadawak vor
Schreck von den Computerblättern. Sein Bier fiel um und versickerte im End-
lospapier. Was er gerade gesehen hatte, war nichts anderes als eine der Simu-
lationen des Kollegen, der bei einem Programmtest in die unteren Ebenen
abgestürzt und dort anscheinend verrückt geworden war. Chadawak erinnerte
sich genau an diese Geschichte. Es war schon oft vorgekommen, daß Kollegen
beim Start eines neuen Programms in die Zielebenen geschleudert worden
waren, wenn sie vergessen hatten (oder - wie meistens - "keine Zeit" dazu
hatten), die Risikovermeidungsprogramme zu laden. Es war aber bisher immer
gelungen, sie mit Rettungsprogrammen zurückzuholen, wenn es auch
manchmal einige Millionen Binärjahre gedauert hatte, diese Programme zu
schreiben. Manche waren in dieser Zeit in den unteren Ebenen verrückt
geworden und spielten sich als Hilfsgötter und dergleichen auf und fanden es
ganz toll, primitive Lebensformen mit billigen Programmiertricks zu
beeindrucken. Einmal jedoch war jede Rettung zu spät gekommen. Der
Betreffende, ein Kollege mit dem Namen Pamutsok ("Ende mit Escape"), war
bei den Primitiven dermaßen ausgeflippt, daß er sich jetzt für das größte und
gefährlichste aller Simulationsviren hielt und permanent versuchte, sich in die
Rechner aller Ebenen hineinzukopieren, was ganz schön gefährlich werden
konnte. Chadawaks Kollegen hatten es für völlig ausgeschlossen gehalten, daß
der Verrückte es schaffen könnte, bis in Ebene 5 vorzudringen, und selbst wenn
es ihm gelänge, würden ihn eben die Virenkillerprogramme erledigen. Das war
zwar nicht besonders edel (es handelte sich immerhin um einen Kollegen), aber
was sollte man tun?
Ganz am Anfang der Zeit der Ebene 5 (also wo es gerade Nachmittag wurde)
war bei einer Installation durch einen Fehler des Betriebssystems Gott erschaf-
fen worden, und der war der einzige, der bei Diskussionen mit dem Boß ernst-
haft ein Wörtchen mitzureden hatte, wie die Programmierer neidvoll be-
merkten. Wie auch immer, seitdem ging dem Boß Datensicherheit über alles,
und er hatte eigenhändig mehrere Virenkillerprogramme geschrieben und sie in
den AutoOrdner geladen, so daß sie immer aktiv waren. Soeben hatte Chada-
wak gesehen, wie es der Verrückte geschafft hatte, sämtliche Sicherungen des
Betriebssystems zu umgehen und sich sogar unbeschadet wieder davonzusteh-
len. Fieberhaft hämmerte er auf der 15-dimensionalen Tastatur herum und ver-
suchte, den zuständigen Operator zu rufen, aber der machte wohl ein Nachmit-
tagsschläfchen und war nicht aufzutreiben. Andere Systemoperatoren zeigten
sich sichtlich gelangweilt und versprachen genervt, sich "später" um das Pro-
blem zu kümmern.
Nach einer Weile nutzloser Bestrebungen, jemanden vom Ernst der Lage zu
überzeugen, schaltete Chadawak den Pseudo-Beta auf Goodbye (eine ziemlich
komplizierte Mischung aus Reset und Standby) und ging mürrisch in seine
Stammkneipe "Zum letzten Byte", um sich gehörig die Rübe zuzuschütten.
Chadawak hätte wirklich das Große Brimborium lesen sollen. Dann wäre uns
die Ebene 5 mit ihrem ganzen Müll, aber auch ihren gigantischen, superteuren
Superrechnern erhalten geblieben.

Ein vordorbenes Kind


Donald hatte eine schwere Kindheit gehabt. Als er zur Welt kam, sah er so
ätzend aus, daß seine Mutter ihn nur mit Gummihandschuhen anfaßte. Sein
Vater, ein stadtbekannter Sadist, machte sich einen Spaß daraus, ihn jeden
Abend grün und blau zu prügeln. Es war ein Wunder, daß Donald die ersten Jah-
re seiner Kindheit überlebte. Als er größer wurde, mieden ihn die Kinder seiner
Straße, weil er so ätzend und immer so übel zugerichtet aussah. Im Alter von
zehn Jahren unternahm er seinen ersten Selbstmordversuch, indem er sich mit
Benzin überschüttete und anzündete. Durch ein weiteres Wunder überlebte er
auch das (in späteren Jahren entwickelte er eine wilde Abscheu gegen Wunder
jeglicher Art). Man steckte ihn in eine geschlossene Anstalt, weil sein Anblick
jetzt nur noch Leuten mit Nerven wie Drahtseilen zugemutet werden konnte.
Noch ein Absatz ...
Nach einer Serie weiterer ausgeklügelter Selbstmordversuche, die wie durch
ein Wunder alle schiefgingen, war Donald qualifiziert genug (um nicht zu
sagen, geradezu prädestiniert dazu), einen äußerst diffizilen Job bei THE GAME
anzunehmen, und zwar in der Design-Abteilung von GAME.S.WITCH. THE GAME
suchte ständig nach ungewöhnlichen Talenten an ungewöhnlichen Orten. Ihre
Personalbeschaffer gingen zu kannibalistischen Sekten genauso wie in Irren-
häuser, und in einer Klapsmühle fanden sie Donald und nahmen ihn gleich mit.
Die Zeit bei GAME.S.WITCH war für Donald die einzige einigermaßen
glückliche Zeit seines miesen Lebens. Er unternahm in diesen Jahren nur einen
einzigen Selbstmordversuch. Hier konnte er seinen depressiven,
zerstörerischen Phantasien freien Lauf lassen. Er war sofort zum Leiter der
Design-Abteilung von DAS BÖSE ernannt worden, einem Subgame von
GAME.S.WITCH. DAS BÖSE war gewissermaßen das Gegenstück von HAUNTED
HOUSE. Kam es bei Letzterem darauf an, den Spieler ständig nahezu zu Tode zu
erschrecken, war er bei DAS BÖSE der Finsterling, dem immerzu arme,
unschuldige Kreaturen begegneten, denen er das Fürchten lehren konnte. Und
das war wirklich einfach. Donald hatte einen Haufen von Feiglingen entworfen,
die schon mit drohenden Gesten in Panik zu versetzen waren. Ganz besonders
stolz war er auf ein Hündchen, das sich, wenn man es böse anschaute,
winselnd in die letzte Ecke verdrückte und anfing, sich selbst aufzufressen.
Donald konnte vor seinem letzten, endlich erfolgreichen Selbstmordversuch
befriedigt zur Kenntnis nehmen, daß DAS BÖSE eins der beliebtesten Subga-
mes von GAME.S.WITCH geworden war.

Wer Wind sät, wird Sturm ernten


Percy schaltete sich mit der Redisc in die erste Szene ein. Er stand in einem
ziemlich gewöhnlichen Treppenhaus eines ziemlichen gewöhnlichen Hoch-
hauses einer mehr als gewöhnlichen Trabantenstadt. Auf dieser Etage führten
mindestens zehn Türen in wahrscheinlich mehr oder weniger identische
Wohnungen. In der Tür, vor der Percy stand, steckte der Schlüssel, den der un-
achtsame Mieter dort wohl vergessen hatte. Percy öffnete die Tür und trat ein.
Er war jetzt in einem Korridor, von dem eine Tür in die Küche, eine ins Bad, eine
ins Kinderzimmer und eine ins Wohnzimmer führte. Von dort konnte er eine
wilde Schießerei aus dem Fernseher hören. Er inspizierte Küche und Bad, fand
nichts, worin ein Sütterlin S sein konnte und zerschlug zum Spaß ein paar
Spiegel. Daraufhin öffnete sich die Wohnzimmertür und ein kleiner, pantoffel-
tragender Spießer mit Halbglatze und Bierbauch spähte vorsichtig heraus.
Mit einer schnellen Drehung stand Percy vor ihm und packte ihn am Hemd-
kragen. Dem kleinen Mann blieb vor Schreck der Mund offen stehen und seine
Augen quollen hervor. Percy ließ ein fieses Lachen ertönen und drückte den
Mann zurück ins Zimmer. Dort stand eine Frau neben einem Kunstledersessel,
die sogleich anfing, hysterisch zu kreischen. Sie hatte eine billige Dauerwelle
und trug dazu passend ein billiges Kleid, daß sie noch unförmiger aussehen
ließ, als sie ohnehin schon war. Percy hielt den Mann immer noch am Kragen
und schaute sich mit einem höhnischen Grinsen im Zimmer um. Zwei etwa
zehnjährige Kinder verzogen sich weinend hinter das zum Sessel passende
Kunstledersofa. Ein Yorkshire-Terrier kroch wimmernd unter den Fernseher und
fing vor Angst an, an seinen Vorderpfoten herumzuknabbern. Percy schlug dem
Mann mit der freien Hand ins Gesicht und brüllte ihn an:
"Wo habt ihr eure Bücher?" Schlotternd vor Angst gelang es dem Mann nach
einer Weile, hervorzustammeln, daß es hier keine Bücher gäbe. Nach dem
nächsten Schlag ins Gesicht fehlte ihm ein Schneidezahn und er blutete heftig
aus dem Mund. Percy stieß ihn in den Sessel und wandte sich an die Frau:
"So, und wo hast du deine Strickzeitschriften?" Die Frau hatte zwar aufgehört
zu schreien, aber vor Angst brachte sie kein Wort heraus. Abwehrend hielt sie
die Hände vors Gesicht. Percy ging zu der plastikbeschichteten Schrankwand
im Rustikal-Look und kippte sie nach vorn. Eine Menge billiger Plunder fiel her-
aus, aber keine Bücher oder Zeitschriften. Percy kippte sie vollständig um, was
ein nettes Geräusch gab. Er freute sich, wie stark er in diesem Subgame war.
Vor lauter Zufriedenheit schlug er noch die Bildröhre des Fernsehers mit einem
Stuhl ein. Der Yorkshire versuchte daraufhin, in die Wand zu kriechen, was ihm
jedoch mißlang, woraufhin er sich damit zufriedengab, seine Pfoten bis auf die
Knochen abzunagen. Als Zugabe nahm Percy eine leere Vase vom Sofa-Glas-
tisch und haute sie der Frau über den Kopf. Mit einem Stöhnen sank sie zu
Boden und blieb dort blutend liegen. Dann nahm er einen mittelgroßen Kaktus
vom Fensterbrett und stopfte ihn dem Mann in den immer noch offenen Mund.
Zum Abschied kippte er die Couch auf die weinenden Kinder und verließ die
Wohnung.
Als er ins Treppenhaus hinaustrat, sah er, wie sich eine Wohnungstür schnell
schloß. Percy überlegte gerade, ob er die ängstlichen Nachbarn schnell einmal
von ihrer Neugier kurieren sollte, als er bemerkte, daß eine Gestalt in einem
grauen Mantel um die Ecke bog und die Treppe hinunterhastete. In ihrer Hand
hatte sie einen flachen, grünen Gegenstand, der einem bestimmten Buch-
staben des Sütterlin-Alphabets glich. Percy rannte der Gestalt hinterher, die in
ihrer Angst ein erstaunliches Tempo entwickelte. Als er nach fünf Etagen an der
Haustür ankam, war der Manteltyp verschwunden. Kurz darauf knallte weiter
unten eine Eisentür. Der Kerl war also in den Keller geflüchtet.
Mit einem sadistischen Grinsen ging Percy gemächlich die Kellertreppe
hinunter. Langsam öffnete er die Tür und schaute hinein. Dort stand das
Männchen in dem grauen Mantel und blickte starr vor Schrecken auf Percy. Zu
seinem Erstaunen war noch ein weiterer Mann dort, der gerade hastig in eine
Nische sprang. Und er hatte den Plastikbuchstaben in der Hand. Percy ging
langsam auf die Nische zu. Plötzlich hob der Mann ab und verschwand nach
oben durch das Gitter eines Kellerfensters. Nun war die Gelegenheit da, die
ungewöhnlich bösen, metaphysischen Fähigkeiten auszuprobieren, die dem
Spieler bei DAS BÖSE gegeben waren.
Im Nu war Percy in der Nische und blickte durch das Gitter nach oben. Der
Mann mit dem Buchstaben schwebte aufwärts durch eine Reihe metallisch
glitzernder, grüner Ringe, die einfach so in der Luft hingen. "Raffiniert,"
murmelte Percy bewundernd und fing an, den Typen mit Hilfe seiner übernatür-
lichen Kräfte nach unten zu ziehen. Es kostete ihn einige Anstrengung, bis er
den Mann in seinem Aufwärtsflug gestoppt hatte. Allmählich schaffte er es, ihn
nach unten zu ziehen. Dann aber begann der Kerl, dermaßen schnell zu fallen,
daß Percy klar wurde, was als nächstes passieren würde. Er versuchte, den
Sturz abzubremsen, aber jetzt schienen seine Kräfte zu versagen. Er versuchte
noch, zur Seite zu springen, als ihn ein Schlag am Kopf traf. Dann sah er das
dunkelste Schwarz, daß er je erblickt hatte. Eine Zehntelsekunde später
schaltete sein Gehirn auf Standby.

Fataler Fehler
Achtung! Systemfehler in Ebene 10a ... Absturz nicht mehr zu vermeiden ...
Risikovermeidungsprogramme nicht mehr zuschaltbar ... Auf Wiedersehen beim
Endplumps! flackerte es über alle Monitore des Pseudo-Beta in der vierten
Ebene. Eine Weile war es überall vollkommen still. Dann war es ungefähr eine
Nanosekunde lang unheimlich laut. Danach war die Stille noch vollkommener.
Begegnungen der besonderen Art
Sej drehte den Kopf und stöhnte. Alles in seinem Körper schmerzte, und jeder
Knochen schien verbogen worden zu sein. Schwarze Schatten tanzten vor sei-
nen Augen. Das erste, was er wieder einigermaßen sicher identifizieren konnte,
war das weit aufgerissene Maul eines Haifischs, der regungslos auf der Seite
lag. Daneben lag ein Mensch, ebenso regungslos, der wie das Klischee von et-
was aussah, was Sej als "Fiesling" bezeichnet hätte. Dann schwebte ein blauer
Schatten auf ihn zu, der sich in Größe und Form ständig veränderte, aber bald
darauf wieder verschwand. Das Ganze sah er durch immer wieder aufziehende
schwarze Schatten hindurch, die mit blitzenden Sternen durchsetzt waren.
Sej machte die Augen wieder zu und wartete darauf, daß der Traum zuende
wäre und er wieder aufwachte. Dann wachte Percy auf, sah eine ähnliche
Szenerie und tastete nach seiner Redisc. Auch er fühlte sich vollkommen
daneben; außerdem hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sej öffne-
te die Augen wieder, als er Geräusche hörte. Percy versuchte gerade, sich un-
ter dem Haifisch hervorzuwinden, der halb auf ihm lag. Dann wachte auch Arr-
gnflrt auf. Sein Gehirn war ebenfalls in einem Zustand, den man mit "nicht alle
Tassen im Schrank" hätte bezeichnen können, wenngleich Haie mit Tassen
nichts am Hut haben. Mit Hüten übrigens auch nicht, und schon gar nicht mit
Schränken. Merkwürdigerweise war eben das Arrgnflrts erster Gedankengang.
Dann stellte er mit einem gewissen "zn" fest, daß er nicht tot war, und berech-
nete, daß die Wahrscheinlichkeit dafür dermaßen viele Stellen hinter dem Kom-
ma immer noch gleich Null war, daß er sie nicht berechnen konnte. Als drittes
berechnete er noch die Zeit, die er in dieser trockenen Umgebung überleben
würde: Die ließ sich wenigstens noch in Sekunden ausdrücken. Das hieß, ihm
bliebe noch mehr als genug Zeit für die "ultimative Reaktion", nämlich das
Ändern der Körperform. Er war der erste Haifisch, der sich zu einer so dras-
tischen Maßnahme entschloß (Haie sind sehr eitel und finden, daß alle anderen
Lebensformen mehr oder weniger degeneriert aussehen).
Was dann passierte, veranlaßte Sej dazu, wieder die Augen zu schließen und
irgendein zuständiges, übergeordnetes Wesen zu bitten, daß sein Alptraum
bald vorüber sei. Percy versuchte immer noch vergeblich, sich von dem Hai zu
befreien, als plötzlich kein Gewicht mehr auf ihm lastete. Der ganze riesige
Fisch hatte sich plötzlich in zwei Hälften geteilt, wie von einem Riesenmesser
sauber in der Mitte zerschnitten. Die Hälften klatschten links und rechts neben
ihm auf den Kellerboden. Dann begannen sie sich zusammenzurollen, zuerst
langsam von oben und unten her, dann rasant entlang der Längsachsen. Die
entstandenen Gebilde begannen sich in zwei Wirbeln zu drehen. Die Bewegung
wurde so schnell, daß sie schließlich aussahen wie zwei riesige Kreisel. Die
Drehbewegung verlangsamte sich nach einer Weile, und als die Gebilde still-
standen, hockten dort zwei überdimensionierte Känguruhs und blickten
erstaunt in die Gegend. Percy hielt nach seiner Redisc Ausschau, die er immer
noch nicht gefunden hatte, und schwor sich, THE GAME auf ein sattes Sümm-
chen Schadenersatz zu verklagen. Es kam ihm nicht einen Moment der Ge-
danke, daß das Spiel jetzt vorbei war. Sej war sowieso nicht ganz bei der Sache,
also blieb es bei Arrgnflrt, etwas aus der Situation zu machen, und der hatte
sich gerade in zwei Känguruhs verwandelt, was nicht unbedingt zur Klärung
beitrug. Zu allem Überfluß schwebte jetzt wieder der blaue Schatten durch den
Raum und begann herumzujammern:
"Meine teuren Rechner! Meine Netzwerke! Und ich habe nicht mal eine Haus-
ratversicherung abgeschlossen!"
"Äh, kannst du mir vielleicht sagen, was hier gespielt wird?" wandte sich das
eine Känguruh an den Schatten.
"Das war der gemeinste Systemabsturz, den ich je erlebt habe," jammerte es
aus dem blauen Dunst hervor. Das Känguruh warf seinem völlig identischen
Gegenstück einen fragenden Blick zu und versuchte es dann bei Percy:
"Du scheinst etwas mit der Sache zu tun zu haben, Humanoide. Kannst du
mir sagen, wie diese Simulation genannt wird? Ich habe mit dem
Verantwortlichen ein Wörtchen zu reden."
"Ich auch," mischte sich das andere Känguruh ein. "Es war ja ganz nett, uns
vor dem Zerplatzen zu bewahren, aber dafür sitzen wir jetzt verdammt auf dem
Trockenen."
Percy gab die Suche nach der Redisc auf und fluchte: "Ihr verdammten Algo-
rithmen, wenn ich euren Programmierer erwische, dann kann der was erleben!"
Wieder schauten sich die Känguruhs fragend an. Jetzt war der blaue Schatten
an der Reihe: "Ihr habt alle zu einem unserer teuersten Programme gehört,
aber jetzt, wo die Hardware zum Teufel ist, seid ihr nicht mal mehr einen Binär-
cent wert," jammerte er weiter.
"Das brauche ich mir von dir blödem Programmbestandteil nicht sagen
lassen," brüllte ihn Percy an.
"Ich glaube, mein Gehirn ist falsch programmiert," murmelte Sej, dann etwas
lauter: "Kann mir jemand von euch sagen, wie ich diesen Alptraum beenden
soll? Ich vermute, es ist Zeit, meine Katze zu füttern."
Das eine Känguruh tippte sich an die Stirn und meinte zu seinem Partner:
"Die spinnen, die Simulationen!"
"Bevor wir anfangen, uns herumzustreiten," warf Sej ein, "könnten wir uns ja
erst mal vorstellen. Ich meine, ich glaube zwar nicht, daß ihr wirklich existiert,
aber wenn ich schon nicht aufwachen kann, will ich wenigstens etwas von euch
kennenlernen. Vielleicht hilft mir das nachher, den Traum zu analysieren."
Das eine Känguruh lachte schallend los: "Du Haifischfutter, du weißt wohl gar
nichts, was?"
"Da sind wir ja in eine exquisite Gesellschaft geraten: Ein jammernder Nebel
und zwei Landkriecher, die wie üblich gar nichts wissen," setzte das zweite
Känguruh hinzu. "Wie interessant!"
"Oh ja, gähn," sagte Känguruh eins, "ich hoffe nur, wir kommen hier bald
raus."
"Dieser Raum hat eine Ausgangstür, ihr binären Klugscheißer," meinte Percy.
"Abgang!"
"Nein, das ist unfair," rief Sej. "Dann haut ihr alle der Reihe nach ab und ich
bleib hier und kann mich beim Aufwachen nur wundern, was ihr wohl symbo-
lisieren solltet."
Achselzuckend sagte Känguruh eins zu seinem Kollegen: "Die etwas Klügere
von den Landratten hat, glaube ich, recht. Wir sollten uns von hier wegsubtra-
hieren."
Känguruh zwei watschelte zur Tür. Weil es sowieso schon an die Kellerdecke
stieß, obwohl es gebückt gestanden hatte (oder gesessen? Bei Känguruhs weiß
man das nie so richtig), konnte es nicht hinhüpfen. Das Watscheln sah ziemlich
drollig aus, und selbst Percy mußte grinsen. Sofort schnellte der blaue Schatten
hinterher und stellte sich vor die Tür (oder schwebte sich vor die Tür? Bei blau-
en Schatten weiß man das nie so richtig).
"Ihr seid wohl völlig übergeschnappt, ihr Module!" rief er. "Habt ihr noch nie
von den elementaren Sicherheitsvorschriften bei Systemabstürzen gehört?"
Nervös änderte er ständig seine Form.
"Was ihr hier mitkriegt, ist der Super-GAUS, der Gigantische Absolute Unbe-
zahlbare Systemabsturz, und ihr kennt nicht einmal die einfachsten Stör-
fallregeln. Wenn du diese Tür öffnest," sagte er jetzt zu dem Känguruh, "ist es
mit einer Wahrscheinlichkeit von 147 Alpha-Prozent mit den Resten von uns
vorbei, und zwar in materieller wie in binärer Hinsicht. Ich muß dem Erdling
recht geben, wir sollten uns erst einmal beruhigen und uns vorstellen. Dieses
'Spiel'," er wandte sich an Percy, "könnte länger dauern, als uns lieb ist."
Das Känguruh zog die Augenbrauen hoch (was bei Känguruhs ziemlich drollig
aussieht), hockte sich aber wieder zu den anderen. "Nun gut, wir heißen Arrgn-
flrt," sagte es und zeigte dabei auf sich und sein Gegenstück."
"Äh, Moment, wer ist jetzt Arrgnflrt?" schaltete sich Sej ein.
"Au warte," murmelte der blaue Schatten.
"Nun, Landtier, damit dein unterentwickeltes Gehirn es leichter hat, nenn uns
einfach "Sznmrddlknpplmtn" und "Ghnnlflrrhnm". Ich bin Sznmrddlknpplmtn,"
erklärte das andere Känguruh. "Was mein Name bedeutet, kann ich dir leider
nicht erklären, weil deine Lebenszeit dafür nicht ausreicht."
"Ich kann euch keinen Namen anbieten," sagte der blaue Schatten. "Bei dem
GAUS sind alle Intelligenzen unserer Ebene zusammengeschaltet worden. Das
war das letzte Programm, das lief, bevor die Hardware zerstört wurde. Das
Ergebnis bin ich. Leider sind auch die von /KURSIVa Der Behörde /KURSIVz
dabei. Ich hatte vorher nicht gewußt, daß das auch Intelligenzen sind. Uff!"
Der Schatten krümmte sich, als hätte er sich gerade selbst einen kräftigen
Knuff verpaßt. "Ist ja gut, jetzt sind wir alle hier versammelt und müssen sehen,
wie wir miteinander klarkommen," sagte der Schatten zu sich selbst.
Sej, der das nicht begriff, rief: "Ganz meine Meinung! Ich bin übrigens Sej,
auch wenn euch das wahrscheinlich nicht interessiert, weil ihr ja für mich viel
zu hoch entwickelt seid."
"Soso, Namen habt ihr also auch," grollte Percy. "Die haben ja wirklich keine
Kosten gescheut bei GAME.S.WITCH, nur an diesen unwichtigen Sicherheitsvor-
kehrungen haben sie ein bißchen gespart. Aber was soll's, das wird sie ja
höchstens ein paar Millionen Weltrubel kosten."
"Sagtest du GAME.S.WITCH, Erdling?" fragte erregt der Schatten.
"Ganz genau, GAME.S.WITCH, du Unding," antwortete Percy. "Und versuch
jetzt bloß nicht, deinen Programmierer in Schutz zu nehmen."
Aus dem Innern des Schattens kam ein komisches Geräusch. Es war
unmöglich zu beschreiben, am ehesten klang es noch, als hätten Millionen von
Beamten gleichzeitig gekichert. Plötzlich war der Schatten verschwunden, ohne
daß sich die Tür geöffnet hätte. Das eine Känguruh schaute durch das
Kellergitter.
"Das kann ja gemütlich werden, Leute. Der Schatten fängt gerade an, die
Sterne einzusammeln."

Planet der Wahrheit


Aus den Annalen Gottes, der heiligen Schrift einer Sekte auf dem Planeten
Erde, die im Besitz der Wahrheit ist: "Und Gott sprach: 'Ich habe die Welt zwar
nicht erschaffen, aber ich war zufällig dabei, als sie das zweite Mal geboren
wurde, und ich habe eine Menge getan, um diese Unordnung wieder einigerma-
ßen zu dem zu machen, was man ein Universum nennen kann. Seid deshalb
bitte so nett und glaubt an mich und betet mich an, dann werde ich euch noch
viele schöne Geschichten erzählen.' Und alle glaubten an ihn und beteten ihn
an, und er erzählte ihnen noch viele schöne Geschichten, die alle hier aufge-
schrieben sind. Und weil Gott so groß ist, sind seine Geschichten so lang, und
deshalb ist dieses heilige Buch so dick. So gehet denn hin und spendet dem
Meister all euren schnöden Besitz, auf daß er euch den nächsten Band zum
Weiterlesen gebe."
Die Sekte bekam übrigens kurz nach ihrer Gründung Konkurrenz von Fana-
tikern, die an einen blauen Nebel glaubten und ihn anbeteten und behaupte-
ten, er würde ihnen viele schöne Geschichten erzählen, und daß der Nebel ge-
sagt habe, daß Gott, so wörtlich, eine 'faule Sau' sei, und daß er ? der blaue
Nebel ? den weitaus größten Teil der Wiederaufbauarbeit geleistet habe. Die
Sekten wanderten später, als aus ihnen Weltreligionen geworden waren, beide
auf den Planeten der Wahrheit aus, wo sie sich mehrere Jahrhunderte lang aus-
giebig und blutig bekriegten.

Sezana
Sezana trauerte um ihren Lippenstift. Den ganzen Abend hatte sie ihre kom-
plette Wohnung umgekrempelt, um das Ding zu finden. Sie wohnte in einem
Atelier hoch über den Dächern von Germania, und das heißt reichlich hoch,
denn Germania besteht nur aus Kolossalbauten mit mindestens zwanzig Stock-
werken. Wütend saß sie in einem ihrer futuristisch gestylten Sessel vor dem
riesigen Panoramafenster ihres größten Zimmers und nippte an einem mo-
ralisch wertvollen Cocktail.
Sezana war Chemikerin bei Der Behörde (nein, nicht /KURSIVa der/KURSIVz
Behörde!) für reinrassige Umweltverschmutzung und hatte dort eine führende
Stellung inne. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren arischer Zeitrechnung war
sie schon zur Abteilungsleiterin ersten Grades aufgestiegen. Neidvolle Gemüter
hatten gemunkelt, daß dies bloß an ihren blonden Haaren gelegen hätte, aber
Sezana wußte es besser. Sie hatte nämlich schon während ihres Studiums an
der Sauberen Universität von Germania zufällig eine Entdeckung gemacht, die
ihre Karriere und ihr sonstiges Leben (davon gab es nicht allzu viel) nachhaltig
beeinflußt hatte. Sezana hatte den Lippenstift entdeckt.
Beim Herumexperimentieren mit einigen minderrassigen Embryos hatte sie
eine rote Substanz extrahiert, die ihr merkwürdig erschien. Sie hatte versucht,
das Zeug zu analysieren, aber die Meßgeräte lieferten keine verwertbaren Da-
ten. Sie hatte die Flüssigkeit ein paar Tage unbeachtet in einem Reagenzglas
stehengelassen, dann war ihr aufgefallen, daß sie sich verdichtet hatte und
jetzt eher einer cremigen Paste glich. Verspielt, wie sie war, hatte sie sich die
Substanz auf die Lippen gerieben, da die Analyse zumindest keinen Hinweis
darauf lieferte, daß der Kram giftig war. An diesem Tag hatte sie das Labor erst
spät in der Nacht verlassen und dem Pförtner noch eine gute Nacht gewünscht.
Der war daraufhin flink wie ein Wiesel aus seinem Häuschen gerannt und hatte
ihr mit einem unterwürfigen Blick das Tor geöffnet. Allmählich entdeckte Seza-
na, was es mit der Substanz auf sich hatte: Wenn sie das Zeug auf den Lippen
trug, schienen ihre Worte für andere Menschen wie die Äußerungen eines
Engels zu klingen.
Zuerst fand Sezana das nur amüsierend, bis sie schließlich anfing, diese
Wirkung gezielt einzusetzen. Niemand wagte es mehr, an irgend etwas zu
zweifeln, was sie sagte. Sie probierte die unglaublichsten Sachen aus: Auf
einem Empfang hatte sie dem Direktor der Behörde für reinrassige Umweltver-
schmutzung eine haarsträubende Geschichte über blaue Schatten, die Sterne
einsammeln, vorgetragen, und der hatte ihr wirklich geglaubt. Kurz danach
hatte sie ihm eingeredet, daß sie die einzig würdige Nachfolgerin für den kürz-
lich verstorbenen Dr. Dr. Prof. Hanntz Muller wäre, und der Direktor hatte das
dann enthusiastisch vor den versammelten Gästen verkündet. Später hatte er
seine Begeisterung nicht mehr nachvollziehen können, aber, da er sich nicht
blamieren wollte, hatte er Sezana die Stellung fest zugesagt. Ein halbes Jahr
später trat sie den Posten an. In der Zwischenzeit hatte sie tage- und näch-
telang vergeblich versucht, die rote Substanz zu analysieren. Dann hatte sie
schließlich wild darauf los experimentiert, um den Stoff auf irgendeine Weise
herzustellen. Es war ihr nicht gelungen. Was blieb, war die Schlußfolgerung,
das Zeug so sparsam wie möglich einzusetzen.
Ihre Mitarbeiter waren zwar verwundert darüber, daß sie offensichtlich zwei
Persönlichkeiten in einer war, aber das war in ihrem Land so dermaßen normal
bei führenden Personen, daß es für alle akzeptabel war. Sezana hatte die ge-
samte verbliebene Substanz schließlich in die Hülle eines leeren Lippenstifts
gepreßt, den sie immer bei sich trug. Sie versuchte zwar noch gelegentlich, die
Zusammensetzung zu analysieren, aber ziemlich lustlos. Leider konnte sie auch
kein großes Forschungsprojekt starten (wozu sie ohne Weiteres die Möglichkeit
gehabt hätte), weil sie die Sache unbedingt geheimhalten wollte.
Jetzt war der Lippenstift weg. Sezana nahm noch einen Schluck, und wieder
stiegen ihr vor Zorn die Tränen in die Augen. Das, was sie bisher auf so lässig
wundersame Weise von anderen Menschen unterschieden hatte, konnte doch
nicht so spurlos verschwunden sein! Sie biß auf ihrem sorgfältig lackierten Dau-
mennagel herum. Ganz langsam begann in ihr eine Angst heraufzukriechen,
die Angst davor, sich diesem Leben wie ein ganz normaler Mensch stellen zu
müssen. Sezana hatte es zwar bisher immer etwas leichter gehabt als ihre
reinrassigen Mitmenschen, da sie außerordentlich schön war. Sie hatte jedoch
stets nach Höherem gestrebt, und da war ihr die rote Substanz gerade recht
gekommen. Und nun? Jetzt würde das Leben für sie Arbeit bedeuten, Duck-
mäuserei nach oben und treten nach unten, ein Prinzip, an das die Leute
leidenschaftlich glaubten, und ganz besonders die Leute in der Behörde für
reinrassige Umweltverschmutzung. Sezana konnte sich ein solches Leben nicht
mehr vorstellen und wollte das auch gar nicht. Schon bei dem Gedanken daran
schossen ihr vor Enttäuschung die Tränen hoch: Sie, die schöne Sezana, sollte
als Abteilungsleiterin ersten Grades enden, die mit zusammengekniffenen
Lippen Anträge auf Bewilligung von Forschungsgeldern ausfüllte? Voll Abscheu
schleuderte sie ihr Glas gegen das kugelsichere Panoramafenster.
Das Leben ist bisweilen merkwürdig, auch in Nazistan, einer streng ideolo-
gischen Staatengemeinschaft auf Ebene 9. Durch die an der Scheibe her-
abfließenden Reste ihres Cocktails blickte Sezana auf die riesige, verschwom-
mene Leuchtschrift auf dem Dach des Zentralgebäudes der Partei, als sie plötz-
lich etwas Blaues sah, das mitten durch den Nachthimmel schwebte. Vielleicht
hatte sie heute abend zuviel Teutschtaler in ihren Drink gemixt, jedenfalls schi-
en es ihr, als ob dieses blaue Etwas dort draußen dabei war, die Sterne einzu-
sammeln. Sezana war kein Mensch, der an Geister glaubt. Sie stand auf und
nahm noch einen kräftigen Schluck von dem hochprozentigen Gesöff direkt aus
der Flasche, bevor sie torkelnd zu Bett ging.

Ausweg
Das Känguruh rüttelte heftig an der Kellertür, aber die schien bestens
verschlossen zu sein. Sein Gegenstück stand daneben und fluchte leise.
"Ist wohl abgeschlossen," bemerkte Sej überflüssigerweise. Das Känguruh
ließ die Klinke los und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Percy hatte den
Kellerraum mittlerweile bis ins Detail kennengelernt.
"Wo, beim Arsch des Teufels, ist meine Redisc?" hörte man ihn aus einer Ecke
schreien.
"Reg dich bloß nicht künstlich auf, du Wurm," sagte wütend das Känguruh,
das versucht hatte, die Tür zu öffnen. "Ich wünschte, ich wäre auf deiner
Entwicklungsstufe, dann würde es mir nicht soviel ausmachen, hier in diesem
Loch zugrunde zu gehen."
"Ich habe ziemlichen Hunger," meinte das zweite Känguruh, und Sej glaubte,
daß ihm etwas Geifer aus dem Maul liefe, als es sich zu ihm umdrehte. Jetzt
war Sej an der Tür und probierte die Klinke. Natürlich dachte die Tür nicht dar-
an, sich jetzt plötzlich zu öffnen. Haßerfüllt trat er dagegen. Das erste Kängu-
ruh lachte:
"Ihr Landratten seid wirklich zu putzig, schade, daß wir nicht so etwas
angelegt haben, was ihr 'Zoo' nennt."
"Primitive Lebensformen dienen der Erhaltung des Humors im Universum,"
zitierte das zweite Känguruh offensichtlich aus einem Buch. Jetzt wurde Percy
erst recht wütend. Er boxte das erste Känguruh in den Bauch (unterhalb der
Gürtellinie? Das ist bei Känguruhs immer schwer zu sagen). Das Tier konnte
sich vor lauter Lachen überhaupt nicht wehren. Schließlich nahm sein Partner
Percy bei den Haaren und setzte ihn zur Seite.
"Autsch!" schrie Percy.
"Gniggergnigger," grinste das Känguruh, das ihn weggestellt hatte.
"Huhuhohaha!" lachte das andere immer noch.
"Falls es euch interessieren sollte, was eine primitive Lebensform äußert,
dann guckt mal, wo der Ausgang ist," sagte Sej beiläufig. Die anderen drei
drehten sich um. Sej war verschwunden.
"Uff!" sagte das eine Känguruh. "Hmpf!" sagte das andere. "Nanü! Au! Huch!
Au!" sagte Percy, der sich noch nicht so recht entscheiden konnte, ob er gerade
mehr schmerzerfüllt oder mehr erstaunt war.
Sej steckte seinen Kopf von oben durch das Kellerfenster.
"Das Gitter lag nur locker drauf, ihr Intelligenzbestien," verkündete er.
"Primitive Lebensformen sind der Zugang zu den Wurzeln der Intuition," rezi-
tierte das zweite Känguruh. Sein Partner versuchte derweil schon, sich durch
die Luke zu stemmen.
Sej stand draußen und streckte die Arme nach hinten. Aus einem unerklärli-
chen Grund fühlte er sich plötzlich unheimlich gut. Das Känguruh hatte mitt-
lerweile den Aufstieg geschafft und half seinem Partner heraus. Das sah üb-
rigens sehr putzig aus (für die, die es noch nicht geahnt haben). Percy kam di-
rekt hinterher.
"Habt ihr vielleicht ein Paar primitive Namen zur Verfügung, die sich eine
Lebensform wie ich merken kann?" fragte Sej die Känguruhs in einem Anfall
von Selbstvertrauen.
"Nun gut, nenn mich Boko," sagte das erste.
"Falls du uns unterscheiden kannst, mein Name ist Jeer," fügte das andere
hinzu. Jetzt konnte Percy nicht mehr abseits stehen. Obwohl er es
verabscheute, sich mit Algorithmen auf eine Stufe zu stellen, sagte er: "Mein
Name ist Percy Sledge."

Per Anhalter in die Galaxien


Es war ein schöner lauer Sommerabend. Ian und Paul standen in der offenen
Tür ihrer Stammkneipe und schauten hinaus auf die Hauptstraße des Dorfes. Ab
und zu fuhr ein Auto vorbei. Es hatte die beiden Freunde vor geraumer Zeit von
einer nebligen Insel des Planeten Erde an diesen Fleck auf dem Festland ver-
schlagen, wo die Leute in einer völlig unverständlichen Sprache redeten. Nie-
mand konnte von ihnen verlangen, so etwas zu lernen; und sie kamen auch so
ganz gut zurecht. Die Freaks, die sie kennengelernt hatten, sprachen ohnehin
ihre Sprache, und mit den restlichen reichte es, ein paar Floskeln zu tauschen,
die sie schnell drauf hatten: "Wir suchen Arbeit ohne Lohnsteuerkarte" (ein
Satz, den Ian solange wiederholt hatte, bis er ihn auswendig konnte). "Was, nur
ein Zehner die Stunde?" brachte er fehlerfrei und mit echter Entrüstung rüber.
Die beiden arbeiteten meist auf dem Bau (das heißt, wenn sie arbeiteten). Im
Moment war Hochsommer, die meisten Baufirmen machten Ferien, und die
Erntearbeiten ließen noch auf sich warten. Alles in allem, die beiden waren
ziemlich abgebrannt.
"Noch ein Stout?" fragte Paul und leerte sein Glas. Statt einer Antwort zog
Ian die eine Hosentasche heraus, nahm sein Bier in die andere Hand und zog
die zweite Tasche heraus. Er lachte leise.
"Lassen wir anschreiben," schlug Paul vor. Ian zuckte die Schultern und
nickte. Paul kam mit den vollen Gläsern zurück. Sie setzten sich auf die Stufen.
"Laß uns von hier abhauen," meinte Paul.
"Wohin?"
"In den Süden, wohin sonst."
Nach einer Weile setzte er hinzu: "Da gibt's so ein Meer mit haufenweise
Inseln drin, da sind die Leute locker und Arbeit hat's auch."
"Gibt's da Guinness?" fragte Ian.
"Bier gibt's überall auf dem Planeten," sagte Paul.
"Aha, du weißt es also nicht. Ich bin doch nicht so verrückt und gehe
irgendwo hin, wo es vielleicht kein Guinness gibt."
"Du konntest auch nicht wissen, daß es hier Guinness gibt, du Schlaumeier.
Also, wann hauen wir ab?"
"Können wir da wenigstens hintrampen, oder liegt so ein bescheuerter Ozean
dazwischen?" erkundigte sich Ian.
"Nur ein ganz kleines bißchen Ozean zwischen der letzten Stadt und den
Inseln, nicht der Rede wert," sagte Paul beschwichtigend. "Wir könnten rüber-
schwimmen."
Eine Weile saßen sie schweigend da und nippten ihr Bier. Schließlich meinte
Ian: "Ist das dein Lippenstift?" Er deutete auf einen Gegenstand, der am Fuß
der kleinen Treppe lag.
Paul stand auf und nahm das Ding hoch. Er betrachtete es kritisch, dann
sagte er: "Doch, doch, das sieht genau aus wie der Lippenstift, den ich in
meinem letzten Leben verloren habe. Ich erinnere mich genau," sein Gesicht
nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, "wie ich tagelang danach gesucht
habe. Naja, dann habe ich ihn schließlich doch noch gefunden." Er steckte ihn
ein.
Ian nahm noch einen Schluck. "Laß uns abhauen. Wir haben morgen eine
lange Reise vor uns."
Paul grinste und gab seinem Bier den Rest. Dann nahm er Ians leeres Glas
und ging in die Kneipe.
"Wir zahlen morgen," sagte er zu dem Barkeeper. Der nahm schweigend
einen Stapel Zettel aus der Ecke des Tresens und malte zwei weitere Striche
drauf.
Ian und Paul schlenderten die Straße hinunter. Ian hielt den Daumen ausge-
streckt. Er dachte an Sabine. Die würde froh sein, ihre Wohnung wieder für sich
zu haben. Die beiden hatten sich vor einem knappen Jahr "nur für ein paar
Tage" dort einquartiert. Sabines Bude war in einer Kleinstadt, 20 km von ihrer
Stammkneipe in dem winzigen Dorf entfernt, was eher unpraktisch war. Aber
sie bestand nie darauf, daß die zwei pünktlich ihre Miete für das eine Zimmer
zahlten, was ziemlich praktisch war. "Ihr könnt ja nichts dafür, daß ihr soviel
Bier trinken müßt," pflegte sie in Bezug auf Ians und Pauls chronische Finanz-
misere zu sagen, und Ian schwor, daß dabei nicht einmal Ironie in ihrer Stimme
mitschwang.
"Weißt du, was wirklich cool wäre?" sagte Paul unvermittelt. "Wir sollten noch
viel weiter nach Süden fahren."
"Wie weit denn?" fragte Ian ein bißchen schläfrig. Es kam ums Verrecken
nicht ein einziges Auto vorbei. Paul blieb stehen.
"Ach, ich hatte da nur gerade so einen Gedanken," meinte er und lief weiter.
Er nahm im Laufen den Lippenstift aus der Tasche und drehte ihn auf. In Ge-
danken versunken malte er sich die Lippen an. Es war recht hell in dieser
Nacht, weil der Mond fast voll und nicht eine Wolke am Himmel war. Paul drehte
den Kopf zu Ian, der etwas hinter ihm lief.
"Hübsch, was?" sagte er und stülpte die Lippen vor. Ian fand, daß Paul
wirklich sehr hübsch aussah, was ihn verblüffte, da Paul eigentlich alles andere
als hübsch war. "Was hattest du vorhin für einen Gedanken?" fragte er verwirrt.
"Och, ich dachte nur an so ein Buch, was ich mir aus der Bücherei
ausgeliehen habe. So ein komischer Philosoph, uralt. Behauptet, daß es zu
allem, was wir sehen, eine Idee gibt. Ohne Idee keine Sache auf der Welt. Von
dir gibt es eine Idee, von mir gibt es eine Idee, von unserem Anschreibzettel in
der Kneipe gibt es eine Idee. Gute Idee, was?"
Ian fand das eine äußerst bemerkenswert gute Idee. Er war hellauf
begeistert. Seine Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Kurz danach fragte er
sich, was an dieser Idee eigentlich so toll wäre, und konnte keine Antwort
finden.
"Stell dir vor," redete Paul weiter, "alle unsere Ideen, die nicht auf diesem
Planeten Wirklichkeit werden, vielleicht nicht einmal in diesem Universum,
werden irgendwo anders verwirklicht. Dann gäb es eine Menge mehr Chaos, als
wir uns vorstellen können. Jeder Gedanke von jedem würde dann irgendwo
rumstehen und vielleicht auf seinen Urheber warten. Jede Utopie, jedes
verschrobene Weltbild, jede Ideologie ..."
Er unterbrach sich und staunte über sich selbst. Noch mehr staunte Ian. War
das wirklich Paul, der da sprach? Er hatte gerade genau das ausgesprochen,
wonach die Menschheit seit ungezählten Generationen suchte. Wohin gehen
unsere Gedanken? Die Urfrage schlechthin, und Paul wußte mit Sicherheit die
Antwort darauf. Ian war so begeistert, daß er stolperte und beinahe hinfiel. Da
kam ein Auto angebraust, ein mächtiger Schlitten von ungewöhnlichem Ausse-
hen, und hielt direkt neben ihnen. Ian hatte ihn gar nicht hören kommen. Die
Beifahrertür ging auf und ein Mann mittleren Alters beugte sich herüber.
"Wohin wollt ihr?"
"Nach Alpha Centauri," sagte Paul lachend.
"O.k., steigt ein," sagte der Mann, und kaum hatten sie Platz genommen,
brauste das Gefährt mit einer atemberaubenden Beschleunigung los.

Alpha Centauri
Alpha Centauri ist das der Erde am nächsten gelegene Sonnensystem,
lächerliche 4,3 Lichtjahre mittlere Entfernung weg. Einige gut informierte
Menschen behaupten, daß es dort keine bewohnbaren Planeten gäbe, obwohl
sie noch nie da gewesen sind, denn Alpha Centauri sei ja ein
Doppelsternsystem, was mögliche Planeten von einer Sonne zur anderen
taumeln lasse. Daher ist der Abstand zu der Sonne, um die sie gerade torkeln,
stark schwankend, weil das Gravitationsfeld der anderen Sonne fast immer
störend einwirkt. Daher ist die Temperatur auf möglichen Planeten großen
Veränderungen unterworfen. Daher kann es dort kein Leben geben. Das ist ein
sehr schön plausibler Gedankengang mit nur einem Schönheitsfehler: Er ist
falsch.
In der Tat ist Alpha Centauri eines der am dichtesten besiedelten
Sonnensysteme dieser Galaxis. Die meisten Lebensformen dort würden mit
keinem anderen System tauschen. Auf fast allen Planeten ist fast immer Tag.
Einige der äußeren Planeten erfreuen sich gar eines ständigen lauen
Sommerabends. Nur Gott ist etwas genervt darüber, weil Alpha Centauri zu den
Plätzen gehört, wo er mit seinem "Es werde Licht!" überhaupt keinen Eindruck
schinden kann. Trotzdem macht er dort regelmäßig Urlaub, vielleicht nicht nur
wegen der atemberaubenden Schönheit dieses Planetensystems, sondern
auch, weil er dort einen gewissen blauen Schatten nie trifft, vor dem man sonst
nirgendwo sicher sein kann. Gott weiß nicht, warum der blaue Schatten nie
dorthin geht, und es ist ihm auch reichlich egal. Dabei ist die Antwort einfach:
Auf keinem der Planeten von Alpha Centauri ist jemals die Elektrizität erfunden
worden, und der blaue Schatten verabscheut Plätze, an denen keine
Siliziumchips hergestellt werden.
Alpha Centauri mag einem Humanoiden vom Sol-System wie das Paradies er-
scheinen. Aber auch Alpha Centauri hat seine Probleme, die allerdings derma-
ßen hochphilosophischer Art sind, daß sie hier nicht im Einzelnen erläutert
werden sollen. Ein Beipiel mag genügen: Seit einiger Zeit behaupten Insektoide
von einem Trabanten im mittleren Planetenring, die Elektrizität sei doch er-
funden worden. "Ja, wo ist sie denn?" fragen die Taumelnden Sackfüßler, die
auf demselben Trabanten leben. "Nun, unsere Diskussion darüber beweist, daß
die Idee davon vorhanden ist, und da die Idee die Grundlage der Erscheinung
ist, ist die Elektrizität also schon erfunden, sie ist halt nur noch nicht in Erschei-
nung getreten." "Zeigt uns eine Glühbirne oder einen Heizlüfter, und wir glau-
ben euch," sagen darauf gewöhnlich die Sackfüßler, und die Insektoiden zucken
nervös mit ihren zerbrechlichen Flügelchen und flattern ab. Das gehört zugege-
benermaßen zu den ernsthafteren Problemen von Alpha Centauri.
Außer der Elektrizität und Siliziumchips und Glühbirnen und Heizlüftern gibt
es im Alpha Centauri-System fast nichts, was es nicht gibt. Eins der schöneren
Dinge ist ein fast schwarzer Saft, der seit Urzeiten auf dem Planeten Met ge-
mixt wird. Sein Name ist "Gins". Der Ursprung des Namens ist im Dunkel der
Geschichte verschwunden. Gins wird nach einem uralten, geheimen Rezept von
einer Sekte rothaariger Humanoider hergestellt, die behaupten, sie hätten das
Geheimnis von einem Planeten des Sol-Systems mitgebracht. Aber die Planeten
dieses nahegelegenen Systems sind nahezu unbesiedelt, wie jeder weiß, ob-
wohl lange keiner mehr dagewesen ist, und keiner glaubt ihnen. Trotzdem ist
Gins eines der beliebtesten Gesöffe überall in Alpha Centauri, und nicht nur
dort, wie sich demnächst herausstellen könnte.

Intelligenz auf sechs und acht Beinen


"Wir sind alle Riesen, die von Zwergen erzogen worden sind," heißt es in
einem schlauen Buch aus dem Sol-System. Die dortigen Lebensformen
betrachten das als auf sich selbst bezogen und finden es ziemlich arrogant, so
zu denken. Das wiederum liegt daran, daß sie alle Riesen sind, die von
Zwergen erzogen wurden. Dabei sind sie noch gut dran, daß das Zitat bei ihnen
nur symbolische Bedeutung hat.
Es gibt einen Planeten, der überwiegend von großen, dummen Lebensformen
bevölkert ist. Tatsächlich sind über 99% der Bevölkerung sehr groß und sehr
dumm (nachzulesen im Statistischen Jahrbuch der Süd-Süd-West-Süd-Westli-
chen Galaxien). Knapp 1% sind dagegen sehr schlau - und sehr klein. Diese
Winzlinge haben es im Laufe einer langen Evolution dazu gebracht, in einem
winzigen Gehirn eine Unmenge von Intelligenz unterzubringen, soviel wie
hundert durchschnittliche Riesen zusammen. Dabei sind sie enorm flink und
fühlen sich "unheimlich leicht und locker". Humanoide aus dem Sol-System
würden sie zweifellos Insekten nennen. Diese Mücken und Kellerasseln also be-
herrschen den Planeten seit Jahrtausenden auf äußerst subtile Art und Weise.
Ihre Heimlichtuerei geht soweit, daß einige der großen, dummen Lebensformen
tatsächlich glauben, sie und nicht die Spinnen und Wespen würden den Plane-
ten beherrschen.
Die Zwerge ließen das natürlich nur soweit zu, wie es ihren Zwecken diente.
Ab und zu kam es vor, daß die Riesen zu frech wurden, und manchmal war die
einzige Lösung, den Planeten vorübergehend auszurotten, wie sie das nannten.
Die großen, dummen Lebensformen mußten in solchen Fällen natürlich immer
mühsam nachgezüchtet werden, was aber dank der neuen Labors im Kern des
Planeten nicht mehr so zeitraubend war. Das Prachtstück der Anlage war ein
superneues, superteures, hexadezimalgesteuertes Reagenzglas, das nicht nur
den Gencode vollautomatisch analysierte, sondern daraus auch in Sekunden-
schnelle ein Muster der Lebensform zusammenbraute, das dann nach Wunsch
genetisch gestylt werden konnte. Aus lauter Bösartigkeit hatten die Insekten
beim letzten Mal sogenannte Krankheiten eingebaut (die Erfindung eines Pro-
grammierers der Firma, die das Reagenzglas gebaut hatte. Er hatte dafür den
goldenen Wespenstachel am Fühler erhalten. "Seit meiner Erfindung krebsen
die Riesen so vor sich hin," sagte er oft lachend).
Allerdings war es jetzt beschlossen worden, nach der nächsten Vorüberge-
henden Ausrottung von den Krankheiten wieder Abstand zu nehmen, da sich
herausgestellt hatte, daß diese mutierten Gene den Insekten selbst gefährlich
werden konnten. Überhaupt hatten sie diesmal eine ziemlich unfreundliche Be-
völkerung gezüchtet, die ständig sich selbst und alles andere kaputt machte.
Allmählich wurden viele Zwerge ärgerlich über Ausfälle der Riesen. Etliche
Schabenarten und praktisch alle Fluginsekten waren in den letzten paar Jahr-
hunderten des öfteren ernstlich mit Gift belästigt worden. Im Parlament, das
man sich in etwa wie einen Bienenstock vorstellen kann, häuften sich die
Stimmen, die zur radikalen Partei für die Neuerliche Ausrottung über-
wechselten. Beobachter munkelten, daß es nur noch darauf ankäme, daß die
Bienen überwechselten. Die hielten bisher noch zu ihren Lebensformen und be-
haupteten nach wie vor, daß diese hilfreich und nützlich seien.
Diese Lebensformen flitzten auf dem Planeten herum und merkten gar nicht,
daß die Vorübergehende Ausrottung nicht mehr lange auf sich warten ließ. Sie
hatten den Planeten diesmal schon einigermaßen ruiniert und fingen an, davon
Alpträume zu bekommen. Das hielt sie allerdings nicht davon ab, ihrer alten
Leidenschaft zu frönen, nämlich anderen Lebensformen die Abscheu vor ihnen
in der Form mitzuteilen, daß man sie ausrottete. Es war eigentlich nur eine von
den großen, dummen Lebensformen, die den ganzen Ärger machte. Im
Parlament gab es daher eine große Fraktion, die forderte, nur diese Lebensform
der Ausrottung zu unterziehen. Vertreter der großen, radikalen Partei hielten
dagegen, daß dies nicht praktikabel sei und in jedem Falle einige Jahrzehnte
benötigen würde. Dagegen war schwer etwas einzuwenden. Böse Zungen be-
haupteten, daß die Partei für die Neuerliche Ausrottung von einer industriena-
hen Stiftung größere Zuwendungen erhielte, die natürlich daran interessiert
war, ihre neuesten, extrem teuren Reagenzgläser an das Insekt zu bringen.
Es kam, wie es kommen mußte: Sobald General Genetics die neueste Serie
von hexadezimalgesteuerten Reagenzgläsern serienreif hatte (die
Entwicklungsarbeit hatte fast hundert Jahre in Anspruch genommen), wurde
das Gesetz für die Neuerliche Ausrottung beschlossen. Die mittlerweile sehr
große, radikale Partei stritt natürlich jeglichen Zusammenhang kategorisch ab.
Eine neue Bevölkerung wurde in Rekordzeit zusammengebraut und ausgesetzt,
und sie entwickelte sich prächtig. Wie sich jedoch später herausstellte, waren
durch einen billigen Programmierfehler die Krankheiten durchaus nicht
abgeschaltet worden, sondern kamen allmählich wieder. Das ärgerte die
großen, dummen Lebensformen, und die Zwerge im Parlament machte es
äußerst ärgerlich auf General Genetics, die bald darauf, durch willkürliche
Gesetze in ihrer Entscheidungsfreiheit geknebelt, Konkurs anmelden mußten.
Glücklicherweise trafen diese Beschreibungen nicht auf den oben genannten
Planeten im Sol-System zu. Dort stellen die Insekten über 99% der Bevölke-
rung.

Von Strassenkampf und Sternenflügen


"Faschoalarm im Sektor 36! Faschoalarm!" tönte es aus Hunderten von Me-
gaphonen durch die kleine Autonome Republik Kreuzweise. Die Worte echoten
durch die dreckigen Gassen und die mit Barrikaden übersäten Hauptstraßen. Es
war früh am Nachmittag, und verschlafen schauten die Bewohner der Republik
aus ihren ungeputzten Fenstern. Einige hasteten schon aus den Hausein-
gängen, wobei sie sich Skimützen und Sturzhelme überzogen. An den meisten
Ecken standen die Leute von der Tagwache bereit, um Molotowcocktails und
Einkaufswagen voll mit Pflastersteinen zu verteilen.
Allmählich füllten sich die Straßen. Müll und Autowracks wurden jetzt auch
auf die kleineren Gassen geschleppt, und hier und da brannten bereits die
ersten Autoreifen. Im Zentrum der kleinen Republik formierte sich ein wild
aussehender Haufen schwarzgekleideter Gestalten, die Brigade Heino
Schlumpf, die sich nach einem frühen Märtyrer benannt hatte.
"Faschoalarm! Faschoalarm!" dröhnte es weiterhin aus den Megaphonen.
Eine Frau verteilte Flugblätter für eine Soli-Demo nächsten Samstag. Aus dem
Haus daneben stolperte ein verschlafener, unrasierter Typ, der sich im Gehen
einen Gürtel mit zehn Bierdosen umschnallte, der an einen Patronengurt für
Riesen erinnerte. Sieben Hunde unterschiedlichster Größe und Farbe schossen
hinter ihm her.
"Schlagt sie tot, die Schweine!" brüllte ein Langhaariger, der mit einem
Knüppel bewaffnet der sich formierenden Menge Richtung Sektor 36 folgte. Die
Frau verteilte ihr letztes Flugblatt und folgte ihm. An der nächsten Ecke hatte
sie ihn eingeholt.
"Ey, Hansi, hast du was zu rauchen dabei?" begrüßte sie ihn. Er kramte ein
dünnes Päckchen Tabak hervor und gab es ihr.
"Hast du gehört, wieviel Schweine es heute sind?" fragte er sie.
"Ach, nicht der Rede wert, der übliche Haufen von Nazis, die zum Endspiel in
Germania angereist sind," antwortete sie.
"Rollerball," murmelte Hansi verächtlich. "Wenigstens eine leichte Beute.
Denen hauen wir jetzt erstmal gut die Fresse ein und dann leg ich mich aber
wieder aufs Ohr. Teufel, haben wir gestern gebechert."
Mittlerweile hatten sie die Hauptstraße des Sektors 36 erreicht, wo ein
erhebliches Gedränge herrschte. Kracher flogen durch die Luft, und überall
dröhnten die Kriegstrommeln. Ein paar Jungs von der Brigade schlugen mit
ihren Eisenstangen die letzten Scherben aus dem Fensterrahmen einer
ehemaligen Bank.
"Spart euch die Energie für die Schweine auf!" rief Hansi ihnen zu. "Halt's
Maul, Hippie!" rief einer zurück.
Aus dem Gewimmel formierte sich bald ein halbwegs geordneter Demonstra-
tionszug: Vorn die Bedauernswerten mit den Transparenten ("Nazis raus aus
Kreuzweise!" "Nieder mit dem Schweinesystem!"), die wohl ziemlich eins auf
die Mützen bekommen würden, dahinter die radikalen Feministinnen, wie
immer zu leicht bewaffnet (auf dem Plenum würden sie sich hinterher wie
immer über den mangelnden Schutz durch die Typen beschweren, dachte Hansi
grollend), gefolgt vom Gewaltfreien Block (drei Leute einer antipsychiatrischen
Initiative), den Chronisch Nichtorganisierten, der Brigade Heino Schlumpf und
so weiter und so fort.
Alles in allem waren es einige tausend Leute, die zur Mauer zogen, die die
Republik Kreuzweise vollständig umgab. Endlich kamen die Faschos in Sicht.
Sie sehen wirklich aus wie immer, dachte Hansi, der sie sehen konnte, wenn er
hochsprang: Alle waren sie mit Schals, Mützen und Jacken derselben Farbe be-
kleidet, trugen Soldatenstiefel und schütteten sich im Laufen mit Bier zu (was
sie mit den Leuten der Autonomen Republik verband) und grölten dabei Lieder
aus der Zeit, als Nazistan noch nicht den größten Teil der östlichen Hemisphäre
der Ebene 9 beherrschte.
"Gib mal den Tabak her," sagte Hansi zu der Frau, dann drängelte er sich, so
schnell es ging, durch die Leute durch nach vorn. Endlich stand er einem dieser
widerlichen Rollerball-Fans direkt gegenüber. Der war viel zu besoffen, um zu
peilen, wo es langging. Hansi gab ihm eins über den Schädel und wandte sich
dem nächsten zu. Insgeheim wunderte er sich, wie es diese volltrunkenen
Gestalten geschafft hatten, über die Mauer zu klettern. Naja, andererseits
machte er dasselbe im selben Zustand von Zeit zu Zeit, wenn es darum ging, in
Germania einen Supermarkt zu plündern.
Um ihn herum tobte die Schlacht. Die Faschos hatten mit ihren Messern und
Schlagringen schlechte Karten gegen die Eisenstangen und Knüppel von Kreuz-
weise. Geschickt wich Hansi einem Molli aus, der neben ihm zu Boden schlug
und einem Rollerballer die Hosen in Brand steckte.
"Irgendwas ist anders heute," murmelte Hansi, während er einem Schwein,
das zu Boden gegangen war, mit dem Stiefel ins Gesicht trat. Die Faschos
waren lascher als sonst. Nach kaum einer Viertelstunde Schlacht waren sie
schon beinahe besiegt.
"Reißt die Mauer ein!" hörte Hansi durch das Knistern der Flammen und Ge-
trappel der Stiefel hindurch. Einige waren dabei, hinüberzuklettern und geflüch-
tete Rollerballer zu verfolgen. Drüben stand die Polizei von Germania, aber als
Hansi hinüberkletterte, begannen auch die gerade mit ihrem Rückzug. "Was ist
denn heute los?" dachte er erstaunt.
"Soll das eine Falle sein oder was?" fragte er einen von der Brigade, der
gerade dasselbe tat wie er.
"Ach Quatsch," meinte der, "das Schweinesystem hat auf Dauer einfach
keine Chance gegen uns."
Hansi sprang auf die andere Seite und rannte mit einer Gruppe vom
SoliKomitee Bugs Bunny einigen flüchtenden Faschos hinterher. Nach einer
Weile konnte er den Schlachtenlärm nicht mehr hören. Die Jungs waren für
ihren Promillegehalt ziemlich schnell auf den Füßen, und Hansi dachte wieder
an eine Falle. Als er um die nächste Ecke bog, waren sie wie vom Erdboden
verschwunden. Er blieb stehen und drehte sich um. Verdammt! Die Bugs
Bunny-Freaks waren auch weg! Hansi stand allein mitten in den verlassenen,
sauberen Straßen von Germania. Nur wenige Autos waren hier geparkt
zwischen den Kolossalbauten. Das hier war eine reine Wohngegend (offizielle
Bezeichnung: Reinrassiger Sauberer Wohnblock, RSW) und die meisten Leute
waren wohl bei der Arbeit. Kein Mensch war auf der Straße, und es war
gespenstisch still.
Ein Auto kam herangefahren. Hansi drückte sich in den nächsten
überdimensionalen Hauseingang. Alles schien ihm unheimlich groß hier, wie für
Riesen gebaut, und unheimlich unheimlich. Leise fluchte er vor sich hin. Das
Auto hielt fast direkt vor dem Haus. Gemäß den Empfehlungen des
Parteikomitees für Sauberkeit, Anstand und Ordnung (PKSAO) verschloß die
Frau, die ausstieg, ihr Fahrzeug sorgfältig und probierte dann, ob die Tür auch
wirklich verschlossen war. Befriedigt stellte sie fest, daß anscheinend alles
seine Ordnung hatte und ging auf den Hauseingang zu.
Hansi verschmolz fast mit der Hauswand. Ohne ihn zu bemerken, trat sie in
die Eingangsnische, nahm den Schlüssel heraus und öffnete die
Hochsicherheitstür (gebaut nach den Richtlinien des Parteikomitees für Innere
Sicherheit und Verbrechensbekämpfung, PKISVB, Norm DUMM 66201). Als sie
durch die Tür ging, packte Hansi sie von hinten, hielt ihr den Mund zu und
schob sie hinein.
"Easy, Schwester," flüsterte er, "wenn du nicht schreist, laß ich dich los, aber
wehe dir, wenn du es tust!" Er lockerte seinen Griff. Langsam drehte die Frau
sich zu ihm um.
"Aha, wohl ein Frauenfeind?" sagte sie in völlig ruhigem Ton zu Hansi. Der
war einigermaßen irritiert. Grinsend fügte sie hinzu: "Auf Höflichkeit brauche
ich jemanden wie dich ja wohl nicht anzusprechen, was?"
Hansi fühlte sich durch den spöttischen Tonfall verunsichert. Die Frau, die
hier im Schweinesystem leben und arbeiten konnte, schien überhaupt keine
Angst zu haben. Hansi dagegen wurde immer ängstlicher. War sie vielleicht
bewaffnet, oder lauerten hier die Bullen? Hatte sie ihn gar hineingelockt, damit
die Schweine ihn hier in Ruhe fertigmachen konnten? Die Frau ging seelenruhig
zum Fahrstuhl, aber komischerweise kamen auch keine Bullen hervorge-
schossen.
"Na komm schon!" rief sie ihm lachend zu. "Ich beiße nicht."
Vorsichtig schlich Hans an der Wand entlang zum Aufzug.
"Es ist sicher hier," bemerkte sie trocken. "Keine Bullen, keine Wanzen."
Die Fahrstuhltür öffnete sich. Hansi sprang schnell hinter ihr her in die
Kabine. Was hatte er sonst schon für eine Wahl? Er hatte sich da draußen ohne
Zweifel verirrt. Allein, mitten im feindlichen Gebiet, war er echt Scheiße dran.
Wenn er länger auf den leeren Straßen herumlaufen würde, würden ihn früher
oder später die Bullen oder die von der Gemeinen Staatspolizei, einem
berüchtigten Sondereinsatzkommando, festnageln.
"Netter Tag heute, was?" fing die Frau an loszuplaudern. "Ich bin gestern
meinen Lippenstift losgeworden und heute meine Karriere. In den nächsten
Tagen wollte ich eh in die Autonome Republik übersiedeln. Ich hab die
Schnauze voll von hier. Ich schieb was in die Mikrowelle, dann können wir essen
und du kannst mir von drüben erzählen."
Der Aufzug hielt an, im achtzigten Stockwerk, wie Hansi mit einer Mischung
aus Abscheu und Faszination feststellte. Sie traten hinaus.
"Ich heiße übrigens Sezana," sagte sie, während sie den Gang entlang zu
ihrer Wohnungstür liefen. "Und wer bist du?"
"Ich bin der Hans," antwortete er noch immer fast flüsternd. Sie schloß die
hochsichere Wohnungstür auf.
"Willkommen in meinem bourgeoisen Schweineapartment," sagte sie.
Sie gingen durch einen überdimensionalen Korridor. An dessen Ende traten
sie in ein Wohnzimmer, das Hansi in seinen Ausmaßen an die Halle erinnerte,
wo die wöchentlichen Plenen stattfanden. An einem Ende war ein schmaler
Tresen, hinter dem sich die Küchenecke befand. Das Zimmer war enorm teuer
und geschmackvoll eingerichtet: Eine Sitzecke mitten im Raum mit vier ge-
schwungenen Chromstühlen mit schmalen Lederpolstern um eine flache
Spiegelsäule herum, von der eine Pflanze die Ranken herunterließ, beleuchtet
von einem in die Decke integrierten Halogenstrahler. Es gab am anderen Ende
noch eine Sitzecke aus schwarzen, ausgefallen gestylten Ledermöbeln, einen
Schrank mit Türen aus verchromten Jalousien, einen Flügel aus weißem Schleif-
lack, auf dem eine schwarze Rose stand, mehrere TV-Projektionswände und vier
gigantische Lautsprecherboxen, die Hansi als Einziges hätte mitgehen lassen.
Vor den beiden riesigen Fenstern an jeder Seite des Raums standen diverse,
große Pflanzen, die sich offensichtlich über das viele Licht zu freuen schienen.
In Hansis WG-Küche überlebten nur Kakteen. Etwa in der Mitte führte eine
Treppe auf eine Galerie, von der offenbar die oberen Zimmer abgingen. In der
Autonomen Republik wohnten in so einer Höhle mindestens zwanzig Leute,
dachte Hansi grollend.
"Wohnst du hier alleine?" rief er Sezana nach, die in die Kochecke gegangen
war.
"Ab und zu wohnt eine Freundin hier oder Leute, die mich für ein paar Tage
besuchen. Und gelegentlich schlafen hier Leute nach den Parties," rief sie
lachend zurück. "Was willst du futtern? Ich hab eine Menge im Gefrierschrank."
"Dekadent," dachte Hansi angewidert. In der Autonomen Republik ernährte
man sich hauptsächlich von Bier.
Sezana holte zwei in Aluminium verpackte Gerichte und schob sie in die
Mikrowelle. Dann ging sie zur Bar in der Nähe der Sitzecke aus Leder und
fragte: "Willst du auch einen Worschtsch?" fragte sie (das war der
Nationalcocktail eines minderrassigen Volkes der südöstlichen Provinzen).
"Bier tut's auch," antwortete Hansi und versuchte, ruhig zu bleiben. Sie fing
an, ihren Drink zu mixen und warf ihm zwischendurch eine Bierbüchse rüber.
"Mach's dir bequem," sagte sie, während auf der riesigen Terrasse vor einem
der Panoramafenster eine Wolke landete. Auf der Wolke saß eine schwarze
Katze und schaute neugierig herüber. Hansi leerte die Bierdose in einem Zug,
um wieder klarer denken zu können. Dann schaute er wieder durch das Fenster.
Die Wolke war immer noch da. Sie hatte mittlerweile aufgesetzt, und die Katze
trappelte herunter. Sie setzte sich vor eine der Fenstertüren und miaute.
"Wie süß!" rief Sezana, schüttete ihren Cocktail aus dem Shaker in ein
breites Sektglas und ging, um die Tür zu öffnen. Die Katze kam herein und rieb
ihren Kopf an Sezanas Bein. Dann miaute sie nochmal, wobei sie versuchte,
dem Laut einen erkennbar hungrigen Ton zu geben. Sezana ging in die Küche
und tat noch eine Portion Hackfleisch in die Mikrowelle. Die Katze, die ihr
gefolgt war, schaute sie anerkennend an. Sezana beugte sich herunter und
streichelte die Katze.
"Da hast du aber ein nettes Flugzeug mitgebracht," sagte sie zu ihr. "Weißt
du auch, wie man damit fliegt?"
Die Katze fand die Frage ziemlich blöd. "Natürlich nicht, Wolken fliegen
immer von alleine, wußtest du das nicht?" antwortete sie beleidigt. Hansi nahm
zwar ab und zu einen Trip, aber das hier ging entschieden zu weit. Er nahm sich
noch ein Bier aus dem Kühlschrank der Bar und trank es auf Ex.
"Alkohol schädigt das Nervensystem," bemerkte die Katze dazu, während sie
sich zu ihm hindrehte. Hansi beschloß, den Flashback zu genießen und meinte:
"Du hältst das Maul, verstanden?"
Beleidigt wandte sich die Katze ab und schaute wieder herauf zum Gott
dieses Moments, dem Mikrowellenherd.
"Ist ja gleich aufgetaut," sagte Sezana. Hansi nahm sich noch eine
Bierbüchse und ging auf die Terasse, um die Wolke zu inspizieren. Wenigstens
war das kein nazistisches Schweinetechnologie-Machwerk, dafür gab es
zuwenig geometrische Formen und vor allem keine rechten Winkel (offizielle
Bezeichnung: Reinrassige Rechte Winkel, RRW).
"UFOs werden also von Katzen gesteuert," murmelte Hansi vor sich hin und
grinste. Die Leute vom Büro für Außerirdische Kontakte in der Republik wären
begeistert. Er befühlte das Material. Es fühlte sich ganz genauso an wie etwas,
das Hansi sich nicht einmal vorstellen konnte. Eigentlich sah das Ding aus wie
eine gewöhnliche, kleine Wolke, nur daß gewöhnliche, kleine Wolken gewöhn-
lich keine Sitzkuhlen auf der Oberfläche haben, ganz abgesehen von so etwas
wie Bildschirmen und Tastaturen. "Allerdings hab ich noch nie eine Wolke von
oben gesehen," dachte er.
Er setzte sich in eine der Mulden und drückte auf einen Knopf. Sanft hob die
Wolke ab. Erschreckt drückte Hansi auf einen anderen Knopf. Trip hin, Trip her,
das ging ihm jetzt zu schnell. Ein Gesicht erschien auf dem Monitor und fragte:
"Wollen Sie wirklich wieder landen? Wenn ja, tippen Sie bitte auf meine Stirn."
Dort erschienen jetzt die Worte "Start abbrechen?" während das Gesicht ver-
blaßte. Hastig berührte er die Mattscheibe. Sanft und leise setzte die Wolke
daraufhin wieder auf. Die Leute vom Forum gegen stinkende Schweineautos
wären begeistert.
Sezana stand in der Terassentür. Lachend sagte sie: "Heißer Schlitten, was?"
"Das Ding hat noch ein paar kleinere technische Mängel," die Katze lief nach
draußen. "Aber das hier ist schließlich ein Prototyp, den mein Mensch für eine
Probefahrt ausgeliehen bekommen hat. Ab und zu fallen Leute raus."
"Gibt's denn keine Sicherheitsgurte?" fragte Sezana. "Klar doch, aber mein
Mensch war zu blöde, sie zu finden, und ich wollte mich nicht in seine Ange-
legenheiten einmischen. Ich war angeschnallt."
Hansi, dem die wackeligsten Szeneschleudern keinen Respekt einflößen
konnten, beschloß insgeheim, sich beim nächsten Flug auch anzuschnallen.
"Wo ist dein Mensch?" fragte Sezana.
"Ich sagte doch, ab und zu fallen Leute raus, die sich nicht angeschnallt
haben. Aber er ist okay. Plumpste durch eine Reihe grüner Ringe, die in der Luft
aufgehängt waren, direkt in das Horrorszenario eines futuristischen
Videospiels."
"Alles klar," kommentierte Hansi.
"Ich hab ihn leider aus den Augen verloren, als der blaue Schatten anfing, die
Sterne einzusammeln."
Die Mikrowelle gab einen dezenten Ton von sich. "Laßt uns was futtern, dann
machen wir einen kleinen Flug," schlug die Katze, plötzlich ganz lebhaft, vor.
"Ich habe seit dem Ende unserer Zeit nichts mehr gegessen."
Jetzt merkte Hansi, daß er noch nicht gefrühstückt hatte (von dem Bier mal
abgesehen). Er und die Katze hatten offensichtlich gewettet, wer als erster
fertig wäre, und schmatzten im Duett. Nach einem weiteren Bier beziehungs-
weise einer Schale Milch ("Stärkt ganz außerordentlich die Spannkraft," be-
merkte die Katze. "Halt's Maul," bemerkte Hansi) hatte auch Sezana aufgege-
ssen. Sie gingen auf die Terrasse.
"Sag mal, sollte ich die Tür verriegeln? Ich meine, gibt es noch mehr von
diesen Wolken?" fragte Sezana die Katze.
"Hör mal, das ist ein Prototyp fürs ganze Universum," sagte die Katze stolz.
"Moment, ich hab noch was vergessen!" rief Hans, als sie schon saßen. Kurze
Zeit später kam er mit so vielen Bierbüchsen, wie er tragen konnte, aus der
Wohnung zurück.
"Du bist vielleicht doof," meinte die Katze. "Schau mal in den Kofferraum!"
Lässig lehnte sie sich zurück und tippte auf eine Art Deckel, der sich
daraufhin hob. Dort stand ein großer Kasten Gins. Hansi warf die meisten
Bierbüchsen dazu. Der Deckel schloß sich wieder. Die Katze zeigte ihnen die
Sicherheitsgurte. Dann tippte sie mit einer Kralle auf einen Knopf (das sah
ziemlich elegant aus) und sie hoben ab. Enorm schnell waren sie über den
wenigen Nachmittagswolken über dem Himmel von Germania, und Hansi
konnte sich davon überzeugen, daß gewöhnliche Wolken keine Sitzmulden und
sonstiges Zeug auf ihrer Oberfläche haben.
Plötzlich war der Himmel über ihnen schwarz. Unter ihnen lag eine große,
bunte Murmel, die zusehends kleiner wurde.
"Wow!" sagte Hansi. Also doch Außerirdische Kontakte.
"Wohin geht der Flug?"
"Nach Alpha Centauri," sagte die Katze. "Das ist ganz in der Nähe. Übrigens
gibt's da gut was zu saufen," fügte sie mit einem ironischen Unterton hinzu.
"Das Zeug im Kofferraum ist auch von da. Ich habe es bei der letzten Landung
dort mitgenommen, für meinen Menschen, wenn ich ihn wiederfinde. Aber
meinetwegen könnt ihr euch bedienen."
Hansi nahm sich eine Flasche, Sezana auch. Das Zeug schmeckte einigerma-
ßen furchtbar bitter, fand er. Es schien zwar gut zu törnen, aber er bezweifelte,
ob er davon so viel wie vom guten Penns würde trinken können, dem Natio-
nalgetränk der Autonomen Republik Kreuzweise. Nach drei weiteren Gins
(einem halben auf Sezanas Seite, sie fand das Zeug unerträglich und mußte
erst mal ein Bier nachspülen, um den Geschmack loszuwerden), während-
dessen sie eine sternendurchfunkelte Finsternis durchquert hatten, näherten
sie sich zwei hellen Sternen, die dicht beieinander standen.
"Alpha Centauri," sagte die Katze und streckte eine Pfote nach vorn. "Noch
ein Bier bis zur Landung."

Zurück zur Ebene 10


Boko und Jeer probierten zum ersten Mal in ihrer derzeitigen Daseinsform
aus, wie es ist zu hüpfen. Sej schaute sich in der merkwürdigen Landschaft um:
Außer dem großen, alten Haus, dessen Keller sie gerade verlassen hatten, gab
es praktisch nichts hier. In der unmittelbaren Umgebung lag etwas Müll herum,
Stücke von Hausfassaden, zerbrochene Möbel. Plastikbahnen, die herumlagen,
flatterten in einer leichten Nachtbrise.
"Datenschrott," sagte Percy und kam zu Sej herüber.
"Wo sind wir hier?" fragte ihn Sej.
"Ich nehme an, die Programmierer haben sich irgendeinen Asteroiden mit
Lufthülle genommen. Höchstwahrscheinlich Ebene 9."
"Ebene 9?"
"Ach herrje," meinte Boko, der zu ihnen herübergehüpft war. "Das ist wohl
das erste Mal, daß du deine Ebene verlassen hast."
"Ich glaube, ja," antwortete Sej.
"Dann werde ich dir das Konzept der Ebenen mal ein bißchen erläutern,
Landratte." Boko setzte sich. Sej nahm sich ein leeres Faß und setzte sich
ebenfalls.
"Die Ebenen wurden eigentlich nur erfunden, um die Sache etwas übersichtli-
cher zu machen," fuhr Boko fort. "Am Anfang gab es nur das Chaos und ein
paar grüne Monster, die ständig rülpsten. Dadurch entstand die Materie. Kannst
du mir folgen?"
"Das hört sich einfacher an, als es mir im Physikunterricht in der Schule
erzählt wurde," meinte Sej.
"Nun, die grünen Monster starben bald aus, und der Prozeß der
Materieentstehung verselbständigte sich. Ständig entsteht überall im Weltraum
neue Materie, und manche Plätze sind geradezu berüchtigt dafür, daß man dort
mit einem Stein im Bauch aufwachen kann."
"Hey, man hat mir erzählt, daß alle Materie beim Urknall entstand und daß
seitdem nichts dazugekommen ist."
"Quatsch. Nun hör mal zu. Das Märchen vom Urknall erzählen eine Menge
Leute, einfach, weil es ziemlich praktisch ist. Es erklärt fast alles, und wenn
man viel wissen und erklären will, aber nur recht wenig Gehirn dafür zur
Verfügung hat, wie du zum Beispiel ...,"
"Danke," bemerkte Sej,
"... ist es sogar beinahe intelligent, von einer solchen Theorie auszugehen,"
fuhr Boko ungerührt fort.
"Wie du vielleicht weißt, gibt es auf deiner Ebene einige Milliarden Galaxien,
jede mit einigen Milliarden Sonnen, von denen fast jede ein paar Dutzend
Planeten hat. Für dich erscheint so etwas schon unvorstellbar groß. Dann kam
so ein Typ, den ihr Gott nennt, und der fand das Ganze sogar für ihn zu unhand-
lich. Also bestach er ein paar Programmierer (die heute auf Ebene 5 leben, oder
lebten, wenn ich den blauen Schatten richtig verstanden habe) und machte
sich daran, das Ganze aufzuteilen. Das Schema der Aufteilung ist übrigens sim-
pel. Sogar welche deiner Rasse haben es herausgefunden. Sie nennen es den
Baum des Lebens."
"Davon habe ich gehört. Das hat wohl was mit Tarot zu tun," meinte Sej.
"Soweit mir bekannt, wurden sie dafür verbrannt oder sowas Ekliges. Ihr habt
ja allgemein eine seltsame Art, euren Leuten für Wissensvermittlung zu
danken. Nun ja, es dauerte nach eurer Zeitrechnung einige Jahrmilliarden, bis
die Programmierung fertig war. Dann wurde ein gigantischer Reset gemacht,
und die Zeit fing wieder bei Null an."
"Wow!" Sej dachte an seinen mickrigen Apple Macintosh, der in seinem
Zimmer stand. "Erzähl mir was von den Ebenen."
"Die Ebenen. Gut. Deine Ebene hat die Nummer 10. Wegen ihrer Größe hat
man sie noch in 10a, 10b usw. unterteilt, aber das ist nur räumlicher Natur.
Gott soll ernsthaft daran gedacht haben, noch eine elfte Ebene einzuführen,
aber, wie die Gerüchteküche sagt, gab es da Ärger mit den Ebene 5-Program-
mierern. Die hatten angeblich schon eine Ebene 11 gebastelt, als Schrottplatz
sozusagen. Wenn ich an die Sachen denke, die da rumlaufen sollen, wird mir
übel. Du würdest wahrscheinlich auf der Stelle tot umfallen. Apropos tot. Der
Tod ist auf deiner Ebene eine ziemlich übliche Erscheinung. In Wahrheit ist er
nicht mehr als ein Trick, um auf die anderen Ebenen überzuwechseln, wie wir
eben alle so unsere Tricks draufhaben."
Boko grinste (das sieht bei einem Känguruh ziemlich dämlich aus).
"Außerdem sind dort die Möglichkeiten recht eingeschränkt. Vorhin, als ich in
die Trockenform überwechselte, mußte ich mich aufteilen, weil ein einziges
Känguruh meiner vorherigen Größe statisch nicht stabil genug gewesen wäre."
"Heißt das, wir befinden uns jetzt auf Ebene 10?"
"Nein, nein, Percy hat schon richtig geraten, das hier ist Ebene 9. Auch nicht
viel besser. Aber laß mich fortfahren. Ebene 9. Hmm. Das ist, wohin ihr geht,
wenn ihr sterbt. Hier tummeln sich auch all eure Ideen, soweit sie auf Ebene 10
nicht verwirklicht werden konnten. Siehst du, wenn auf Ebene 10 eine Lebens-
form einen Gedanken hat und ihn wieder verwirft, lebt er hier eigenständig wei-
ter. Also gibt es logischerweise eine Menge Utopien und Unmöglichkeiten auf
dieser Ebene. Um deinem Gehirn ein plastisches Beispiel zu geben: Hier exis-
tiert ein linkes Szenegetto direkt neben einem totalitären, faschistischen Staat.
Beide sind übrigens ein Gedankenprodukt deiner Rasse. Die Zeit ist hier le-
diglich eine normale Dimension, durch die die Bewohner der Ebene 9 gehen
wie du durch die drei normalen Dimensionen deiner Ebene. Auf Ebene 8 tum-
meln sich hauptsächlich Hilfsgötter, Engel und Besessene und quatschen die
ganze Zeit herum. Das wäre ein idealer Platz für die Leute, die du Philosophen
nennen würdest. Hier spielt die Zeit nur insofern eine Rolle, als daß alle ständig
in Eile sind, um von einem Interviewtermin zur nächsten Talkshow zu kommen.
Ebene 7 ist für die Freaks, die ohne Streit nicht auskommen. Wenn es dir Spaß
macht, andauernd Sachen und Leute kaputtzuschlagen, bist du hier richtig. Ich
habe manchmal den Eindruck, deine Rasse versucht so eine Art Parodie der
siebenten Ebene darzustellen. Ebene 6 - ach! Ebene 6! Schönheit in Reinform,
Klarheit, Weisheit ..."
Boko verstummte für einen Moment, während ein verzücktes Lächeln über
sein Gesicht schlich.
"Kann ich euch mal unterbrechen?" fragte Jeer, der herbeigehüpft war.
"Schaut mal zu dem Haus hinüber."
Boko und Sej sahen hin. Die Fassade war verschwunden, so daß man jetzt ins
Innere sehen konnte. Sej plumpste auf den Boden, als das Faß unter ihm
verschwand. Das Haus löste sich zusehends auf.
"Laßt uns hier verschwinden!" rief Percy, während er auf sie zurannte. "Der
verdammte Horizont kommt immer näher. Bald werden wir hier auf nichts als
unseren Ärschen sitzen können."
"Hast du einen Zeit-Emulator dabei?" fragte ihn Jeer. "Oder wenigstens ein
Raumschiff?" "Ich finde nicht einmal mehr meine Redisc," brummte Percy.
"Dann sieht es schlecht aus für unser Weiterbestehen," meinte Boko.
"Laßt uns beten," sagte Jeer lakonisch. Er lachte. Dann nahm er etwas aus
seinem Bauchbeutel, das wie ein kleiner Porzellanhund aussah.
"Rahorkhuit," erklärte er. "Den hab ich immer dabei. Seid mir dankbar.
Nehmen wir die Minderintelligenzen mit?" frage er Boko.
"Klar doch. Ich muß dem einen noch die Theorie von den Ebenen zuende
erläutern."
"Schwafelkopf," meinte Jeer. "Egal, gebt eure Patschpfötchen her. Wir reisen
kurz zurück in die zehnte Ebene. Ich muß da noch was abholen."
Während der Asteroid unter ihnen ins Nichts wegbröselte, legten sich Hände
in Pfoten, und plötzlich umgab sie nur noch Schwärze. Kein Stern war mehr zu
sehen; dennoch konnten sie sich merkwürdigerweise noch erkennen: Eine
Reihe von Figuren, die sich anfaßten, vorn zwei überdimensionierte Känguruhs,
hinten zwei Menschen. Gott, der ja bekanntlich alles sieht, lachte bei dem
Anblick derart, daß er das Schachspiel umwarf. "Scheiße!" fluchte Jesus. "Ich
war am Gewinnen!"
"Wohin fliegen wir?" wollte Sej wissen.
"Wir fliegen zwar nicht, aber um dir zu erklären, was wir gerade tun, habe ich
nicht genug Zeit bis zu unserer Ankunft," antwortete Boko.
"Und wo werden wir ankommen?" versuchte Sej es erneut.
Boko grinste. "Das ist ganz in der Nähe von dort, wo du herkommst. Ihr
nennt den Platz Alpha Centauri."
Planet der Hunde, Planet der Katzen
Die Zusammensetzung des Erbguts der Caniden von Zeta II Centauri füllt
mehrere Bibliotheken auf ihrem Planeten. Leo Galoppi war da keine Ausnahme.
Von der Seite sah er wirklich aus wie ein Hund, aber von vorn betrachtet hätte
er auch als Humanoider mit Gasmaske durchgehen können. Sein Fell war dünn
und extrem glatt, so daß es auf den ersten Blick wie eine dunkle, streifige Haut
aussah. Von hinten sah er in seinem traditionellen Kimono am ehesten noch
einem Tiger im Abendkleid ähnlich.
Leo Galoppi lehnte sich zurück und knurrte leise. Das bedeutete: 1. Ich fühle
mich wohl. 2. Wer sich keinen Ärger holen will, sollte mich nicht dabei stören.
Leo saß auf einem großen, schwarzen Divan in seinem dunkel getäfelten Büro.
Durch die großen Fenster an der Seite konnte er Huttington im Abendlicht se-
hen. Das war nichts Besonderes: Die Hauptstadt von Canistan war immer in die
letzten Strahlen der Abendsonne getaucht. Wollte man einen der Monde von
Zeta II aufgehen sehen, mußte man ein paar hundert Kilometer nach Norden
reisen.
Nur alle paar Hundejahre stand Draculix, der größte Satellit des Planeten,
fast direkt über der Stadt. Das war die Zeit der großen Feste, bei denen
Huttington regelmäßig bis auf die Grundmauern zerstört wurde. Das erste Fest
hieß Haul. Es begann, wenn Draculix zum ersten Mal im Norden gesichtet
wurde. Der Satellit war dann noch eine bloße Sichel, fast völlig verdeckt vom
Schatten des Planeten. Haul dauerte ein paar Abende (es war ja schließlich
immer Abend), dann folgten Wau, Tschau und schließlich Miau. Miau, oder Der
Große Katzenjammer, war eigentlich schon kein richtiges Fest mehr. Spätestens
zu diesem Zeitpunkt war allen klar geworden, daß Huttington wieder neu
aufgebaut werden mußte. Während der vergangenen Doppeljahrhunderte
(Alpha Centauri ist ein Doppelsternsystem, also gibt es dort keine einfachen
Jahrhunderte) hatte es einige lustlose Versuche gegeben, die explosive
Stimmung der Feste etwas zu drosseln, aber mangels Erfolg gab es schon lange
keinen mehr, der so etwas versuchte.
Die Bewohner von Huttington waren fast allesamt bunte Hunde, die die
meiste Zeit damit verbrachten, zu spielen und das Fleisch des Alkalix zu essen,
einer Tierart, die sich von den psychodelischen Algarven der südlichen
Sumpfgebiete von Zeta II ernährt. Der Alkalix ist immer gut drauf, sogar, wenn
er geschlachtet wird. Durch die Rückstände der Algarven im Fleisch des Alkalix
sind auch die Caniden von Huttington immer gut drauf, so gut in der Tat, daß
sie ein Katzengetto am Rande der Stadt dulden. Die Katzen wiederum sind
auch immer gut drauf, weil sie sich auf die Reste der Mahlzeiten der Caniden
spezialisiert haben, um die sie regelmäßig vor den großen Restaurants der
Stadt betteln.
Huttington ist eine ungewöhnliche Stadt. Niemandem von den Caniden
würde es einfallen zu arbeiten, weil dazu neben spielen, essen, schlafen und
beischlafen einfach keine Zeit bleibt. Die Katzenartigen müssen betteln und
essen, schlafen, beischlafen und spielen (in dieser Rangordnung).
Dennoch sieht Huttington (die Zeit der großen Feste mal ausgenommen)
immer nett und aufgeräumt aus. Wie kommt es dazu? Nun, unter der Stadt und
in den dunklen Winkeln und Gassen wohnen zwei Arten, die immer mies drauf
sind, weil sie das Fleisch des Alkalix nicht vertragen: Die Grauen Mäuse und die
Wandernden Mauerblumen. Diese beiden Arten halten verbissen die Infrastruk-
tur von Huttington in Schuß und sorgen für Sauberkeit und Ordnung. Wenn sie
mal Feierabend haben (was selten, eigentlich nur zur Zeit der großen Feste vor-
kommt) sitzen sie beieinander in kalten, ungemütlichen Räumen und beklagen
sich bitter über Unmoral, Faulheit und Dekadenz der großen Bewohner der
Stadt. Sie glauben fest an einen rachsüchtigen, barbarischen Gott, der in ihren
Tempeln als hundeköpfig dargestellt wird. Dieser Gott schickte ihnen einst
durch ein unbescholtenes Mauerblümchen eine Große Graue Maus, die ziemlich
viel Stuß erzählte und ziemlich jämmerlich endete. Dieser Stuß wird regelmäßig
in den Tempeln des hundeartigen Gottes rezitiert und bringt Mäuse und Mauer-
blumen dazu, so hart zu arbeiten. Einige Caniden kennen die wahren Hin-
tergründe der Geschichte des Unbescholtenen Mauerblümchens, aber sie
haben gute Gründe, sie nicht zu verbreiten.
Um die Sache perfekt zu machen, verirren sich ständig große Herden von Al-
kalixen aus dem Süden in die Schlachthäuser von Huttington, die vollautoma-
tisiert sind. Einige clevere Schweineartige von den Sumpfplaneten des äußeren
Gürtels von Alpha Centauri machen in den vielen Restaurants der Stadt ein
Bombengeschäft damit, die Fleischhappen adrett in Freßnäpfen zu plazieren.
Woher das Geld kommt, mit dem die Caniden bezahlen, ist niemandem klar.
Wahrscheinlich wird es irgendwo gedruckt. Wie auch immer, Altpapier hat auf
den Sumpfplaneten einen äußerst hohen Handelswert, und das erklärt
vielleicht manches. Die PIGasten essen kein Alkalix-Fleisch, dafür saufen sie
wie die Schweine. Ihr Lieblingsgetränk ist Gins, das es auf allen Planeten
reichlich gibt.
Leo Galoppi knurrte noch einmal leise. Es war der Vorabend des Haul-Festes.

Das beste Bier des Universums


Ian sah durch das halbgeöffnete Autofenster hinaus. In der Ferne konnte er
die sanften Hügel des Königsharns erkennen, jenes Mittelgebirgsmassivs, das
die Ebene überragte, in der er das letzte Jahr seines Lebens verbracht hatte.
"Meines Lebens?" murmelte er vor sich hin.
"Wie meinen?" fragte ihn Paul, der neben ihm auf der Rückbank des Autos
saß, wenn dieser Schlitten auch ein bißchen mehr als ein Auto zu sein schien.
Der Fahrer saß auf dem einzigen Vordersitz, der in der Mitte montiert war,
und pfiff vor sich hin. Paul kramte ein Päckchen Zigaretten hervor. Er bot Ian
eine an. Als Ian sie sich nehmen wollte, wurden beide dermaßen nach links ge-
schleudert, daß sie eine Weile förmlich aneinander klebten. Der Wagen war im
rechten Winkel in einen Feldweg eingebogen, ohne im mindesten die Geschwin-
digkeit zu reduzieren. Jetzt rasten sie mit gleichem Tempo auf den Trecker-
spuren entlang. Der Wagen ratterte und klapperte, daß es eine Freude war,
aber den Fahrer schien das nicht zu stören.
Plötzlich hörte das Rattern auf. Die Geschwindigkeit schien noch weiter zu-
zunehmen, denn diesmal wurden die beiden Freunde ziemlich fest in die Polster
gedrückt. Als Ian wieder hinausschaute, sah er immer noch den Königsharn und
die Lichter der kleinen Stadt davor. Beides bewegte sich sacht nach unten.
"You can unfasten the seat belts now," sagte der Fahrer und drehte sich nach
hinten. Dazu fiel selbst Ian kein cooler Kommentar mehr ein.
"Was ist das - ein Flugzeug?" fragte er stotternd.
Der Fahrer lachte. "Ich hab ein kleines Klappflugzeug im Kofferraum. Ich leihe
es dir, wenn wir angekommen sind."
"Wo angekommen?" fragte jetzt Paul.
"Wohin wolltet ihr denn?" gab der Fahrer zurück. Er zündete sich eine
Zigarette an und bot den beiden welche an.
"Alpha Centauri," sagte Paul kaum vernehmbar.
"Ihr wart noch nie dort, nehme ich an," plauderte der Fahrer weiter. "Ich bin
ziemlich oft dort. Geschäfte. Den Leuten da kann man fast alles verkaufen. Ich
verticke hauptsächlich Steuerungssoftware für die Schlachtautomaten auf Zeta
II."
"Schlachtautomaten?" fragte Ian fassungslos. Er war Vegetarier.
"Yeah. Irgend so ein Trottel in meiner Firma hat in das letze Update eine
kleine Besonderheit reinprogrammiert. Es dreht diesen Viechern die Hörner aus
dem Kopf, bevor sie gekillt werden. Die Alkalixe finden das gut, aber die
Caniden meinen, es sei unhündisch. Wie auch immer, Business ist Business.
Jedenfalls freue ich mich schon auf ein schönes, kühles Gins."
"Sagtest du Guiness?" unterbrach ihn Ian, der bei dem letzten Wort plötzlich
seine Fassung wiedergewonnen hatte. Der Vollmond beleuchtete unwirklich die
Gipfel des Königsharns, die unter ihnen zu verschwinden begannen.
"Gins, Junge, ist fast dasselbe. Nur viel besser," sagte der Fahrer. "Guckt mal
hinter die Rücklehne. Da sollten noch ein paar Flaschen sein."
Ganz weit weg hob sich die Silhouette der Alten Berge vom hellen Vollmond-
Nachthimmel ab. Wenig später waren auch diese verschwunden, und um sie
herum gab es nur noch Sterne, Millionen und Milliarden davon, die sich so klar
von der umgebenden Finsternis abhoben, als hätte jemand mit einer Steckna-
del Löcher in ein schwarzes Papier gestochen, hinter dem eine gleißende Licht-
quelle war. Ian war bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert von dem Anblick.
Paul war bis in die Tiefen seiner Seele erschüttert. Der Fahrer sagte: "Könntest
du mir bitte auch eine rüberreichen?"
"Äh - was - was soll ich dir rüberreichen?" fragte ihn Ian eine ziemliche Weile
später.
"Ein Gins, Baby. Ist zwar schätzungsweise recht warm, aber was soll's. Noch
dreieinhalb Stunden bis Alpha Centauri. Und hier auf dem Schleichweg gibt's eh
keine Alkoholkontrollen."
Schließlich schaffte es Ian, sich von dem Anblick loszureißen, und drehte sich
um. Der Wagen war ein Kombi, nur die Rückscheibe war so weit entfernt, daß
man eher an einen Lastwagen dachte. Durch sie hindurch konnte Ian eine
große, weißblaue Murmel sehen, die immer kleiner wurde.
"Der Heimatplanet," sagte Paul ehrfurchtsvoll, der sich ebenfalls umgedreht
hatte. Erst als die Murmel so klein geworden war, daß man sie von den anderen
Sternen kaum noch unterscheiden konnte, begannen sie, nach dem Bier zu
wühlen.
Der Kofferraum war ein unüberschaubares Chaos. Überall lagen flache
Dinger rum, die nach Pauls Einschätzung wohl Disketten sein mußten.
Dazwischen ein offener Koffer, aus dem Kleidung hervorquoll. Jede Menge Tüten
von Kartoffelchips und Gummibärchen, Magnetbänder, Cassetten, ein Haufen
unidentifizierbarer Kleinkram. Und viele, viele Flaschen mit merkwürdigen
Etiketten, von der Form gar nicht zu reden: utopisch. Sie fanden drei Flaschen
Gins (das mußte es ja wohl sein) und reichten dem Fahrer eine rüber. Der
ploppte den Verschluß auf und nahm erst mal einen kräftigen Schluck. Dann
plauderte er weiter:
"Woher kommt ihr eigentlich? Ich hätte beinahe gedacht, ihr wärt Erdlinge,
aber du - " er deutete auf Paul " - bist sicher von Oropax Minor, was? Na, richtig
geraten?"
"Prost!" sagte Ian, um die peinliche Stille zu unterbrechen. Dann dachte er
sich "Angriff ist die beste Verteidigung" und sagte:
"Hast du was gegen Erdlinge?"
"Ach Quatsch," meinte der Fahrer. "Verdammt gute Konsumenten. Da werde
ich wenigsten den ganzen Schrott los, und die sind sogar noch richtig dankbar
dafür. AutoCad-Programme, Tastatur-Schreibprogramme, stellt euch das vor!"
Er lachte. "Ich komme von Ökon. Ökon wie Ökonomie, nicht Ökologie!" Er lachte
wieder. Dann wurde er plötzlich nachdenklich. "Ökon, ach Ökon, mögen deine
Münzpressen nie stillstehen!" sagte er salbungsvoll. "Ich war seit über drei
Hauptversammlungen nicht mehr zuhause," fügte er hinzu.
"Wo liegt Ökon?" fragte ihn Paul.
"Kennst du Aldebaran?" fragte der Fahrer zurück. In seiner Stimme lag ein
spöttischer Unterton.
"Na klar," meinte Paul, und das war noch nicht mal gelogen. In seinem Schul-
atlas hatte er den Namen umkringelt, weil er ihm so gut gefallen hatte.
"Ökon ist der zweite oder dritte Planet, je nach Jahreszeit."
"Ach so," bemerkte Paul.
"Mein Name ist Wolstriet van Geldern, meine Freunde nennen mich Wolli."
"Ich heiße Paul, meine Freunde nennen mich Paul," sagte Paul und nahm
einen Schluck Gins. Es schmeckte tatsächlich vorzüglich.
Ian hatte bereits die halbe Flasche geleert. Er war fasziniert. Konnte es
wirklich wahr sein, daß es irgendwo im Universum etwas gab, das besser als
Guinness war? Nachdem auch er sich vorgestellt hatte, wandte er sich an Paul.
"Sag mir, daß ich träume. Das Zeug hier schmeckt besser als Guinness."
"Und du hattest sogar Bedenken, nach Griechenstrand zu fahren," gab Paul
zurück.
"Jaja, Qualität ist auf lange Sicht immer das beste Rezept," meinte Wolli
dazu. "Die Leute von Met, das sind ganz gerissene Burschen, kann ich euch
sagen. Nach außen immer: Tradition, alles ganz bieder und seriös. Mimen noch
einen auf Handwerk und Handwerkerstolz. Weigern sich seit
Doppeljahrhunderten, auf automatische Fertigung umzusteigen. Keine
Computer, sagen sie jedenfalls. Alles Handarbeit! Bei den Mengen, daß ich
nicht lache!" Er lachte. "Zuhause haben sie wahrscheinlich platinbeschichtetes
Klopapier, die Gauner!"
Draußen funkelten die Sterne in ihrer immerwährenden Pracht. Andachtsvoll
gab Paul seinem Gins den Rest. Und so flogen sie dahin, zwei Bewohner eines
bewohnbaren, bewohnten Planeten des Sol-Systems und ein Geschäftsmann
eines geschäftigen, geschäftemachenden Planeten von Aldebaran. Und nach
der dritten Flasche waren sie sich einig, daß das Universum eigentlich eine tolle
Erfindung sei und daß man eigentlich froh sein müsse darüber, daß ein mittel-
großer Planet es schaffe, eine ganze Galaxis mit einem der besten Getränke
des Universums zu versorgen.
"Noch zwei Stunden bis zur Landung auf Zeta II," sagte Wolli. "Reicht mir mal
noch eins rüber."

Zuviel vom besten Bier des Universums


"Es geschähen älß die märkwyrdikksten Dingers ins däm Üniversumm,"
beginnt Vers E/0815 des Großen Brimboriums. Und märkwyrdikk ist es in der
Tat, was hier berichtet wird. Der edle Symbolicus hielt einst an auf dem
Planeten Met, um seine edlen Pferde in den Abwässergräben des Planeten zu
ertränken. Richtig, nicht tränken: Diese Huftiere kommen erst richtig auf Trab,
wenn sie tot sind. Während er also das erste Tier in die stinkende Brühe zog,
kam ein Bewohner des Planeten auf ihn zu und fragte: "Sygg, Schlychtyr, wyllst
knymmst dyr yff yhn Gynns?" Der edle Symbolicus antwortete: "Sydynn, yls dy
ych sywysy dyrstyg sy, wyrymm dynn nycht?" "Syhy, wyr fyyyrn yn Fyst, syyst
dy ylsy yngylyden." Damit der Sinn der Unterhaltung Leuten, die Mytylynysysch
nicht beherrschen, nicht verborgen bleibt, hier die Übersetzung in Kurzform:
"Komm rüber einen saufen!" So ließ der edle Symbolicus ab von seinem Tun
und ging einen saufen.
Die Herstellung von Gins befand sich damals noch in einer Testphase, muß
man wissen. Mit einem von Zeta II ausgeborgten, völlig ausgelutschten
Interplanetargleiter hatten sich verwegene, rothaarige Bewohner des Planeten
Met auf den Weg zum nahegelegenen Sol-System gemacht und waren
tatsächlich mit einem geheimnisvollen Rezept zurückgekehrt. Es hatte bei den
ersten Versuchen, den Saft zu brauen, einige Märtyrer das Leben gekostet, als
die altertümlichen Dampfkessel explodierten. Der edle Symbolicus war
pünktlich zum ersten Anstich angekommen. ("Zufall, Zufall!" spotteten die
Mineralgötter später.) Das Große Brimborium bemerkt dazu: "Älß da ess kain
Zufall gybt, müsse der edle Symbolicus wohl seyn gewesen eyn Säufer." Der
edle Symbolicus feierte heftigst mit den Bewohnern von Met. Danach fiel er in
einen tiefen Schlaf. Da träumte ihm, daß ein Yuppie käme und ihm das edle
Gespann stähle. Symbolicus war erschrocken wie nie zuvor, doch er war auch
so betrunken wie nie zuvor, und schlief weiter. Er wurde geweckt durch eine
Stimme, die aus dem Himmel über Met zu ihm rief: "Hyhy, jytzt yst dyn Rysch
vyrby ynd ych hyby nych ymmyr dyny Pfyrdy!" Dort oben stand ein smarter,
blonder Jüngling in seinem Streitwagen und ließ sich von den edlen Pferden des
Symbolicus durch die Lüfte ziehen. "Schöne Grüße von Yuppieter!" rief der
Jüngling und warf einen Blitz herunter.
Der edle Symbolicus konnte fluchen wie er wollte, es blieb ihm nichts
anderes übrig, als anderweitig nach hause zu fahren. "Pärr Annhaltär," schließt
Vers E/0815 des Großen Brimboriums verächtlich.

Fraktal aber fluppig


Sanft schwebte die Wolke auf die große Hochebene herab.
"Das Platt-Platt-Plateau," sagte die Katze und drückte einen Knopf auf der Ta-
statur. "Es heißt so, weil es sowohl von vorne nach hinten wie von rechts nach
links platt ist. Seht ihr das Dorf dort?"
Sezana und Hansi schauten in die Richtung, in die die Katze zeigte. Dort war
nichts Besonderes zu erkennen. Die Katze grinste.
"Schaut mal hier durch," sagte sie und reichte ihnen eine Art Opernglas
rüber. Es hatte auf der einen Seite zwei Gläser, auf der anderen vier. Hansi
schaute hindurch, konnte aber immer noch nichts erkennen.
"Nein, nein," sagte die Katze, "ihr müßt zusammen durchsehen."
Das taten sie. Sie sahen ein paar strahlend weiße Gebäude, die über und
über mit verschnörkelten Ornamenten verziert waren. Alles war dermaßen
filigran und vielfältig, daß einem die Augen schmerzten.
"Eine fraktale Tarnung," sagte die Katze. "Das Dorf hat so viele gebrochene
Dimensionen, daß es visuell nahezu überhaupt nicht existiert. Clever, was?"
"Wohnen da Leute?" fragte Sezana und nahm die Augen vom Fernglas.
Daraufhin konnte Hansi nur noch weiße Schemen erkennen, immerhin mehr als
beim ersten Mal, als er allein durchgeschaut hatte.
"Na klar. Das ist der Palast der Feliden von Zeta II," antwortete die Katze.
"Gefällt er dir?"
"Das sind wunderschöne Gebäude," sagte Sezana, "aber ich sehe niemanden
dort." Sie schaute wieder durch das Glas. Die Wolke schwebte auf die Gebäude
zu, wobei sie an Höhe verlor. Hansi bemerkte, daß er jetzt ohne das Fernglas
schon ein paar Einzelheiten erkennen konnte.
"Was ist mit der fraktalen Tarnung passiert?"
"Alles Gewöhnungssache," meinte die Katze. "Wie du vielleicht weißt, sieht
man nur das, was man sehen will, oder was man gewohnt ist zu sehen. Dieses
Fernglas ist ein Realitätsfilter. Wenn du dann erst mal akzeptiert hast, daß dort
etwas ist, kannst du es nach und nach auch ohne Filter erkennen."
Die Wolke schwebte in den Innenhof eines der größeren Gebäude. Der Hof
war groß und hatte ziemlich viele Ecken. In einer saß eine weiße Marmorstatue
auf einem flachen Sockel. Ihre Füße berührten den Boden. Die Statue sah aus
wie eine ägyptische Katzengottheit. Begrenzt wurde der Hof von Gebäuden
unterschiedlichster Höhe und Form: An vielen Stellen ragten vieleckige oder
fast runde Türmchen empor, Erker kragten weit hinaus, und es gab überall un-
glaublich viele Fenster, von denen nicht eins dieselbe Größe oder Form hatte
wie ein anderes. Außerdem waren sie alle auf verschiedenen Höhen. Die Fens-
ter schienen aus Glas zu bestehen, aber sie funkelten auch in allen erdenkli-
chen Farben, je nach dem, aus welchem Winkel man sie anschaute.
"Drei Komma vier sieben Stockwerke," kommentierte die Katze. "Geht bloß
nicht ohne jemanden hinein, der sich auskennt. Ich sage euch, eine fünf-
dimensionale Wendeltreppe ist nichts dagegen."
Die Wolke setzte auf. Die Katze drückte einen Knopf und stieg aus.
"Die Leute hier sind scharf auf alles, was fliegt," meinte sie. "Ich habe das
Ding lieber abgeschlossen."
Sezana und Hansi kletterten ebenfalls hinaus. Die weiße Statue stand auf
und kam auf sie zu. Sie lief auf zwei Beinen und sah immer noch dermaßen wie
Marmor aus, daß Hansi seinen Augen nicht traute. Sezana sah ihn an und lach-
te.
"Du träumst wirklich nicht, um deine Frage zu beantworten." Dann lachten
sie beide. An diesem Platz konnte man offensichtlich Gedanken lesen.
Die Statue war jetzt bei ihnen und gab der Katze die Pfote.
"Hallo!" sagte sie. "Wie war der Flug?"
"Recht erfolglos," antwortete die Katze. "Mein Mensch scheint in einer
anderen Ebene verschollen zu sein."
Die Statue reichte Hansi und Sezana je eine Pfote. "Willkommen, Erdlinge,"
sagte sie. "Ich bin Isis, geboren auf Sirius III. Ihr seid die ersten Menschen, die
unseren Palast betreten. Macht euch keine Sorgen wegen der Telepathie. Das
sind nur die Reflexionen der fraktalen Mauern. Das gibt sich mit der Zeit."
Sie gingen zusammen durch einen einigermaßen runden Torbogen in das
Innere eines Gebäudes. Der Hof hatte die beiden Menschen schon irritiert, aber
hier konnten sie fast nichts Richtiges erkennen. Sie standen in einem riesigen
Raum, dessen Fußboden auf verschiedenen Ebenen lag. Überall waren Mauer-
vorsprünge und Nischen, Sockel und Statuen, Tische, Sofas, Diwane, Kissen. Zu
allem Überfluß war alles mit Bildern von Katzen und Katzenartigen jeder Farbe
und Form bemalt. Selbst auf Kissen und Tischen waren Katzenbilder. Dazwi-
schen lagen einzeln und in Gruppen Katzen herum, sämtliche Rassen, die auch
auf der Erde bekannt sind, sowie etliche andere, die teilweise recht skurril aus-
sahen: Welche mit vier Ohren, drei Augen, sechsbeinige, kleine Löwen, mittlere
Löwen, große Löwen, Tiger mit Tigerfell und Tiger mit Zebrafell, schwarze, grü-
ne und rote Panther und noch viele mehr. Durch den Raum surrte beständig ein
Schnurren. Gelegentlich hörte man ein leises Fauchen oder Miauen.
"Siesta," sagte die Statue.
"Wie immer," kommentierte die Katze.
Sie liefen mitten durch den Raum. Hansi und Sezana hatten große Schwierig-
keiten, die Bilder von den echten Katzen zu unterscheiden und nicht auf eine
echte zu treten. Schließlich gelangten sie zu einem großen Vorhang (ebenfalls
mit Katzenbildern bemalt), der von einem Bogen herab bis auf den Boden
reichte. Isis nahm eine kleine schwarze Katze hoch und legte sie zur Seite. Das
Kätzchen streckte sich, rollte sich wieder zusammen und schlief weiter. Dann
traten sie durch den Vorhang. Der Raum dahinter war eher klein und hatte
pechschwarze Wände. Auch gab es hier nur einen quadratischen Sockel in der
Mitte mit einigen Sitzkissen drumherum. Durch ein Fenster, das beinahe rund
war und aus vielen Segmenten bestand, sah man auf das Platt-Platt-Plateau
hinaus. Es war immer noch dunkel, und die Sterne funkelten in einem wolken-
losen Himmel. Ein winziger Halbmond stand hoch über dem Horizont.
"Das hier ist die Nachtseite von Zeta II," erklärte die Statue. "Unser Planet
bewegt sich fast immer um Alpha Alpha Centauri. Nur alle paar Doppeljahr-
hunderte schwenkt er in eine Umlaufbahn um Alpha Beta ein. Dann scheint hier
fast immer die Sonne, und überall auf der Ebene wachsen Blumen. Das sieht
toll aus, nur die vielen Touristen, die dann kommen, nerven, vor allem die
Caniden. Ich zeige euch gelegentlich mal eine Aufzeichnung davon. Aber
schaut euch erst mal das hier an."
Auf dem Sockel stand eine große, runde Glaskugel.
"Setzt euch," sagte Isis. "Ich will euch eine Aufzeichnung vom Neubeginn der
Zeit zeigen."
Die Reisenden hatten keine Lampen oder ähnliches bemerkt, aber was auch
immer den Raum ausgeleuchtet hatte, wurde jetzt schwächer, bis es schließlich
stockfinster war. Dann erschien in der Glaskugel ein Licht.
"Eine Raubkopie aus der ehemaligen Ebene 5," sagte Isis und grinste. "Das
Urheberrecht ist mit der Ebene verschwunden, praktisch, was?"

Hirana
Es war einmal auf einem mittelgroßen, belebten Planeten, der um eine
mittelgroße Sonne kreiste, irgendwo in einer mittelgroßen Galaxis. Auf diesem
Planeten gab es, die Wahrscheinlichkeit von 95% mal wieder bestätigend,
humanoide Lebensformen. Der Planet mochte sie nicht. Alle anderen
Lebensformen mochten sie nicht. Die humanoiden Lebensformen mochten sich
selbst nicht. Aber sie waren nun einmal da, und trotz der gemeinsamen
Anstrengungen des Planeten, der anderen Lebewesen und der Humanoiden
selbst gelang es nicht, sie loszuwerden. Ohne Übertreibung kann man sagen,
daß sie die Schande ihrer Galaxis waren.
Und das lag an ihren Fortbewegungsmitteln. Einst, in dem goldenen
Zeitalter, als die Humanoiden von allen (inklusive sich selbst) lediglich gehaßt
wurden, hatte eine Kommission, der viele erlauchte Mißgeburten angehörten,
für diese Fahrzeuge Qualitätskriterien festgelegt, bei deren Kenntnisnahme
selbst Gott das Lachen in seinem multidimensionalen, endlos langen Hals
steckenblieb (der Nachhall davon läßt sich noch heute mit guten Meßgeräten
orten). Auf diese Kriterien soll hier nicht näher eingegangen werden, weil man
dafür in die Hölle kommt.
Jedenfalls passierte Folgendes: Die Fortbewegungsmittel wurden gebaut. Erst
nur wenige, denn sie waren sehr teuer. Es wurden aber mit der Zeit immer
mehr, und schließlich wollte jeder eins haben. Dann hatte jeder eins, und dann
wollten alle mindestens ein großes und ein kleines. Clevere Marketingstrategen
schwatzten zuguterletzt jedem noch ein mittleres auf, und dann ging's so
richtig ab.
Denn die Dinger waren äußerst primitiv. Sie hatten fast alle eine ähnliche
Form: Vorn und hinten waren sie eher flach und in der Mitte hatten sie einen
Buckel. Dorthinein zwängten sich die Humanoiden, wobei sie ihre Gelenke
anwinkelten und bis zum Aussteigen (was immer seltener vorkam) in dieser
Stellung verharrten. Meist hinten befand sich der Hohlraum für ihren ganzen
Krempel, und vorn war ein größerer Hohlraum, in dem das überdimensionale
Antriebsaggregat seinen Platz fand. Das Ganze stand auf durchschnittlich vier
Gummischeiben und konnte überhaupt nicht vom Boden abheben, außer, wenn
es mal über eine Klippe stürzte oder dergleichen (aber dann war es immer
gleich kaputt). Das Antriebsaggregat verbrannte gut abgelagerte Lebewesen,
die unter der Oberfläche hervorgebuddelt wurden, und machte dabei einen
höllischen Lärm. Außerdem stank es wie die Sau von Aldebaran IV (wegen
diesem Tier gibt es übrigens auf Aldebaran IV kein weiteres Leben, aber das
nur nebenbei).
Wer eines dieser Gefährte qualmen sah und röhren hörte, dachte sogleich an
Kraft und Stärke. Aber damit war es nicht weit her. Der Wirkungsgrad der Fahr-
zeuge war so gering, daß der VDI (der Verband degenerierter Industrieller auf
Solona III) ihn immer als Vergleich heranzog, um die eigenen, unterdurch-
schnittlichen Leistungen aufzuwerten. Und, wie erwähnt, konnten die Gefährte
nur auf dem Boden dahinrollen.
Doch damit nicht genug. Sie waren so anfällig, daß die Planetenoberfläche
weitgehend planiert und mit dicken Teerschichten versiegelt werden mußte, da-
mit die Dinger darüberrollen konnten, ohne wenigstens alle Nase lang ka-
puttzugehen. Dazu wurden alle Wälder abgeholzt, die im Weg standen, Flüsse
wurden umgeleitet oder zugeschüttet, und in die Berge schlug man breite
Schneisen. Nur die Meere wurden verschont, weil die primitive Technik der Hu-
manoiden es nicht erlaubte, sie zu asphaltieren. Das war andererseits ganz
praktisch, weil man so noch einen Platz hatte, um den ganzen Müll wegzu-
schütten.
Die Fauna und fast alle anderen Lebensformen verschwanden schließlich von
der Planetenoberfläche, weil einfach kein Platz mehr da war. Der Sauerstoffge-
halt der Atmosphäre verringerte sich dramatisch, und die Humanoiden fingen
an zu röcheln. Das hielt sie allerdings bis zum Ende ihrer Zivilisation nicht da-
von ab, weitere Fahrzeuge zu bauen und damit ständig ziellos durch die
Gegend zu braten. Längst wäre man zu Fuß schneller voran gekommen, aber
die Gelenke der Humanoiden waren durch das ständige Sitzen in den Fahr-
zeugen so degeneriert, daß sie nur noch extrem kurze Strecken auf ihren
Beinen zurücklegen konnten. Das Ende ihrer Zivilisation war trist und langweilig
und gibt keinen Stoff für eine Story ab.
Hiranas Geschichte dagegen ist ziemlich verblüffend. Hirana war die einzige
auf diesem öden Planeten, die sich weigerte, sich in eins dieser Fahrzeuge zu
setzen. Sie bastelte seit ihrer Jugend an einem Gefährt, um den Planeten zu
verlassen, und wurde dafür von allen, die sie kannten, belächelt. Aber sie hatte
Erfolg. Als wegen des Sauerstoffmangels das große Röcheln losging, zündete
sie das kleine Fusionstriebwerk und nahm Kurs auf das nächste Sonnensystem.
Sie hatte das Glück, recht schnell einen bewohnten Planeten zu finden, und
das Pech, daß dieser ein Spanner-Planet war. Alles war dort aus Gummi, mit
Ausnahme der geilen Lebensformen, die über das Gummi krochen und
schleimten, um zur nächsten Porno-Videothek zu kommen. Es gab aufblasbare
Häuser, aufblasbare Brücken und sogar aufblasbares Mittagessen. Alles
wabbelte beim Darüberlaufen, und wenn Hirana versehentlich auf einen
Spanner trat, gab der ein geiles Stöhnen von sich und bettelte um Schläge.
Leider war ihr kleines Raumschiff bei der Landung in einem Sperma-Sumpf
versunken. Sie selbst war von einem nicht ganz so wabbeligen Spanner mit
Hilfe einer Leine aus zusammengeknoteten Kondomen gerettet worden.
Danach hatte sie eine Weile in einer Sex-Bar gejobbt, wo sie die ganze Nacht
Champagnergläser aufblasen mußte, bis sie kurz vor einem
Nervenzusammenbruch war.
Doch das Schicksal meinte es gut mit Hirana. Auf einem ihrer Erkundungs-
gänge fand sie ein riesiges Trampolin. Kurzerhand schaffte sie das größte auf-
blasbare Gebirge herbei, das sie finden konnte, und sprang vom höchsten Berg
auf das Trampolin herunter. Dieses erwies sich als eine ausgeklügelte Rettungs-
station von canoiden Bewohnern eines nahegelegenen Planeten und kata-
pultierte sie in kürzester Zeit dorthin. Der Planet hieß Zeta II, und als sie aus
dem wolkenlosen Himmel fiel, war es gerade die Zeit, in der das Haul-Fest be-
ginnt.

Die Ruhe vor dem Sturm


"Gib deinem Leben endlich einen Sinn! Stink-O-Bell, die Zahncreme für alle
Fälle. Stink-O-Bell. Top-Dogs im ganzen bekannten Universum benutzen Stink-
O-Bell!" erklärte jemand aus dem Lautsprecher des Fernsehers in dem dunklen,
muffigen Raum, in dem sie gelandet waren, und fügte mit tieferer Stimme hin-
zu: "Show'em who you are!" Ein schönes, buntes Logo erschien auf der Matt-
scheibe, das anscheinend die Fortsetzung des Spielfilms ankündigen sollte.
Sej traten Schweißtropfen auf die Stirn.
"Was für ein Klima! Sind wir hier in der Hölle?" erkundigte sich Percy.
Der Spielfilm lief wieder an. Lautes Gekläffe drang aus dem Lautsprecher,
während eine wütende Meute über den Bildschirm wütete.
"Scheiß-Landung!" verkündete Boko.
"Immer noch besser als tot, oder?" sagte Jeer daraufhin.
"Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich noch lebe ..."
"Hat jemand eine Uhr? Ich wüßte gern wenigstens, in welchem Jahr wir uns
befinden."
"Idiot! Raus aus meinem Beutel!"
"Nicht, bevor ich weiß, wieviel Dimensionen es hier gibt." Sej hatte
diesbezüglich schon schlechte Erfahrungen gemacht.
"Meine Redisc! Na endlich!" rief Percy, während Boko Sej aus seinem Bauch-
beutel zog und auf den Boden setzte.
Allmählich gewöhnten sie sich an das Schummerlicht, das der Fernseher in
dem Raum ausbreitete. Es gab eine Tür. Wie immer. Aber diese hier war nicht
verschlossen. Dafür ziemlich niedrig.
"Vierbeiner-Höhle," meinte Boko. Jeer watschelte zur Tür. Anscheinend gibt es
eine Menge Plätze im Universum, die für Riesenkänguruhs zum Hüpfen recht
ungeeignet sind.
Jeer schaute hinaus. Ein frischer Luftzug wehte hinein und fuhr Sej durch die
schweißnassen Haare. Beim Anblick von Jeer, der sich höchst possierlich bück-
te, um hinauszusehen, mußte er lachen. Das Känguruh drehte sich um und
guckte ihn an.
"Feierst du gerne?" fragte es ihn.
Sej sah Percy mit einem Ausdruck von Unverständnis an. Der ging ebenfalls
zur Tür und schaute hinaus.
"Uff!" meinte er. Aus dem Fernseher erklangen Geigen und Flöten, allerdings
mehrere Oktaven höher, als es Humanoide gewöhnt sind. Für Sejs ungeübte
Ohren klang es wie Hundepfeifen und Alarmsirenen. Auf dem Bildschirm wa-
ckelte ein offensichtlich weiblicher Cockerspaniel mit dem Kopf und plinkerte
mit den Augenlidern. Daraufhin fing ein Deutscher Schäferhund an zu jaulen.
"Oh je! Rammelo und Schmusia! Nix wie raus hier!" rief Boko. "Wenn du noch
nicht wußtest, was wahre Perversion ist, hier könntest du es lernen," sagte er
zu Sej gewandt. "Dieser Film hat den Sonderpreis der Süd-Süd-West-Südwestli-
chen Galaxis für die mieseste, geschmackloseste Schnulze der Filmgeschichte
gewonnen. Prädikat besonders gemeingefährlich. Echt Hardcore!"
"Sag mir, wo wir sind!" Percy sprach mit Jeer. "Oder vielmehr, sag mir bitte,
daß wir nicht in Huttington sind!"
"Die Bitte kann ich dir leider nicht erfüllen."
"Dann sag mir wenigstens, daß das da oben am Himmel nur eine
ausgefallene Leuchtreklame ist und nicht der berüchtigte Mond Draculix!"
"Alle Jahre wieder macht Draculix sie nieder ..." murmelte Jeer eher zu sich
selbst.
"Dann wäre es wohl besser, wenn wir gestorben wären."
Sej verstand rein gar nichts. "Ich hab nichts gegen feiern, falls da draußen
eine Party abgehen sollte."
"Eine Party? Eine Party?" fragte ihn Percy fassungslos. "Weißt du, wie sich
dieses Fest da draußen nennt? Weißt du, was passieren wird? Weißt du über-
haupt irgendwas?"
"Um dir die Sache wenigstens ansatzweise zu erläutern," mischte Boko sich
ein, "wir sind hier auf Zeta II, einem Planeten des mittleren Gürtels von Alpha
Centauri, wie geplant, und wir befinden uns in Huttington, der Hauptstadt der
Caniden, zur Zeit des Wau-Festes, wie ganz und gar nicht geplant. Warst du
mal auf einer eurer merkwürdigen Feste, wo sie saufen und kiffen wie die
Blöden, Trips schmeißen, die Wohnungseinrichtung zertrümmern, Leute aus
dem Fenster werfen und in die Ecken kotzen? Vergiß es! Das hier ist viel, viel
bestialischer."
"Äh - vielleicht sollten wir dann lieber hier drinnen abwarten, bis es vorbei
ist," schlug Sej etwas unsicher vor.
"Abwarten? Du hast Vorstellungen! Ich habe bisher nur Gerüchte gehört,
aber wenn auch nur ein kleines bißchen davon wahr ist, wird dieses Haus in ein
paar Stunden nur noch ein qualmender Trümmerhaufen sein!" sagte Percy.
"Wenn ihr Humanoiden das Grauen der Zerstörung beschreiben wollt," fügte
Boko hinzu, "nennt ihr oft den Namen der Stadt Hiroshima. Mir würde vielleicht
eher der Megatod von Aldebaran VII einfallen, egal - das hier ist viel, viel bes-
tialischer!"
"Sie zünden Atombomben als Feuerwerk," erklärte Jeer.
"Wer nüchtern angetroffen wird, wird sofort gelyncht," warnte Boko.
"Und ich hatte immer gehofft, dieses Wau-Fest wäre nur die Phantasie eines
kranken Programmierer-Hirns," sagte Percy.
In einer Ecke stand einer Art flacher, sehr großer Kühlschrank. Jeer öffnete
die Tür. Auf mehreren Regalen waren dort Steaks und Hundeknochen gelagert.
Dazwischen standen Schalen voll Hackfleisch, heftig von Schimmel
überwuchert. Auf dem unteren Regal lagen jede Menge Flaschen, die Jeer
herausnahm und den anderen zuwarf.
"Risiko Nummer eins. Gefahr des Gelynchtwerdens. Trinkt, soviel ihr könnt
und so schnell ihr könnt!"
"Trinken Caniden sowas?" fragte Percy.
"Quatsch. Das ist nur für die saumäßigen Gäste."
"Wie uns."
Etwas resigniert ploppte Percy den Verschluß der Flasche auf, die er
gefangen hatte. Sej fand, das Zeug schmeckte fast genauso wie ein
Dunkelbier, das er gelegentlich auf seinem Planeten getrunken hatte. Jeer
merkte an: "Gebraut nach eurem Reinheitsgebot von ungefähr 2000 vor eurer
Zeitrechnung." Er leerte seine Flasche in einem Zug.
Dem Schäferhund im Fernsehen schien irgendetwas Böses zu widerfahren.
Jedenfalls jaulte er ohrenbetäubend. Jeer schleuderte seine leere Flasche in den
Bildschirm, der knallend zersprang. "Zur Einstimmung auf die Fete," bemerkte
er trocken. Seinem Bier ließ er schnell ein zweites und drittes folgen.
Schnell kamen sie in Stimmung. Sej zwang sich eine dritte Flasche rein. Das
Zeug war verteufelt stark. Wie man leicht erraten kann, handelte es sich um
Gins, den Stoff der bekannten Sonnensysteme der Milchstraße. Es ist wirklich
ein Rätsel, wie es ein mittelgroßer Planet schafft, eine komplette Galaxis damit
zu versorgen. Wahrhaftig ein Rätsel, aber ein schönes. Forget the Old Janx Spi-
rit.
Boko hatte sich auf die Seite gelegt und spähte durch die halbgeöffnete Tür.
Von draußen kamen Geräusche herein, die auf einen fernen Atomkrieg
schließen ließen.
"Allmählich geht's richtig los," merkte Jeer an.
Glücklicherweise waren sie am Stadtrand gelandet. So hatten sie wenigstens
noch Zeit zur Vorbereitung gehabt.
"Hätten wir nicht aus der Stadt flüchten können?" fragte Sej. Er lallte ein biß-
chen.
"Nix da. Die Ebene von Huttington ist eine der berüchtigsten Steppenzonen
der Galaxis. Selbst Gott nennt sie 'nicht klein'," meinte Boko.
"Aber dein Zauberding!" beharrte Sej. Er wandte sich an Jeer. "Wir hätten uns
irgendwohin beamen können."
"Dafür bin ich viel zu breit," antwortete Jeer. Er rülpste. Dann leerte er sein
achtes Gins.
Sej grübelte. Lag es nun an dem vielen Bier, oder war die Logik dieser
Lebensformen eine andere? Wie auch immer, das war jetzt seine vierte
Flasche. Die Situation wurde allmählich erträglich, um nicht zu sagen
gemütlich.
Jeer stopfte sich eine Menge Flaschen in den Bauchbeutel. Er grinste.
"Seid ihr bereit aufzubrechen?"
Percy drückte auf einen Knopf seiner Redisc, während er sein Gins leerte.
"Bitte ..." klang es klagend aus allen Ecken des Raums zugleich. "Helft mir ..."
"Was war das?" fragte Boko. "Ich hab nur Reset gedrückt," meinte Percy. Er
drückte noch einmal auf den Knopf.
"Helft mir!" klagte das unsichtbare Wesen wieder.
"Wer bist du?" Percy war einigermaßen überrascht.
"Ich bin nur eine einfache Wohnung in einem einfachen Mietshaus, aber ich
habe doch auch ein Recht auf Leben, nicht wahr?" hallte es aus den Ecken.
"Das geht zu weit. Schalt das Ding ab!" verlangte Boko.
"Ich fühle, mein Ende ist nah. Bringt mich woanders hin!"
"Ich fang gleich an zu heulen," sagte Jeer. "Ich würde dich ja gern
mitnehmen, nur zufällig habe ich heute keinen Megakoffer dabei."
"Mein ganzes Leben lang habe ich diese Barbaren beherbergt, und das ist
nun der Dank dafür." Die Stimme klang jetzt fast zornig.
Sej fand die Sache recht faszinierend. Er dachte an seine eigene Wohnung.
"Sag mal, haben alle Wohnungen ein Bewußtsein?" fragte er die Wohnung.
"Na klar. Ich gebe ja zu, nicht besonders viel, aber das bißchen, was wir
haben, ist ziemlich ausgeprägt. Versteht ihr, ich weiß genau, ich reiche von
dieser Ecke - " die Stimme kam jetzt von der Nähe des Eingangs und wanderte
nach hinten " - bis in diese hier. Ich kenne jeden Stein, aus dem ich gebaut bin,
und ich bin voll von den Emotionen meiner Bewohner. Nicht, daß ich sie
besonders geliebt hätte, aber ich kenne sie alle bis in die Tiefen ihrer Seele.
Und ein Wesen mit meinem Erfühlungsvermögen soll jetzt dem blindwütigen
Terror des Mobs ausgeliefert werden ..." Die Stimme fiel in ihren ursprünglichen
klagenden Ton zurück.
"Sag mal, was passiert mit dir, wenn du zerstört wirst?" erkundigte sich Sej.
Er öffnete noch eine Flasche.
"Das ist nicht sehr sensibel von dir, so etwas zu fragen," jammerte die
Wohnung. "Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Ich werde mich wohl
wieder als einfacher Geröllhaufen durchschlagen müssen. Wieder ganz von
vorn anfangen ..." Ein steinernes Schluchzen erklang.
"Was würde denn aus dir werden, wenn du weitermachen könntest?"
"Ich würde mich mit Gleichgesinnten zusammenschließen, und wir würden
einen Palast aus uns machen lassen." Die Stimme klang zuversichtlicher.
"Vielleicht eine Trutzburg, und wenn es nur eine altehrwürdige Ruine wäre.
Oder ein Schloß. Weißt du, es gibt einen Planeten, wo ..."
Der Rest ging in einem ohrenbetäubenden Krachen unter. Jemand hatte
draußen eine Handgranate gezündet, und durch den Luftdruck sprang die Tür
voll auf. Kurz darauf krachte es noch lauter, als im Nebenhaus eine Stalinorgel
einschlug.
"Raus hier!" schlug Jeer vor, und alle nahmen seinen Vorschlag begeistert an.
Draußen konnten sie vor lauter Staub fast nichts sehen. Von drinnen klang
noch leise das Wehklagen der Wohnung zu ihnen. Ein Hund jagte an ihnen vor-
bei und bellte ihnen etwas zu.
"Dem hinterher!" rief Jeer. "Er meinte gerade, wir sollten das Beste nicht ver-
passen."
Sie spurteten los. Sej und Percy fanden es ziemlich schwierig, mit den Kängu-
ruhs Schritt zu halten. Das Zwielicht, das der Mond Draculix durch den Staub
der ständigen Mineneinschläge warf, machte die Orientierung schwierig, so daß
Jeer und Boko glücklicherweise nicht allzu schnell hüpfen konnten.
Ein paar Ecken weiter wurden sie von einer nahen Explosion zu Boden ge-
schleudert. Percy war als erster wieder auf den Beinen und lief zu Jeer.
"Alles okay?" fragte er ihn.
"Ein paar Flaschen sind futsch," meinte Jeer, während Schaum aus seinem
Bauchbeutel quoll. "Wir trinken sie lieber jetzt gleich."
Er reichte den anderen die verbliebenen Gins raus und machte dann einen
Kopfstand. Flaschenreste fielen aus seinem Beutel, gefolgt von etlichen Litern
Bier. Er klaubte seinen Porzellanhund aus den Splittern. "Das wichtigste ist in
Ordnung." Er grinste.
Sie rannten (beziehungsweise hüpften) weiter. Durch den Staub konnte Sej
erkennen, daß mittlerweile viele recht eigenartige Gestalten vor, hinter und
neben ihnen rannten. Die meisten davon waren mehr oder weniger eindeutig
Canide, aber auch Humanoide waren zu sehen, mit und ohne Antennen auf den
Köpfen, ein paar zerzauste Katzenartige, etliche Rieseninsekten und anderes
merkwürdiges Getier. Alle rannten in dieselbe Richtung. Allmählich verringerte
sich das Tempo, da die Menge dichter wurde. Schließlich ging es nur noch im
Schrittempo voran.
Sej konnte jetzt mehr Einzelheiten der Stadt erkennen. Die Gebäude waren
alle aus demselben sandsteinfarbenen Material und waren ein- oder zweige-
schossig. Das Stadtzentrum war offensichtlich auf einem Hügel errichtet
worden. Obendrein gab es hier einige große Häuser, die aus versetzten, aufein-
ander getürmten Blöcken bestanden und den Rest satt überragten. Die meisten
Gebäude besaßen nur eine niedrige Eingangstür, Fenster konnte man fast nir-
gendwo sehen.
Sej und Percy hielten sich dicht an die Känguruhs. Sie überquerten einen
Platz. In der Mitte befand sich ein flacher, vieleckiger Bau mit etlichen offenen
Eingängen.
"Eine Bedürfnisanstalt," erklärte Jeer. "In den Wohnungen gibt es keine Toi-
letten. Die Dinger werden von Schweineartigen betrieben. Man muß in einen
Napf pinkeln oder scheißen, der dann gewogen wird. Je nach Gewicht muß man
dann zahlen. Die Schweine freuen sich immer, wenn ein vollgefressener
Bernhardiner vorbeikommt."
Aus der johlenden Menge flogen jetzt immer häufiger Granaten
verschiedensten Kalibers in die Nebenstraßen. Jeer gab es bald auf, irgend
etwas zu erklären, da er sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Ein
Canide neben ihnen feuerte seine Bazooka auf ein nahegelegenes Gebäude ab,
dessen Dach jämmerlich einstürzte. Sejs Trommelfelle schmerzten. Er trank
sein Gins aus und warf die Flasche weg. Eine Riesenmücke reichte ihm
daraufhin eine Flasche psychodelischen Sumpfwassers rüber.
"Trink, Kleiner," zischte das Insekt. Sej nahm einen Schluck und reichte die
Flasche an Percy weiter. Bereits nach dem ersten bißchen dieses Zeugs sah
alles ziemlich grünlich aus. Percy gab der Mücke das Gesöff zurück. Neben
ihnen war eine Gruppe humanoider Japtiden (nach Sejs Meinung grünhäutige
Menschen mit grün schimmernden Haaren) damit beschäftigt, das Geschehen
auf ihre Alpha-Moritz-Rekorder zu bannen. Sej hatte die Dinger zuerst für ihre
Augen gehalten. Einer von ihnen setzte den Rekorder ab, um eine neue
Cassette einzulegen.
"Fünf Minuten bis Feuerwerk!" verkündete er Sej gegenüber euphorisch.
Seine grünen Augen strahlten.

Bombenstimmung
Draculix stand jetzt fast im Zenit. Sanft wie immer setzte die Wolke auf. In
der Nähe schlug eine Zentnerbombe ein. Die Wolke kippte zur Seite und
entledigte sich auf diese Weise ihrer vier Insassen.
"Wollt ihr jetzt immer noch auf das Fest?" fragte Isis.
"Ich hab nichts gegen gute Action," meinte Hansi. Der ferne Schlachtenlärm
stimulierte ihn.
"Seid ihr auch betrunken genug?" erkundigte sich besorgt die Katze.
"Nur ein bißchen in Stimmung," lallte Sezana. Sie leerte den Rest der Sektfla-
sche in einem Zug.
"Nun, dann viel Glück," meinte Isis. "Wir warten hier auf euch, oder vielmehr
die Reste von euch. Nehmt euch vor der Strahlung in acht."
Die Katze reichte den beiden Menschen die Springschuhe. Diese sahen aus
wie avantgardistisch geformte Plattform-Schuhe. Nur bestanden sie nicht aus
Holz mit Ledersohlen, sondern waren kompliziert geformte, schwarz eloxierte
Federn. Der obere Teil war ein Drahtgestell, in das man die Füße stecken
konnte.
Sezana und Hansi zogen die Springschuhe an. Das Drahtgeflecht hielt ihre
Füße sicher fest, indem es sich hautnah anschmiegte (eine altbekannte fünf-
dimensionale Technik. Auf dem Planeten Erde wurde so etwas im Jahr 2010 be-
kannt unter dem Namen 'Conscious Engineering').
"Damit solltet ihr in fünf Minuten im Stadtzentrum sein," meinte Isis.
Die ersten paar Schritte machten die beiden noch etwas unsicher, was wahr-
scheinlich in erster Linie auf ihren Alkoholpegel zurückzuführen war. Dank
'Conscious Engineering' jedoch kamen sie schnell mit den Schuhen zurecht.
Dieses neue Laufen war ein fantastisches Gefühl. Schritte von fünf Metern
Länge waren überhaupt kein Problem. Die Springschuhe nahmen die Bewe-
gungsenergie beim Autreten derart sanft auf, daß man fast zu fliegen schien.
Außerdem glichen sie glücklicherweise auch Fehltritte so gut aus, daß die
beiden nie ins Stolpern kamen. Nach ein paar Proberunden um die Wolke ver-
abschiedeten sie sich von ihren beiden katzenartigen Freunden und eilten in
Richtung Huttington. Hansi hatte seinen überdimensionalen Patronengurt mit
Gins munitioniert. Sezana hielt eine Flasche zelotischen Champagner im Arm.
In der Stadt wichen sie geschickt den Granateinschlägen aus und bahnten
sich zügig den Weg durch die Staubwolken. Kurz bevor Draculix endgültig im
Zenit stand (und das Feuerwerk begann) sprangen sie bereits übermütig über
die dichter werdende Menge hinweg. Zwar waren anscheinend alle heftig mit
Drogen vollgepumpt, aber es gab niemanden, der nicht schnell genug gewesen
wäre, ihnen auszuweichen. Lediglich einmal verhakte Hansi sich in den Flügeln
einer Riesenwespe, die ihn giftig anstarrte. Er reichte ihr ein Gins rüber, und
das schien sie schnell zu besänftigen. Sezana machte einen gigantischen Satz
und war verschwunden. Hansi zielte ungefähr in die Richtung, wohin sie
verschwunden war. Er hatte gut gezielt. Neben ihm stand Sezana, und vor ih-
nen beiden standen zwei überdimensionale Känguruhs und starrten sie
verwundert an. Ein Granateinschlag in der Nähe ließ ein paar Japtiden an ihnen
vorbeifliegen. Der Typ mit der Bazooka grinste verlegen.
"Mehr Zielwasser trinken!" riet ihm Jeer. Dann sagte er, zu den beiden
Neuankömmlingen gewandt:
"Bumm bumm Bumerang?"
Das war die Sprache der australischen Ureinwohner, und Hansi und Sezana
konnten den Sinn nur ahnen.
"Wir haben uns die Springschuhe nur ausgeliehen," meinte schließlich
Sezana.
"Seid ihr etwa vom selben Planeten wie unsere beiden minderbemittelten
Freunde?" erkundigte sich Boko erstaunt.
Das ohrenbetäubende Gekreische und Gejohle der Menge unterbrach ihre
gerade begonnene Unterhaltung. Draculix stand im Zenit.

Feuerwerk
Isis kippte die Wolke wieder in ihre richtige Position. Sie und die Katze
nahmen darin Platz und flogen niedrig über die Ebene von Huttington bis in
eine sichere Entfernung von der Stadt. Über ihnen zogen fette, schmierige,
schwarze geierähnliche Tiere in die umgekehrte Richtung, eine
unüberschaubare Schar. Der Nachthimmel war übersäht mit ihnen. Als die
Wolke jedoch landete, waren sie nur noch ein riesiger schwarzer Schatten, der
auf Huttington zusteuerte.
"Malakok. Die einzigen, die das Miau-Fest genießen können," sagte Isis. Mit
ein paar Krallenbewegungen installierte die Katze den eingebauten Nuklear-
Schutzschirm.
"Die Menschen müßten jetzt angekommen sein. Hoffentlich," meinte sie.
Beide ließen sich entspannt in die Langsitze sinken, die sich an der Oberfläche
der Wolke herausgebildet hatten.
"Meinst du, sie halten die Strahlung aus?" redete die Katze weiter.
"Sicher. Die Getränke, die ich ihnen mitgegeben habe, sind mit Tscherno X
versetzt. Deshalb werden sie auf jeden Fall überleben, falls sie klug genug sind,
dem konventionellen Schlagabtausch aus dem Weg zu gehen."
"Glaubst du, sie haben verstanden, was sie vorhin in der Glaskugel gesehen
haben?"
"Sicher nicht. Das intelligenzsteigernde Gas im Raum dürfte bei ihren Gehirn-
strukturen wohl kaum ausgereicht haben dafür. Aber wenigstens haben sie jetzt
eine Ahnung davon bekommen. Ich will nur hoffen, daß sie sich nicht für er-
leuchtet halten und noch so eine lächerliche Sekte gründen. Der Mann mit dem
Rinderfell über dem Oberkörper hatte so einen fanatischen Blick, weißt du."
"Du meinst den Kerl mit der Lederjacke? Der ist eigentlich harmlos. Da! Es
geht los!"
Am Himmel zerbarst eine riesige Leuchtrakete. Zuerst war dort ein
gleißender Blitz, der die beiden Katzenartigen veranlaßte, die Augen zu
schließen. Die Katze fauchte kaum hörbar vor Mißfallen. Dann leuchtete ein
helles gelbes Licht, das seine Farbe allmählich zu immer dunklerem Rot
wechselte. Das Leuchten wurde immer blasser, aber nicht etwa, weil die
Strahlung nachgelassen hätte, sondern weil sich ein riesiger Staubpilz wie eine
Glocke von oben auf das Licht herabsenkte. Hätten sie direkt darunter
gestanden, wäre es ihnen vorgekommen, als ob der Himmel wie lauter
Pergamentrollen nach allen Seiten weggerollt würde, und diese Beschreibung
findet sich tatsächlich in einem auf dem Planeten Terra weitverbreiteten Buch.
Die Katzen jedenfalls waren froh, nicht direkt darunter zu stehen, denn als sie
nach wenigen Minuten die Druckwelle der ersten Nuklearexplosion erreichte,
brachte diese ihre Wolke selbst bei der großen Entfernung noch gehörig ins
Schaukeln. Aus dem Staubpilz begannen kleine Blitze zu schießen.
Drei weitere Raketen stiegen in die Luft. Die Feliden drehten sich weg, bis
das grelle Licht der Blitze abebbte. Einer der Sprengsätze hatte wieder die
gleiche Farbe wie der erste, ein sattes Gelb, das zu rot wechselte. Die anderen
beiden jedoch waren von einem strahlenden, satten Dunkelgrün, das ganz
allmählich blasser wurde. Isis ließ ein Zischen vernehmen.
"Ultraran-339. Diesmal treiben sie es wirklich zu weit," fauchte sie wütend.
"Das Zeug ist so tödlich, daß der Fallout sogar manche von den Malakok um-
bringt. Diese blöden Hunde!"
"Aber hübsch sieht es trotzdem aus," bemerkte die Katze. "Hoffentlich tötet
es unsere Menschen nicht allzu sehr."
Jetzt raste eine Rakete nach der anderen in den Himmel. Eine Zeitlang blitzte
es ununterbrochen. Außerdem wurde die Wolke durch die vorangegangenen
Explosionswellen heftig geschüttelt. Selbst als die Blitze vorbei waren, war es
noch so hell, daß sich die Pupillen der Katzenartigen zu schmalen Schlitzen
verengten.
Gigantische Staubmassen fegten über die Ebene; trotzdem war es heller als
mittags auf dem Planeten Merkur. Das Spektrum des sichtbaren Lichts war in
voller Pracht vertreten, von sterbensviolett bis todrot konnte man alle Farben
sehen, und diese in allen Schattierungen. Das Schauspiel dauerte einige Minu-
ten, während derer die Druckwellen ständig stärker wurden, dann gewannen
die Sandstürme die Oberhand und verdunkelten den bunten Himmel.
Die Katze schaltete den Materie-Schutzschirm ein, als die Winde zu heftig
wurden. Dann hißte sie eine elektronische Flagge. Nachdem sie den Breitband-
Peilsender aktiviert hatte, drehte sie sich auf die Seite und rollte sich zu-
sammen.
"Gute Nacht," sagte sie zu Isis. Isis antwortete nicht. Wie eine Statue saß sie
auf dem Rand der Wolke und blickte Richtung Huttington.

Vorsicht vor den Malakok


Aus dem "Lexikon für metaphysische Biologie", Kapitel "Gespenster, Gewürm
und widerliches Gewusel":
"Malakok. Widerliches Fluggewusel. Ein Rudeltier, das auf den Nachtseiten
fast sämtlicher bewohnter Planeten zuhause ist. Verträgt weder körperliche
Wärme noch Sonnenlicht. Ernährt sich von toten Mäusen, lebendigen Seelen
und Artgenossen. Farbe: schwarz. Ihre Körperform läßt sich am ehesten als
schmierige, fette Masse mit Flügeln beschreiben. Malakok beherrschen fast alle
Formen der Kommunikation, sofern sie destruktiv sind. Sie tauchen nie allein
auf, was an sich schon schlimm genug wäre, sondern in meist riesigen Rudeln,
die alle Seelen fressen, die ihnen in den Weg kommen, es sei denn, die Seelen
haben das Glück, daß massenweise tote Mäuse herumliegen oder daß die
Malakok zu intensiv damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu fressen. Eins
der ungelösten Rätsel über sie ist, warum sie sich nicht schon längst selbst
ausgerottet haben (zu diesem Thema s.a. unter Humanoide auf Sol-III/Terra).
Wenn sie sich von Seelen ernähren, bauen sie das Schlechte der Seele in ihre
Körpermasse ein, während das Gute ziemlich unappetitlich verdaut wieder
ausgeschieden wird.
Bei Begegnungen mit Malakok empfiehlt es sich je nach Stammeszugehörig-
keit, 1. das Vaterunser zu beten (nützt nichts), 2. sich heulend und zitternd so-
weit wie möglich zu verkriechen (nützt auch nichts) oder 3. sich aller verfügba-
ren Waffen zu bedienen, die man gerade bei sich hat (nützt überhaupt nichts).
Eine weitere Möglichkeit ist natürlich, massenweise Mäuse zu schlachten, aber
das setzt zwangsläufig voraus, daß man gerade massenweise Mäuse zur Hand
hat."

Die Party ist vorbei


Sezana und Paul schauten sich in die Augen, als wären ihre Augen das
Einzige, was es auf der Welt gäbe. Paul sah in ihren grünen Augen die ganze
Weite des Universum, Leere und Fülle zugleich. Sein ganzes bisheriges Leben
war in seinem Kopf, und doch dachte er zugleich an überhaupt nichts. Eine
Welle der Wärme durchflutete seinen Körper. Er fühlte, wie ihr Blick durch seine
Augen in seinen Kopf drang, dann den Hals hinab in seine Brust und bis in
seinen Bauch, wo er hängenblieb und eine weitere Wärmewelle auslöste, die
ihn bis in die Fingerspitzen durchflutete. Gleichzeitig fühlte er, wie er in ihrem
Körper war und dort so ziemlich dasselbe machte, wenngleich sein Blick in ihr
erst etwas weiter unten hängenblieb. Sezana fühlte, wie sie gleichzeitig
vollkommen in sich ruhte und vollkommen in Paul war. Hätten sie mehr Zeit
gehabt, hätte ihr ihr Intellekt wohl verraten, daß das ein Paradoxon wäre, und
Pauls Intellekt hätte sich wohl auch leicht gewundert. Aber nach einer Ewigkeit,
die zehn Doppelsekunden gedauert hatte, zerrte sie etwas in die Realität
zurück. In Pauls Fall hieß die Realität Ian.
"Ab hinter die Mauer!" schrie er ihn an. In seiner Stimme schwang eine
panikartige Angst, während er Paul an der Jacke zu den Resten eines großen
Gebäudes zog. Erstaunt stellte Paul fest, daß er sich während des langen Blicks
der Springschuhe entledigt hatte.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Sie waren gerade hinter der
Grundmauer des Gebäudes angelangt, wohin sich auch Boko, Jeer und die
anderen geflüchtet hatten, als ein gleißender Blitz den Himmel erleuchtete.
"Schau nicht hin!" schrie Percy zu Sej herüber, der Anstalten gemacht hatte,
nach oben zu sehen. Alle hielten ihre Blicke gesenkt, und was sie dort sahen,
war erstaunlich genug.
Die meisten der Personen, die auf dem großen Platz versammelt waren,
hielten es anscheinend für völlig überflüssig, sich vor der Strahlung zu
schützen. Hundeartige jeder Form und Größe sprangen wie besessen mit den
Vorderpfoten in die Luft und drehten sich im Kreis, was wie ein Tanz von
Gespenstern aussah, da man im Röntgenlicht fast nur ihre Skelette erkennen
konnte. Dazwischen und darüber hüpften und flogen einige Rieseninsekten. Ihr
weißes Blut strahlte wie im Schwarzlicht durch ihre Trachäen, während sich ihre
Flügel scheinbar im Gleichtakt mit den Antennen etlicher gewöhnlicher grüner
Außerirdischer drehten. Alle Besucher des Festes waren völlig aus dem
Häuschen. Nur die paar Japtiden, die bis jetzt überlebt hatten, spähten
vorsichtig hinter Mauerresten hervor, um jede Szene mit ihren AlphaMoritz-
Rekordern einzufangen. Sie wollten nichts verpassen, und das hieß für sie,
nichts ungefilmt lassen. Morgen schon würde sie der Transgalaktik-Jet wieder
zurück in die Fabriken bringen, in denen sie lebten.
Dann folgte ein Geräusch, als hätte Gott tief eingeatmet, aber die
Druckwelle, die Percy befürchtet hatte, blieb aus. Lediglich ein Windhauch war
zu spüren. Während der folgenden Explosionen fielen auf dem Platz etliche
Caniden und andere tot um, wurden aber sofort durch Überdosen
psychodelischer Drogen wiederbelebt. Das wiederholte sich in regelmäßigen
Abständen, so daß es zum Schluß wohl niemanden dort mehr gab, der nicht
mindestens einmal gestorben wäre. Von den Caniden gab es nur eine Gruppe
Bernhardiner, die nicht wie toll herumwirbelten, sondern genüßlich ein
Rumfäßchen nach dem anderen ausschlürften und sich in den Strahlen
sonnten. Es machte ihnen anscheinend auch nichts aus, daß andauernd
jemand auf ihre Pfoten und Bäuche trat. In dem Donnern der Nukleargranaten
war das Krachen der konventionellen Munition nicht mehr zu hören, und als die
Wellen der letzten Explosionen verhallten, stellte Percy überrascht fest, daß es
aufgehört hatte.
Die letzten Lebewesen auf dem Platz, die noch tanzten, torkelten langsam zu
Boden, wobei sie so heftig halluzinierten, daß selbst Percy und die anderen die
Bilder ihrer Trips sehen konnten. Es waren hauptsächlich grüne und gelbe Zello-
phan-Blumen, die sich über ihren Köpfen auftürmten. Das Mädchen mit den Ka-
leidoskop-Augen war bereits gegangen. Ihr Name war übrigens Lucy, aber das
tut nichts zur Sache. Gott atmete noch einmal tief ein und aus, dann war es
vollkommen ruhig. Das Licht von Draculix leuchtete gespenstisch durch die auf-
kommenden Sandstürme.
Hansi nahm eine Flasche Gins aus seinem Patronengurt und öffnete sie mit
dem Feuerzeug. Dann leerte er sie in einem Zug. Sezana trat aus dem Schatten
der Mauer hervor und lief wie in Zeitlupe zu Paul hinüber, der gerade erstaunt
feststellte, daß er damit beschäftigt war, sich die Springschuhe anzuziehen. Ian
fand in seiner Jackentasche eine volle Dose Pfefferminzdragees, kippte sie alle
auf einmal in seine Hand und schluckte sie herunter. Sie waren kleiner als die
üblichen Dragees und schmeckten auch überhaupt nicht nach Pfefferminz. Das
war nicht weiter verwunderlich, denn wenn er nicht so verwirrt gewesen wäre,
hätte er sich daran erinnert, daß er in dieser Dose immer seine Trips aufbe-
wahrte.
Wolstriet hatte in einem Winkel eine halbvolle Kiste Gins gefunden und kam
damit zu den anderen herüber. Er warf den Känguruhs welche zu und reichte
Sej eins, während sich Percy bereits selbst bediente. Hirana stand an die Mauer
gelehnt und trank Sezanas zelotischen Sekt. Paul und Sezana waren die
einzigen, die nicht immer noch breiter wurden. Sie knieten sich gegenüber,
wobei sich ihre Hände berührten, und machten nichts anderes als sich
anzusehen. Alle hörten mittlerweile, daß es nicht wirklich vollkommen ruhig
war. Ihre Trommelfelle fingen wieder an zu funktionieren. Überall um sie herum
war das Knistern ersterbender Flammen in den Ruinen zu hören, das sich mit
dem erschöpften Hecheln der herumliegenden Caniden und dem bewußtlosen
Röcheln der Rieseninsekten mischte.
Es war ein Bild der Stille und des Friedens wie nach jeder gelungenen Party.
Boko und Jeer saßen Ärmchen in Ärmchen und tranken brav ein Gins nach dem
anderen, Hirana hatte sich gesetzt und duschte sich mit dem zelotischen Sekt
(zelotische Sektflaschen werden aus unerfindlichen Gründen nie leer), während
Percy, Sej, Ian und Wolli um den Kasten Gins herumsaßen und aneinander vor-
bei ins Leere starrten. Über ihren Köpfen war eine gemeinsame Gedankenblase
zu sehen, in der stand "'n bißchen wenig Frauen hier ...".
Leo Galoppi torkelte sturzbetrunken an der Gruppe vorbei auf der Suche
nach dem Rückweg zu einem Zuhause, das es nicht mehr gab. Er hatte sie
überhaupt nicht wahrgenommen. Glücklicherweise hielten sich die Malakok
vom Stadtzentrum fern, weil in den Außenbezirken massenhaft tote Mäuse her-
umlagen, die von den Explosionen zerfetzt worden waren oder Selbstmord be-
gangen hatten. Auf den Trümmern eines hohen Gebäudes saß eine große
Katze, die in den blasser werdenden Schein des Mondes blickte. Sie kon-
zentrierte sich und sagte dann laut "Miau".
Damit war der letzte Teil des Fests eingeläutet.

Das Ende ist der Anfang


Der Mittelpunkt aller Galaxien liegt genau im Zentrum des Universums.
Daher wäre er eigentlich einfach zu lokalisieren, gäbe es da nicht eine
unglaublich kompliziert zu erklärende Unschärferelation zwischen Zeit und
Beschleunigung. Das Ganze hat entfernt etwas mit der Relativitätstheorie zu
tun, wenngleich auch einige verrückte Dimensionsbezeichnungen darin
vorkommen, die jeder Physiker als unwissenschaftlich ablehnen würde. In der
Bibliothek eines verschollenen Planeten, die seit über zwei Billionen Jahren
wegen Inventur geschlossen ist, existiert sogar eine Formel zur Berechnung der
galaktischen Breite, Länge, Höhe, Tiefe und Schönheit dieses schwer
bestimmbaren Ortes, die Gerüchten zufolge lautet: "Teile die Quadratwurzel
eines beliebigen Baumes durch die Anzahl seiner Blätter/Nadeln und
multipliziere das Ergebnis mit der Anzahl deiner Körperhaare. Das Produkt
ergibt die Entfernung in galaktischen Meilen von deinem jetzigen Standort, und
zwar genau in die Richtung, in die du gerade schaust." Kritische Geister werden
sofort bemerken, daß diese Angabe einigermaßen subjektiv zu sein scheint;
wer sich davon überzeugen will, daß die Formel strengen wissenschaftlichen
Maßstäben genügt, sollte sich den entsprechenden Eintrag im
extramaristischen Spektroskop am Boden von Sflng Krzm Krzn Pflpfl ansehen
(gute Taucher haben dazu die besseren Chancen).
Genau dort hielt sich im Moment jemand auf, der mit Fortbewegung jeder Art
(so auch mit Tauchen) überhaupt keine Probleme hatte. Dieser Jemand war von
zweifelhafter Form, zweifelhaftem Geisteszustand (schizophren wäre eine
passende Bezeichnung gewesen) und unzweifelhafter Farbe: blau. Er saß oder
stand oder lag oder wie auch immer man es bezeichnen will vor einem der
vielen fluoreszierenden Ringe und besah sich oder behorchte oder betele-
pathierte die Informationen über das Zentrum des Universums.
Der blaue Nebel hatte inzwischen nämlich den Objektcode des Rettungspro-
gramms, das zu seiner Entstehung geführt hatte, analysiert. Praktischerweise
hatte das Programm die Koordinaten der verschollenen Ebene 5 gespeichert, so
daß gute Aussichten bestanden, die zersprengten Reste wiederzufinden und die
Ebene in mühsamer Kleinarbeit wieder zu installieren. Sofern es dem blauen
Nebel gelingen würde, das Zentrum des Universums zu lokalisieren. Denn un-
praktischerweise hatte das Programm die Koordinaten vom Zentrum des Uni-
versums aus gerechnet abgelegt.
In dem Ring des Spektroskops erschien eine Mitteilung, die in menschliche
Sprache übersetzt ungefähr Folgendes ergab: "Sollten sich bei der Berechnung
Schwierigkeiten ergeben, hier die Telefonnummer Gottes: 3. Die Vorwahl ist
sehr lang und konnte aus Platzgründen nicht mit aufgenommen werden. Ein
Vorwahl-Verzeichnis befindet sich in der Zentralbibliothek von Desaster
Magnus, die zur Zeit wegen Inventur geschlossen ist und ca. zwei Millionen Jah-
re vor dem Endplumps wieder öffnet. Ende."
"Ende," dachte auch der blaue Nebel. "Solange kann ich nicht warten."
Ein transatlantischer Barrakuda kam vorbeigeschwommen und grinste. Die
Gedanken und die Farbe des Nebels regten seinen Appetit an. Er schoß mit
weitgeöffnetem Maul auf ihn zu. Präzis schlug er seine messerscharfen Zähne
in den unförmigen Körper. Wer schon einmal versucht hat, Bier zu beißen, weiß,
wie schmerzhaft das sein kann. Die Zahnreihen des Fisches krachten aufein-
ander, ohne daß er etwas im Maul hatte. Da nichts seinen Ansturm gebremst
hatte, schoß er durch den Spektroskop-Ring hindurch und krachte gegen einen
dahinter aufragenden Felsen.
Benommen drehte der große Fisch um und starrte den blauen Schatten an,
der dahing, als wäre nichts geschehen. Seine Nase blutete heftig, außerdem
hatte er sich anscheinend ein paar Zähne ausgebissen. Oder aber jemand hatte
Kandiszucker ins Meer geschüttet. Der blaue Nebel beantwortete telepathisch
die Frage, die sich der Fisch gerade stellte. "Erst danach zum Zahnarzt," meinte
er.
Der Barrakuda drehte ab und schwamm zuerst zum Hals-Nasen-Ohren-Arzt.
Als sich die Wogen geglättet hatten, horchte oder telepathierte oder sah der
blaue Nebel an sich selbst herab. "Keine Haare. Verdammt," dachte er. Er
inspizierte die nähere und weitere Umgebung. Nirgendwo ein Baum. Und was
zum Teufel war eine Quadratwurzel? In den Niederungen der Mathematik
kannte er sich seit etlichen Milliarden Jahren nicht mehr aus.
"Dann bleibt nur noch die andere Möglichkeit," dachte er. "Wie
unsympatisch."
Resigniert begann der Nebel sich aufzulösen. Ganz, ganz langsam (der ge-
samte Prozeß würde, wie man später wußte, nahezu ein Jahrhundert der Zeit-
rechnung dieses Planeten dauern) verteilte er sich in die Gehirne der auf-
nahmebereitesten Rasse dieses Planeten, der Humanoiden, die sich Menschen
nannten. Diese hatten gerade ein Elektronengehirn mit Namen ENIAC gebaut,
groß wie ein Wohnzimmer, das bereits die Addition zehnstelliger natürlicher
Zahlen durchführen konnte. Hundert Jahre später besaßen sie einen Superrech-
ner, klein wie eine Streichholzschachtel, der in Windeseile die Telefonnummer
Gottes ausrechnete (inklusive Vorwahl).
Die Gedanken des blauen Nebels wirbelten in einem winzigen Strudel an die
Wasseroberfläche. Dort raste gerade eine Sportyacht durch die blauen Wasser
der Ägäis. Im Heck saß ein braungebrannter Mann, angeschnallt in einem
Sporttaucherstuhl, und kämpfte darum, die Angelleine einzuholen.
"Unglaublich!" rief er aus, als er den dicken Brocken eingeholt hatte. "Ein
Barrakuda im Mittelmeer!"
Übermorgen, wenn das Flugzeug ihn wieder nachhause gebracht hätte,
würde er stolz seinen beiden Ärztekollegen davon erzählen, mit denen er
gemeinsam eine Hals-Nasen-Ohren-Praxis betrieb.

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