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Die Wette
Nachrichten im Subkanal der Ebenen 4/5: Parameterübertragungen unkon-
trolliert impliziert Rückwirkungen in Kontinua-Aspekten ergo kontinuierlich dis-
relevant. Damit sollte jetzt dem letzten Programmierer der Subebene 10a klar
sein, daß DIE WETTE verloren ist! Wir bitten, die Begleichung der dadurch ent-
standenen Schuld am Buß- und Bettag diesen Jahres vorzunehmen. Haha! Hu-
hu. Hehehe! Höhöhöh. Hihi.
Fahren lernen
Sej spielte eine Weile auf dem Bildschirm herum. Die Informationen, die dort
erschienen, und die phantastischen Möglichkeiten, die dort angedeutet waren
(in Wirklichkeit war das der eher trockene Ebene-10a-Standard nach der ESN
C2-007), brachten ihn in eine Art euphorischen Rauschzustand. Daher dachte
er vorerst gar nicht daran, sich für irgend etwas zu entscheiden, sondern ließ
sich von einer Menüleiste in den nächsten Unterordner und eine weitere Menü-
leiste von etwas, das ein Unterprogramm zu sein schien, in eine dreidimensio-
nale Farbgrafik hineintragen, die Walt Disney's Trickfilmexperten als blasse
Stümper hätte dastehen lassen. Der Effekt war dermaßen überzeugend, dap
Sej sogar versuchte, in den Monitor hineinzufassen, was zu seiner Überra-
schung möglich war: Er konnte den momentan dargestellten Planeten (die
ätherische Version eines Gasplaneten am Rande der 10a-Ebene) mit den
Fingern berühren, seine Konsistenz ertasten, fühlen, wie kalt er war, ihn drehen
und sogar eindellen (hätte er sich bereits besser mit Simulationen ausgekannt,
hätte er auch mit dem Planeten sprechen können). Er konnte auf bestimmte
Punkte zeigen und dazu wiederum Menüleisten aufrufen, die andere Grafiken
vor, hinter, oder, fast durchsichtig, in den Monitor stellten, und er war so fas-
ziniert von diesen Möglichkeiten, daß er erst wieder daraus auftauchte, als sei-
ne Katze miaute.
Sej schaltete die diversen Grafiken und schriftlichen Informationen mit einem
Tastendruck ab und kraulte die Katze hinter den Ohren. "Wollen wir mal sehen,
was der Schlitten sonst noch so kann?" fragte er sie, und sie gab ein Miauen
von sich, das Zustimmung andeuten sollte. Sej schaltete den Monitor wieder
ein und ging auf "Run", was bewirkte, daß ihm eine verwirrende Anzahl von
Optionen zur Steuerung der Wolke angeboten wurde. Er wählte "Handsteue-
rung" und klickte bei "Mit wieviel Händen? Eins/zwei/drei/vier/Anzahl frei und
stufenlos einstellbar" "eine Hand" an, dann aktivierte er noch vorsichtshalber
die "Anfängerstufe mit zugeschalteten Hilfsprogrammen".
Jetzt erschien an der Stelle der Tastatur ein Schalthebel, der nichts ähnlich
sah, was man auf der Erde einsetzte, um Maschinen zu bedienen: Es war ein
Griff in der Form eines platten, umgedrehten U, der entlang einer Achse vor
und zurück bewegt werden konnte, wobei man den ganzen Teller, auf den er
montiert war, auch drehen sowie nach vorn und hinten kippen konnte. Trotz
dieser vielen Freiheitsgrade konnte man komfortabel damit umgehen, da sich
der Gegendruck genau den beabsichtigten Aktionen anpaßte, so daß man
beispielsweise in einer Rechtskurve nicht zu weit oder zu schnell nach rechts
drehte. Ein Drücken des U-Griffs nach vorn bewirkte Beschleunigung, je stärker,
desto schneller. Genauso bewirkte ein Zurückziehen Abbremsung. Das Kippen
des Tellers führte zu veränderter Flughöhe.
Sej war noch damit beschäftigt, vorsichtig die verschiedenen
Steuermöglichkeiten auszuloten, als er vom Monitor gefragt wurde: "In wieviel
Dimensionen möchten Sie reisen? Stufenlos einstellbar von 0 bis 5,3." Sej
stellte fürs Erste auf 3,0, was aber zu einem ziemlich verrückten Gehopse
führte, wobei immer nur ganz kurz die merkwürdigsten Umgebungen zu sehen
waren, bis Sej die Zeit in den Sinn kam und er auf 4,0 erhöhte, was ihn wieder
in die gewohnte Umgebung zurückbrachte. Ganz vorsichtig erhöhte er dann auf
4,1. Nichts schien sich zu verändern, auch nicht, als er bis auf 4,3
hochgeschaltet hatte. Dann aber, bei etwa 4,5, passierte etwas Komisches:
Wenn man die Zeit hören könnte, Sej hätte geschworen, daß sie gerade
gedonnert hätte. Dann war plötzlich der Steuergriff verschwunden, und er
wurde durch eine unglaublich starke Beschleunigung in den Sitz gepreßt. Er
konnte gerade noch den Kopf drehen und sah, daß die Katze die Ohren
angelegt hatte und sich so tief es ging in ihren Sitz drückte. Dann
verschwanden die Wolken unter ihnen, die Sterne und der Mond waren wie
weggewischt, und sie zischten mit immer noch zunehmender Geschwindigkeit
durch ein vorbeirasendes schwarzes Nichts.
Gesellschaftsspiele
Seine Freunde waren zwar heute ganz besonders schweigsam, dennoch
genoß es Titus, wieder einmal unter Menschen zu sein. Titus war
Programmierer und einer der wenigen Spezialisten, die sich mit SIXTHSENSE
2.0 auskannten, einer Anwendung, die es erlaubte, hyperrationale
Datenbanksysteme mit Hilfe von ADATALK, einer sehr verbreiteten
Programmiersprache, zu bearbeiten. Titus war einer der Handvoll Leute
gewesen, die SIXTHSENSE konzipiert hatten; und wie die anderen der Gruppe
rechnete er fest mit einem der nächsten Nobelpreise für Nichtlineare
Informatik. Wie beinahe immer, wenn er und seine Freunde sich trafen, spielten
sie GAME.S.WITCH, das seit über drei Jahren die Hitliste der elektronischen
Freizeitvergnügungen anführte.
Sie spielten zu dritt, und Michael war am Zug. Auf dem Pseudo-3D-Monitor,
der wie eine halbrunde Projektionswand aussah, in deren Center die drei in
gemütlichen schwarzen Kunstledersesseln saßen, rollte der elektronische
Würfel größer werdend in die Bildmitte. Der Zufallsgenerator hatte Michael mit
einer 14 bedacht. Er verzog das Gesicht ohne eine Lautäußerung und rückte
seinen elektronischen Spielstein mit der Redisc 14 Felder weiter. Percy, der ihn
beobachtet hatte, zeigte fast so etwas wie ein Lächeln. Die Runde würde heute
mit fast 90%iger Wahrscheinlichkeit an ihn gesehen, wie er befriedigt dem
Display seiner Redisc entnahm. Am liebsten hätte er den anderen das
verkündet, aber er fand Sprechen allgemein 'definitiv indiskret'(Titus, der älter
war als Percy, meinte, 'Quatschen sei uncool').
Michael war auf Haunted House gelandet und öffnete das erste Bild. Sein
Blick wurde starr wie üblich, als er sich zurücklehnte und in die Projektionen
rutschte. Das Einzige, woran man in den nächsten Minuten erkennen konnte,
daß er noch bei Bewußtsein war, war sein unaufhörliches Schalten mit der
Redisc. Seine Augenlider klappten nicht ein einziges Mal, aber wenigstens seine
Finger bewegten sich. Für den Spieler, der gerade dran war, stellte sich das
Spiel durch Rückkopplungen auf seine Redisc, die magnetisch auf das
Nervensystem einwirkten, fast wie die Realität dar (THE GAME, die
GAME.S.WITCH vertrieben, gaben einen Overlap von sensationellen 98% an),
während es für die Mitspieler eher wie ein Spielfilm war. Kids, die versucht
hatten, diese Funktion zu cracken, um für alle Spieler den gleichen hohen
Overlap zu erzielen, waren, wenn es ihnen geglückt war, zumeist mit ihren
bedauernswerten Mitspielern in den staatlichen Irrenanstalten gelandet,
woraufhin THE GAME gezwungen wurden, extrem komplizierte (und extrem
teure) Sicherheitsvorkehrungen einzubauen. Aber es gab immer noch das
Problem der Kopien gecrackter Spiele, die auf dem Schwarzmarkt waren, und
von dort für den Nachschub frischer Mädhäusler sorgten.
Titus zündete sich eine Zigarette an. Während er Michaels Spiel zusah,
dachte er an seinen letzten verrückten Soloeinsatz auf N-LAB 2010-09, einer
Raumstation, die geostationär 20000 Meilen über der Mondoberfläche stand. Es
handelte sich um eine eher kleine Verwaltungsstation, die die Flugkoordination
US-amerikanischer Lastfähren zur Aufgabe hatte, die vom Mond zur Erde
flogen, beladen mit Rohstoffen, oder zu anderen Raumstationen, oder
(seltener) zum Mars. N-LAB 2010-09 hatte eine Besatzung von 5 Leuten (oder
vielmehr: hatte eine Besatzung gehabt), und lief wie die meisten Stationen
autonom gesteuert. Diese Steuerung hatte in einem Anfall von Hyperlogik das
Luftgemisch der Station derart kostengünstig optimiert, daß die Besatzung
knapp zwei Stunden später tot war. Titus' Job war es nun gewesen, dem neuro-
nalen Computer schonend beizubringen, daß er einen schwerwiegenden Fehler
gemacht hatte, und herauszufinden, wie um alles im Weltall die Maschine auf
den Gedanken gekommen war, an Systemen herumzumanipulieren, die fest
eingestellt und mit dem Vermerk "NIEMALS ÄNDERN" versehen waren.
Diese Arbeit hatte ihn unerwartet volle fünf Wochen auf der Station
festgehalten, da der Neuronalrechner nach Titus' Mitteilung dermaßen beleidigt
war, daß er sich weigerte, sich softwaremäßig über Funk ansteuern zu lassen.
Titus sah sich gezwungen, Teile des Rechners abzuschalten, und von da an war
es klar, daß er wenigstens bis zur Grundlösung des Problems auf der Station
würde bleiben müssen. Bis er die Luftversorgung und die anderen
Lebenserhaltungssysteme wieder in Ordnung gebracht hatte und sicher war,
daß sie diesmal dem Zugriff der Maschine entzogen waren, hatte er zu allem
Überfluß im Raumanzug arbeiten und schlafen müssen. Aus Kostengründen
waren die Leichen der Besatzung erst drei Tage nach seiner Ankunft (er war mit
seinem privaten Gleiter hingeflogen) von einem planmäßigen
Personaltransporter abgeholt worden, und obwohl Titus nicht abergläubisch war
und er sie alle in eine Mannschaftskabine gestopft hatte (da die Leichenstarre
eingetreten war, eine unschöne Angelegenheit), hatte ihn ein Vorfall in der
ersten 'Nacht' (als was er seine Schlafzeit etwas unpassend bezeichnete)
einigermaßen aus der Ruhe gebracht.
Er war gerade eingedöst, als er von einem knarrenden Geräusch geweckt
wurde. Das Glas seines Helmes war etwas beschlagen, und das Surren des Lüf-
ters, den er anschaltete, machte für einen Moment die Wahrnehmung von
Außenlauten unmöglich. Dann aber hörte er dasselbe Knarren wieder, und es
kam eindeutig aus der Kabine, wo er die Toten gestapelt hatte. Kurzent-
schlossen ging Titus dorthin und öffnete die Tür. Bei dem Anblick zuckte er zu-
sammen, ein würgendes Gefühl umklammerte seine Kehle und er fiel flach
nach hinten um. Er mußte für einen Moment das Bewußtsein verloren haben,
und als er wieder zur Tür sah, war er froh, schon am Boden zu sein: Eine Leiche
hatte sich aufgesetzt und starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Titus Arme
und Beine fingen an, unkontrolliert zu zittern.
Als eine Weile nichts weiter passiert war, nahm Titus allen Mut zusammen
und trat mit einem Bein gegen die Tür, um sie zu schließen. Sie knallte auch in
den Rahmen, wurde aber sofort wieder geöffnet, und zwar durch die Leiche, die
nach vorn gekippt und gegen die Tür gefallen war. Der Tote, der als oberster auf
den anderen gelegen (oder vielmehr gesessen) hatte, machte einen merk-
würdigen Purzelbaum aus der Tür heraus, knallte mit dem Kopf zuerst auf den
Boden und blieb dort so liegen, als hätte man einen im Sitzen Erfrorenen nach
vorn gekippt. Sein Kopf war jetzt direkt vor Titus' Helm, aber diesmal war Titus
im Handumdrehen auf den Beinen und rannte, so schnell er konnte, zum Video-
Terminal. Als er sich umdrehte, bemerkte er keine Veränderung der Szenerie.
Wenigstens schienen die Leichen ihn nicht zu verfolgen.
Nach einigen Gesprächen über Spacewatch, den interplanetarischen Kanal,
mit desinteressierten Technikern, nach jeder Menge Flüchen und
Beschimpfungen, die ihm wieder etwas Mut machten, gelang es ihm, mit einem
kompetenten Menschen Kontakt aufzunehmen. Der nette ältere Mann war
Psychologe und Mediziner und erklärte ihm vollkommen ruhig, daß das, was
Titus eben erlebt hatte, eine völlig normale Erscheinung sei, die durch
Zersetzungsprozesse in der Leiche hervorgerufen wäre. Am Ende des
Gesprächs brachte Titus es sogar fertig, den Toten wieder in die Kabine
zurückzustopfen und die Tür sorgfältig zu verriegeln. Der Psychologe hatte ihm
die Nummer von RENT-A-PSYCH gegeben, und den Rest der Nacht verbrachte
Titus damit, sich von einem Psychologen vom Krisen-Service detraumatisieren
zu lassen, zum horrenden Stundensatz von $ 2000 plus der Spacewatch-
Gebühren.
Den Betrag schlug er natürlich auf die Spesen. Am Ende seines Jobs
präsentierte er der Betreiberfirma des N-LAB eine Rechnung, die dem jungen
coolen Manager der Finanzabteilung schier die Sprache verschlug. Titus konnte
sehen, wie dem Krawattentypen die Tränen in die Augen stiegen, während er
vorrechnete, daß die Firma davon beinahe drei neue Stationen gleicher Größe
im All hätte stationieren lassen können. Titus hatte schulterzuckend darauf
verwiesen, daß sie ja wenigstens keine zusätzlichen Kosten für den Lei-
chentransport gehabt hätten, und machte sich auf den Weg zu seinen
Freunden.
Titus war so sehr in Gedanken versunken gewesen, daß er jetzt erst
bemerkte, das Michael 'tot' war (oder, um es in der Terminologie von Haunted
House auszudrücken, ein 'sabbernder Untoter' geworden war). Haunted House
war eins der gemeinsten Unterspiele von GAME.S.WITCH, aus dem man kaum
eine Chance hatte, heil herauszukommen. Auf der Suche nach dem Buchstaben
'S' (ein ganz spezielles 'S', in grün und Sütterlin geschrieben) hatte er den hin-
teren Teil der heimgesuchten Hauses betreten, der erstaunlicherweise einem
Bürogebäude der 1940er Jahre ähnlich gesehen hatte, und der in einem völlig
heruntergekommenen Zustand war. Dort war er in eine obere Etage gestiegen
und hatte Zimmer 31 betreten. Er hatte versucht, dort das Licht einzuschalten,
aber die Glühbirnen waren wohl von früheren Besuchern entfernt worden. Er
hatte festgestellt, daß er mit einem Mal einen Topf schwarzer Lackfarbe in der
Hand hatte, was ihm als ein böses Omen erschien. Er hatte das Fenster in der
Ecke des Raums geöffnet und den Farbtopf hinausgeworfen, der in einem
verwilderten Hintergarten aufschlug.
Der Raum war fast leer, und Michael dachte daran, diesen Teil des Hauses
möglichst flott zu verlassen, da ihn ein ungutes Gefühl überkam. Als er die Tür
öffnen wollte, hielt irgend etwas sie zu. Schließlich schaffte er es doch, sie auf-
zudrücken, und er rannte in Panik ins Treppenhaus und hinunter in die Etage,
wo er diesen Teil des Hauses betreten hatte. Oder vielmehr bis fast dorthin hin-
unter. Auf einem der letzten Treppenabsätze stand eine traurige Gestalt, die ein
bekannter Videodesigner entworfen hatte, dem die Klatschblätter nachsagten,
er befasse sich in seiner Freizeit intensiv mit schwarzer Magie (wie oft bei
Klatsch, zielte das haarscharf neben die Wahrheit: in Wirklichkeit ließ er sich
seine krankhaften magischen Experimente von THE GAME fürstlich als Arbeits-
zeit entlohnen).
Die Gestalt war etwa 2,50 Meter groß und trug zerlumpte Kleidung, die
hervorragend zu seinem zerlumpten Körper paßte: Dieser bestand aus wenig
mehr als Knochen mit einigen Fetzen Haut und Fleisch daran, riesigen
glühenden Augäpfeln und einer guterhaltenen Zunge, die lang und feucht aus
den zerklüfteten Resten seines Mundes hing. Michael ergötzte sich nicht lange
an dem Anblick, sondern rannte direkt auf das Un-Wesen zu, das ihm den Weg
versperrte. Er schaffte es sogar, das Monster zur Seite zu stoßen und einige
Schritte weiter die Treppe hinunterzustürzen. Das nützte ihm allerdings wenig,
denn mit einer Parodie von Lachen hob die Gestalt die knochigen Arme und
schleuderte eine Verwünschung in Michaels Richtung. Dieser fühlte sich
plötzlich wie tiefgefroren, seine Beine versagten und er fiel die Treppe hinunter.
Als er auf dem Absatz liegenblieb, fühlte er, daß er sich den Hals gebrochen
hatte. Er blutete heftig aus dem Kopf. Dieser fiel beim Versuch, ihn zu heben,
unnatürlich weit nach hinten, bis auf seine Schulterblätter. Mit beiden Händen
hob Michael ihn an und konnte nun wieder das Monster sehen, das langsam die
Treppe hinab auf ihn zukam. Es streckte ihm seinen rechten Arm entgegen und
murmelte ein einziges Wort: "Willkommen...". Michael fing an zu schreien.
Percy schaltete die Szene mit der Redisc ab. Damit war er der Sicherheits-
automatik etwa eine Sekunde zuvorgekommen, die Szenen immer dann be-
endete, wenn sie zu nachhaltigen Schädigungen der Persönlichkeitsstruktur zu
führen drohten. Auch diese Sicherung hatten THE GAME erst eingebaut, nach-
dem sie von einem Gericht zu einem horrenden Schadenersatz verurteilt
worden waren, den die gesetzlichen Vertreter eines inzwischen entmündigten,
äußerst bekannten Showmasters erstritten hatten, der die Rolle eines 'sabbern-
den Untoten' dermaßen fest in seine Persönlichkeit integriert hatte, daß alle
Therapieversuche zwecklos blieben. Hohn der Geschichte war, daß er später
eine überaus gut bezahlte Anstellung in einer Sendung namens "Zombie's Tal-
kshow" bekam und sich auch sonst sehr am (Nicht-) Leben zu erfreuen schien,
so daß ein Pressesprecher von THE GAME lakonisch bemerkte, daß der Staat
allmählich auch juristisch anerkennen müsse, daß auch unkonventionelle
Persönlichkeitsänderungen Sache des Individuums seien. Dennoch setzte die Fi-
nanzabteilung der Firma durch, daß die Sicherungsautomatik eingebaut wurde.
Michael atmete schnell und heftig. Er nahm sich eine Zigarette und steckte
sie mit zitternden Fingern an. Percy gab ihm ein leicht verächtliches Grinsen
rüber und betätigte die Redisc zum Würfeln. Titus schaute gerade auf seine
Redisc und sah auf deren Display die drei Buchstaben S, E und J. Darauf hatten
sie sich geeinigt. Kurz gesagt bestand der Ablauf von GAME.S.WITCH darin, daß
sich die Mitspieler vor Spielbeginn auf eine Bedingung einigten, die erfüllt
werden mußte. Wer sie als erster erfüllt hatte, war Sieger. In der Wahl der
Bedingung hatte THE GAME den Spielern völlig freie Wahl gelassen: Man konnte
ebensogut vereinbaren, 10 Sahnetorten zu sammeln, wie, das Universum vor
parasitären Kleinstrobotern zu retten (eine Variante, die GAME.S.WITCH für
etliche Leute zum alleinigen Lebensinhalt gemacht hatte). Da die drei Freunde
diesmal nicht viel Zeit hatten, waren sie übereingekommen, Buchstaben zu
sammeln, eben die drei genannten, und damit es nicht zu einfach wäre, sollten
diese in grün und in Sütterlin geschrieben sein. Das war nicht besonders
originell und im Übrigen eine der Standardvarianten, die GAME.S.WITCH für
kurze Spiele vorschlug. Die Buchstabenkombination hatte der Zufallsgenerator
ermittelt.
Die drei Freunde spielten jetzt schon seit 35 Stunden, und Percy hatte bereits
ein E und ein J und war auch noch am Zug, während Titus erst ein E hatte und
Michael noch gar nichts. Darüber hinaus hatte Percy eine clevere Strategie ein-
geschlagen, so daß er jetzt fast sicher sein konnte, in beinahe jedem Unterspiel
eine Bibliothek oder ein Lesezimmer oder zumindest einen Teller Buchstaben-
suppe zu finden, wo er ein grünes Sütterlin S suchen konnte. Bei
GAME.S.WITCH ging es zwar allgemein mehr um den Weg als um das Ziel, aber
wie wichtig der Weg werden kann und wie unwichtig das Ziel, das sollte Percy
erst in den nächsten Minuten lernen. Und manche lernen auf die harte Tour...
Percy grinste. Er hatte eine 8 gewürfelt.
Eine Spielanleitung
Aus der Spielanleitung zu GAME.S.WITCH - DAS ULTIMATIVE SPIEL.
NATÜRLICH VON THE GAME. Herausgegeben von der Marketingabteilung von
THE GAME Corporation C.I.A., Luna City/Hong Kong/Tokyo/New York/Reit im
Winkel. Copyright 2018, all rights reserved bla bla... Copyleft für die Staaten
des ehemaligen COMECON 2019, all lefts reserved bla bla... Copymiddle für die
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Naturholzprodukt Papier wenden Sie sich nicht an uns, sondern die Abteilung
für Altertumskunde Ihrer örtlichen Universität und/oder Ihre örtliche Öko-
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führenden, mittleren und inkompetenten Kader sämtlicher Abteilungen
schließen jegliche direkte, indirekte, ordentliche, außerordentliche, normale
und jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens liegende Haftung sowie
haftungsähnliche und haftungsgleiche oder möglicherweise haftungsähnliche
und haftungsgleiche UWSWSNSHK Tatbestände von vornherein, im Moment und
hinterher absolut, total, völlig und gänzlich aus und ... und (einige Seiten
später, Anmerkung des Herausgebers) danken für Ihr volles Verständnis für
diesen Haftungsausschluß. Vor Inbetriebnahme des Spiel, von Teilen des Spiels,
Teilen von Teilen des Spiels ... (etwa fünf Seiten später, Anm.d.Hrsg.:) etc. (!)
müssen Sie uns eine Bestätigung zukommen lassen ... (auch über die genauen
Formalitäten hiervon etliche Seiten, der Hrsg.), daß sie obigen
Haftungsausschluß gelesen im Sinne des Gesetzes über das Lesen vom
20.1.1999, § 4.2 Ziffer 7 zweiter Halbsatz, haben, und darüber hinaus den
Inhalt (Inhalt nach DIN 66578/a) verstanden ... und akzeptiert ... haben. Da das
Spiel selbst von seiner Struktur her so einfach, logisch konzipiert und
selbsterklärend ist, haben wir darauf verzichtet, Sie mit langweiligen
Vorbemerkungen aufzuhalten. Viel Spaß! Ihre THE GAME-Marketingabteilung
Gefährliches Wasser
Arrgnflrt ließ sich in der Strömung treiben und genoss es, wie das kühle
Wasser um seinen aquadynamischen Körper strich und ihn langsam um seine
Längsachse drehte. Er befand sich mittlerweile in der Magellan-Straße an der
Südspitze Amerikas und war im Begriff, in die Wasser des Atlantik hinauszusch-
wimmen. Diese Gegend wurde von seiner Rasse "Klrt" genannt, eine Bezeich-
nung, die natürlich wieder einen Haufen Information enthielt, aber es war der
Anfang des Reibelauts zwischen dem "r" und dem "t", der dazu führte, daß Arr-
gnflrt plötzlich heftig mit der Schwanzflosse ausschlug. Dieser hatte nämlich
die Bedeutung von "sich periodisch aufgrund von ... (die Erklärung wollen wir
lieber weglassen, sie würde einige Seiten füllen, die nur für Ozeanologen von
unschätzbarem Wert wären) bildender Strudel". Ferner sagte "Klrt" über den
Strudel noch aus, daß er nach humanoiden Maßstäben einen oberen
Durchmesser von etwa 5 Kilometer, eine Tiefe von etwa der Hälfte (das hieß bis
an den Meeresgrund) und eine Drehgeschwindigkeit von 15 Umdrehungen pro
Stunde besaß, was bedeutete, daß das Wasser am oberen Rand eine
Geschwindigkeit von über 200 km/h hatte.
Das war's! Arrgnflrt wackelte heftig mit der Rückenflosse, was etwa dem
humanoiden 'Hand-vor-den-Kopf-schlagen' entspricht. So schnell er konnte (und
er konnte ziemlich schnell) wendete er und schwamm mit aller Kraft in die
Gegenrichtung. Dabei kam er jedoch kein Stück vorwärts, sondern blieb
lediglich auf der Stelle. Der Strudel hatte hier schon einen derartigen Sog, daß
es einem Flugzeugträger schwer gefallen wäre, ihm zu entkommen. Arrgnflrt
begann sich "zn" zu fühlen, eine Art erstauntes Zur-Kenntnis-Nehmen mit
Anzeichen aufkeimender Wut. Soweit er sich erinnerte, hatte er sich noch nie
"zn" gefühlt, und er fühlte schon, wie es zu "znm" überging, als es ihm nicht
gelang, auch nur ein bißchen vorwärts zu kommen. Er brauchte eine Sekunde,
um durchzurechnen, was als nächstes passieren würde, und eine weitere
Sekunde, um sich das vorzustellen. Noch eine Sekunde später fühlte er sich
daher ziemlich eindeutig "znmgrrr...". So hatte er sich noch nie gefühlt.
"Znmgrrr..." beinhaltet zwar unglaublich viel Information, denn es beschreibt
präzise, wie sich einer von Arrgnflrts Rasse fühlt, wenn er völlig unerwartet in
einen Strudel gerät, der ihn letzten Endes in Stücke zerschmettern wird, läßt
sich aber, ohne allzusehr zu vereinfachen, mit "ohnmächtiger Wut" übersetzen.
Arrgnflrt merkte, wie der Strudel ganz allmählich begann, ihn zu besiegen.
Zuerst wurde er nur leicht nach hinten gezogen, dann immer schneller, bis er
schließlich den Widerstand aufgab und sich drehen ließ. Vor sich konnte er jetzt
ein brodelndes Weiß sehen, auf das er mit immer größerer Geschwindigkeit zu-
schoß. Sein "Znmgrrr..." steigerte sich gleichermaßen, biß es weit über die ma-
terielle Ebene hinausreichte. Auf dem ganzen Planeten durchlief die Angehö-
rigen seiner Rasse ein Schaudern, und selbst die für solche Schwingungen un-
sensiblen Humanoiden wurden derart stimuliert, daß sich in den südlichen
Ländern Amerikas die Selbstmordrate in dieser Nacht aus ungeklärter Ursache
verzehnfachte.
Arrgnflrt fühlte das Wasser dichter werden. Er konnte noch etwas seine
Schwimmhöhe korrigieren; momentan schwamm er fünfzig Meter unter der
Oberfläche. Er wollte möglichst weit oben in den Trichter eintauchen. Dann hät-
te er die unter diesen Umständen größtmögliche Zeit zur Verfügung, seine Lage
zu überblicken und zu analysieren, nachdem er in den Trichter eingetaucht
wäre, bevor ihn der Strudel dann unweigerlich nach unten und damit zum si-
cheren Ende seiner materiellen Existenz ziehen würde. Das Wasser wurde jetzt
unerträglich dicht. Arrgnflrt schloß die Augen und spannte alle Muskeln seines
Körpers an, um nicht zerquetscht zu werden. Gleich mußte er die Trichterwand
durchstoßen. Noch immer erhöhten sich seine Geschwindigkeit und der Druck
des Wassers. Er fühlte, wie seine Haut um die Kiemen herum aufzureißen be-
gann. Das tat ziemlich weh, was er aber nicht bemerkte, da er erstaunt war,
daß er in seinen Berechnungen den Wasserwiderstand falsch kalkuliert hatte.
Eine Zehntelsekunde später schoß er durch die Trichterwand in die freie Luft,
mitten hinein in den Trichter. Während er hinausschoß, öffnete Arrgnflrt die
Augen und sah, daß ihn der Schwung satte zwanzig Meter aus dem Wasser
propellerte. Dann begann er zu fallen; und auf was er da zufiel, war zwar
Wasser, aber Wasser, das mit über 200 km/h dahinschoß und so stark kom-
primiert war, daß es nichts geändert hätte, wenn er stattdessen auf eine
kreisende Betonwand gefallen wäre. Arrgnflrt hatte noch eine Sekunde zu
leben. Diese Sekunde verfluchte er, denn sie ließ ihm Zeit, sich die Sekunde da-
nach auszumalen. Daraufhin hatte auch sein Magen noch Zeit, sich einmal zu
drehen. Noch einen Gedanken sandte Arrgnflrt aus, und Gott, der zufällig ge-
rade zusah, hätte schwören können, daß das ein Stoßgebet gewesen war. Dann
kam das Ende.
Ebene 5
Die Ebene 5 wird vom Chaos regiert. Das Chaos ist ein liebenswertes Lebe-
wesen der vierten Ebene mit großen, blauen Augen, die immer ein bißchen
traurig gucken, weil es das Chaos betrübt, daß es nur Verwirrung stiftet, egal,
wo es hinkommt.
Die Ebene 5 ist riesig groß. Wie groß, davon kann sich eine Lebensform der
unteren Ebenen nur eine Vorstellung machen, wenn sie schon einmal zu Fuß
(bzw. zu Saugnapf, zu Huf, zu Springbein, zu Federantenne usw.) von der
östlichen Milchstraße zur Magellangalaxis gelaufen ist. Das ist immerhin über
200 Millionen Lichtjahre weit. Selbst Rollerman, der fanatischste
Rollschuhfahrer des Universums, würde es in der Zeit vom Urknall bis zum
Endplumps nicht einmal schaffen, sie zur Hälfte zu durchqueren. Sie besteht
nicht, wie die unteren Ebenen, aus Ansammlungen von Materieklumpen, die
inmitten von stabilen Magnetfeldern zwischen Unmengen von Nichts hängen.
Die Ebene 5 ist wirklich eine große Ebene, mit sanften Hügeln unter dem
sanften Licht einer nie untergehenden Sonne, die alles bis in den letzten Winkel
sanft ausleuchtet. Allerdings ist die Ebene 5 in sieben Dimensionen gefaltet,
aber das fällt nur auf, wenn man sie von außen sieht (und einige hundert
mehrdimensionale Augen hat). Was aber jedem sofort auffällt, ist eins: Die
Ebene 5 ist unheimlich unaufgeräumt. Sie ist in der Tat dermaßen voller Müll,
daß es selbst den Golgathianern die Sprache verschlagen würde, die von allen
Ökofreaks der unteren Ebenen gehaßt werden, weil sie durch ihre schlampige
Lebensweise schon so manchen Planeten völlig ruiniert hinterlassen haben.
Überall stapeln sich kilometerhoch Computerausdrucke, die die sanften Hügel
bei Weitem überragen. Dazwischen stehen wahllos extrem teure, extrem
leistungsfähige Superrechner, abgewrackte ältere Modelle bis hin zu völligen
Ruinen, deren zerkratzte Monitore ab und zu trübe aufflackern, wenn ihre
abgeschalteten Prozessoren von einer Ladung Datenschrott geschüttelt
werden.
Um das Bild zu vervollständigen, ist jeder freie Raum meterhoch aufgefüllt
mit leeren Cola- und Billigbier-Dosen, und darauf flattern munter im stetigen,
sanften Wind der Ebene 5 leere Tüten von Gummibärchen und ekelhaften
Lakritzverlockungen. Ab und zu liegt eine Dose Vitamintabletten herum, und
gelegentlich findet man eine halbvolle Packung Aspirin. An manchen Stellen
läuft ein Strang Breitbandkabel oberirdisch durch den Müll. Überragt wird dieser
ganze Dreck nur von dem riesigen Sendeturm in der Mitte der Ebene, von wo
die Programmierer ihre Updates ins Universum schießen.
In dieser Szenerie der Verwüstung hasten nervös die Programmierer umher
(wenn sie nicht vor den Bildschirmen sitzen, was sie meistens tun), über-
nächtigte Systemoperatoren sitzen auf Stapeln von Computerausdrucken her-
um und trinken zusammen Bier, Datentypisten spielen alberne Computerspiele,
und abgeflippte Systemanalytiker malen mit stumpfen Bleistiften riesige,
verzweigte Diagramme auf die Rückseiten von Computerausdrucken. Ab und zu
kommt der Chef, aber wegen der Größe der Ebene kommt das im Schnitt nur
alle 14 Milliarden Binärjahre vor.
Diese Beschreibung zeigt allerdings nur, wie sich die Ebene einer
vierdimensionalen Lebensform der unteren Ebenen dargestellt hätte. In
Wirklichkeit haben jahrmillionenlange Berechnungen auf den modernsten,
leistungsfähigsten Rechnern gezeigt, daß die Ebene 5 allein 27 geradzahlige
Dimensionen hat. Weshalb Rollerman sich auch oft verfährt.
An einem schönen Nachmittag (eine etwas unzutreffende Bezeichnung, denn
auf Ebene 5 ist eigentlich immer Nachmittag, weil das die Zeit ist, wo die Pro-
grammierer aufstehen, und der Boß meinte, daß sie da am fittesten wären) saß
Chadawak (das heißt wörtlich: Rate meinen Code!) auf einem Stapel Ausdrucke
und dachte an /KURSIVa Die Behörde/KURSIVz , was ihn wütend mit den Zäh-
nen knirschen ließ. Die Behörde hat einige Milliarden Beschäftigte, deren
einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, Gutachten auszuarbeiten, die lang
und breit (und jeglicher Vernunft und Einsicht trotzend) "beweisen", daß Die
Behörde wichtige Aufgaben wahrnimmt. Wenn sie dann noch Zeit haben (und
nicht gerade mit fröhlichem Plaudern oder Kaffeetrinken und Kuchenessen
beschäftigt sind, was meist der Fall ist), arbeiten die Mitarbeiter (alles Beamte
mit Rentenanspruch nach 15 Milliarden Dienstjahren) an Plänen zur Müllbeseiti-
gung oder einer Steuerreform, die permanent daran scheitert, daß es auf
Ebene 5 gar keine Steuern gibt. Die Behörde wird von den Programmierern ge-
haßt, weil sie unheimlich viel Rechenzeit verbrät.
Chadawak wurde von einem Flackern des Multi-Synch-Alpha-Monitors aus
seinem mürrischen Grübeln geweckt. Dort tauchte plötzlich ein humanoides
Gesicht auf, streckte ihm die Zunge heraus und verschwand wieder. Locker
schaltete Chadawak die Suchfunktion ein, die ihm in wenigen Nanosekunden
mitteilen würde, um wessen Gesicht es sich gehandelt hatte (Angaben z.B.:
Alter, Größe, Hautfarbe, Zahl der Augen, Ohren und Nasen, Zugehörigkeit zu
welcher Ebene usw.).
Als die Zeichen über den Multi-Synch-Alpha liefen, kippte Chadawak vor
Schreck von den Computerblättern. Sein Bier fiel um und versickerte im End-
lospapier. Was er gerade gesehen hatte, war nichts anderes als eine der Simu-
lationen des Kollegen, der bei einem Programmtest in die unteren Ebenen
abgestürzt und dort anscheinend verrückt geworden war. Chadawak erinnerte
sich genau an diese Geschichte. Es war schon oft vorgekommen, daß Kollegen
beim Start eines neuen Programms in die Zielebenen geschleudert worden
waren, wenn sie vergessen hatten (oder - wie meistens - "keine Zeit" dazu
hatten), die Risikovermeidungsprogramme zu laden. Es war aber bisher immer
gelungen, sie mit Rettungsprogrammen zurückzuholen, wenn es auch
manchmal einige Millionen Binärjahre gedauert hatte, diese Programme zu
schreiben. Manche waren in dieser Zeit in den unteren Ebenen verrückt
geworden und spielten sich als Hilfsgötter und dergleichen auf und fanden es
ganz toll, primitive Lebensformen mit billigen Programmiertricks zu
beeindrucken. Einmal jedoch war jede Rettung zu spät gekommen. Der
Betreffende, ein Kollege mit dem Namen Pamutsok ("Ende mit Escape"), war
bei den Primitiven dermaßen ausgeflippt, daß er sich jetzt für das größte und
gefährlichste aller Simulationsviren hielt und permanent versuchte, sich in die
Rechner aller Ebenen hineinzukopieren, was ganz schön gefährlich werden
konnte. Chadawaks Kollegen hatten es für völlig ausgeschlossen gehalten, daß
der Verrückte es schaffen könnte, bis in Ebene 5 vorzudringen, und selbst wenn
es ihm gelänge, würden ihn eben die Virenkillerprogramme erledigen. Das war
zwar nicht besonders edel (es handelte sich immerhin um einen Kollegen), aber
was sollte man tun?
Ganz am Anfang der Zeit der Ebene 5 (also wo es gerade Nachmittag wurde)
war bei einer Installation durch einen Fehler des Betriebssystems Gott erschaf-
fen worden, und der war der einzige, der bei Diskussionen mit dem Boß ernst-
haft ein Wörtchen mitzureden hatte, wie die Programmierer neidvoll be-
merkten. Wie auch immer, seitdem ging dem Boß Datensicherheit über alles,
und er hatte eigenhändig mehrere Virenkillerprogramme geschrieben und sie in
den AutoOrdner geladen, so daß sie immer aktiv waren. Soeben hatte Chada-
wak gesehen, wie es der Verrückte geschafft hatte, sämtliche Sicherungen des
Betriebssystems zu umgehen und sich sogar unbeschadet wieder davonzusteh-
len. Fieberhaft hämmerte er auf der 15-dimensionalen Tastatur herum und ver-
suchte, den zuständigen Operator zu rufen, aber der machte wohl ein Nachmit-
tagsschläfchen und war nicht aufzutreiben. Andere Systemoperatoren zeigten
sich sichtlich gelangweilt und versprachen genervt, sich "später" um das Pro-
blem zu kümmern.
Nach einer Weile nutzloser Bestrebungen, jemanden vom Ernst der Lage zu
überzeugen, schaltete Chadawak den Pseudo-Beta auf Goodbye (eine ziemlich
komplizierte Mischung aus Reset und Standby) und ging mürrisch in seine
Stammkneipe "Zum letzten Byte", um sich gehörig die Rübe zuzuschütten.
Chadawak hätte wirklich das Große Brimborium lesen sollen. Dann wäre uns
die Ebene 5 mit ihrem ganzen Müll, aber auch ihren gigantischen, superteuren
Superrechnern erhalten geblieben.
Fataler Fehler
Achtung! Systemfehler in Ebene 10a ... Absturz nicht mehr zu vermeiden ...
Risikovermeidungsprogramme nicht mehr zuschaltbar ... Auf Wiedersehen beim
Endplumps! flackerte es über alle Monitore des Pseudo-Beta in der vierten
Ebene. Eine Weile war es überall vollkommen still. Dann war es ungefähr eine
Nanosekunde lang unheimlich laut. Danach war die Stille noch vollkommener.
Begegnungen der besonderen Art
Sej drehte den Kopf und stöhnte. Alles in seinem Körper schmerzte, und jeder
Knochen schien verbogen worden zu sein. Schwarze Schatten tanzten vor sei-
nen Augen. Das erste, was er wieder einigermaßen sicher identifizieren konnte,
war das weit aufgerissene Maul eines Haifischs, der regungslos auf der Seite
lag. Daneben lag ein Mensch, ebenso regungslos, der wie das Klischee von et-
was aussah, was Sej als "Fiesling" bezeichnet hätte. Dann schwebte ein blauer
Schatten auf ihn zu, der sich in Größe und Form ständig veränderte, aber bald
darauf wieder verschwand. Das Ganze sah er durch immer wieder aufziehende
schwarze Schatten hindurch, die mit blitzenden Sternen durchsetzt waren.
Sej machte die Augen wieder zu und wartete darauf, daß der Traum zuende
wäre und er wieder aufwachte. Dann wachte Percy auf, sah eine ähnliche
Szenerie und tastete nach seiner Redisc. Auch er fühlte sich vollkommen
daneben; außerdem hatte er das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Sej öffne-
te die Augen wieder, als er Geräusche hörte. Percy versuchte gerade, sich un-
ter dem Haifisch hervorzuwinden, der halb auf ihm lag. Dann wachte auch Arr-
gnflrt auf. Sein Gehirn war ebenfalls in einem Zustand, den man mit "nicht alle
Tassen im Schrank" hätte bezeichnen können, wenngleich Haie mit Tassen
nichts am Hut haben. Mit Hüten übrigens auch nicht, und schon gar nicht mit
Schränken. Merkwürdigerweise war eben das Arrgnflrts erster Gedankengang.
Dann stellte er mit einem gewissen "zn" fest, daß er nicht tot war, und berech-
nete, daß die Wahrscheinlichkeit dafür dermaßen viele Stellen hinter dem Kom-
ma immer noch gleich Null war, daß er sie nicht berechnen konnte. Als drittes
berechnete er noch die Zeit, die er in dieser trockenen Umgebung überleben
würde: Die ließ sich wenigstens noch in Sekunden ausdrücken. Das hieß, ihm
bliebe noch mehr als genug Zeit für die "ultimative Reaktion", nämlich das
Ändern der Körperform. Er war der erste Haifisch, der sich zu einer so dras-
tischen Maßnahme entschloß (Haie sind sehr eitel und finden, daß alle anderen
Lebensformen mehr oder weniger degeneriert aussehen).
Was dann passierte, veranlaßte Sej dazu, wieder die Augen zu schließen und
irgendein zuständiges, übergeordnetes Wesen zu bitten, daß sein Alptraum
bald vorüber sei. Percy versuchte immer noch vergeblich, sich von dem Hai zu
befreien, als plötzlich kein Gewicht mehr auf ihm lastete. Der ganze riesige
Fisch hatte sich plötzlich in zwei Hälften geteilt, wie von einem Riesenmesser
sauber in der Mitte zerschnitten. Die Hälften klatschten links und rechts neben
ihm auf den Kellerboden. Dann begannen sie sich zusammenzurollen, zuerst
langsam von oben und unten her, dann rasant entlang der Längsachsen. Die
entstandenen Gebilde begannen sich in zwei Wirbeln zu drehen. Die Bewegung
wurde so schnell, daß sie schließlich aussahen wie zwei riesige Kreisel. Die
Drehbewegung verlangsamte sich nach einer Weile, und als die Gebilde still-
standen, hockten dort zwei überdimensionierte Känguruhs und blickten
erstaunt in die Gegend. Percy hielt nach seiner Redisc Ausschau, die er immer
noch nicht gefunden hatte, und schwor sich, THE GAME auf ein sattes Sümm-
chen Schadenersatz zu verklagen. Es kam ihm nicht einen Moment der Ge-
danke, daß das Spiel jetzt vorbei war. Sej war sowieso nicht ganz bei der Sache,
also blieb es bei Arrgnflrt, etwas aus der Situation zu machen, und der hatte
sich gerade in zwei Känguruhs verwandelt, was nicht unbedingt zur Klärung
beitrug. Zu allem Überfluß schwebte jetzt wieder der blaue Schatten durch den
Raum und begann herumzujammern:
"Meine teuren Rechner! Meine Netzwerke! Und ich habe nicht mal eine Haus-
ratversicherung abgeschlossen!"
"Äh, kannst du mir vielleicht sagen, was hier gespielt wird?" wandte sich das
eine Känguruh an den Schatten.
"Das war der gemeinste Systemabsturz, den ich je erlebt habe," jammerte es
aus dem blauen Dunst hervor. Das Känguruh warf seinem völlig identischen
Gegenstück einen fragenden Blick zu und versuchte es dann bei Percy:
"Du scheinst etwas mit der Sache zu tun zu haben, Humanoide. Kannst du
mir sagen, wie diese Simulation genannt wird? Ich habe mit dem
Verantwortlichen ein Wörtchen zu reden."
"Ich auch," mischte sich das andere Känguruh ein. "Es war ja ganz nett, uns
vor dem Zerplatzen zu bewahren, aber dafür sitzen wir jetzt verdammt auf dem
Trockenen."
Percy gab die Suche nach der Redisc auf und fluchte: "Ihr verdammten Algo-
rithmen, wenn ich euren Programmierer erwische, dann kann der was erleben!"
Wieder schauten sich die Känguruhs fragend an. Jetzt war der blaue Schatten
an der Reihe: "Ihr habt alle zu einem unserer teuersten Programme gehört,
aber jetzt, wo die Hardware zum Teufel ist, seid ihr nicht mal mehr einen Binär-
cent wert," jammerte er weiter.
"Das brauche ich mir von dir blödem Programmbestandteil nicht sagen
lassen," brüllte ihn Percy an.
"Ich glaube, mein Gehirn ist falsch programmiert," murmelte Sej, dann etwas
lauter: "Kann mir jemand von euch sagen, wie ich diesen Alptraum beenden
soll? Ich vermute, es ist Zeit, meine Katze zu füttern."
Das eine Känguruh tippte sich an die Stirn und meinte zu seinem Partner:
"Die spinnen, die Simulationen!"
"Bevor wir anfangen, uns herumzustreiten," warf Sej ein, "könnten wir uns ja
erst mal vorstellen. Ich meine, ich glaube zwar nicht, daß ihr wirklich existiert,
aber wenn ich schon nicht aufwachen kann, will ich wenigstens etwas von euch
kennenlernen. Vielleicht hilft mir das nachher, den Traum zu analysieren."
Das eine Känguruh lachte schallend los: "Du Haifischfutter, du weißt wohl gar
nichts, was?"
"Da sind wir ja in eine exquisite Gesellschaft geraten: Ein jammernder Nebel
und zwei Landkriecher, die wie üblich gar nichts wissen," setzte das zweite
Känguruh hinzu. "Wie interessant!"
"Oh ja, gähn," sagte Känguruh eins, "ich hoffe nur, wir kommen hier bald
raus."
"Dieser Raum hat eine Ausgangstür, ihr binären Klugscheißer," meinte Percy.
"Abgang!"
"Nein, das ist unfair," rief Sej. "Dann haut ihr alle der Reihe nach ab und ich
bleib hier und kann mich beim Aufwachen nur wundern, was ihr wohl symbo-
lisieren solltet."
Achselzuckend sagte Känguruh eins zu seinem Kollegen: "Die etwas Klügere
von den Landratten hat, glaube ich, recht. Wir sollten uns von hier wegsubtra-
hieren."
Känguruh zwei watschelte zur Tür. Weil es sowieso schon an die Kellerdecke
stieß, obwohl es gebückt gestanden hatte (oder gesessen? Bei Känguruhs weiß
man das nie so richtig), konnte es nicht hinhüpfen. Das Watscheln sah ziemlich
drollig aus, und selbst Percy mußte grinsen. Sofort schnellte der blaue Schatten
hinterher und stellte sich vor die Tür (oder schwebte sich vor die Tür? Bei blau-
en Schatten weiß man das nie so richtig).
"Ihr seid wohl völlig übergeschnappt, ihr Module!" rief er. "Habt ihr noch nie
von den elementaren Sicherheitsvorschriften bei Systemabstürzen gehört?"
Nervös änderte er ständig seine Form.
"Was ihr hier mitkriegt, ist der Super-GAUS, der Gigantische Absolute Unbe-
zahlbare Systemabsturz, und ihr kennt nicht einmal die einfachsten Stör-
fallregeln. Wenn du diese Tür öffnest," sagte er jetzt zu dem Känguruh, "ist es
mit einer Wahrscheinlichkeit von 147 Alpha-Prozent mit den Resten von uns
vorbei, und zwar in materieller wie in binärer Hinsicht. Ich muß dem Erdling
recht geben, wir sollten uns erst einmal beruhigen und uns vorstellen. Dieses
'Spiel'," er wandte sich an Percy, "könnte länger dauern, als uns lieb ist."
Das Känguruh zog die Augenbrauen hoch (was bei Känguruhs ziemlich drollig
aussieht), hockte sich aber wieder zu den anderen. "Nun gut, wir heißen Arrgn-
flrt," sagte es und zeigte dabei auf sich und sein Gegenstück."
"Äh, Moment, wer ist jetzt Arrgnflrt?" schaltete sich Sej ein.
"Au warte," murmelte der blaue Schatten.
"Nun, Landtier, damit dein unterentwickeltes Gehirn es leichter hat, nenn uns
einfach "Sznmrddlknpplmtn" und "Ghnnlflrrhnm". Ich bin Sznmrddlknpplmtn,"
erklärte das andere Känguruh. "Was mein Name bedeutet, kann ich dir leider
nicht erklären, weil deine Lebenszeit dafür nicht ausreicht."
"Ich kann euch keinen Namen anbieten," sagte der blaue Schatten. "Bei dem
GAUS sind alle Intelligenzen unserer Ebene zusammengeschaltet worden. Das
war das letzte Programm, das lief, bevor die Hardware zerstört wurde. Das
Ergebnis bin ich. Leider sind auch die von /KURSIVa Der Behörde /KURSIVz
dabei. Ich hatte vorher nicht gewußt, daß das auch Intelligenzen sind. Uff!"
Der Schatten krümmte sich, als hätte er sich gerade selbst einen kräftigen
Knuff verpaßt. "Ist ja gut, jetzt sind wir alle hier versammelt und müssen sehen,
wie wir miteinander klarkommen," sagte der Schatten zu sich selbst.
Sej, der das nicht begriff, rief: "Ganz meine Meinung! Ich bin übrigens Sej,
auch wenn euch das wahrscheinlich nicht interessiert, weil ihr ja für mich viel
zu hoch entwickelt seid."
"Soso, Namen habt ihr also auch," grollte Percy. "Die haben ja wirklich keine
Kosten gescheut bei GAME.S.WITCH, nur an diesen unwichtigen Sicherheitsvor-
kehrungen haben sie ein bißchen gespart. Aber was soll's, das wird sie ja
höchstens ein paar Millionen Weltrubel kosten."
"Sagtest du GAME.S.WITCH, Erdling?" fragte erregt der Schatten.
"Ganz genau, GAME.S.WITCH, du Unding," antwortete Percy. "Und versuch
jetzt bloß nicht, deinen Programmierer in Schutz zu nehmen."
Aus dem Innern des Schattens kam ein komisches Geräusch. Es war
unmöglich zu beschreiben, am ehesten klang es noch, als hätten Millionen von
Beamten gleichzeitig gekichert. Plötzlich war der Schatten verschwunden, ohne
daß sich die Tür geöffnet hätte. Das eine Känguruh schaute durch das
Kellergitter.
"Das kann ja gemütlich werden, Leute. Der Schatten fängt gerade an, die
Sterne einzusammeln."
Sezana
Sezana trauerte um ihren Lippenstift. Den ganzen Abend hatte sie ihre kom-
plette Wohnung umgekrempelt, um das Ding zu finden. Sie wohnte in einem
Atelier hoch über den Dächern von Germania, und das heißt reichlich hoch,
denn Germania besteht nur aus Kolossalbauten mit mindestens zwanzig Stock-
werken. Wütend saß sie in einem ihrer futuristisch gestylten Sessel vor dem
riesigen Panoramafenster ihres größten Zimmers und nippte an einem mo-
ralisch wertvollen Cocktail.
Sezana war Chemikerin bei Der Behörde (nein, nicht /KURSIVa der/KURSIVz
Behörde!) für reinrassige Umweltverschmutzung und hatte dort eine führende
Stellung inne. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren arischer Zeitrechnung war
sie schon zur Abteilungsleiterin ersten Grades aufgestiegen. Neidvolle Gemüter
hatten gemunkelt, daß dies bloß an ihren blonden Haaren gelegen hätte, aber
Sezana wußte es besser. Sie hatte nämlich schon während ihres Studiums an
der Sauberen Universität von Germania zufällig eine Entdeckung gemacht, die
ihre Karriere und ihr sonstiges Leben (davon gab es nicht allzu viel) nachhaltig
beeinflußt hatte. Sezana hatte den Lippenstift entdeckt.
Beim Herumexperimentieren mit einigen minderrassigen Embryos hatte sie
eine rote Substanz extrahiert, die ihr merkwürdig erschien. Sie hatte versucht,
das Zeug zu analysieren, aber die Meßgeräte lieferten keine verwertbaren Da-
ten. Sie hatte die Flüssigkeit ein paar Tage unbeachtet in einem Reagenzglas
stehengelassen, dann war ihr aufgefallen, daß sie sich verdichtet hatte und
jetzt eher einer cremigen Paste glich. Verspielt, wie sie war, hatte sie sich die
Substanz auf die Lippen gerieben, da die Analyse zumindest keinen Hinweis
darauf lieferte, daß der Kram giftig war. An diesem Tag hatte sie das Labor erst
spät in der Nacht verlassen und dem Pförtner noch eine gute Nacht gewünscht.
Der war daraufhin flink wie ein Wiesel aus seinem Häuschen gerannt und hatte
ihr mit einem unterwürfigen Blick das Tor geöffnet. Allmählich entdeckte Seza-
na, was es mit der Substanz auf sich hatte: Wenn sie das Zeug auf den Lippen
trug, schienen ihre Worte für andere Menschen wie die Äußerungen eines
Engels zu klingen.
Zuerst fand Sezana das nur amüsierend, bis sie schließlich anfing, diese
Wirkung gezielt einzusetzen. Niemand wagte es mehr, an irgend etwas zu
zweifeln, was sie sagte. Sie probierte die unglaublichsten Sachen aus: Auf
einem Empfang hatte sie dem Direktor der Behörde für reinrassige Umweltver-
schmutzung eine haarsträubende Geschichte über blaue Schatten, die Sterne
einsammeln, vorgetragen, und der hatte ihr wirklich geglaubt. Kurz danach
hatte sie ihm eingeredet, daß sie die einzig würdige Nachfolgerin für den kürz-
lich verstorbenen Dr. Dr. Prof. Hanntz Muller wäre, und der Direktor hatte das
dann enthusiastisch vor den versammelten Gästen verkündet. Später hatte er
seine Begeisterung nicht mehr nachvollziehen können, aber, da er sich nicht
blamieren wollte, hatte er Sezana die Stellung fest zugesagt. Ein halbes Jahr
später trat sie den Posten an. In der Zwischenzeit hatte sie tage- und näch-
telang vergeblich versucht, die rote Substanz zu analysieren. Dann hatte sie
schließlich wild darauf los experimentiert, um den Stoff auf irgendeine Weise
herzustellen. Es war ihr nicht gelungen. Was blieb, war die Schlußfolgerung,
das Zeug so sparsam wie möglich einzusetzen.
Ihre Mitarbeiter waren zwar verwundert darüber, daß sie offensichtlich zwei
Persönlichkeiten in einer war, aber das war in ihrem Land so dermaßen normal
bei führenden Personen, daß es für alle akzeptabel war. Sezana hatte die ge-
samte verbliebene Substanz schließlich in die Hülle eines leeren Lippenstifts
gepreßt, den sie immer bei sich trug. Sie versuchte zwar noch gelegentlich, die
Zusammensetzung zu analysieren, aber ziemlich lustlos. Leider konnte sie auch
kein großes Forschungsprojekt starten (wozu sie ohne Weiteres die Möglichkeit
gehabt hätte), weil sie die Sache unbedingt geheimhalten wollte.
Jetzt war der Lippenstift weg. Sezana nahm noch einen Schluck, und wieder
stiegen ihr vor Zorn die Tränen in die Augen. Das, was sie bisher auf so lässig
wundersame Weise von anderen Menschen unterschieden hatte, konnte doch
nicht so spurlos verschwunden sein! Sie biß auf ihrem sorgfältig lackierten Dau-
mennagel herum. Ganz langsam begann in ihr eine Angst heraufzukriechen,
die Angst davor, sich diesem Leben wie ein ganz normaler Mensch stellen zu
müssen. Sezana hatte es zwar bisher immer etwas leichter gehabt als ihre
reinrassigen Mitmenschen, da sie außerordentlich schön war. Sie hatte jedoch
stets nach Höherem gestrebt, und da war ihr die rote Substanz gerade recht
gekommen. Und nun? Jetzt würde das Leben für sie Arbeit bedeuten, Duck-
mäuserei nach oben und treten nach unten, ein Prinzip, an das die Leute
leidenschaftlich glaubten, und ganz besonders die Leute in der Behörde für
reinrassige Umweltverschmutzung. Sezana konnte sich ein solches Leben nicht
mehr vorstellen und wollte das auch gar nicht. Schon bei dem Gedanken daran
schossen ihr vor Enttäuschung die Tränen hoch: Sie, die schöne Sezana, sollte
als Abteilungsleiterin ersten Grades enden, die mit zusammengekniffenen
Lippen Anträge auf Bewilligung von Forschungsgeldern ausfüllte? Voll Abscheu
schleuderte sie ihr Glas gegen das kugelsichere Panoramafenster.
Das Leben ist bisweilen merkwürdig, auch in Nazistan, einer streng ideolo-
gischen Staatengemeinschaft auf Ebene 9. Durch die an der Scheibe her-
abfließenden Reste ihres Cocktails blickte Sezana auf die riesige, verschwom-
mene Leuchtschrift auf dem Dach des Zentralgebäudes der Partei, als sie plötz-
lich etwas Blaues sah, das mitten durch den Nachthimmel schwebte. Vielleicht
hatte sie heute abend zuviel Teutschtaler in ihren Drink gemixt, jedenfalls schi-
en es ihr, als ob dieses blaue Etwas dort draußen dabei war, die Sterne einzu-
sammeln. Sezana war kein Mensch, der an Geister glaubt. Sie stand auf und
nahm noch einen kräftigen Schluck von dem hochprozentigen Gesöff direkt aus
der Flasche, bevor sie torkelnd zu Bett ging.
Ausweg
Das Känguruh rüttelte heftig an der Kellertür, aber die schien bestens
verschlossen zu sein. Sein Gegenstück stand daneben und fluchte leise.
"Ist wohl abgeschlossen," bemerkte Sej überflüssigerweise. Das Känguruh
ließ die Klinke los und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Percy hatte den
Kellerraum mittlerweile bis ins Detail kennengelernt.
"Wo, beim Arsch des Teufels, ist meine Redisc?" hörte man ihn aus einer Ecke
schreien.
"Reg dich bloß nicht künstlich auf, du Wurm," sagte wütend das Känguruh,
das versucht hatte, die Tür zu öffnen. "Ich wünschte, ich wäre auf deiner
Entwicklungsstufe, dann würde es mir nicht soviel ausmachen, hier in diesem
Loch zugrunde zu gehen."
"Ich habe ziemlichen Hunger," meinte das zweite Känguruh, und Sej glaubte,
daß ihm etwas Geifer aus dem Maul liefe, als es sich zu ihm umdrehte. Jetzt
war Sej an der Tür und probierte die Klinke. Natürlich dachte die Tür nicht dar-
an, sich jetzt plötzlich zu öffnen. Haßerfüllt trat er dagegen. Das erste Kängu-
ruh lachte:
"Ihr Landratten seid wirklich zu putzig, schade, daß wir nicht so etwas
angelegt haben, was ihr 'Zoo' nennt."
"Primitive Lebensformen dienen der Erhaltung des Humors im Universum,"
zitierte das zweite Känguruh offensichtlich aus einem Buch. Jetzt wurde Percy
erst recht wütend. Er boxte das erste Känguruh in den Bauch (unterhalb der
Gürtellinie? Das ist bei Känguruhs immer schwer zu sagen). Das Tier konnte
sich vor lauter Lachen überhaupt nicht wehren. Schließlich nahm sein Partner
Percy bei den Haaren und setzte ihn zur Seite.
"Autsch!" schrie Percy.
"Gniggergnigger," grinste das Känguruh, das ihn weggestellt hatte.
"Huhuhohaha!" lachte das andere immer noch.
"Falls es euch interessieren sollte, was eine primitive Lebensform äußert,
dann guckt mal, wo der Ausgang ist," sagte Sej beiläufig. Die anderen drei
drehten sich um. Sej war verschwunden.
"Uff!" sagte das eine Känguruh. "Hmpf!" sagte das andere. "Nanü! Au! Huch!
Au!" sagte Percy, der sich noch nicht so recht entscheiden konnte, ob er gerade
mehr schmerzerfüllt oder mehr erstaunt war.
Sej steckte seinen Kopf von oben durch das Kellerfenster.
"Das Gitter lag nur locker drauf, ihr Intelligenzbestien," verkündete er.
"Primitive Lebensformen sind der Zugang zu den Wurzeln der Intuition," rezi-
tierte das zweite Känguruh. Sein Partner versuchte derweil schon, sich durch
die Luke zu stemmen.
Sej stand draußen und streckte die Arme nach hinten. Aus einem unerklärli-
chen Grund fühlte er sich plötzlich unheimlich gut. Das Känguruh hatte mitt-
lerweile den Aufstieg geschafft und half seinem Partner heraus. Das sah üb-
rigens sehr putzig aus (für die, die es noch nicht geahnt haben). Percy kam di-
rekt hinterher.
"Habt ihr vielleicht ein Paar primitive Namen zur Verfügung, die sich eine
Lebensform wie ich merken kann?" fragte Sej die Känguruhs in einem Anfall
von Selbstvertrauen.
"Nun gut, nenn mich Boko," sagte das erste.
"Falls du uns unterscheiden kannst, mein Name ist Jeer," fügte das andere
hinzu. Jetzt konnte Percy nicht mehr abseits stehen. Obwohl er es
verabscheute, sich mit Algorithmen auf eine Stufe zu stellen, sagte er: "Mein
Name ist Percy Sledge."
Alpha Centauri
Alpha Centauri ist das der Erde am nächsten gelegene Sonnensystem,
lächerliche 4,3 Lichtjahre mittlere Entfernung weg. Einige gut informierte
Menschen behaupten, daß es dort keine bewohnbaren Planeten gäbe, obwohl
sie noch nie da gewesen sind, denn Alpha Centauri sei ja ein
Doppelsternsystem, was mögliche Planeten von einer Sonne zur anderen
taumeln lasse. Daher ist der Abstand zu der Sonne, um die sie gerade torkeln,
stark schwankend, weil das Gravitationsfeld der anderen Sonne fast immer
störend einwirkt. Daher ist die Temperatur auf möglichen Planeten großen
Veränderungen unterworfen. Daher kann es dort kein Leben geben. Das ist ein
sehr schön plausibler Gedankengang mit nur einem Schönheitsfehler: Er ist
falsch.
In der Tat ist Alpha Centauri eines der am dichtesten besiedelten
Sonnensysteme dieser Galaxis. Die meisten Lebensformen dort würden mit
keinem anderen System tauschen. Auf fast allen Planeten ist fast immer Tag.
Einige der äußeren Planeten erfreuen sich gar eines ständigen lauen
Sommerabends. Nur Gott ist etwas genervt darüber, weil Alpha Centauri zu den
Plätzen gehört, wo er mit seinem "Es werde Licht!" überhaupt keinen Eindruck
schinden kann. Trotzdem macht er dort regelmäßig Urlaub, vielleicht nicht nur
wegen der atemberaubenden Schönheit dieses Planetensystems, sondern
auch, weil er dort einen gewissen blauen Schatten nie trifft, vor dem man sonst
nirgendwo sicher sein kann. Gott weiß nicht, warum der blaue Schatten nie
dorthin geht, und es ist ihm auch reichlich egal. Dabei ist die Antwort einfach:
Auf keinem der Planeten von Alpha Centauri ist jemals die Elektrizität erfunden
worden, und der blaue Schatten verabscheut Plätze, an denen keine
Siliziumchips hergestellt werden.
Alpha Centauri mag einem Humanoiden vom Sol-System wie das Paradies er-
scheinen. Aber auch Alpha Centauri hat seine Probleme, die allerdings derma-
ßen hochphilosophischer Art sind, daß sie hier nicht im Einzelnen erläutert
werden sollen. Ein Beipiel mag genügen: Seit einiger Zeit behaupten Insektoide
von einem Trabanten im mittleren Planetenring, die Elektrizität sei doch er-
funden worden. "Ja, wo ist sie denn?" fragen die Taumelnden Sackfüßler, die
auf demselben Trabanten leben. "Nun, unsere Diskussion darüber beweist, daß
die Idee davon vorhanden ist, und da die Idee die Grundlage der Erscheinung
ist, ist die Elektrizität also schon erfunden, sie ist halt nur noch nicht in Erschei-
nung getreten." "Zeigt uns eine Glühbirne oder einen Heizlüfter, und wir glau-
ben euch," sagen darauf gewöhnlich die Sackfüßler, und die Insektoiden zucken
nervös mit ihren zerbrechlichen Flügelchen und flattern ab. Das gehört zugege-
benermaßen zu den ernsthafteren Problemen von Alpha Centauri.
Außer der Elektrizität und Siliziumchips und Glühbirnen und Heizlüftern gibt
es im Alpha Centauri-System fast nichts, was es nicht gibt. Eins der schöneren
Dinge ist ein fast schwarzer Saft, der seit Urzeiten auf dem Planeten Met ge-
mixt wird. Sein Name ist "Gins". Der Ursprung des Namens ist im Dunkel der
Geschichte verschwunden. Gins wird nach einem uralten, geheimen Rezept von
einer Sekte rothaariger Humanoider hergestellt, die behaupten, sie hätten das
Geheimnis von einem Planeten des Sol-Systems mitgebracht. Aber die Planeten
dieses nahegelegenen Systems sind nahezu unbesiedelt, wie jeder weiß, ob-
wohl lange keiner mehr dagewesen ist, und keiner glaubt ihnen. Trotzdem ist
Gins eines der beliebtesten Gesöffe überall in Alpha Centauri, und nicht nur
dort, wie sich demnächst herausstellen könnte.
Hirana
Es war einmal auf einem mittelgroßen, belebten Planeten, der um eine
mittelgroße Sonne kreiste, irgendwo in einer mittelgroßen Galaxis. Auf diesem
Planeten gab es, die Wahrscheinlichkeit von 95% mal wieder bestätigend,
humanoide Lebensformen. Der Planet mochte sie nicht. Alle anderen
Lebensformen mochten sie nicht. Die humanoiden Lebensformen mochten sich
selbst nicht. Aber sie waren nun einmal da, und trotz der gemeinsamen
Anstrengungen des Planeten, der anderen Lebewesen und der Humanoiden
selbst gelang es nicht, sie loszuwerden. Ohne Übertreibung kann man sagen,
daß sie die Schande ihrer Galaxis waren.
Und das lag an ihren Fortbewegungsmitteln. Einst, in dem goldenen
Zeitalter, als die Humanoiden von allen (inklusive sich selbst) lediglich gehaßt
wurden, hatte eine Kommission, der viele erlauchte Mißgeburten angehörten,
für diese Fahrzeuge Qualitätskriterien festgelegt, bei deren Kenntnisnahme
selbst Gott das Lachen in seinem multidimensionalen, endlos langen Hals
steckenblieb (der Nachhall davon läßt sich noch heute mit guten Meßgeräten
orten). Auf diese Kriterien soll hier nicht näher eingegangen werden, weil man
dafür in die Hölle kommt.
Jedenfalls passierte Folgendes: Die Fortbewegungsmittel wurden gebaut. Erst
nur wenige, denn sie waren sehr teuer. Es wurden aber mit der Zeit immer
mehr, und schließlich wollte jeder eins haben. Dann hatte jeder eins, und dann
wollten alle mindestens ein großes und ein kleines. Clevere Marketingstrategen
schwatzten zuguterletzt jedem noch ein mittleres auf, und dann ging's so
richtig ab.
Denn die Dinger waren äußerst primitiv. Sie hatten fast alle eine ähnliche
Form: Vorn und hinten waren sie eher flach und in der Mitte hatten sie einen
Buckel. Dorthinein zwängten sich die Humanoiden, wobei sie ihre Gelenke
anwinkelten und bis zum Aussteigen (was immer seltener vorkam) in dieser
Stellung verharrten. Meist hinten befand sich der Hohlraum für ihren ganzen
Krempel, und vorn war ein größerer Hohlraum, in dem das überdimensionale
Antriebsaggregat seinen Platz fand. Das Ganze stand auf durchschnittlich vier
Gummischeiben und konnte überhaupt nicht vom Boden abheben, außer, wenn
es mal über eine Klippe stürzte oder dergleichen (aber dann war es immer
gleich kaputt). Das Antriebsaggregat verbrannte gut abgelagerte Lebewesen,
die unter der Oberfläche hervorgebuddelt wurden, und machte dabei einen
höllischen Lärm. Außerdem stank es wie die Sau von Aldebaran IV (wegen
diesem Tier gibt es übrigens auf Aldebaran IV kein weiteres Leben, aber das
nur nebenbei).
Wer eines dieser Gefährte qualmen sah und röhren hörte, dachte sogleich an
Kraft und Stärke. Aber damit war es nicht weit her. Der Wirkungsgrad der Fahr-
zeuge war so gering, daß der VDI (der Verband degenerierter Industrieller auf
Solona III) ihn immer als Vergleich heranzog, um die eigenen, unterdurch-
schnittlichen Leistungen aufzuwerten. Und, wie erwähnt, konnten die Gefährte
nur auf dem Boden dahinrollen.
Doch damit nicht genug. Sie waren so anfällig, daß die Planetenoberfläche
weitgehend planiert und mit dicken Teerschichten versiegelt werden mußte, da-
mit die Dinger darüberrollen konnten, ohne wenigstens alle Nase lang ka-
puttzugehen. Dazu wurden alle Wälder abgeholzt, die im Weg standen, Flüsse
wurden umgeleitet oder zugeschüttet, und in die Berge schlug man breite
Schneisen. Nur die Meere wurden verschont, weil die primitive Technik der Hu-
manoiden es nicht erlaubte, sie zu asphaltieren. Das war andererseits ganz
praktisch, weil man so noch einen Platz hatte, um den ganzen Müll wegzu-
schütten.
Die Fauna und fast alle anderen Lebensformen verschwanden schließlich von
der Planetenoberfläche, weil einfach kein Platz mehr da war. Der Sauerstoffge-
halt der Atmosphäre verringerte sich dramatisch, und die Humanoiden fingen
an zu röcheln. Das hielt sie allerdings bis zum Ende ihrer Zivilisation nicht da-
von ab, weitere Fahrzeuge zu bauen und damit ständig ziellos durch die
Gegend zu braten. Längst wäre man zu Fuß schneller voran gekommen, aber
die Gelenke der Humanoiden waren durch das ständige Sitzen in den Fahr-
zeugen so degeneriert, daß sie nur noch extrem kurze Strecken auf ihren
Beinen zurücklegen konnten. Das Ende ihrer Zivilisation war trist und langweilig
und gibt keinen Stoff für eine Story ab.
Hiranas Geschichte dagegen ist ziemlich verblüffend. Hirana war die einzige
auf diesem öden Planeten, die sich weigerte, sich in eins dieser Fahrzeuge zu
setzen. Sie bastelte seit ihrer Jugend an einem Gefährt, um den Planeten zu
verlassen, und wurde dafür von allen, die sie kannten, belächelt. Aber sie hatte
Erfolg. Als wegen des Sauerstoffmangels das große Röcheln losging, zündete
sie das kleine Fusionstriebwerk und nahm Kurs auf das nächste Sonnensystem.
Sie hatte das Glück, recht schnell einen bewohnten Planeten zu finden, und
das Pech, daß dieser ein Spanner-Planet war. Alles war dort aus Gummi, mit
Ausnahme der geilen Lebensformen, die über das Gummi krochen und
schleimten, um zur nächsten Porno-Videothek zu kommen. Es gab aufblasbare
Häuser, aufblasbare Brücken und sogar aufblasbares Mittagessen. Alles
wabbelte beim Darüberlaufen, und wenn Hirana versehentlich auf einen
Spanner trat, gab der ein geiles Stöhnen von sich und bettelte um Schläge.
Leider war ihr kleines Raumschiff bei der Landung in einem Sperma-Sumpf
versunken. Sie selbst war von einem nicht ganz so wabbeligen Spanner mit
Hilfe einer Leine aus zusammengeknoteten Kondomen gerettet worden.
Danach hatte sie eine Weile in einer Sex-Bar gejobbt, wo sie die ganze Nacht
Champagnergläser aufblasen mußte, bis sie kurz vor einem
Nervenzusammenbruch war.
Doch das Schicksal meinte es gut mit Hirana. Auf einem ihrer Erkundungs-
gänge fand sie ein riesiges Trampolin. Kurzerhand schaffte sie das größte auf-
blasbare Gebirge herbei, das sie finden konnte, und sprang vom höchsten Berg
auf das Trampolin herunter. Dieses erwies sich als eine ausgeklügelte Rettungs-
station von canoiden Bewohnern eines nahegelegenen Planeten und kata-
pultierte sie in kürzester Zeit dorthin. Der Planet hieß Zeta II, und als sie aus
dem wolkenlosen Himmel fiel, war es gerade die Zeit, in der das Haul-Fest be-
ginnt.
Bombenstimmung
Draculix stand jetzt fast im Zenit. Sanft wie immer setzte die Wolke auf. In
der Nähe schlug eine Zentnerbombe ein. Die Wolke kippte zur Seite und
entledigte sich auf diese Weise ihrer vier Insassen.
"Wollt ihr jetzt immer noch auf das Fest?" fragte Isis.
"Ich hab nichts gegen gute Action," meinte Hansi. Der ferne Schlachtenlärm
stimulierte ihn.
"Seid ihr auch betrunken genug?" erkundigte sich besorgt die Katze.
"Nur ein bißchen in Stimmung," lallte Sezana. Sie leerte den Rest der Sektfla-
sche in einem Zug.
"Nun, dann viel Glück," meinte Isis. "Wir warten hier auf euch, oder vielmehr
die Reste von euch. Nehmt euch vor der Strahlung in acht."
Die Katze reichte den beiden Menschen die Springschuhe. Diese sahen aus
wie avantgardistisch geformte Plattform-Schuhe. Nur bestanden sie nicht aus
Holz mit Ledersohlen, sondern waren kompliziert geformte, schwarz eloxierte
Federn. Der obere Teil war ein Drahtgestell, in das man die Füße stecken
konnte.
Sezana und Hansi zogen die Springschuhe an. Das Drahtgeflecht hielt ihre
Füße sicher fest, indem es sich hautnah anschmiegte (eine altbekannte fünf-
dimensionale Technik. Auf dem Planeten Erde wurde so etwas im Jahr 2010 be-
kannt unter dem Namen 'Conscious Engineering').
"Damit solltet ihr in fünf Minuten im Stadtzentrum sein," meinte Isis.
Die ersten paar Schritte machten die beiden noch etwas unsicher, was wahr-
scheinlich in erster Linie auf ihren Alkoholpegel zurückzuführen war. Dank
'Conscious Engineering' jedoch kamen sie schnell mit den Schuhen zurecht.
Dieses neue Laufen war ein fantastisches Gefühl. Schritte von fünf Metern
Länge waren überhaupt kein Problem. Die Springschuhe nahmen die Bewe-
gungsenergie beim Autreten derart sanft auf, daß man fast zu fliegen schien.
Außerdem glichen sie glücklicherweise auch Fehltritte so gut aus, daß die
beiden nie ins Stolpern kamen. Nach ein paar Proberunden um die Wolke ver-
abschiedeten sie sich von ihren beiden katzenartigen Freunden und eilten in
Richtung Huttington. Hansi hatte seinen überdimensionalen Patronengurt mit
Gins munitioniert. Sezana hielt eine Flasche zelotischen Champagner im Arm.
In der Stadt wichen sie geschickt den Granateinschlägen aus und bahnten
sich zügig den Weg durch die Staubwolken. Kurz bevor Draculix endgültig im
Zenit stand (und das Feuerwerk begann) sprangen sie bereits übermütig über
die dichter werdende Menge hinweg. Zwar waren anscheinend alle heftig mit
Drogen vollgepumpt, aber es gab niemanden, der nicht schnell genug gewesen
wäre, ihnen auszuweichen. Lediglich einmal verhakte Hansi sich in den Flügeln
einer Riesenwespe, die ihn giftig anstarrte. Er reichte ihr ein Gins rüber, und
das schien sie schnell zu besänftigen. Sezana machte einen gigantischen Satz
und war verschwunden. Hansi zielte ungefähr in die Richtung, wohin sie
verschwunden war. Er hatte gut gezielt. Neben ihm stand Sezana, und vor ih-
nen beiden standen zwei überdimensionale Känguruhs und starrten sie
verwundert an. Ein Granateinschlag in der Nähe ließ ein paar Japtiden an ihnen
vorbeifliegen. Der Typ mit der Bazooka grinste verlegen.
"Mehr Zielwasser trinken!" riet ihm Jeer. Dann sagte er, zu den beiden
Neuankömmlingen gewandt:
"Bumm bumm Bumerang?"
Das war die Sprache der australischen Ureinwohner, und Hansi und Sezana
konnten den Sinn nur ahnen.
"Wir haben uns die Springschuhe nur ausgeliehen," meinte schließlich
Sezana.
"Seid ihr etwa vom selben Planeten wie unsere beiden minderbemittelten
Freunde?" erkundigte sich Boko erstaunt.
Das ohrenbetäubende Gekreische und Gejohle der Menge unterbrach ihre
gerade begonnene Unterhaltung. Draculix stand im Zenit.
Feuerwerk
Isis kippte die Wolke wieder in ihre richtige Position. Sie und die Katze
nahmen darin Platz und flogen niedrig über die Ebene von Huttington bis in
eine sichere Entfernung von der Stadt. Über ihnen zogen fette, schmierige,
schwarze geierähnliche Tiere in die umgekehrte Richtung, eine
unüberschaubare Schar. Der Nachthimmel war übersäht mit ihnen. Als die
Wolke jedoch landete, waren sie nur noch ein riesiger schwarzer Schatten, der
auf Huttington zusteuerte.
"Malakok. Die einzigen, die das Miau-Fest genießen können," sagte Isis. Mit
ein paar Krallenbewegungen installierte die Katze den eingebauten Nuklear-
Schutzschirm.
"Die Menschen müßten jetzt angekommen sein. Hoffentlich," meinte sie.
Beide ließen sich entspannt in die Langsitze sinken, die sich an der Oberfläche
der Wolke herausgebildet hatten.
"Meinst du, sie halten die Strahlung aus?" redete die Katze weiter.
"Sicher. Die Getränke, die ich ihnen mitgegeben habe, sind mit Tscherno X
versetzt. Deshalb werden sie auf jeden Fall überleben, falls sie klug genug sind,
dem konventionellen Schlagabtausch aus dem Weg zu gehen."
"Glaubst du, sie haben verstanden, was sie vorhin in der Glaskugel gesehen
haben?"
"Sicher nicht. Das intelligenzsteigernde Gas im Raum dürfte bei ihren Gehirn-
strukturen wohl kaum ausgereicht haben dafür. Aber wenigstens haben sie jetzt
eine Ahnung davon bekommen. Ich will nur hoffen, daß sie sich nicht für er-
leuchtet halten und noch so eine lächerliche Sekte gründen. Der Mann mit dem
Rinderfell über dem Oberkörper hatte so einen fanatischen Blick, weißt du."
"Du meinst den Kerl mit der Lederjacke? Der ist eigentlich harmlos. Da! Es
geht los!"
Am Himmel zerbarst eine riesige Leuchtrakete. Zuerst war dort ein
gleißender Blitz, der die beiden Katzenartigen veranlaßte, die Augen zu
schließen. Die Katze fauchte kaum hörbar vor Mißfallen. Dann leuchtete ein
helles gelbes Licht, das seine Farbe allmählich zu immer dunklerem Rot
wechselte. Das Leuchten wurde immer blasser, aber nicht etwa, weil die
Strahlung nachgelassen hätte, sondern weil sich ein riesiger Staubpilz wie eine
Glocke von oben auf das Licht herabsenkte. Hätten sie direkt darunter
gestanden, wäre es ihnen vorgekommen, als ob der Himmel wie lauter
Pergamentrollen nach allen Seiten weggerollt würde, und diese Beschreibung
findet sich tatsächlich in einem auf dem Planeten Terra weitverbreiteten Buch.
Die Katzen jedenfalls waren froh, nicht direkt darunter zu stehen, denn als sie
nach wenigen Minuten die Druckwelle der ersten Nuklearexplosion erreichte,
brachte diese ihre Wolke selbst bei der großen Entfernung noch gehörig ins
Schaukeln. Aus dem Staubpilz begannen kleine Blitze zu schießen.
Drei weitere Raketen stiegen in die Luft. Die Feliden drehten sich weg, bis
das grelle Licht der Blitze abebbte. Einer der Sprengsätze hatte wieder die
gleiche Farbe wie der erste, ein sattes Gelb, das zu rot wechselte. Die anderen
beiden jedoch waren von einem strahlenden, satten Dunkelgrün, das ganz
allmählich blasser wurde. Isis ließ ein Zischen vernehmen.
"Ultraran-339. Diesmal treiben sie es wirklich zu weit," fauchte sie wütend.
"Das Zeug ist so tödlich, daß der Fallout sogar manche von den Malakok um-
bringt. Diese blöden Hunde!"
"Aber hübsch sieht es trotzdem aus," bemerkte die Katze. "Hoffentlich tötet
es unsere Menschen nicht allzu sehr."
Jetzt raste eine Rakete nach der anderen in den Himmel. Eine Zeitlang blitzte
es ununterbrochen. Außerdem wurde die Wolke durch die vorangegangenen
Explosionswellen heftig geschüttelt. Selbst als die Blitze vorbei waren, war es
noch so hell, daß sich die Pupillen der Katzenartigen zu schmalen Schlitzen
verengten.
Gigantische Staubmassen fegten über die Ebene; trotzdem war es heller als
mittags auf dem Planeten Merkur. Das Spektrum des sichtbaren Lichts war in
voller Pracht vertreten, von sterbensviolett bis todrot konnte man alle Farben
sehen, und diese in allen Schattierungen. Das Schauspiel dauerte einige Minu-
ten, während derer die Druckwellen ständig stärker wurden, dann gewannen
die Sandstürme die Oberhand und verdunkelten den bunten Himmel.
Die Katze schaltete den Materie-Schutzschirm ein, als die Winde zu heftig
wurden. Dann hißte sie eine elektronische Flagge. Nachdem sie den Breitband-
Peilsender aktiviert hatte, drehte sie sich auf die Seite und rollte sich zu-
sammen.
"Gute Nacht," sagte sie zu Isis. Isis antwortete nicht. Wie eine Statue saß sie
auf dem Rand der Wolke und blickte Richtung Huttington.