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Besessenheit.Libanon
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Besessenheit.Libanon

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'Besessenheit.Libanon' erwuchs aus einer Leidenschaft für Orte, von denen man meist nur die düsteren Bilder kennt. Die mediale Präsenz des Nahen Ostens scheint uns heute gleichzeitig aufdringlich und undurchschaubar. Stanislaw Strasburger geht in seiner Geschichte darum einen anderen Weg und überschreitet in 'Besessenheit.Libanon' bewusst die Grenzen der literarischen Gattungen. Ausgehend vom liberalen Libanon sucht er nach den historischen und politischen Wurzeln für die Diskurse im und über den heutigen Nahen Osten, aber zugleich weitet und verdichtet er seinen Bericht mit den fiktionalen Mitteln des Romanciers. Denn gerade in der Partikularität der Ereignisse und ihrer Wahrnehmung, in Vorlieben, Gefühlen, Ängsten und Beziehungen zu anderen erschließt sich für den Autor eine Gesellschaft.

'Besessenheit.Libanon' spielt in den Jahren zwischen 2006 und 2014 in Warschau, Köln und Beirut. Im Mittelpunkt stehen der Ich-Erzähler, ein polnisch-deutscher Reporter, seine Freundin, eine ukrainische Mathematikerin und Tänzerin aus Köln, und eine libanesisch-armenische Pharmazeutin aus Beirut. Mittels der verschachtelten Dreiecksgeschichte erzählt Strasburger von Träumen, Leidenschaften und Lebenszielen in den unterschiedlichen kulturellen Settings und entwirft damit ein Bild des Nahen Ostens, das der Fiktion ebenso entspringt, wie es den erlebten und recherchierten Fakten entspricht.

'Besessenheit.Libanon' wagt es, anders zu erzählen, um besser zu verstehen.
LanguageDeutsch
Release dateMar 13, 2016
ISBN9783905951783
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    Besessenheit.Libanon - Stanisław Strasburger

    verändert.

    EIN PAAR WORTE VORAB

    (ÜBERARBEITETES VORWORT

    FÜR DIE POLNISCHE AUSGABE)

    WARSCHAU, WINTER 2015–2016

    HABT IHR SCHON MAL alte Fotos von Reisen in den Nahen Osten gesehen? Sie sind voller Ruinen, maroder Altstädte und anderer Dinge, die wir noch heute mit dem Orient verbinden: Minarette, Kuppeln, Männer in Turbanen und verschleierte Frauen mit Krügen auf ihren Köpfen. Auch mittelalterliche Stadttore waren beliebte Motive. Im Idealfall vervollständigt durch eine Frau, die mit ihrem Kind auf einem Esel durch das Panorama schaukelt.

    Was sagt uns das? Lebten die damaligen Bewohner des Nahen Ostens in Ruinen, ritten sie auf Eseln und trugen von morgens bis abends Krüge auf ihren Köpfen? »Die Sache ist doch ganz simpel«, erklärt der britische Publizist und Fernsehproduzent Karl Sabbagh. »Schließlich waren es Reisende auf der Suche nach dem Heiligen Land. Für die Realität vor Ort interessierten sie sich nur, solange diese den Fantasien entsprach, die sie im Gepäck trugen: erdichtete Szenen, wie sie in zweitausend Jahre alten Texten geschrieben stehen, Gemälde voller märchenhafter Folklore und lasterhafter Projektionen.«

    Vom Nahen Osten hat man seit Langem die Nase voll. Seine Gegenwart in den Medien ist ebenso aufdringlich wie nebulös. Momentaufnahmen von Kämpfern, exotisch und grausam, und die Namen ihrer Gruppierungen, über die kaum jemand den Überblick behält; Menschenmassen, die irgendwas über Gott schreien und bärtige Politiker mit dicken Bäuchen, von Kopf bis Fuß in vermeintliche Bettlaken gehüllt … – Einen Sack voll Gold für den, der all das versteht! Ganz zu schweigen von der inszenierten Grausamkeit der Mörder, die sich irgendwo in der Wüste vor eine Kamera stellen, um einem geschundenen Menschen den Hals abzuschneiden. Mörder! Mörder! … Aber können wir uns ganz sicher sein? Ein Filmausschnitt taugt schließlich nicht immer als Beweis.

    Bis vor Kurzem, da war noch alles einfach. Es ging lediglich um den einen oder anderen ›Terroristen‹ – von ›dort‹ gekommen, wohnte er heimlich, still und leise unter ›uns‹. Er war bereit zu allem. Und tatsächlich, der Supermarkt um die Ecke, die S-Bahn oder unser Büro wurden zum Ziel eines Angriffes. Einen Moment lang spürten wir Angst, dass ›dort‹ plötzlich auch ›hier‹ werden könnte. Der Täter lebte nebenan. Siehe da! Er war einer von uns, aber gleichzeitig auch wieder nicht: Schließlich ging es um einen anderen Glauben, eine andere Kultur, und dann waren da noch diese schrecklichen Worte – Verbrechen im Namen der Religion … Aber sind wir uns ganz sicher? Warum sollte man einem Mörder glauben? Wenn einer behauptet, er sei Napoleon, kommt er in die Klapse (oder hinter Gitter, sobald er jemanden tötet, auch wenn er dabei schreit: »Im Namen des Kaisers ...!«). Die Medien berichteten nicht, Napoleon sei ein blutgieriger Despot gewesen und jeder Sammler von Zinnsoldaten ein Killer in spe.

    Ja, früher, da fühlte man sich irgendwie sicher. Klapse oder Knast – mit Michel Foucault hat man es gelernt –, der Unterschied ist nicht allzu groß: Hauptsache die ›Terroristen‹ blieben fein säuberlich von ›uns‹ getrennt. Auch wenn die Tragödie ab und zu an unsere Türen klopfte, bald legte sich der Trubel wieder und die Grausamkeiten kehrten dorthin zurück, von wo sie in unser Wohnzimmer gekommen waren, auf den Fernsehbildschirm.

    Heute ist es leider nicht mehr ganz so einfach. Plötzlich scheint es, als wollten alle ›von dort‹ zu ›uns‹. Es ist, als stünde die Welt Kopf, als gäbe es keine Grenzen mehr. Mehr noch: Als schwände unsere heimelige Welt, fein säuberlich von der ›ihren‹ getrennt. Grauenvoll! Bei ›uns‹ herrscht doch Freiheit, Sicherheit und Offenheit, Frauen werden geachtet und in einer gemischten Sauna weiß jeder, wie er sich zu benehmen hat. ›Die von dort‹ wissen es hingegen nicht. Plötzlich leben nebenan ganze Scharen von ... ›Tätern‹ – möchte man sagen.

    Ist es Zufall, dass Robert Fisk, ein Star des britischen Journalismus, seine Recherchen über den sogenannten Libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) im Jahre 1986 im schneebedeckten Warschau, in der Litewska-Straße, begann? Ein alter Mann mit Kinderaugen führt den Journalisten in die Tiefen seiner Wohnung. Sie ist bis in den letzten Winkel mit Büchern angefüllt. Fisks Gastgeber ist Überlebender des Holocaust, und – allem zum Trotz – im Land geblieben. Vor dem Krieg war er Gymnasiallehrer von Jitzchak Schamir, dem späteren Premierminister Israels. »Ich schreibe ein Buch über den Libanon und darüber, was dort vor sich geht«, erzählt Fisk dem Pädagogen. »Ich versuche, das ganze Gewirr zu verstehen. Mein Gefühl sagt mir, die dortigen Ereignisse hängen mit dem Holocaust zusammen. Deshalb bin ich nach Polen gekommen.«

    Nebenbei lohnt sich der Hinweis darauf, dass der Journalist Warschau auch noch in einem anderen Kontext erwähnt. In das Jahr 1980 fiel nicht nur die euphorische Zeit der August-Abkommen von Solidarność, sondern auch die Phase verstärkter Waffenlieferungen von Polen an die Palästinensische Befreiungsorganisation. Die in Beirut landenden Flugzeuge der polnischen Fluggesellschaft LOT hatten nicht nur die Koffer der Reisenden geladen, sondern auch Kästen mit Flugabwehrkanonen für die Kämpfer Arafats.

    Der damalige New-York-Times-Korrespondent im Libanon, Thomas Friedman, hat ebenfalls eine interessante Geschichte zu berichten. Zwei Jahre nach den erwähnten Lieferungen nahm ein anderer israelischer Premierminister, Menachem Begin, den halben Libanon ein. Drei Monate lang belagerte seine Armee Beirut. Die Operation wurde im guten alten Stil des Zweiten Weltkriegs durchgeführt. Es ging um denselben Arafat, der sich laut Begin in der Stadt verschanzt hatte »wie Hitler in seinem Bunker« (aus polnischen Waffen schießend, wohlgemerkt).

    Friedman zeigt auf, dass die Entscheidungen des israelischen Politikers nicht ganz frei von psychologischen Motiven waren: nämlich den erschütternden Erinnerungen an seine Jugend im Polen der Zwischenkriegszeit. »Jüdische Generäle«, »jüdische Panzer« und die »jüdische Armee« in Aktion (zum Beispiel vor den Toren Beiruts) – das war für Begin wie Pornografie. Sie sollten dabei helfen, das Trauma der »jüdischen Impotenz« zu bekämpfen. Jene Impotenz, die das geduldige Ertragen von antisemitischen Erniedrigungen im Warschau der Zwischenkriegszeit bedingte.

    Schön und gut – nur folgt daraus auch etwas? Ist das alles nicht schon längst vergessene Geschichte? Nein! Fisk und Friedman zeigen, dass die Verbindungen zwischen ›denen‹ und ›uns‹ viel enger sind, als es uns seit jeher scheint. Doch solange ›die da‹ nur irgendwo in der Wüste sich mal die Köpfe eingeschlagen haben, war ›unsere‹ Welt in Ordnung. So gab es immer jemanden, dem wir kleinlaut Waffen verkaufen konnten. Und wenn das ausnahmsweise gerade nicht ging, dann eben Milchpulver. Die Rechnung war einfach – der Krieg erschwert die Produktion, und essen muss man ja trotz allem. Als Sahnehäubchen verbesserten wir noch unser eigenes Wohlbefinden: Bei ›uns‹ herrscht Wohlstand, und ›die da‹ sind nicht nur (im wahrsten Sinne des Wortes) Halsabschneider, sondern auch zu blöd, um Milchpulver herzustellen.

    Mehr noch: In ›unserer‹ vorwärtsgewandten Welt konnte man darauf vertrauen, dass die Schrecken des Zweiten Weltkriegs schon lange der Vergangenheit angehörten. Mittlerweile waren wir doch alle miteinander versöhnt, glaubten fest an Solidarität und hatten unser ersehntes gemeinsames Europa samt der liberalen Dritten Polnischen Republik. Die ihre Minderheiten unterdrückende Vorgängerrepublik oder die zum Export von kommunistischen Bajonetten gewillten Warschauer Volksgenossen waren Schnee von gestern. Wer rückwärtsgewandt lebte, egal ob in Warschau, Tel Aviv oder Beirut, war selbst schuld … – Mochte man glauben!

    Zwar gehen heute nach wie vor Milchpulverexporte gut mit Waffenexporten einher (surprise, surprise! Nicht nur die unglückselige Volksrepublik, sondern auch das heutige Polen ist eifrig im Geschäft). Aber was sollen wir mit den Abertausenden von Menschen, die sich ›dort‹ mit all unseren pulvrigen Gütern nicht abfinden konnten und nun – wer hätte es gedacht? – zu ›uns‹ fliehen? Man siehe und staune: Auf einmal ist Europa nicht mehr ganz so solidarisch und die Versöhnung möglicherweise nicht so gelungen wie gedacht.

    Und so leben die Geister der Vergangenheit wieder auf. Der Unterwerfungswahn macht die Runde: Kollektive Frauenjagden und Vermehrung wie die Karnickel als insgeheime Kolonialisierungsstrategie. Ein sarkastisches Auflachen lässt sich da kaum unterdrücken – die wiederauflebenden Geister, und dann noch ausgerechnet die der Kolonialisierung! Nun, ist das aber nicht etwa so wie mit den alten Fotos von den Reisen in den Nahen Osten? Auch die aktuellen Porträts der ›Täter in spe‹, (re-)produziert von den Medien und eingedrungen in unsere Köpfe, erzählen vor allem von uns selbst. Von unseren Ängsten. Von unserer Besessenheit.

    Als ich das erste Mal nach Beirut reiste, war ich ein Ignorant. Auch wenn dies letztlich Zufall war, so fügt es sich gut ins Konzept: Ich wusste weder etwas von alten Fotos noch von Krieg und Konfessionalismus, ganz zu schweigen von den Terroristen. Ich lebte vor Ort, und dieses (Nicht-)Wissen ersparte mir so manche Projektionen. Es überrannte mich auch nicht auf Schritt und Tritt. Bis heute bezweifle ich, dass man es wirklich braucht. Ich kenne zahlreiche Libanesen, von denen kein einziger – unabhängig von der Generation – als Kind wusste, welcher Religion er angehört. Alle spielten auf demselben Hinterhof. Wenn es später unglücklicherweise dazu kam, dass sie aufeinander schossen, dann hatte die Religion dabei keine große Bedeutung.

    Der britische Orientalist Richard F. Burton behauptete einst: Wenn die Grundlage von Literatur Faszination ist und nicht der Wille, etwas zu beschreiben (zum Beispiel eine andere Kultur), dann wächst die Wahrscheinlichkeit, einen guten Text zu schaffen. Also einen solchen Text, in dem wir niemandem die ›Wahrheit‹ aufdrängen und ihn so beherrschen wollen.

    Auf meine Reisen in den Nahen Osten begleitet mich oft folgende Frage: Wenn ich Geschichten (nach-)erzähle, habe ich es da mit ›Wahrheit‹ oder mit Gedächtnis zu tun? Ich bin kein Historiker. Fremde Erinnerungen zu hinterfragen, ist nicht meine Aufgabe. Wenn ich schreibe, überlege ich nur, was könnten die ›Tatsachen‹ sein, jenseits von Interpretation, Kontext und dem Erzählenden – kurzum: bar jeder Fiktionalisierung. Sind diese ›Tatsachen‹ nicht eine Abstraktion, die den in die Geschehnisse Involvierten in keinem Moment zugänglich ist? Sowohl jene ganz oben, die Herrscher über Himmel und Erde, als auch die Normalsterblichen – sie alle verfügen nur über ihre eigenen Eindrücke. Ich nenne sie Impressionen. Warum also einer ›Wahrheit‹ nacheifern, die niemandem zugänglich ist und vielleicht nicht einmal existiert?

    Wenn ich auf einer Straße in Beirut ein Taxi anhalte und der vorgeschlagene Fahrpreis ist zwei- oder dreimal höher als üblich, ist das für mich kein Betrugsversuch, sondern die Einladung zu einem Gespräch. Es kam schon vor, dass der Fahrer eine Extrarunde mit mir drehte, nur damit er die Rezitation eines Gedichtes von Khalil Hawi beenden konnte (den Skeptikern sei gesagt, dass nicht per Kilometer bezahlt wird, sondern man eine Pauschale vereinbart).

    Was lehren mich die Beiruter Abenteuer mit Taxifahrern? Erstens: Wenn poetisches Denken Bestandteil des Alltags ist, dann ist es kein Wunder, dass es auch zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens gehört. Zum Beispiel zur Politik. Daher verflicht sich in Besessenheit.Libanon die Sprache der Dichtung mit der Sprache der Geschichte. Sie sind untrennbar. Entgegen allem Anschein bilden sie ein harmonisches Ganzes.

    Zweitens: Es gibt Dinge, die man wissen sollte. Zum Beispiel, wie hoch die Pauschale für eine Taxifahrt in Beirut ist. Der gesprächslustige Fahrer meint etwas ganz anderes. Es ist, als würde er sagen: »Die Sprache dient dazu, Geschichten zu erzählen, sich zu unterhalten und Gefühle zu erwecken. Sie dient natürlich auch der Poesie.« Sag da bloß jemand, das sei Orientalismus, wie er nur Reisenden des neunzehnten Jahrhunderts zustehe! Nein, das ist Erfahrung, gesammelt auf den Straßen der Städte im Nahen Osten. Literatur ist dort nicht eine Domäne weltfremder Liebhaber, sondern Alltag. Eben in ihrer vibrierenden, dezentralen Form, ohne den Anspruch, ›Tatsachen‹ zu vermitteln.

    Es gibt noch einen zusätzlichen Aspekt, der mit der Sprache verbunden ist. Warum behaupten wir ohne mit der Wimper zu zucken, Araber oder Muslime seien so oder so, aber kaum jemand ist willig, eine Meinung über, sagen wir mal, Katholiken oder Slawen zu formulieren?

    Der Libanon verbindet die Protagonisten von Besessenheit.Libanon auf unterschiedliche Weise miteinander. Dennoch sind es einzelne Menschen und keine -ismen oder -isten. Jeder von ihnen hat seine Geschichte. Und jeder hat das Recht, etwas für sich zu behalten. Daher verbergen sich in ihren Porträts auch einige Geheimnisse. Der syrisch-libanesische Dichter Adonis sagte einst, vom Orient könne man Offenheit für das Unerklärliche lernen. Der Libanon ist unerklärlich, Besessenheit schlussendlich auch.

    Zurück zu unserem Taxifahrer. Wenn er von mir dreimal mehr für die Fahrt haben will, als üblich – natürlich bin ich dann manchmal verärgert. Gelegentlich schreie ich ihn sogar an. Aber wären wir, ehrlich gesagt, nicht alle glücklicher, wenn wir Worten weniger Gewicht beimäßen? Wenn wir jede ›Tatsache‹ als eine der polyphonen Repräsentationen der Welt betrachteten? Gentlemen sprechen schließlich nicht über Geld. Selbst wenn, so ist doch klar, dass etwas ganz anderes gemeint ist.

    Zugegeben, in Besessenheit.Libanon leben die Geister der Vergangenheit wieder auf. Ich glaube, dass man sich ihnen stellen muss. Auch die kollektive und individuelle Gewalt, die ›ihre‹ und die ›unsere‹, schwebt uns deutlich vor Augen: die Kolonialisierung, der Rassismus, die Verachtung für das menschliche Leben und die zynische Doppelmoral. Um den Geistern näher zu kommen, vermeide ich Chronologie (Geister sind schließlich keine historische Spezies). Aber es gibt auch andere Erklärungen. Es folgt ein kleines Gedankenspiel. Auf der Straße treffe ich einen Bekannten. Habe ich nur seine physische Gestalt vor Augen? Und denke ich nur an das letzte Treffen? Nein. Mal erinnere ich mich an Ereignisse von vor Jahren, dann wieder an unsere vorherige Begegnung. Das Gedächtnis ist dynamisch, es lebt. Die Präsenz von Erinnerungen schert sich herzlich wenig um Entstehungsdaten.

    Über Staaten und Gesellschaften hingegen denken wir gewöhnlich in chronologischer Ordnung nach. Daten dominieren historische Narrationen, und die natürliche Mehrdimensionalität des Gedächtnisses wird an den Rand gedrängt. In der Wissenschaft führt sie das Leben eines Verbannten; dem ihr zugeneigten Sachbuchautor wird im besten Fall Künstlichkeit vorgeworfen. Doch wenn wir unseren Bekannten auf der Straße treffen – und auch wenn wir die gewichtigsten politischen Entscheidungen treffen –, wir bleiben Menschen. Emotionen und die Dynamik des Gedächtnisses haben mindestens ebenso viel Bedeutung wie Chronologie und die auf ihr beruhenden Strategien.

    Und da wären noch die Kausalitäten. Besessenheit.Libanon nimmt oft Abstand von »deswegen«, »trotzdem« und anderen ach so brauchbaren Denkhilfen. Auch wenn man an der einen oder anderen Stelle meint, da fehle etwas: Nein! Denn entweder sind Kausalitäten ganz willkürlich, oder sie spiegeln im besten Fall den Einfallsreichtum des Autors wider. Teil der beschriebenen Realität sind sie in keinem der Fälle. Das Fehlen all dieser Strukturen stellt im Text also keine Entgleisung der Form dar. Im Gegenteil: Es erlaubt, anders zu erzählen, um besser zu verstehen.

    Werfen wir zum Schluss nochmals einen Blick in unseren eigenen Hinterhof. Wie sieht es mit unserem Europa aus: Ist es eine Gemeinschaft großer Nationen oder eher eine Föderation von Regionen? Was wäre, wenn gerade der Libanon als Beispiel für einen authentischen Pluralismus diente: eine multikulturelle Republik frei von der Dominanz irgendeiner Gruppe? Mit seinen Blütezeiten und Konflikten (ist in Europa denn kein Blut geflossen?), als postmodernes Projekt eines dezentralisierten Staates, im ewigen Werden begriffen? Und zwar nicht inmitten der Europäischen Geborgenheit, sondern in einem kriegerischen Umfeld, in dem sich die mächtigen Nachbarn nationale und religiöse Parolen mit Blut auf die Fahnen schreiben.

    Und so ganz nebenbei: Was ist jenes geheimnisvolle Geschöpf, die Nation? Taugt diese fast zweihundertjährige, romantische Idee von ethnischen Gemeinschaften heute noch etwas? Haben wir nicht genug Gewaltorgien erlebt, erwachsen aus eben dieser Idee? Ist gerade jetzt nicht die Zeit, da unsere Welt so grenzenlos grenzlos geworden ist, diese Idee ein für allemal aufzugeben?

    Auf ihrer Suche nach Antworten bemerkt die Historikerin und Publizistin Idith Zertal: Wenn wir den Begriff der Nation in den europäischen Staaten einer Kritik unterziehen, lohne sich ein Blick auf die postkolonialen Länder. Warum sollten sie unsere Erfahrungen wiederholen und gewaltsam nationale Demokratien bilden? Gibt es nicht andere Szenarien? Für ›sie‹, aber auch für ›uns‹?

    Besessenheit.Libanon ist letztendlich auch ein Schrei der Verzweiflung. Aus der Perspektive der Menschen im Nahen Osten führen wir dort eine Politik, die Konflikte schafft und aufrechterhält. Und anschließend berichten wir darüber von oben herab. Wir teilen die Welt auf in ›uns‹ und ›die Anderen‹, schaffen Grenzen, klagen an und kreieren Feindbilder. Auch wenn wir einander ganz nahe kommen, sogar mit breitem Lächeln und aus tiefstem Herzen »Welcome!« sagen: Bleiben wir nicht allzu oft nur bei den Projektionen hängen? Der Nestor der libanesischen Literaturkritik, der Essayist und Dichter Abbas Beydoun, schrieb einst, »die Araber begreifen sich nicht nur als Angehörige des Orients oder des Islam. Sie wollen einfach nicht glauben, dass auf der Erde zwei Welten existieren. […] Der gegenwärtige ›Orient‹ ist eine westliche Erfindung. Es existiert nur eine einzige Welt und ein einziges System, nämlich das westliche. Der sogenannte Orient ist das […] ›falsche Gesicht‹, das hässliche Gesicht des Westens.«¹ Er ist eben ein lasterhaftes Projektionsfeld.

    Oft empfinde ich Scham gegenüber den Menschen ›von dort‹. Viele von ihnen wurden meine Freunde. Ich wünsche mir, dass Besessenheit.Libanon auch zur Stimme ihres mehrdimensionalen Gedächtnisses wird. Ihnen widme ich dieses Buch.

    TEIL I – IMPRESSIONEN

    DER FLUCH DER

    PARADIESISCHEN DÖRFER

    WARSCHAU & BEIRUT, 2006–2012

    Scheherazades Ring versank in dir, Strom der Asche²

    … ALL IHR ELEFANTEN, Löwen und Kamele. Ihr schlanken Gazellen mit schokoladenfarbener Haut, euer Traben flink wie der Windhunde Lauf. Vielleicht hat das gastfreundliche Polen euch das Leben gerettet? Den Gewehrmündungen der Wilderer entkommen, gelangtet ihr in das Freigehege einer europäischen Hauptstadt. Doch in euren Augen schimmert Wehmut. Lindern wir die Sehnsucht durch eine vergitterte Imitation von Heimat? Oder reißen wir die Wunden jeden Morgen von Neuem auf?

    Es ist Frühling, im Jahr 2006. Wir lassen die Schicksale aus den Gehegen des Warschauer Zoos hinter uns. Der trübsinnige Spaziergang hat mich ein wenig hungrig gemacht. Gegenüber dem Eingangstor befindet sich ein beliebtes libanesisches Restaurant. Ich überrede meine Freunde zum Abendessen. Im kleinen Vorraum hängen Zeitungsausschnitte, die Appetit machen.

    ARTIKEL: Die arabische Küche duftet nach Minze, Sumak (gewonnen aus den Früchten des Essigbaums), Muskatnuss, Knoblauch, Zimt, Basilikum und Kreuzkümmel (nicht zu verwechseln mit Kümmel, auch wenn beide Gewürze gut für die Verdauung sind). Die Levantiner bedienen sich gerne des Reichtums von Gemüse, Obst und Meeresfrüchten. Fleisch ist nicht das Wichtigste, aber in den kärgeren Regionen verliert die Küche an Farbe und Geschmack. Die Beduinen bewirten ihre Gäste gerne mit einem Gericht, das wir den »Alptraum des Vegetariers« nennen: Eine ganze Ziege, serviert auf in Fett schwimmendem Reis.

    Ein warmhäutiger, leicht verlegener Kellner führt uns ins Innere. Pastellfarbene Vorhänge bilden um die Tische herum intime Räume. Das Interieur wirkt, als hätte jemand Möbel bei IKEA gekauft und sie dann mit orientalischen Accessoires dekoriert: flimmernde Lämpchen, vergoldete Shishas, mit Ornamenten verzierte Rahmen … Das riesige Wandgemälde eines phönizischen Hafens rundet das Werk ab. Aber ziehen wir keine voreiligen Schlüsse, das Angebot ist nun mal eine Funktion des Marktes.

    Und tatsächlich: Im Raum ist jeder Platz besetzt, die Bedienung bringt extra Stühle für uns. Hummus und Falafeln kennen wir aus den Warschauer Kebabläden, die seit einiger Zeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Geduldig erklärt uns der Kellner, was es mit den restlichen Gerichten auf sich hat. Plötzlich geht das Licht aus, Musik ertönt. Wie in einem geheimnisvollen Ritual wiegt sich eine halbnackte Tänzerin stolz im Takt, dann zittert sie wie besessen vom vibrierenden Gesang. Die Gäste lassen sich verführen. Jeder einzelne hat das Gefühl, sie tanze nur für ihn.

    »Woher kommst du?«, frage ich unseren Kellner in der Pause. Der Junge lächelt, als er Arabisch hört, und mustert mich aufmerksam. Schließlich bittet er mich in übertrieben korrektem Polnisch, die Frage zu wiederholen.

    »Entschuldigen Sie bitte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen …«

    »Ich habe Lust auf ein Almaza, am besten ein dunkles«, fahre ich unbeirrt auf Arabisch fort. Die Libanesen lieben ihr Land, und das lokale Bier ist ihr Nationalstolz.

    »Ich komme aus Metn«, antwortet er in libanesischem Dialekt. »Ich bring dir sofort eins.«

    Aus der Provinz Metn führt eine gewundene Straße die Berghänge entlang nach Beirut. Hier, im Schatten der Pinienwälder, gab Sherin ihren Künsten als Gebirgsfahrerin den letzten Schliff. Sie war stolz darauf, uns nachts, nach einigen Gläsern Wein, sicher nach Hause gebracht zu haben. Nicht einmal ein Konvoi schwarzer Land Cruiser konnte sie aus der Fassung bringen. Wenn Gewehrläufe aus halbgeöffneten Fenstern ragen, ist nie ganz klar, wer dich da von der Straße drängt: ein demokratisch gewählter Abgeordneter oder ein Gangster mit seiner aufgeblähten Leibwache. Und nicht selten trifft beides zu.

    Es war im September 2012. An diesem Abend hatte Eddie uns zum Abendessen eingeladen. Die sehnsüchtig erwarteten Ferien verbrachte er immer in der Familienvilla in Metn. Eigentlich lebte er in den Vereinigten Staaten und war dort stolzer Besitzer einer Tankstelle und eines libanesischen Restaurants.

    Eddie ist einer dieser gutherzigen, zart besaiteten Drusen. Wann immer es Gelegenheit gab, lud er uns zu sich ein. Kürzlich hatte er gemeinsam mit zwei philippinischen Haushälterinnen mexikanisch für uns gekocht. Einfach köstlich! Es gab nur ein kleines Problem. Eddie glaubte, Sherin sei meine Freundin. Wenn er etwas getrunken hatte, schmiedete er wie ein fürsorglicher Onkel Pläne für unsere gemeinsame Zukunft. Das Missverständnis ließ sich nie aufklären. Schade war nur, dass die schöne Sherin es war, die mich nicht wollte … Wann immer wir zu Eddie fuhren, erzählte sie von ihrer großen, unerfüllten Liebe zu einem anderen Drusen. »Schau, hier ist es«, säuselte sie, wenn wir an seinem Haus vorbeifuhren.

    Warum musste auch ausgerechnet sein Dorf auf unserer Strecke liegen?!

    Anfang des Jahres hatte Sherin ihn mir auf der Handwerksmesse in Beirut vorgestellt. Der Junge verkaufte mit seiner Mutter Keramik. Ich kenne diesen Typ kleinwüchsiger, magerer Libanesinnen: pechschwarze Haare und die Nase einer Hexe. Eine solche Schwiegermutter zu haben ist das reinste Vergnügen! Der Sohn hatte einen hellen Teint, eine sportliche Figur und führte sich auf, als läge ihm die Frauenwelt zu Füßen. Nur dass unser Don Juan jeden Morgen etwas zu vergessen schien: Der Geruch des Essens vom Vortag strömte mittags noch immer aus seinem Mund. »Ich bin nicht umsonst Pharmazeutin!«, empörte sich Sherin, als ich eine Bemerkung riskierte. »Mit Hygiene kenne ich mich aus. Und ich weiß auch, wie man mit Menschen redet. Ich bringe ihm schon bei, sich um seine Zähne zu kümmern!«

    Seitdem plagte mich das Bild der schönen, den vergesslichen Don küssenden Pharmazeutin wie lästiger Schluckauf. Aber lassen wir das. Die Geschichte mit Sherin stand noch in den Sternen. Vielleicht würde alles noch ganz anders kommen. Beginnen wir von vorn. Jeder hat das Recht auf ein Geheimnis … Gut, was mich betrifft, eines will ich nicht verheimlichen: Die Wichtigste für mich war Ina. Und wer weiß, vielleicht ist sie es immer noch. Aber psssst …

    Der Kellner verteilt die Vorspeisen.

    »Wissen Sie«, sagt er auf Französisch, »ich bin Phönizier. Auch wenn ich nur ein Kellner bin.«

    Während des Hauptgangs wechselt er zurück ins Arabische.

    »Wo hast du meine Sprache gelernt?«, fragt er melancholisch.

    Der libanesische Dichter Khalil Hawi stammte auch aus Metn. Er war der Sohn eines Steinmetzes, der in Syrien gearbeitet hatte. Sein Bruder Ilya beharrte darauf, der Schriftsteller sei 1919 zur Welt gekommen, aber die Mutter gab 1920 als Geburtsjahr an. Der Erste Weltkrieg war gerade beendet. Das Schicksal der Libanesen lag den Osmanen nicht sehr am Herzen, Hunger und Krankheiten rafften ein Viertel der Bevölkerung dahin.

    In Hawis Kindheit unterlag der Libanon französischem Mandat, das die Regierung in Beirut im Jahre 1943 von sich abzuschütteln versuchte. Die freien Franzosen sprachen dem Land zwar die Unabhängigkeit zu; aber sobald der Ministerrat sich anschickte, Worte in Taten umzusetzen, wurden seine Mitglieder ins Gefängnis gesteckt. Die Engländer hatten von dieser Politik des »Freien Frankreich« die Nase voll. Man ließ die Gefangenen frei. So entstand – kurz gefasst – der moderne Libanon.

    In »Rückkehr nach Sodom« schreibt Hawi:

    Mit den Persern zerschlug der Beduine den Kaiser,

    mit den Barfüßigen bändigte das Christenkind

    den Wilden in Rom,

    entriss des Tyrannen Kiefer Zähne.

    Als der Junge ein Teenager war, erkrankte Vater Hawi. Die Sorge für Geschwister und Mutter lastete von nun an auf den Schultern des Sohnes. Zehn Jahre vergingen, bis die Familie das Geld zusammen hatte, um Khalil wieder in die Schule zu schicken.

    Hawi betrachtete sich selbst als libanesischen Patrioten. Er liebte sein Land: Blumen und Bäume, schneebedeckte Berge und die warme, behagliche Küste. Sein Studium absolvierte er an der von protestantischen Missionaren gegründeten Amerikanischen Universität Beirut (AUB). »Garten Eden« – so wurde der Campus voller Sehnsucht von Jugendlichen genannt, die davon träumten, eines Tages hier zu studieren. Auch der Dichter unterlag dieser Faszination. Selbst sein Stipendium im renommierten Cambridge empfand er als Verrat. Das nebelverhangene, klaustrophobische Städtchen quälte ihn. Libanon – das war für ihn die blühende Oase der Araber. Er schrieb wehmütige Briefe an seine Verlobte. Sie sollte Weintrauben für ihn essen. Im grauen, fremden Land dienten sie nur als Schmuck in den Schaufenstern, vertrocknet und verstaubt.

    Die bestellten Speisen schmecken ausgezeichnet. Wir lassen uns Zeit. Die Tänzerin macht eine Pause und im Hintergrund ertönt die Lieblingssängerin des Restaurantbesitzers: Julia Boutros. Am Durchgang zur Küche hängt ein Foto. Es zeigt das Panorama einer kleinen Ortschaft in Metn, Shweir. Das ist die Heimat Khalil Hawis. Auch sein Jugendfreund stammt von dort: Antun Sa’ada, Schriftsteller und Gründer der Syrischen Sozialnationalistischen Partei (SSNP).

    Meine erste Begegnung mit der SSNP habe ich nicht in bester Erinnerung. Im Beiruter Hotel Bristol befindet sich ein renommiertes Café. Hier trifft sich die intellektuelle Crème de la Crème. Einer der Stammgäste ist Rashid al-Daif, Star der libanesischen Literaturszene. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Eines sonnigen Tages im Jahre 2008 machte ich mich nach einem Treffen mit ihm auf den Weg nach Hause. Die Wohnung, in der ich lebte, befand sich ganz in der Nähe. Unterwegs sprang mir eine modernistische Moschee ins Auge. Ich machte ein Foto. Ein bulliger Herr im T-Shirt winkte nach mir. Ich fühlte keine Verpflichtung zu einem Gespräch. Ich hätte einfach so tun können, als hätte ich ihn nicht gesehen. Aber nach dem Frühstück mit Rashid hatte ich gute Laune. Ich wollte nicht arrogant wirken, also kehrte ich um.

    Ein Fehler. Der bullige Herr im T-Shirt fing an zu schreien und riss mir meine Kamera aus der Hand. Seine Kollegen verdrehten mir die Arme und führten mich ins Büro der SSNP.

    »Warum hast du Fotos gemacht? Hier gibt es keine Sehenswürdigkeiten!«, polterte der Büroleiter. Er machte einen kultivierten Eindruck, aber die Herren mit den Pistolenholstern hatten mich noch immer fest im Griff.

    »Mir gefiel einfach die Moschee. Geben Sie mir meine Kamera zurück!«, spielte ich den Mutigen.

    »Einen Moment noch …« Immer wieder vergrößerte der bullige Herr im T-Shirt den Bildausschnitt von einem Balkon. »Was soll das Fenster da?«

    Der Büroleiter nahm die Kamera und betrachtete die Bilder. Zum Glück hatte ich erst am Morgen alles auf meinen Laptop überspielt. Nur die Fotos von der Zeugnisübergabe an der Uni waren noch auf der Speicherkarte.

    »Was machst du im Libanon?«

    Ich zeigte meinen Studentenausweis. Der Leiter befahl, eine Kopie zu machen, und gab mir meine Kamera zurück.

    »Lösch das Bild. Sofort!«

    Die Herren mit den Pistolenholstern ließen von mir ab. Doch mit meiner Lust am Fotografieren in Beirut war es nun vorbei.

    Hawi schreibt:

    Was ließ das Feuer übrig

    von meinem Haus, meinen Gefährten

    und der Geschichte meines Lebens?

    Unter den Vorkriegsintellektuellen im Nahen Osten brodelte eine Diskussion über die Grenzen der Länder, die bald ihre Unabhängigkeit erlangen sollten. Die künstlichen Aufteilungen der Kolonialmächte hemmten die Staatenbildung. Die Franzosen gaben es selbst zu: Sie hatten die Grenzen so gezogen, um Konflikte leichter schüren zu können. Ideen für Veränderungen gab es wie Sand am Meer. Nur in einer Hinsicht waren sich alle einig: Es konnte nicht so bleiben. Doch die Geschichte spottete der arabischen Gründerväter. Die nach dem Ersten Weltkrieg abgesteckten Grenzen (Teile und herrsche!) sind bis heute Ursache allen Unglücks.

    Antun Sa’ada engagierte sich für die Unabhängigkeit. Er wandte sich gegen die koloniale Vorherrschaft Frankreichs, lehnte aber gleichzeitig die Hirngespinste eines Lawrence von Arabien ab, der sich ein Reich von Marokko bis in den Jemen erträumte. Die Visionen des britischen Träumers (und Spions!) eigneten sich nicht als realpolitisches Programm. Die SSNP propagierte ein weltliches Syrien, ein anderes, als es die Engländer und Franzosen auf die Landkarten gezeichnet hatten. Der erträumte Staat Sa’adas sollte sich auf eine gemeinsame Geschichte und verwandte Bräuche der Bewohner stützen. Er dachte an den sogenannten Fruchtbaren Halbmond. Seine natürlichen Grenzen umfassen den heutigen Libanon, Syrien, einen Teil Jordaniens, Sinai, Irak, Kuwait und Zypern. Sa’ada wollte das Fundament für eine moderne Nation schaffen, deren Traditionen bis in die Antike zurückreichen.

    »Mein Vater bekam die Grausamkeiten des Ersten Weltkriegs am eigenen Leib zu spüren«, erinnerte sich seine Tochter. »Schon in seiner Jugend quälte ihn die Frage, warum seine Landsleute Gefangenschaft und Elend erleiden müssen. Er widmete sein Leben der Wiedergutmachung des historischen Unrechts. Aber als seine Tochter schätze ich es sehr, dass er seine Familie nie vernachlässigt hat. Mein Vater hat uns sehr geliebt. Trotz seiner Verpflichtungen hat er die Zeit gefunden, mich auf Konzerte zu begleiten. Er war ein Musikliebhaber; ich erinnere mich an die Arien, die er sang, während er sich rasierte.«

    Die SSNP begann ihre Tätigkeit an der AUB in Beirut. Ebenso wie viele andere Studenten der Hochschule, trat Hawi der Partei aus voller Überzeugung bei. Als Sammelbecken der bürgerlichen Jugend verschiedener Konfessionen bildete die AUB eine ideale Basis für politische Arbeit. Die Trennung von Religion und Staat war die Hauptforderung der Partei. Darüber hinaus postulierte sie die Abschaffung des Feudalismus und den Aufbau einer dynamischen Volkswirtschaft. Im Laufe der Zeit weitete die SSNP ihren Wirkungskreis aus und wurde zu einer Massenbewegung in der gesamten Region. Der Fruchtbare Halbmond sollte die Aussicht haben, ein stabiler Staat zu werden, fähig dazu, in der Welt der Gegenwart zu überdauern.

    Die Revision der Grenzen lag allerdings weder im Interesse der Großmächte noch in dem der lokalen Eliten. Im Jahr 1949 unternahm die SSNP einen verzweifelten Putschversuch. Der damalige Präsident Syriens, der erst wenige Monate zuvor mit Unterstützung der CIA an die Macht gekommen war, versprach Waffen. Aber nicht nur, dass er die SSNP mit leeren Händen stehen ließ. Der nach Damaskus geflüchtete Sa’ada wurde auch noch festgenommen und den Libanesen ans Messer geliefert. Die Rebellion wurde niedergeschlagen. Innerhalb von achtundvierzig Stunden sprach ein Kriegsgericht das Urteil. Der Anführer der SSNP wurde vor ein Erschießungskommando gestellt. Man ließ ihn niederknien.

    »Irgendwas piekst mich ins Knie. Kann ich das wegmachen?«, fragte er.

    Einer der Soldaten grub den Stein aus und klopfte die Erde wieder fest. Dann fielen Schüsse.

    Einen Monat später wurde der treulose Verbündete aus Damaskus selbst Opfer eines Umsturzes. Angeblich war das die Rache für die Auslieferung von Sa’ada. In den kommenden Jahren verstrickte sich die SSNP in lebensmüde Revolten und brutale Anschläge. Repressionswellen dünnten die Reihen der Bewegung aus und radikalisierten ihre Anhänger. Aber ist das wirklich so verwunderlich? Wie soll man denn am politischen Leben eines Staates teilnehmen, wenn man ihn als Irrtum

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